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Brigitte Hüllemann

Einführung
in die Traumatherapie

2019

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlag: Heiner Eiermann

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in the Czech Republic

Druck und Bindung: FINIDR, s.r.o.

Erste Auflage, 2019

ISBN 978-3-8497-0267-0 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8177-4 (ePUB)

© 2019 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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Tel. +49 6221 6438-0 Fax +49 6221 6438-22

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Inhalt

Vorwort

1Was ist ein Trauma, eine posttraumatische Belastungsstörung?

1.1Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)

1.2Prävalenz traumatischer Ereignisse, Prävalenz posttraumatischer Belastungsstörungen

1.3Erweiterung der diagnostischen Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung

1.4Koexistierende psychische Störungen bei posttraumatischer Belastungsstörung

1.5Koexistierende somatische Störungen bei posttraumatischer Belastungsstörung

2Grundbedürfnisse des Menschen und die Folgen fehlender Befriedigung

2.1Die menschlichen Grundbedürfnisse

2.2Unerfüllte Bindungsbedürfnisse der Kinder und Heranwachsenden und ihre Folgen

2.3Resilienzkräfte versagen, eigene Bedürfnisse werden nicht mehr erfüllt

3Dissoziation, ein Schutzmechanismus zum Überleben

3.1Das Kontinuum von der normalen zur pathologischen Dissoziation

3.2Dissoziation: ein grundlegender Konflikt – Das Dissoziationsmodell von Nijenhuis

4Die posttraumatische Belastungsstörung – eine somatopsychische Störung

4.1Die dreiteilige Struktur des Gehirns (Maclean 1990)

4.2Erinnerungen und Gedächtnis, Einfluss durch traumatische Ereignisse

4.3Einfluss traumatischer Ereignisse auf Biologie und Neurophysiologie des Organismus

4.4Multimodale Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung

5Besonderheiten der therapeutischen Beziehung und Kontaktgestaltung bei chronischer PTBS

5.1Therapeutische Absprachen und Interventionen

5.2Widerstand und Abwehr des Patienten

5.3Beziehungsfallen und Selbstschutz des Therapeuten

6Therapiekonzepte: Medikamente, innovative und experimentelle Verfahren

6.1Medikamentöse Therapie

6.2Innovative und experimentelle Verfahren

7Therapiekonzepte: Sprache, Trance, Bilder

7.1Kognitive Verhaltenstherapie

7.2Hypnose und Hypnotherapie, hypnosystemische Traumatherapie (siehe Schmidt 2017)

7.3Kombinierte, auf Ressourcen- und Symbolarbeit fokussierte Traumabearbeitungstherapien

7.4Psychodynamisch imaginative Traumatherapie

7.5Arbeit mit dem inneren Kind

7.6Gruppentherapie

8Therapiekonzepte: Teile der Persönlichkeit

8.1Ego-State-Therapie, das SARIA-Modell als Arbeitsgrundlage (Phillips u. Frederick 2003; Hartman 2017a)

9Therapiekonzept: Das innere Gleichgewicht von Geist und Körper wiedererlangen

9.1Atemübungen

9.2Achtsamkeit, Achtsamkeitsübungen

9.3Körperbewusstsein und Körpergewahrsein

9.4Die therapeutische Bedeutung des haptischen Sinns, »Berühren«

9.5Notfallkoffer

10Anhang

10.1Welche Therapie ist hilfreich?

10.2Dissoziation und ihre Subsysteme bei Nijenhuis

10.3Neurophysiologische und verhaltenspsychologische Veränderungen, traumabedingte Reaktionen

10.4Einfluss traumatischer Ereignisse auf den »Felt Sense«, das Körpergefühl (E. T. Gendlin)

10.5SIBAM-Modell und Lebensfluss-Modell von P. A. Levine

10.6Polyvagal-Theorie von S. W. Porges

Danksagung

Literatur

Über die Autorin

Vorwort

Ich glaube, dass die Krankheiten Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können.
Ich glaube, es gibt gewisse Tore, die einzig die Krankheit öffnen kann. Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand, der uns nicht erlaubt, alles zu verstehen.

(André Gide)

Ausgangspunkt jeder Traumatherapie ist die Not der Patienten. Traumatische Erlebnisse hinterlassen Spuren in unserem Geist, in unseren Emotionen und in unserem Körper. Sie beeinflussen unsere Fähigkeiten, Freude und Lust im Alltag erleben zu können. Sie können zu Depressionen, Angst-und Panikzuständen, zu Vermeidungsverhalten, Abschotten und sozialem Rückzug und zu vielerlei somatischen Beschwerden führen.

Die traumatischen Ereignisse stören dann sowohl die Beziehung des Patienten zu seinem Körper, seinem Geist und seiner Seele als auch die körperliche, geistige und seelische Beziehung zu den unmittelbar in seiner Nähe befindlichen Mitmenschen. Das Leben dieser Betroffenen gerät außer Kontrolle, viele glauben, so gestört zu sein, dass sie nicht wert seien, zur Gemeinschaft der Gesunden zu gehören, und manche haben Angst, verrückt zu werden oder zu sein.

Häufig scheuen sich die Patienten aufgrund von Schamgefühlen, Hilfe aufzusuchen, oder sie befürchten, für Lügner gehalten zu werden oder als psychisch krank zu gelten.

Manchmal haben die Patienten die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse komplett aus ihrem Gedächtnis verdrängt, und erst sehr viel später tauchen Erinnerungsfragmente in Form von bedrohlichen Bildern, unangenehmen sensorischen Empfindungen und schrecklichen Gefühlen wieder auf, die dann auch mit körperlichen Schmerzen verbunden sein können. Mit großer Kraftanstrengung und viel Energieaufwand bewältigen sie ihren Alltag, und häufig wissen sie nicht, welches die Ursachen ihres beschwerlichen Lebens sind.

Oft werden sie erst spät einer spezifischen traumazentrierten Therapie zugeführt, und manch einer hat eine lange Odyssee von ärztlichen und psychologischen, ambulanten und stationären Therapien hinter sich.

Die Neurowissenschaften haben neben der Entwicklungspsychopathologie und der interpersonalen Neurobiologie viel zum Verständnis dessen beigetragen, wie sich Traumata auf das Gehirn auswirken und zu physiologischen und strukturellen Veränderungen führen. Wie wir heute wissen, muss das Gehirn des Traumatisierten sich neu organisieren, um das Überleben des Patienten zu sichern. Die Kampf-, Flucht- und Totstellreflexe unseres Stammhirns und limbischen Systems können beim kleinsten Anzeichen einer akuten Gefahr reaktiviert werden, gestörte Gehirnschaltkreise initiieren und die physiologischen Stressreaktionen des Körpers hervorrufen.

Der Zuwachs an Wissen hat das therapeutische Vorgehen beeinflusst. Wir können grundsätzlich drei Vorgehensweisen beschreiben:

Wir können mit Reden und (Wieder-)Herstellen einer vertrauensvollen Beziehung zum Patienten erkennen und verstehen lernen, welche dramatischen Veränderungen sich in der inneren Welt des Betroffenen ergeben und seinen Körper beeinflusst haben, während die Erinnerungen an das erlebte Trauma verarbeitet werden (»Top-down«-Methode).

Wir können Körpererlebnisse ermöglichen, die den Gefühlen der Hilflosigkeit und Ohnmacht, der Wut, des Hasses oder des völligen Zusammenbruchs entgegenwirken und ein anderes, positives Körpererleben ermöglichen (»Bottom-up«-Methode).

Wir können Medikamente einsetzen, die der inneren Unruhe, Angst und Depression, den Stressreaktionen des Körpers entgegenwirken, und wir können technische Möglichkeiten anwenden (Neurofeedback oder magnetische Hirnstimulation), die die Organisation von Informationen im Gehirn zu verändern suchen.

Keiner der in diesem Buch vorgestellten Behandlungsansätze erhebt den Anspruch auf endgültige Heilung. Das Ziel der Therapie ist, dass die Betroffenen ihr Leben wieder in den Griff bekommen lernen, mit der Vergangenheit in der Gegenwart zu leben, und wenn es nur für einen begrenzten Zeitraum ist.

Die dargestellten Therapieformen sind nicht vollständig, es sind auch nicht alle existierenden Traumatherapiemodelle erwähnt, man möge der Autorin verzeihen. Es wurden diejenigen Therapiemodelle ausgesucht, die Ego-State-Therapie im Besonderen, mit denen die Autorin selbst ausführliche praktische Erfahrungen während ihrer langen klinischen Tätigkeit sammeln konnte.

Die in diesem Buch ausgewählte und erwähnte Literatur wird zum weiteren Studium empfohlen.

Die Aussagen der Patienten bzw. die Fallbeispiele sollen einen Einblick in die praktische Arbeit geben, die oft mühselig und energieraubend ist, aber dennoch viele schöne Momente bietet, Momente des Glücks und der Dankbarkeit, einer tiefen vertrauensvollen menschlichen Begegnung.

Der besseren Lesbarkeit halber wird in diesem Buch nur die jeweils männliche grammatische Form verwendet.

Brigitte Hüllemann

Bergen, im Oktober 2018

1Was ist ein Trauma, eine posttraumatische Belastungsstörung?

»Es ist gleichsam so, als verdunkle sich mein Inneres, als gehe ich mit einer ungeheuer schweren Last … Ich habe eine Empfindung, dass eine ungeheure Kraft an mir zerrt, mich zerreißt, von innen heraus auseinanderreißt … Grässliche, grauenvolle Bilder tauchen in einem Durcheinander in mir auf … Alles Licht von außen, jede Stimme, jedes Lachen und jeder Ton von dort, jede Farbe, jeder Blick und jede Berührung … verwandelt sich in der endlosen Finsternis, in der alles erstarrt, erfriert und gleichsam zu Stein wird … Alles in mir und um mich herum fühlt sich leer und ausgehöhlt an … Mir ist, als stehe ich an einem Abgrund, der mich hinabzieht, mich verschlingen möchte, mich immer weiter entfernt von meinem Selbst … Wie unter Zwang möchte ich dann fortlaufen, ohne zu wissen, wohin, denn es gibt dann keinen Ort, an dem ich sein kann … Ich habe das Gefühl, gänzlich zu versagen, weil ich diesen Zustand nicht unterbrechen kann. Ich schäme mich meiner Hilflosigkeit, meines Unvermögens, und ich fühle mich dann nur mehr wertlos und überflüssig …

(Aus dem Brief einer 38-jährigen Patientin)

1.1 Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS)

Die Bedeutung des Wortes »Trauma« und wie gesunde Menschen auf ein traumatisches Ereignis reagieren

Der Begriff »Trauma« ist griechischen Ursprungs und bedeutet »Verletzung«, »Wunde«. Eine traumatische Erfahrung beinhaltet, dass eine Situation, ein Ereignis oder eine Serie von schrecklichen Ereignissen für die Betroffenen extrem bedrohlich und überwältigend sind. Der Mensch erfährt dabei Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit, Alleingelassensein, Todesangst, Panik, manchmal auch Ekel und Scham. Häufig sind die Gefühle mit schmerzhaften körperlichen Beeinträchtigungen und unangenehmen sensorischen Wahrnehmungen verbunden.

Nicht immer muss das traumatische Ereignis eine posttraumatische Belastungsstörung nach sich ziehen. Dies ist abhängig von der Art des Ereignisses, vom kulturellen und sozialen Status des Betroffenen, vom Geschlecht und von der individuellen Empfänglichkeit eines Menschen, ein Trauma zu erleiden.

Gesunde Menschen reagieren auf traumatische Ereignisse mit »einem Aufschrei« (Fischer und Riedesser 2003), und sie brauchen Zeit, mit solch einer Erfahrung fertigzuwerden. Sie denken viel über die Situation nach, und immer wieder werden sie von schlimmen Gefühlen und auch körperlichen Schmerzen überfallen, die mit dieser Situation zu tun haben. Viele sind über einen längeren Zeitraum verunsichert, verwirrt und suchen nach Orientierung. Es gibt Phasen, in denen sie sich abschotten, in denen sie dichtmachen, von allem nichts mehr wissen wollen, sich abzulenken versuchen. Diese Phasen sind vorübergehend und dienen der Verarbeitung. Das traumatische Erleben wird danach als Information, Erfahrung verstanden und in die Lebensgeschichte integriert, und der Betroffene wird in Zukunft solche Erfahrungen zu meiden suchen.

G. Fischer und P. Riedesser (2003) haben in ihrem Lehrbuch der Psychotraumatologie drei Phasen eines natürlichen Traumaverlaufes beschrieben:

Schockphase (Dauer: eine Stunde bis eine Woche): Diese Phase ist gekennzeichnet von Verwirrtheit, Unfähigkeit, sich an wichtige Daten zu erinnern. Noch vor psychologischen sind medizinische Maßnahmen notwendig (Kreislaufstützung, Schmerzbekämpfung). Menschen, die in einem Schockzustand sind, erkennt man an ihrer bleichen Hautfarbe, an ihrem schnellen Atem, am benommenen Blick. Ihre Orientierung kann gestört sein, und manche glauben, sich an einem anderen Ort zu befinden.

Einwirkungsphase (Dauer: bis zu zwei Wochen): Die stärkste Erregung ist jetzt abgeklungen, doch die Betroffenen sind innerlich vom Ereignis noch voll in Anspruch genommen. Sie leiden unter Selbstzweifeln, Gefühlen von Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht, und häufig treten Gefühle von Wut auf. Ihr Schlaf ist gestört, sie haben Albträume, leiden unter »Flashbacks«, Nachhallerinnerungen an das traumatische Ereignis, sind übererregt und vermehrt schreckhaft. Ihren Alltag belasten Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, mitunter auch depressive Gefühle. Doch all dies sind vorübergehende Symptome, auch wenn sie dem Erscheinungsbild einer posttraumatischen Belastungsstörung ähneln.

Erholungsphase (Dauer: zwei bis vier Wochen): Das Interesse am normalen Leben kehrt jetzt wieder. Die Zukunftspläne werden wieder positiver, und Energien werden frei.

Symptome, die auf eine posttraumatische Belastungsstörung hindeuten

Wenn in den ersten Tagen und Wochen nach dem traumatischen Geschehen die Betroffenen sich nicht beruhigen können, sie in einem Zustand panischer Erregung verharren, wenn körperliche und/oder seelische Beschwerden bestehen, die vor dem Ereignis nicht vorhanden waren oder die sich seither verstärkt haben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS – deutscher Sprachgebrauch), Post-Traumatic Stress Disorder (PTSD – angloamerikanischer Sprachgebrauch) vorliegt. Die Betroffenen erleben und reinszenieren nun fortdauernd das traumatische Ereignis im Alltag und in der Gegenwart als intrusive Erinnerungen, als Flashbacks oder Albträume. Das Wiedererleben ist mit starken, sie überflutenden Gefühlen von Angst und Schrecken, oft auch körperlichen Sensationen verbunden, so als befänden sie sich erneut in der traumatischen Situation. Folglich versuchen sie mit großem Energieaufwand, Gedanken und Erinnerungen an das oder die Ereignisse, an Aktivitäten, Situationen oder Menschen, die damit verbunden waren, zu vermeiden und zu verdrängen. Die betroffenen Personen befinden sich in einem Zustand vegetativer Übererregtheit, sind übermäßig schreckhaft und können nicht mehr schlafen.

Die posttraumatische Belastungsstörung ist das Resultat einer Neuorganisation des Gehirns

Die posttraumatische Symptomatik ist als ein Resultat der Neuorganisation des Gehirns zum Schutze der Patienten und als Überlebenshilfe zu verstehen. Bestimmte, vor allem ressourcenreiche Selbstanteile dieser Personen werden durch das Trauma nicht mehr aktiviert, oder ehemals verbundene Selbstanteile sind voneinander abgespalten (Maragkos u. Butollo 2006a, b).

Das Gehirn ist nicht mehr in der Lage, die lebensbedrohlichen Informationen auf eine neue Art miteinander zu verbinden. Die traumatischen Inhalte bleiben unverdaut und unverarbeitet als einzelne Wahrnehmungen, Bilder, Emotionen, sensorische Eindrücke, Körpersensationen haften. Der Organismus reagiert zunehmend sensibler auf äußere Reize, die in irgendeiner Weise an diese Erfahrungen andocken.

Es ist, als ob das traumatische Ereignis Grenzen zerstörte und den betroffenen Menschen die Sinnhaftigkeit und Sicherheit ihres Lebens geraubt hätte. Ihr emotionales Erleben ist eingeschränkt. Freude, Lust, Neugier und Sicherheit können nicht mehr gespürt werden, dafür herrschen Gefühle von Angst, Schmerz, Verzweiflung und Leere vor. Nichts ist mehr, wie es vorher war.

Da das Geschehene für die Menschen unfassbar ist, verlieren sie ihre Orientierung, die Zielgerichtetheit ihres Lebens. Die innere und äußere Erschöpfung nimmt kontinuierlich zu, behindert und verhindert zunehmend den Kontakt zur eigenen Person und zu anderen. Das Leben wird zum Kampf, jeder Tag zur ungeheuren Anstrengung zu überleben.

Zwei kurze, validierte Fragebogen können für das Screening nach einer posttraumatischen Belastungsstörung herangezogen werden:

4-Item Primary Care PTSD Screen: Prins, Quinette, Kimmerling et al. (2003)

17-Item PTSD Checklist: Bovin, Marx, Weathers et al. (2016).

Items wie Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Schlafverhalten, Selbstfürsorge und Alltagsbewältigung sind wichtige Marker bei der Identifikation der Erkrankung. Die Checkliste Bovin, Marx, Weathers et al. (2016) quantifiziert außerdem die Schwere der Symptome und kann dazu benutzt werden, therapeutische Maßnahmen zu markieren und festzuhalten.

1.2 Prävalenz traumatischer Ereignisse, Prävalenz posttraumatischer Belastungsstörungen

Wie häufig erfahren Menschen traumatische Ereignisse, und wie hoch ist die Gefahr, eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zu entwickeln?

Wie häufig traumatische Ereignisse erlebt werden und wie häufig sich danach eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab. Nach neuesten Daten (Longo 2017) erfahren mehr als 70 % der Erwachsenen weltweit in ihrem Leben ein traumatisches Ereignis zu irgendeiner Zeit, 31 % sogar vier oder mehrere traumatische Ereignisse. Die meisten der traumatischen Ereignisse, über die aus den USA berichtet wird, sind physische und sexuelle Übergriffe (52 % Lebenszeitereignisse), Unfälle oder Brandfälle (50 % Lebenszeitereignisse). Weltweit kommen Unfälle und Verletzungen am häufigsten (36 % Lebenszeitereignisse) vor.

Die posttraumatische Belastungsstörung ist die häufigste psychopathologische Störung, die der Exposition eines Traumas folgt. Die Lebenszeitprävalenz (Häufigkeit der Erkrankung) beträgt je nach Sozialstatus und Länderzugehörigkeit zwischen 1, 3 und 12,2 % und die Einjahresprävalenz 0,2 bis 3,8 %. Die Wahrscheinlichkeit, eine PTBS zu erleiden, ist in Ländern mit höherem Einkommen größer als in Ländern mit niedrigerem Einkommen. Geschlechterrolle, soziale und situationsbedingte Faktoren spielen eine Rolle bei der Entwicklung und Fortdauer der entsprechenden Symptomatik.

Die Intensität eines Traumas und die individuelle Empfänglichkeit einer Person für ein Trauma stehen in Wechselwirkung zueinander, wenn es um die Wahrscheinlichkeit geht, eine PTBS zu entwickeln.

Faktoren, die eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer PTBS im Erwachsenenalter bedingen, sind:

weibliches Geschlecht

erlebtes kindliches Trauma

geringe Schulausbildung

frühe mentale Störungen

vier oder mehr erlebte traumatische Ereignisse und Misshandlungen.

Je intensiver die traumatische Erfahrung ist, umso höher ist das Risiko, eine PTBS zu entwickeln. Das Risiko steigt, wenn Menschen Todesgefahr, Verletzungen, Folter oder körperliche Entstellung erleiden, eine traumatische Hirnverletzung oder eine traumatische Erfahrung machen, die unerwartet, unausweichlich und unkontrollierbar ist (Longo 2017).

Sozial schwächere und jüngere Personen, Armeeangehörige, Polizisten, Feuerwehrleute und Personen, die beruflich über Katastrophen und Massenverletzungen berichten, haben eine höhere Rate, eine PTBS zu entwickeln.

Physiologische und neuroendokrine Vorhersageparameter hinsichtlich der Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung sind erhöhte respiratorische und kardiologische Frequenzraten (schneller Atem, erhöhter Puls) und ein niedriger Cortisolspiegel im Blut.

1.3 Erweiterung der diagnostischen Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung

Neue diagnostische Leitlinien nach DSM-51, ICD-112

Seit etwa 2004 werden die diagnostischen Kriterien der Traumasymptomatik ständig erweitert. Im Lehrbuch der Psychotraumatologie von G. Fischer und P. Riedesser (2003, S. 137) wurde noch zwischen einem einmaligen, überraschenden Trauma (Typ I, Monotraumatisierung; siehe auch Terr 1997), das meist Erwachsene betrifft, und einem kumulativen Trauma (Typ II, Polytraumatisierung; siehe auch Khan 1963), einem chronischen oder komplexen Trauma, unterschieden.

Zu den Typ-I-Traumata wurden gezählt: Unfälle, Naturkatastrophen, Vergewaltigung, Überfälle, Operationen, Folge von schweren Krankheiten, Behinderungen und Verlust eines nahestehenden Menschen.

Zu den Typ-II-Traumata wurden gezählt: Krieg, Kindesmissbrauch, familiäre Gewalt, Folter, Geisel- und KZ-Haft.

In den DSM-5- Kriterien (den Kriterien des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5, vgl. etwa American Psychiatric Association 2013)und den ICD-11- Kriterien (Kriterien der International Classification of Diseases 11) der Welt-Gesundheitsorganisation (vgl. etwa WHO 2016, 2018) erscheint die Unterscheidung in Typ-I- und Typ-II-Trauma nicht mehr.

Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen der WHO diagnostiziert die Störung posttraumatische Belastungsstörung im Allgemeinen nur dann, wenn sie innerhalb von sechs Monaten nach einem traumatisierenden Ereignis von außergewöhnlicher Schwere auftritt.

Die diagnostischen Kriterien für DSM-4-TR (revidierte Textversion des DSM-4) unterscheiden zwischen einer akuten posttraumatischen Belastungsstörung, wenn die Symptome weniger als drei Monate andauern, und einer chronischen Belastungsstörung, wenn die Symptome mehr als drei Monate lang andauern. Von einer Belastungsstörung mit verzögertem Beginn wird gesprochen, wenn der Beginn der Symptome mindestens sechs Monate nach dem Belastungsfaktor liegt.