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Astrid Keweloh

Einführung in das
Lebensflussmodell

Zweite Auflage, 2022

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

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Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

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Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlag: Heiner Eiermann

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in the Czech Republic

Druck und Bindung: FINIDR, s.r.o.

Zweite Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0245-8 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8160-6 (ePUB)

© 2018, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

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Inhalt

1Einleitung

2Die Entwicklung des Lebensflussmodells

2.1Der Begründer des Lebensflussmodells

2.2Die Wurzeln des Lebensflussmodells

2.2.1Inspiration durch die Familientherapie von Virginia Satir

2.2.2Inspiration durch die Hypnotherapie von Milton H. Erickson

2.3Analoge Methoden und der hypnosystemische Ansatz

3Aspekte des Lebensflussmodells

3.1Seile – eine zeitlose und doch moderne Metapher

3.2Die Metapher Lebensfluss als lebendige Analogie

3.3Perspektivwechsel und Stimmungsumschwung als gewünschtes Erleben der Externalisierung

3.4Ein kleiner Einblick in die praktische Arbeit mit dem Lebensfluss

3.5Selbstwirksamkeit oder das Symptom als kreative Lösung

3.6Das Wandeln zwischen den Zeiten auf dem Lebensfluss

3.7Wirkungen und Metamorphosen der drei wichtigsten Stationen des Lebensflusses

3.7.1Das Jetzt – die aktuelle Problemsituation in der Metamorphose zur Herausforderung

3.7.2Das Geschafft – die gelungene Metamorphose zur selbstwirksamen Handlung

3.7.3Das Futur II – die fast schon vergessene Metamorphose der bewältigten Herausforderung

3.8Artenvielfalt und Unterschiede bereichern – Peter Nemetscheks und meine Variante der Lebensflussarbeit

3.8.1Die verschiedenen Stationen am Lebensfluss

3.8.2Die Aufteilung im Raum

3.9Wann setze ich das Lebensflussmodell ein und gibt es Kontraindikationen?

3.9.1Einsatzmöglichkeiten

3.9.2Kontraindikationen

4Eine kleine Zeitreise – Übung zur Selbsterfahrung

5Das Flussbett oder: Basics für die Praxis

5.1Materialien und zeitlicher Ablauf der Lebensflussarbeit

5.1.1Die Materialien

5.1.2Planung des zeitlichen Ablaufs

5.2Der Weg zum Geschafft

5.3Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt

5.4Der Blick mit der Lupe oder verschiedene Möglichkeiten der Kurvengestaltung

5.4.1Wiederaufbau des vorangegangenen Lebensflusses

5.4.2Der Blick mit der Lupe

5.4.3Kombination mit einer Ressourcensitzung

5.5Das Rauschen am Lebensfluss oder: Welche Worte sind hilfreich?

5.6Die Proportionen der Lebensflusslandschaft im Raum

5.6.1Die Zeit der Ressourcen

5.6.2Die Zeit der Herausforderung

5.6.3Die Zeit der gemeisterten Zukunft

6Variationen des klassischen Lebensflussmodells

6.1Die Lebensflussarbeit mit einem Klienten und einem Seil

6.1.1Der Ablauf des einfachsten Lebensflussmodells

6.1.2Fallbeispiele für die Arbeit mit dem Lebensflussmodell

6.2Die Lebensflusslandschaft mit einem Klienten und verschiedenen Seilen für sein Bezugssystem

6.2.1Zwei Fallbeispiele für die Gestaltung der Lebensflusslandschaft mit einem Klienten und verschiedenen Seilen für das Bezugssystem

7Die Integration von Ressourcen aus der Vergangenheit

7.1Ablauf und sprachliche Begleitung einer Lebensflussarbeit mit dem Fokus auf den Ressourcen Sicherheit, Kraft und innerer Halt

7.2Hilfreiche Personen oder Bezugssysteme als visualisierte Ressourcen

8Arbeit mit dem Lebensflussmodell ohne Seile

8.1Frei im Raum

8.2Gestaltung mit dem Flipchart

8.3Das Basislebensflussmodell anhand einer eigenen Zeichnung und Trance

9Das Lebensflussmodell in der Paartherapie

9.1Bewältigung einer Beziehungskrise anhand des Lebensflussmodells

9.2Aktivierung und Nutzung von Ressourcen in der Paartherapie

10Das Lebensflussmodell in der Familientherapie

10.1Familientherapie mithilfe des Lebensflussmodells

10.2Ressourcen nutzen bei der Lebensflussarbeit innerhalb der Familientherapie

11Das Lebensflussmodell im Coaching

11.1Entscheidungen treffen

11.2Der Ablauf

12Das Lebensflussmodell im Gruppenkontext

12.1Zielfokussierung im Gruppenkontext

12.1.1Individuelle Ziele der Teilnehmer

12.1.2Ziele des Teams oder der Gruppe

13Herausfordernde Situationen in der Arbeit mit dem Lebensflussmodell

13.1Schwere Traumafolgestörungen

13.2Keine Ressourcen vorhanden?

13.3Der Klient nimmt nichts wahr?

13.4Der Klient will nicht über das Problem reden, benötigt aber Hilfe

14Ausblick und weitere Einsatzfelder der Lebensflussarbeit

Anhang 1: Peter Nemetschek – Stationen des Lebens

Anhang 2: Verwendete Symbole

Danksagung

Literatur

Über die Autorin

1Einleitung

Wir alle kennen die Faszination von Wasser, das in den unterschiedlichsten Formen die Erde belebt – Bäche, Flüsse oder Ströme, Seen oder Meere, die die Erde begleiten und unser Leben bereichern, die die Grundlage für alles Leben schaffen.

Kinder fühlen sich von Wasser angezogen, und die meisten spielen unglaublich gerne in Bächen oder flachen Gewässern. Auch in vielen von uns ist diese Faszination erhalten geblieben, und der Anblick von Flüssen, die durch Landschaften und Städte fließen, oder das Geräusch von strömendem Wasser entspannt uns und versetzt uns oft schon ganz von alleine in eine Art Alltagstrance.

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Abb. 11

Flüsse können so verschieden sein – breit und friedlich sanft fließend, gewaltig mit rauschenden Wassermassen, die schnell dahinströmen, dann staut sich das Wasser, wird schmal und kurvig, enger und enger, wild und steinig … Es wird schlammig und dunkel, um sich dann wieder klar und durchscheinend zu zeigen, sodass jeder Kiesel am Flussgrund sichtbar wird … manchmal wechselt das Wasser scheinbar die Richtung, fließt unendlich kurvig, tiefer oder flacher, und womöglich geht es in einem Wasserfall steil bergab, um dann wieder entspannt und wohlig dahinzufließen …

So, wie die Flüsse der Natur, so gestalten sich auch unsere Lebensflüsse – ganz abhängig von unserer jeweiligen Lebensphase. Sie fließen von der Quelle bis zum Meer, manchmal direkt – meist auf Umwegen …

Auf so eine Reise möchte ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, einladen. Flusslandschaften erleben und eintauchen in diese wunderbare Welt der Lebensflüsse, um neue und anregende Methoden zu erfahren!

Das Lebensflussmodell habe ich Ende der 1990er-Jahre in der systemischen Weiterbildung bei Peter Nemetschek und seinen Trainerinnen gelernt. Es ermöglichte mir, von Beginn an mit Klienten erfolgreich zu arbeiten, obwohl ich damals noch Berufsanfängerin war. Im Laufe der vielen Jahre entwickelte ich während meiner Arbeit in eigener Praxis als Psychotherapeutin und Coach eigene Facetten und erweiternde Techniken. In diesem Einführungsbuch möchte ich Ihnen einen Teil meiner Arbeit vorstellen.

Es war und ist ein wichtiges Lebensziel von Peter Nemetschek, dass sich das Wissen über die Lebensflussmethode verbreitet und für Menschen hilfreich und unterstützend ist. Das ist der Grund, weshalb er mit 80 Jahren noch als Trainer arbeitet. Mich faszinierte diese Methode seit Beginn meiner therapeutischen Arbeit, und ich nutze sie in vielen Kontexten. Deshalb ist es auch mir ein Anliegen, die Methode der Lebensflusslandschaften vielen Kolleginnen und Kollegen zugänglich zu machen und ein praxisnahes Buch zu schreiben, das den Weg ebnet und ermutigt, diese hilfreiche Technik in das eigene Repertoire zu integrieren.

Als kurzzeittherapeutische Methode ist das Modell des Lebensflusses sowohl für Neueinsteiger als auch für Therapeuten, Berater oder Coachs aus den unterschiedlichsten Ausbildungsrichtungen hervorragend geeignet. Es handelt sich um eine leicht erlernbare, lebendige und kreative Trancemethode, die in verschiedenen Formen vielfältig für fast alle Problembereiche, Altersstufen und Bildungsschichten einsetzbar ist. Sowohl Einzelpersonen (Kinder, Jugendliche und Erwachsene) als auch Paare, Familien, Gruppen oder Teams profitieren von der Lebensflussarbeit.

Die hier vorgestellten Techniken haben sich in der Praxis als sehr hilfreich erwiesen. Explizite Studien zum Lebensflussmodell gibt es bisher noch nicht. Da es sich aber um eine hypnotherapeutische Visualisierungsmethode handelt, liegt es aus meiner Sicht nahe, dass die Forschungsergebnisse aus dem Bereich der klinischen Hypnose auf die Arbeit mit dem Lebensfluss übertragbar sind.

Der Klient visualisiert im sogenannten Lebensfluss die eigene Lebensgeschichte und kann durch die entstehende Metaebene einen Perspektivwechsel erfahren. Diese Visualisierungen prägen sich sehr gut ein und stellen eine hervorragende jederzeit nutzbare Ressource dar.

Auch der Psychiater und Psychotherapeut Milton H. Erickson nutzte in seinen Hypnosen unter anderem die Metapher einer Lebenslandschaft, die in die Zukunft führt und dem Klienten die Möglichkeit gibt, das eigene Leben aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Erickson führt die Wege des Lebens und der Lösungen bis in die ferne Zukunft hinein, und Peter Nemetschek, der bei ihm lernte, nutzte diese Metaphern und visualisierte sie – entsprechend seiner Herkunft als bildender Künstler – kreativ und fantasievoll mithilfe von Seilen und Symbolen anfänglich als Lebenslinie und später als Lebensfluss. Ganz konkret werden hierbei bunte Seile von der Vergangenheit ausgehend bis in die Zukunft hinein auf den Boden gelegt. Diese visualisierten Lebenslinien, die den Ablauf des Lebens oder einzelne Lebensphasen symbolisieren, lassen ein lebendiges und farbenfrohes Bild entstehen.

Den Lebensfluss kann man dabei als einzelnes Seil legen, wenn es um eine persönliche Thematik geht, in der andere Personen für die Lösung nicht mithilfe eines Seils visualisiert werden müssen (s. Abb. 2).

Ebenso ist es möglich, Seile, die das Bezugssystem symbolisieren, zu dem Seil des Klienten zu legen, obwohl die anderen Personen in der Sitzung nicht anwesend sind (s. Abb. 3).

In familientherapeutischen Sitzungen können für alle anwesenden oder auch wichtigen abwesenden Personen stellvertretend Seile gelegt werden: Es entsteht eine Lebensflusslandschaft mit je einem Seil für jede bedeutsame Person, sichtbar für alle anwesenden Familienmitglieder bei einer Familienberatung, sodass nun jeder für sich – und gleichzeitig gemeinsam – seine seelischen Prozesse durchlaufen kann. Die Familienmitglieder haben ein Ziel, eine Richtung vor Augen und können diese regelrecht ablaufen. Dadurch macht auch der Körper eine sinnliche Erfahrung. Ebenso kann man in der Paartherapie die Beziehung des Paares mit den Seilen visualisieren und gemeinsame Lösungen entwickeln.

Schon die alten Germanen stellten sich vor, dass die Nornen, die Schicksalsgöttinnen, die Lebensfäden der Menschen zu Füßen des Weltenbaumes spinnen. Ebenso sind die Begriffe Lebenslinie oder Lebensstrom gängige und hilfreiche Metaphern, die dem Klienten helfen, in die spontan entstehende Alltagstrance während der Lebensflussarbeit zu gleiten. Durch die Visualisierung des Lebens oder einer Lebensphase kann man Klienten systemisch begleiten und in der Entwicklung unterstützen. Die Prozesse der persönlichen Entwicklung, der Familienebene oder auch der Therapie werden schrittweise visualisiert – so können aus den Lebensflüssen regelrechte Ressourcenlandschaften, Familienlandschaften oder auch Bindungslandschaften entstehen.

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Abb. 2: Der Lebensfluss eines Klienten, von der Vergangenheit ausgehend in Richtung Zukunft2

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Abb. 3: Der Lebensfluss einer Familie mit einem Jugendlichen (sein Seil verläuft in der Mitte zwischen den Seilen der Eltern), von der Vergangenheit aus betrachtet in Richtung Zukunft

Krisen lassen sich im Kontext des Lebens mittels Regression und Progression aus anderen Perspektiven wahrnehmen, wodurch sich neue Lösungswege und Möglichkeiten im wahren Sinne eines handhabbaren Ziels ergeben. Ein Ziel, das im Bereich des Möglichen liegt!

In der spontan auftauchenden Alltagstrance kann der Klient Reisen in die Zukunft unternehmen, um Visionen und Hoffnungen zu entwickeln, aus der Vergangenheit Ressourcen ins Jetzt holen oder herausfordernde Situationen in der Gegenwart gestalten.

So ist der Klient in der Lebensflussarbeit ein Zeitreisender – gleichzeitig an diesem und an anderen Orten, in der jetzigen Zeit und in anderen Zeiten –, wenn er in Trance die Positionen am Lebensfluss wechselt oder seine eigenen Erfahrungen an ihm vorbeiziehen.