3102_Toedliche_Grenzwelt_epub.jpg

ULLSTEIN


In dieser Reihe bisher erschienen

3101 Ronald M. Hahn In der Todeszone

3102 Arno Thewlis Tödliche Grenzwelt

3103 Arno Thewlis Operation Lazarus


Arno Thewlis


Tödliche Grenzwelt





Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2020 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Ernst Wurdack / Ysbrand Cosijn / Andrii Klemenchenko
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-267-7

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Was bisher geschah:

1923 gelang Adolf Hitler in München ein Putsch, der allerdings einen Bürgerkrieg auslöste. Die Auseinandersetzungen fanden erst zwei Jahre später ihr Ende, als in Deutschland die Neo-Pest ausbrach, die zehn Millionen Opfer forderte. Dies hatte zur Folge, dass die Welt Deutschland hermetisch abriegelte. Niemand durfte hinein oder heraus. Innerhalb der Landesgrenzen fiel Deutschland in die Zeit vor Bismarck zurück: Es gibt vier große Königreiche, diverse Zwergstaaten und einige Festungsstädte. Die Seuche scheint eingedämmt, doch die Staaten bleiben voneinander abgeschottet, und ihre Grenzen werden von klobigen Krupp-Kampfrobotern bewacht. Handel und Verkehr zwischen den deutschen Staaten sind aus Angst vor einem neuen Ausbruch nur unter extremen Sicherheitsvorkehrungen möglich. Man beäugt sich argwöhnisch, weil man fürchtet, die Neo-Pest könne wieder aufflackern.


1930. Heute:

Der Privatdetektiv Harry Ullstein erhält in Berlin von dem berühmten Hellseher Hanussen den Auftrag, seine verschwundene Tochter Marie zu finden. Seine Suche führt ihn vom Königreich Preußen ins Fürstentum Waldeck und von dort aus nach New Montana, dem 49. Staat der Vereinigten Staaten, inmitten des Deutschen Reiches. Dort ist Marie inhaftiert wegen Mordes an dem amerikanischen Reporter Henry Swift, der in Wahrheit für die amerikanische Regierung arbeitet. Er ermittelte verdeckt in der Terrororganisation der Werwölfe, die von Adolf Hitler im Untergrund kontrolliert werden soll. Auf ­Hitlers Ergreifung sind vom preußischen Königreich eine Belohnung von einer Million US-Dollar und ein Adelstitel ausgesetzt worden. Marie Hanussen besaß hellseherische Kräfte, die von den Werwölfen genutzt wurden, doch diese Fähigkeit verlor sie zusammen mit ihrer Jungfräulichkeit an Swift.

Ullsteins Reise in einem Luftschiff endet über der Roten Republik Ruhrland, als der Zeppelin von Luft­piraten übernommen und bei Castrop-Rauxel zur Landung gezwungen wird. Ullstein gerät in die Gefangenschaft von Kommunisten und lernt die Politkommissarin Alexandra von Xanten kennen.

Alexandras Vorgesetzter, Genosse Snöfenborg, ist sehr daran interessiert, den Aufenthaltsort des Führers zu erfahren, nicht nur wegen der ausgesetzten Belohnung. Ullstein soll ein Einsatzkommando nach Bayern führen, wo die Werwölfe in einem versteckten Höhlensystem auf dem Obersalzberg hausen sollen.

Auf der Reise kommt es zu Feuergefechten, und Ullstein gerät in die Gewalt der Werwölfe. Als er in der Villa eines adeligen Sympathisanten ankommt, entpuppt sich Alexandra von Xanten als Anhängerin von Hitler. Ullstein trifft auf Marie und einen Mann, der sich als Hitler ausgibt, aber vermutlich nur ein Doppelgänger ist. ­Snöfenborg stürmt die Villa, um seine angebliche Genossin Alexandra zu retten, scheitert aber an dieser Aufgabe und erhält eine Kugel in den Kopf.

Die Werwölfe tauchen unter. Harry Ullstein wird vor der Abreise betäubt und erwacht allein in einem Luxushotel in Berchtesgaden, als sei alles nur ein böser Traum gewesen. Er hat das Gefühl, in eine Riesenverschwörung geraten zu sein. In München angekommen, kauft er sich am Bahnhof eine Tageszeitung. Auf der Titelseite ist das Foto einer bewusstlosen Alexandra von Xanten, die als „Unfallopfer“ im Krankenhaus liegt. Überschrift: „Wer kennt diese Frau?“



1. Kapitel


Mit dem Wissen wächst der Zweifel.

Johann Wolfgang von Goethe


Das Geld des Barons erlaubte Harry Ullstein einige Annehmlichkeiten, deshalb nahm er sich, in München angekommen, eine Droschke zum Klinikum rechts der Isar, in dem Alexandra von Xanten lag. Dort zeigte er dem Kutscher einen größeren Schein, riss ihn in der Mitte entzwei und reichte dem Mann eine Hälfte, damit er auf ihn wartete.

Ullstein betrat das Gebäude und war sofort von zahlreichen zauberhaften Geschöpfen umgeben. Die Krankenschwestern in den gestärkten weißen Schürzen bewegten sich wie schwebend über die Flure. Er hätte gerne einen der bodenlangen Röcke angehoben, um nachzusehen, ob sie darunter Rollschuhe an den Füßen trugen. Aber seine Neugier wäre wohl auf wenig Gegenliebe gestoßen.

Auf einer Bank saßen mehrere junge Männer, die alle mit zwei Dingen ausgerüstet waren: einem Blumenstrauß und einer Tageszeitung. Offenbar warteten sie darauf, bei der schönen Unbekannten vorgelassen zu werden. Doch vor die süße Wonne hatte die bayrische Obrigkeit als Hindernis einen Polizisten gestellt, der die jungen Galane auf Herz und Nieren überprüfen sollte. Dies erfuhr Ullstein von einem seiner Leidensgenossen, der am Ende der Schlange an der Wand lehnte und öfter als nötig seine Armbanduhr kontrollierte, als könne dies irgendeinen Vorgang in der Welt beschleunigen.

„Wissen Sie, wo die Toiletten sind?“, erkundigte sich Ullstein. Sein Konkurrent um die Gunst der schönen Unbekannten wies beiläufig zum Ende des Flures. Ullstein tippte dankend an seinen Hut. Die Tür des Besprechungszimmers öffnete sich, und ein junger Mann kam mit hängenden Schultern heraus. Alle reckten den Hals, um einen Blick auf den nächsten Kandidaten in der Reihe zu werfen.

Ullstein nutzte die Gelegenheit, um einem Kerl, den während des Wartens die Müdigkeit übermannt hatte, den Strauß aus den Händen zu pflücken und spazierte davon. Er erreichte das Ende des Flurs, wo es ein zweites Treppenhaus gab. Kein Gebäude dieser Größe konnte nur eins haben.

Die einzelnen Etagen waren farblich voneinander getrennt, und im zweiten Stock fand er die Farbe, die auf dem Zeitungsfoto im Hintergrund zu sehen war. Das Foto war zwar schwarzweiß, aber da das Erdgeschoss weiß und der erste Stock gelb gestrichen waren, konnte er leicht erraten, dass die abgebildete Wandfarbe blau sein musste. Mit einer Selbstverständlichkeit, die niemanden daran zweifeln ließ, dass er sich rechtmäßig dort aufhielt, marschierte Ullstein über den Flur, bis er Alexandras Zimmer fand.

Er schlüpfte hinein und schob die Tür leise zu. Sie war allein. Er nahm an ihrem Bett Platz und ergriff ihre Hand. Als er sprach, glaubte er ein Zucken ihrer Finger zu ­spüren, aber das mochte auch Einbildung oder Wunschdenken sein.

Ullstein konnte sich nicht entscheiden, was er schlimmer fand: dass sie eine Rote war, wie er zuerst angenommen hatte, oder eine Werwölfin, wie er nun wusste. Beides konnte er den bayrischen Behörden nicht erzählen. Doch jetzt, als sie wie schlafend in diesem Bett lag, sah er ohnehin nur eine wunderschöne junge Frau, die ihn mehr als einmal betört hatte.

Wie war sie nur in diese Lage gekommen? Bei ihrer letzten Begegnung befand sie sich noch bei bester Gesundheit.

„Was tun Sie in diesem Zimmer?“, herrschte ihn eine Frauenstimme hinterrücks an.

Ullstein zuckte heftig zusammen. Alexandras Anblick hatte ihn so gefangen genommen, dass sich ihm jemand unbemerkt hatte nähern können. Er drehte sich um. Sein gesamtes Blickfeld wurde von der Schwesterntracht eingenommen. Die Frau hatte eine enorme Breite, wie siamesische Zwillinge mit nur einem Kopf.

„Sie haben mir einen gehörigen Schreck eingejagt, Schwester.“

„Vielleicht haben Sie sich ertappt gefühlt, mein Herr“, entgegnete die Schwester ungerührt. „Und es heißt Oberschwester. Ich bin Oberschwester Thekla. Mit wem habe ich die Ehre?“

„Mein Name ist Gerhard von Bitterfeld“, log Ullstein ohne das geringste Zögern.

„Wie ich sehe, haben Sie die heutige Tageszeitung gelesen“, sagte Oberschwester Thekla und wies mit dem Kopf auf die obere Hälfte der Zeitung, die aus der Seitentasche seines Trenchcoats ragte.

„Und ich bin gleich hierher geeilt.“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte die Schwester mit hohntriefender Stimme und musterte ihn von Kopf bis Fuß.

„Womit habe ich Ihr Misstrauen verdient?“, fragte Ullstein lächelnd.

„Die Patientin ist eine schöne Frau. Dank dieses vermaledeiten Artikels fanden sich heute schon eine Menge junger Herren hier ein, die ihre Ehefrau oder Verlobte gleich mit nach Hause nehmen wollten. Ich möchte Ihnen keine ruchlosen Absichten unterstellen, aber ich habe gelernt, vorsichtig zu sein.“

„Ich bin erfreut und dankbar, dass Sie so gut für meine Cousine sorgen und sie beschützen.“

„Ihre Cousine, so so. Das ist doch wenigstens mal was anderes. Sie haben nicht zufällig Ausweispapiere dabei, die das bestätigen?“

„Bedauerlicherweise nicht, die müsste ich erst holen.“

„Ich bitte darum. Ihrer Cousine macht es momentan nichts aus zu warten.“

Ullstein lächelte. „Ich hab‘ Sie nur veralbert, Schwester. Kein Mensch verfügt über Papiere, die beweisen, wer wessen Cousine ist.“

„Sie haben recht.“ Schwester Thekla hob die rechte Braue. „Wie wollen wir das Problem lösen?“

„Ich werde mein Stammbuch holen und beim Einwohnermeldeamt eruieren, ob es dort Unterlagen gibt, die beweisen, dass unsere Mütter Schwestern waren. Das dürfte wohl reichen.“

„Schön.“

Ullstein ließ sich auf den Flur hinausführen.

„Einen schönen Tag noch“, wünschte ihm die Oberschwester, machte auf der Stelle eine Kehrtwendung und glitt davon.

Rollschuhe, es müssen einfach Rollschuhe sein, dachte Ullstein und ging. Er hatte nicht ewig Zeit. Es musste in München noch andere Menschen geben, die Alexandra kannten und in der Lage waren, eine Zeitung zu lesen. Zudem hielt er sich illegal in Bayern auf und durfte schon deswegen nicht auffallen. Ein strategischer Rückzug stellte momentan seine beste Option dar. Mit einer bewusstlosen Frau unter dem Arm konnte er ohnehin nicht flüchten.

Er verließ das Krankenhaus mit der festen Absicht, in der Nacht zurückzukehren. Er konnte nur hoffen, dass bis dahin niemand nach Alexandra fragte, der tatsächlich überzeugende Papiere mitbrachte. Herrn Hitlers Heerscharen oder dergleichen.

Der Droschkenfahrer brachte Ullstein zu einem Lokal, in dem er seinen Hunger stillen und in Ruhe eine Zigarette rauchen konnte. Anschließend suchte er ein Damenbekleidungsgeschäft auf und ließ sich von zwei jungen Verkäuferinnen ausführlich beraten. Er suchte robuste Sportkleidung, vorzugsweise dunkel. Schließlich einigte man sich auf eine Kombination aus Jagdtracht und Wanderkleidung. Mit seinen Einkäufen ließ Ullstein sich zu einem günstigen Hotel in der Nähe des Bezirkskrankenhauses bringen. Er reichte dem Droschkenfahrer die zweite Hälfte seines Scheins und bezog dann ein Zimmer, in dem er auf das Einsetzen der Dunkelheit wartete.


*


Vor dem Krankenhaus zog Ullstein den hellen Trenchcoat aus, da dieser zu auffällig war, und schlich in dem dunklen Jackett weiter. Die Luger steckte in der ­Pistolentasche an seinem Gürtel. Er hoffte, er würde sie nicht benutzen müssen.

Die erste Hürde nahm er überraschend mühelos. Der Nachtwächter stand rauchend vor der Tür und bemerkte Ullstein nicht, der hinter ihm ins Gebäude schlich. Die Nachtschwestern saßen bei einem Kaffee zusammen und freuten sich über eine kurze Verschnaufpause.

Ullstein schlich am Schwesternzimmer vorbei und erreichte unbemerkt Alexandras Krankenzimmer.

Er nahm ihre Hand in seine und spürte erneut, dass ihre Finger zuckten. Einmal, zweimal. „Kannst du mich hören, Genossin?“, flüsterte er ihr zu.

Alexandras Hand packte zu wie eine Stahlklaue. „Das kann ja wohl kaum das Paradies sein“, drang ihre schwache Stimme an sein Ohr. „Oder lässt man hier jeden rein?“

„Die große Klappe ist schon aus dem Koma erwacht“, stellte Ullstein fest. „Wann folgt der Rest?“

Sie öffnete die Augen und rutschte im Bett von ihm weg. „Was wirst du jetzt tun? Verrätst du mich an die Polizei?“

Ullstein schüttelte den Kopf. „Wenn du mir hilfst, halt‘ ich die Klappe und helf‘ dir sogar hier raus.“

„Was muss ich dafür tun?“

„Als Erstes könntest du mal erzählen, wie du hier gelandet bist.“

Sie räusperte sich krächzend. Ullstein goss ihr Wasser aus einem Krug ein und reichte ihr das Glas.

Sie nahm einen Schluck und begann zu erzählen. „Die königlich bayerische Polizei hatte unser Versteck schon im Visier. Als wir den Obersalzberg verließen, haben sie dem Konvoi aufgelauert. Plötzlich tauchte vor uns eine Straßensperre auf.“

„Ich nehme an, unser ungestümer Freund Sebastian hat versucht, sie zu durchbrechen?“

Alexandra nickte, was ihr sofort Kopfschmerzen bereitete. „Er war noch nie ein diplomatischer Charakter. Die erste Sperre war leicht zu bewältigen. Sie schoben die Sperre auseinander und erschossen alle Polizisten. Anschließend hatten wir eine Weile Ruhe, bis wir kurz vor München auf eine weitere Straßensperre stießen, und die hätte einem Panzer standgehalten.“

„Was habt ihr getan?“, fragte Ullstein. „Umgedreht? Ausgewichen? Aufgegeben?“

„Unser erster Wagen versuchte, durch die Sperre zu brechen. Er verkeilte sich mit den Polizeifahrzeugen und kam weder vor noch zurück. Es gab eine Riesenschießerei, die keiner in dem Laster überlebte. Die Triumph mit dem Beiwagen musste ebenfalls dran glauben. Da erst hat Sebastian umgedreht. Wir versuchten zu entkommen, aber sie folgten uns. Ich habe mich auf das Trittbrett des Lasters gestellt und auf die Polizisten geschossen, um sie auf Abstand zu halten. Einem ihrer Autos konnte ich den Motor kaputtschießen, aber dann rammte Sebastian irgendein Hindernis. Ich flog in hohem Bogen durch die Luft. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann.“

„Ich nehm‘ an, es waren nicht deine Verfolger, die dich gefunden haben. Sonst wärst du jetzt an dein Bett gefesselt, und eine Wache stünde vor der Tür. Man hat dich wohl für ‘ne unschuldige Passantin gehalten, die von den Verbrechern angefahren wurde.“

„Du meinst, ich hätte Glück gehabt, weil ich nur in ein Koma gefallen bin?“

Plötzlich hob Ullstein einen Finger an die Lippen. Er stand auf und löschte das Licht, bevor er sich hinter die Tür stellte und ihr Zeichen machte, sich schlafend zu stellen. Beziehungsweise, im Koma zu liegen.

Die Tür öffnete sich, und die Nachschwester streckte den Kopf herein. Das Licht vom Flur fiel auf Alexandra, die reglos in ihrem Bett lag. Ullstein fiel sofort das halbvolle Wasserglas auf den Nachttisch auf, aber er hoffte, dass die Schwester es nicht bemerkte. Die Frau schloss zufrieden die Tür und setzte ihre Runde fort. Ullstein lauschte, bis sich ihre Schritte entfernt hatten, dann kehrte er ans Bett zurück.

„Gut, den Rest erzählst du mir unterwegs. Ich hab‘ Kleidung für dich dabei.“

„Ich fürchte, du wirst mir beim Anziehen helfen müssen. Du bist hoffentlich nicht prüde.“

„Das solltest du inzwischen wissen. Schließlich hast du mir lange genug vorgespielt, meiner Anziehungskraft nicht widerstehen zu können, um mich dann aufs Kreuz zu legen. Allerdings nicht so, wie ich es gern‘ gehabt hätte.“

Sie senkte schuldbewusst den Blick. Sollte sie tatsächlich ein schlechtes Gewissen deswegen haben? Er hielt sie eigentlich für zu abgebrüht für solche Gefühle, aber man konnte ja nie wissen.

Ullstein hatte absichtlich weitere Kleidung gekauft, da er schon damit gerechnet hatte, dass sie Probleme beim Anziehen haben würde. Er ging davon aus, dass ihr nach einem solchen Sturz auch ohne Knochenbrüche jeder Körperteil wehtun musste.

Er drehte ihr den Rücken zu, als sie sich ankleidete. Selbst als er ihr bei der Hose helfen musste, drehte er diskret den Kopf zu Seite. Allerdings kam es durch die fehlende Sicht zu einigen unabsichtlichen ­Berührungen. Ullstein hüstelte gespielt verlegen, doch Alexandra reagierte eher amüsiert als verärgert. Schließlich stand sie aufbruchbereit neben dem Bett. Ullstein öffnete die Tür und linste in den Flur. Die Luft schien rein zu sein.

Sie schlichen durch den Flur Richtung Treppenhaus. Die Nachtschwestern waren leicht auszumachen, doch um ein Haar wären sie dem Nachtwächter in die Arme gelaufen. Sie mussten vor ihm in einen Seitengang ausweichen, der an einer verschlossenen Tür endete.

Im Treppenhaus wurde der Lichtschein immer heller, der den Nachtwächter ankündigte.

Ullstein probierte die beiden anderen Türen auf dem Flur aus, die ebenfalls verschlossen waren. Er zog die Luger und fasste sie am Lauf, um den Griff zum Schlagen zu verwenden. „Das wollte ich eigentlich vermeiden. Ich kann‘s nicht ausstehen, anderen Leuten Kopfschmerzen zu bereiten.“

„Hast du ein Messer oder so etwas?“

„Bedaure. Aber selbst wenn, würde ich trotzdem den Pistolengriff nehmen.“

„Du hast mich falsch verstanden. Diese Tür hier ist nicht abgeschlossen. Sie hat einen Knauf. Ich brauche nur etwas, um in den Türschlitz zu kommen.“

Er reichte ihr seine Geldbörse, die sie im schwachen Licht der Flurlampen durchsah. Sie nahm mehrere Geldscheine, faltete sie eng zusammen, bis sie die Form eines dünnen Lineals angenommen hatten und drückte sie in den Türspalt, bis der Schnapper weit genug zurück­gedrängt wurde. Er öffnete die Tür und schob sich mit ihr in den kleinen Raum, in dem es stark nach Reinigungsmitteln roch.

„Reden wir doch mal über diesen ominösen Herrn Theodor, oder auch Bormann, der angeblich für die Staatsanwaltschaft New Montanas arbeitet und mir Marie Hanussen vor der Nase weggeschnappt hat.“

„Ausgerechnet jetzt willst du darüber reden?“ Alexandra schnappte nach Luft. „Hast du sie noch alle?“

„Mir fällt kein besseres Thema ein. Es sei denn, du interessierst dich für Blues. Nicht? Also dann: Weshalb hat Bormann das Mädchen aus dem Knast geholt und nach Berchtesgaden gebracht? Er wusste doch, dass sie als Seherin nutzlos geworden ist. Wollte man Hanussen einen Gefallen tun, damit er seine Kristallkugel bemüht? Nein, das kann es auch nicht sein, denn die Werwölfe wissen, dass er ein Scharlatan ist und nicht weiter vorausschauen kann, als die Sehkraft seiner Augen reicht.“

Alexandra warf ihm einen flehenden Blick zu. „Können wir das nicht an einem sicheren Ort besprechen? Weit weg von hier?“

Ullstein verneinte. „Ach, weißt du, irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich den Dingen, die du mir in der momentanen Situation verrätst, viel mehr vertrauen kann. Du hast gerade so etwas Aufrichtiges an dir.“

„Mistkerl!“, zischte sie. Doch sie wusste, dass er gewonnen hatte. „Also gut. Marie ist gar nicht Hanussens Tochter.“

Ullstein stutzte. „Ist sie etwa Bormanns Tochter?“

Alexandra schüttelte den Kopf.

„Nein“, entfuhr es Ullstein verblüfft, als er die Wahrheit begriff. „Sie ist Hitlers Tochter?“

Alexandra nickte. „Sie weiß es nicht.“

„Als Hellseherin sollte sie es aber wissen.“

„Keine schlechten Witze“, wies Alexandra ihn zurecht. „Hanussens Schwester Dorothee ist Maries Mutter.“

Das hat die Dame aber gut vor mir verborgen, dachte Ullstein. Dorothee von Steyl hatte bei seinem Besuch in Arolsen die leicht besorgte Tante gespielt, sich aber ansonsten reichlich bedeckt gehalten. Auch Marie hatte bei ihrer Begegnung immer von ihrer Tante Dorothee gesprochen.

„Weiß Marie wenigstens, wer ihre Mutter ist?“

„Natürlich, aber sie verschweigt es auf Dorothees Wunsch. Damals war es noch eine größere Schande als heute, unehelich geboren zu sein.“

„Dann hat Hitler Marie nicht zu sich holen lassen, um ihre seherischen Kräfte zu prüfen?“

„Der Führer will seine Tochter in Sicherheit wissen, weil durchgesickert ist, dass sie existiert. Niemand soll sie gegen ihn einsetzen können, und es gibt genug Parteien in diesem Spiel, die ein großes Interesse daran hätten.“

„Wo ist Marie jetzt? Und ihr“ – Ullstein hüstelte – „Vater?“ Er fragte sich, ob Alexandra überhaupt wusste, wer der angebliche Hitler war, den er auf dem Obersalzberg kennengelernt hatte.

Alexandra verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist geheim.“

„Mir kannst du es sagen.“

„Ich meine, man hat es auch vor mir geheim gehalten.“

Ullstein grinste. „Aha, und das ärgert dich, oder? Dass sie nicht genug Vertrauen zu dir haben.“

„Fahr zur Hölle.“

„Nach dir“, sagte Ullstein und gab den Weg frei.