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Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erste Auflage 2018

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-212-7

eISBN: 978-3-95771-213-4

Ronnith Neuman

Hadeskinder

Ein Korfu-Krimi

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IMPRESSUM

Hadeskinder

Autorin

Ronnith Neuman

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

Achilleion, Korfu

Lektorat

Britta Voß

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

April 2018


ISBN: 978-3-95771-212-7

eISBN: 978-3-95771-213-4



Handlungen und alle agierenden Personen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit realen Personen ist rein zufällig.

Noch hört er ihre Stimmen. Solange er die Stimmen hört, ist alles gut. Obwohl nichts gut ist. Schon lange nicht mehr. Seit der Feuernacht vor zwei Jahren. Kurz nach seinem vierten Geburtstag. Damals stürzte er durch die brennende Felsspalte in die Hölle hinab.

Er lauscht.

Solange er ihre Stimmen über sich hört, ist es gut. Es ist Tag. Vielleicht Nachmittag? Früher oder später Abend? Solange er die Stimmen hört, gibt es Hoffnung. Die Stimmen sind seine Uhr. Seine Verbindung zur Außenwelt. Zu dem, was sie Leben nennen.

Das Oben und das Unten.

Unten – das ist die Hölle.

Wenn die Stimmen schweigen, ist es Nacht.

Der fensterlose Raum ist dunkel. Ein Kellerloch mit maroden, pilzbefallenen Wänden, die aus dem feuchten Erdreich wachsen. Früher wurde hier Wein gekeltert und Schnaps gebrannt. So erzählen die Alten. Aber diese Zeiten sind lange vorbei. Damals gab es ihn noch nicht. 

Wozu gibt es ihn heute?

Manchmal stellt er sich solche Fragen. 

Jetzt sind die Wandregale leer. Überall auf dem Boden liegen Tonscherben von zerbrochenen Amphoren und Fässern. In der Mitte thront noch der schwere gusseiserne Tisch, an dem sie ihre Geschäfte abwickelten. Von den ehemals acht mit Bast bezogenen Holzstühlen sind zwei geblieben. Auf einem der Stühle sitzt er. Seine Fußgelenke sind an die Stuhlbeine gekettet, sein Gesäß mit Riemen an die Sitzfläche fixiert. Kopf, Oberkörper und Arme kann er frei bewegen. Er kann sich zur Seite neigen. Die Arme heben, sich kratzen. Mit den Händen sein Gesicht zerkratzen. In die Haare greifen, sie in Büscheln ausreißen. Er kann seine Finger über die Brust bis hinab zur Gürtellinie führen. Darüber hinaus geht nichts. Wie in einem Kinderstuhl sitzt er gefangen inmitten einer zum Tisch hin offenen Eisenschiene, die ihn umrundet und deren Enden mit dem Tisch verkoppelt sind. Wütend hämmert er mit seinen Fäusten auf die schwere Eisentischplatte. Sie spaltet seinen Körper. In ein Oben und Unten. 

Er friert.

Er hat Hunger. 

Noch mehr Durst.

Er friert immer. Er hat immerzu Durst. Seine nackten Füße unter dem Tisch stehen in einer Bodensenke mit Wasser. Doch er kann das Wasser nicht erreichen. Die Tischplatte hindert ihn daran. Über ihm an einem hölzernen Deckenbalken, hängt ein Korb mit Früchten. Er kann ihren Duft riechen. Doch selbst wenn er sich ganz lang macht, Arme und Finger streckt, er kann die erfrischenden Köstlichkeiten nicht erreichen. 

Wie oft hat er es zu Anfang versucht?

Er hat aufgegeben. Schon vor langer Zeit.

Die Stunden vergehen. Die Stimmen über ihm verlöschen. Die Stille ist wie eine gierige Schlange, die sich langsam und gnadenlos um seinen mageren Körper windet, ihm die Luft aus den Lungen presst. Die Wände um ihn herum steigen steil auf, schrägen sich, verjüngen sich nach oben, wachsen zusammen wie ein himmelwärts gerichteter Pfeil. 

Er ist das Innere des Pfeils. 

Ein zu Fleisch gewordener Kern. 

Durch das Herz des Pfeils pumpt sein Blut.

Er sitzt jetzt ganz still. Er riecht den Duft der Früchte. Stellt sich vor, wie der Pfeil sie mit seiner Spitze durchbohrt. Jede einzelne Frucht, bis das Blut aus ihr rinnt und er die köstliche Süße auf seiner ausgedörrten Zunge schmeckt. 

Er starrt mit brennenden Augen in die Nacht. 

Lauscht der Stille. 

Und wartet …

Prolog

München, März 1988

Er konnte kaum glauben, dass er entkommen war.

Nun stand er inmitten dieser fremden Stadt, auf einem mittelalterlich anmutenden Platz, der sich Viktualienmarkt nannte, und konnte sich nicht sattsehen an all der Heiterkeit, die sogar in dem trüben Licht hell und farbenfroh schillerte. Trotz des Nieselregens reihten sich Verkaufsstände aller Art dicht aneinander, belagert von Menschen aller Hautfarben und Nationalitäten. Händler, die lauthals ihre Waren anpriesen, gewagt dekolletierte Dirndl und stramme Lederhosen. Miniröcke, schrille Frisuren, Visagen, die offenbar einer Farbpalette entwachsen waren. Allerorts schier unüberschaubare Gruppen von Asiaten, die, das festgefrorene Lächeln wie ein Markenzeichen ins Gesicht gepflanzt, alles fotografierten. Er staunte über das Ausmaß an Sorglosigkeit, über die Ausgelassenheit, die ihn wie ein Moloch in sich einsog und zugleich ausgrenzte.

Er zog den Gürtel seines neuen Trenchcoats enger und biss in eine riesige Bretzel, die er für ein paar Deutsche Mark erstanden hatte. Noch immer war er erfüllt von jener nebulösen Wolke, die vor nicht allzu langer Zeit die selbstzerstörerische Traurigkeit abgelöst hatte, und die nun nichts anderes zuließ als dumpfe Gleichgültigkeit. Das Wort Gewissen machte ihm keine Angst mehr. Gewissen war ein schwammiges, nicht greifbares Etwas, das jenseits seines Denkvermögens lag. In seiner Seele - wenn sie denn überhaupt existierte – fühlte er nur noch Eiseskälte. Die Kälte war gleichermaßen Schutz und Antrieb. Das Fehlen jeglichen Gefühls war zu seiner Stärke geworden. Anstelle von Empathie war eine Form von Dominanz getreten. 

So war es. So sollte es bleiben. Für alle Zeiten.

Eine andere Form des Seins war für ihn nicht mehr vorstellbar. 

Während um ihn her das tobte, was andere als das wahre Leben bezeichneten, schmiedete er bereits die ersten Pläne.

Er hatte nicht vor, lange mit seinem Vorhaben zu warten. Er wusste, es musste geschehen. Es war unaufhaltsam. Es war die Eintrittskarte zu seinem neuen Leben. Die Weichen hatte er bereits vor langer Zeit gestellt.

Er hatte hart gekämpft für dieses neue Leben. Warum also sollte er es hinauszögern? Er brauchte einen Anfang. Einen spek-takulären Auftakt.

Es war Zeit, die Kontrolle zu übernehmen. 

Sie mussten seine Macht spüren. 

Um zu überleben brauchte er ihre Angst.

Die Stimmen über ihm erwachen. 

Noch ist es dunkel. Nein, es ist bereits hell. Nur hier unten ist es dunkel. Hier unten ist es immer dunkel. Ewige Nacht …

Oben ist es hell. Es ist Tag und die Sonne scheint. Oben scheint immer die Sonne. Von morgens bis abends. Bis in die Nacht. 

Oben ist immer Tag. Auch, wenn die Sonne nicht scheint.

Er lauscht den Stimmen. Die eisernen Fesseln bohren sich tief in sein Fleisch. Er hat sich aufgebissen. Die Wut hat es ihm befohlen. Er hat den Geschmack von Blut auf der Zunge. 

Blut …

Es ist der einzige Geschmack, an den er sich noch Jahre später erinnern wird. Und an die Gerüche. Von Früchten und Wasser. Von Moder und Fäulnis. Und er wird sich an die Lumpenhose erinnern. Die Sünderhose. Und an den Pferderiemen um seinen Hals.

Er kann es nicht mehr einhalten. Er spürt den heißen Urin an seinen Beinen hinunter rinnen. Bald wird der Gestank ihn von unten her einhüllen. Scham und Schmerz verzerren sein Gesicht. Er spürt die Tränen, die ihm über die Wangen rollen. Seine Augen brennen. Er starrt in die Finsternis. Versucht einen Punkt auszumachen. Nur einen winzigen hellen Lichtpunkt. Einen Fixpunkt, an den er sich klammern kann. Etwas, das ihn hoffen lässt.

Doch er hört nur ihre Stimmen. 

Weit oben. Weit, weit oben …

Das Oben und das Unten.

Im Oben scheint immer die Sonne.

Im Unten herrscht ewige Nacht.

Feuernacht. 

So nennt er den Tag, der sein Leben von Grund auf veränderte. Obwohl die Veränderung weder mit einem Feuer noch mit der Dunkelheit etwas zu tun hatte. Niemand ist verbrannt. Es war helllichter Tag, als es geschah. Dennoch hat sich das Bild von Feuer und Finsternis in ihm festgesetzt. 

Feuernacht. 

Es brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, ihn von der Kante einer glücklichen Kindheit in die Hölle hinabzustoßen. Fortan befand er sich auf der Kehrseite des Lichts. 

Er starrt in die Finsternis. 

Wieder ist es Nacht. Oder noch immer? Wie lange schon? 

Manchmal verliert er die Zeit, kann Tage und Nächte nicht mehr unterscheiden. Die Stimmen scheinen ihm jetzt weiter entfernt als sonst. Vielleicht verliert er auch langsam sein Gehör. Vielleicht auch den Verstand. Die Stimmen sind nun wie ein langgezogener Klang. Ein Stakkato, ein verzerrter, nicht berechenbarer Rhythmus. Er versteht kein einziges Wort, kann ihren Sinn nicht deuten. Doch der Klang genügt, um ihm ein wenig von der Einsamkeit zu nehmen. Eine Illusion nur. Er weiß es. Allein der Nachhall des Klangs hilft ihm, sich weniger einsam zu fühlen. 

In dem Klang gibt es viele Stimmen. Stimmen unterschiedlicher Tonarten. Metallene, gurgelnde Untertöne. Grelle, quietschende Obertöne. Und die Musik. Stimmen und Musik. Sie kommen aus dem Fernseher. Dieser leuchtende Kasten… Wie gern würde er jetzt dort hineinschauen. Sich von den flirrenden, bunten Bildern über das Meer tragen lassen. Bilder, auf dreißig mal fünfzig Zentimeter begrenzt. Zusammengeschrumpfte Realität. Eine andere Welt. Die Illusion einer schöneren Welt. 

Er schließt die Augen. Er will fliegen. 

Ein Vogel sein … So frei …

Er lauscht dem fernen Klang der Stimmen, dem Hämmern der Musik.

Flieg, Vogel, flieg …

Flieg weit, weit fort …

Er breitet die Arme zur Seite. Spreizt die Finger. Winkelt die Ellbogen ein wenig an. Bewegt die Arme auf und nieder, die Hände im Rhythmus des Fluges. Auf und nieder, auf und nieder. Arme und Hände, die zu Schwingen werden. Zu den Schwingen einer Möwe. 

Eines Adlers. 

Er denkt an den Greifvogel, der manchmal über dem Tal schwebt. Er folgt dem Adler über die ölbaumbewaldeten Hügelkuppen, über die nackten Felsen, umrahmt von Pinien und Zypressen. Er fliegt höher hinauf über Hügel, Felsen und Bäume, folgt dem Adler höher und höher hinauf, in die unendlichen Weiten des Himmels…

Er spürt den harten Sitz unter sich, über sich riecht er die Freiheit.

Er will ein Greifvogel sein. Ein Adler. Über der Welt schweben. 

Er will Herr sein über Welten und Meere.

Seine Träume verselbständigen sich, folgen eigenen Wegen. Er durchstreift eine Miniaturwelt. Eine Spielzeugwelt, bevölkert von leblosen Menschenhüllen. Plastikmenschen in Häusern und Städten aus Pappmaché. Eine Welt, deren jämmerliches Leben allein aus Organismen, Mikroben, Pflanzen und Insekten besteht.

Er stellt sich vor, wie er sich aus der Luft herablässt, die Ad-lerschwingen an den Körper gelegt. Er stellt sich vor, in ei-ner solchen Miniaturwelt zu leben. Lautlos. Nicht greifbar. Unantastbar. In einer Welt aus Pflanzen und kleinzelligen Wesen, aus willenlosen Plastikmenschen in Pappmaché-Häusern. In einer Welt, die auf Knopfdruck funktioniert. Auf die Umdrehung eines Schlüssels. Eines einzigen Schlüssels, der sich allein in seinem Kopf befindet. In seinem zur All-macht mutierten Hirn.

3

Korfu, September 2012

Das wenigstens hatten sie geschafft. Nach dreijährigem Kampf gegen die Windmühlen der Bürokratie hatte man in den höheren Etagen des Polizeiapparates endlich entschieden, Stelios Angelis und Stefania Stefanidou im Gebäude der Astynomia am San Rocco ein eigenes Büro zuzuteilen. Einen kleinen Eckraum mit einem offenen, mit Aktenordnern vollgestellten Wandregal, einer Computerecke und einem betagten, mehrfach abgeschliffenen, im Gegensatz zum bescheidenen Ambiente des Raumes gigantisch wirkenden Holzschreibtisch, an dem sie nun in Pseudoledersesseln, zwei Becher Kaffee vor sich, einander gegenüber saßen.

Stefania schlug die Beine übereinander und steckte sich eine Selbstgedrehte zwischen die Lippen. »Die Inszenierung passt nicht zu Prometheus.«

»Sondern?« Stelios lehnte sich in seinem nagelneuen Drehsessel, der so gar nicht zu dem alten Schreibtisch passen wollte, zurück und fächelte diskret Rauch von sich fort.

Stefania zog nachdenklich an ihrer Zigarette, hob das Kinn und entließ den Rauch gemächlich gegen die Decke. »Zu Tityos. Ein euböischer Riese. Sohn des Zeus und der Elare. Laut Mythos wurde er von Apollon und Artemis erschossen, nachdem er versucht hat – vermutlich aus Rache von Hera angestiftet - ihre Mutter Leto zu missbrauchen.« 

Stelios hob beeindruckt die Brauen. »Und woher hast du das mit Tityos?« 

Stefania nippte an ihrem Kaffee. »Du weißt doch, unsere Vorfahren aus der Antike interessieren mich. Und das Leben im gläsernen Zeitalter von Google erleichtert so manches.«

»Gott, ich Hinterwäldler!« Stelios schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich lebe doch wirklich noch auf dem Mond.«

Stefania rang sich ein schiefes Lächeln ab über seine nicht sonderlich überzeugende Selbstkritik. Computer waren für Stelios Angelis sowas wie unheimliche Wesen der dritten Art, nützliche Ungeheuer mit einem unberechenbaren Eigenleben. 

»Und der Rache nicht genug«, spann sie den mythologischen Faden weiter, »wurde Tityos auf Ewigkeit im Hades bestraft. Hilflos auf dem Boden ausgestreckt, sein Körper bedeckt von neun Morgen Land, fraßen zwei Geier an seiner Leber, die bei jedem Neumond nachwuchs.« Sie schaute zwei zerfasernden Rauchkringeln hinterher. »Prometheus wurde an einen Felsen gefesselt, Tityos auf den Boden gelegt.« Stefania starrte auf die Glut der Zigarette. »Ebenso wie der tote Junge«, fügte sie leise hinzu, wobei Stelios das Zittern ihrer Hand nicht entging.

»Neun Morgen Land«, sagte er nachdenklich. »Dazu passen die Erdkrumen, die der Rechtsmediziner in der Wunde gefunden hat.«

»Und der Neumond. Vergangene Nacht hatten wir Neumond.«

»Und was ist mit dem Pferderiemen um den Hals? Und die Lumpenhose, in die er gekleidet war? Wie passen die ins Bild?«

»Auf Abbildungen der Antike sind immer wieder Pferde zu sehen«, erklärte Stefania. »Der Hades hatte viel mit Pferden zu tun. Die Lumpen könnten eine Art Sünderkleidung darstellen. Immerhin wurden nur Sünder wie Tityos in den Hades verbannt.«

»Ein Sechzehnjähriger als Sünder«, stöhnte Stelios. »Mein Gott, in was für einer Welt leben wir eigentlich?«

Sie starrten schweigend auf das sanfte Wippen der Stechpalmenblätter vor dem einzigen Fenster. Der ›Palmengarten‹ dahinter bestand aus drei verwahrlosten, staubigen Palmen, umkränzt von niedrigen Dornenhecken. Eine Anlage, bei der die Hand eines Gärtners in die Rubrik ›futuristische Herausforderung‹ gehörte. Über ihnen rotierten leise surrend die drei Flügel des altertümlichen Ventilators, den Stelios vor mehr als einem Jahrzehnt in einem schwachen Moment für das halbe Monatsgehalt eines jungen Polizisten auf einem Markt in Athen erstanden hatte. Stefania sah in dem Monstrum eher einen geflügelten Kraken, der eines Tages mit seinen mächtigen Armen den kleinen Raum ergreifen und verschlingen würde. Als sie Stelios ihren Eindruck kichernd unterbreitete, wäre er ihr fast an die Gurgel gesprungen. Also schluckte Stefania jeden weiteren Kommentar hinunter und arrangierte sich mit dem unliebsamen Giganten, der zumindest die abgestandene Luft im Raum umwälzte und damit erfolgreich für etwas frische Kühle sorgte.

In den wesentlichen Fragen jedoch waren Stefania und Stelios ein gutes Team, ein sehr gutes sogar, wenngleich ein wenig auf dem Abstellgleis. Als Ermittler für Kapitalverbrechen wurden sie auf einer Insel wie Korfu nicht gerade mit Arbeit überhäuft. Familiäre Fehden, die in zwei Fällen mit einem tödlichen ›Unfall‹ endeten, in einem weiteren mit Totschlag, zwei Einbrüche mit Todesfolge und ein Saisonarbeiter, der als ›besonderen Kick‹, wie er aussagte, der Fahrerin, die ihn als Anhalter mitgenommen hatte, die Kehle durchschnitt, waren die finsteren Highlights der letzten fünf Jahre. Zugegeben, ein bequemer, wenngleich ein magerer und ziemlich eintöniger Job. 

Den Ausgleich hierfür schaffte eine gemeinsame Leidenschaft, die sie im wahrsten Sinne des Wortes vor dem Einrosten bewahrte: der Rembetiko. Gemeinsam mit drei anderen spielten sie ein- bis zweimal im Monat in einer Taverne oberhalb der Garitsa-Bay. Sobald die klagenden, leiernden Töne der Mandolinen und Gitarren den spärlich beleuchteten Raum erfüllten, und Stefania, begleitet von den Hintergrundstimmen der Gäste, die alten Lieder des Rembetiko sang, schien es ihr, als verließe sie ihren Körper. Der Rembetiko, der griechische Blues, mit seinen erotischen, traurigen, kritischen, bisweilen bissigen Texten war Stefanias Zufluchtsort. Ein Ort des zeitweiligen Vergessens, der die Vergangenheit ausblendete und die Zukunft besänftigte.

Mit einem Seufzer führte Stelios den Kaffeebecher zum Mund und gab es auf, den Rauch weg zu wedeln. Als ehemaliger Raucher - nunmehr militanter Nichtraucher - war es eines der Dinge, die er an Stefania hasste. Zugegeben eines der wenigen Dinge. Doch eher hätte er einer Fliege das Summen abgewöhnen können, als Stefania Stefanidou das Rauchen. 

»Also, was wissen wir bis jetzt?« Stelios zerknüllte den leeren Becher und verfehlte den Papierkorb um Haaresbreite.

Stefania kippte den Rest Kaffee in sich hinein und streifte die Asche am Becherrand ab. »Nicht gerade viel, wenn man das so sagen darf.«

Die Spurensuche hatte wenig erbracht: keine Speichel-, keine Fremdfaserspuren, kein Sperma. Es gab keinen Hinweis auf einen sexuellen Kontakt, weder anal noch oral. Der Täter hatte die schenkelkurze Lumpenhose, in die er die Leiche des Opfers gekleidet hatte, so weit heruntergezogen, dass der Bauch frei lag. Trotz des Pferderiemens um den Hals wurde der Junge, laut Georgios Katzounis, nicht erdrosselt. Es fanden sich keine Haar- oder Hautpartikel, auch nicht unter den Finger- oder Fußnägeln des Opfers. Offenbar hatte der Junge sich nicht gewehrt, oder der Täter hatte nach der Tat alles penibel gesäubert. Nach Meinung des Rechtsmediziners könnte beides zutreffen. Womit sie es eindeutig mit einem Profi zu tun hatten. Auch die Fesselspuren an Hand- und Fußgelenken waren sauber, die Fesselungsmale sprachen für ein dünnes, glattes Seil. Um den Leichnam herum gab es keine frischen Fingerabdrücke, außer vom Opfer, keine frischen Schuhabdrücke, außer von dem toten Jungen. Vermutlich hatte der Täter Überschuhe und Handschuhe getragen und zusätzlich im Umkreis der Leiche seine eigenen Spuren verwischt, was ebenfalls für einen Profi sprach. Alle anderen Spuren, außerhalb des Gemäuers und auf dem Weg dorthin, waren Tage, Wochen, Monate, vielleicht Jahrzehnte alt, unzählige übereinander gelagerte Schichten, nicht verwendbar.

»Er ist mit dem Jungen den Weg zur Festung hinaufgegangen«, sagte Stelios. »Er kannte sich aus. Er hat alles gut vorbereitet. Er hat aufgepasst, dass es keine Zeugen gab. Es gab keine Zeugen. Nicht um diese nächtliche Stunde. Keiner, der ihm begegnete, ihn störte. Er konnte in Ruhe arbeiten. Er hat den Jungen getötet. Hat ihn gesäubert. Dann hat er sein Szenario aufgebaut. Sorgsam, wie auf einer Bühne. Durchdacht, wie für ein Theaterstück.«

Stefania drehte sich eine weitere Zigarette. »Was wissen wir über den Jungen?«

»Nicht viel. Ioannis Bardis. Sechzehn Jahre. Seine Eltern führen einen Lebensmittelladen in Paleokastritsa.« 

Stefania fuhr mit der Zungenspitze über das Zigarettenpapier und klebte die Ränder zusammen. »Wer überbringt die Todesnachricht?«

Stelios hob ergeben die Schultern. »Na, wer wohl?«

Stefania taxierte ihn mit einem kurzen Blick, und abermals registrierte Stelios den unbekannten harten Zug um ihre Lippen und das seltsame Glitzern in ihren Augen, die ihn bereits am Tatort irritiert hatten.

»Wissen wir irgendwas über den Täter?«, fragte Stefania. Sie zog an der Zigarette, Rauchfahnen umwehten ihren Mund.

Um dem Rauch auszuweichen, drehte sich Stelios in seinem Sessel ein wenig zur Seite. »Außer, dass er keinerlei Spuren hinterlässt, nichts. Er kommt, begeht die Tat und verschwindet.«

»Lautlos wie eine Raubkatze.« Stefania nickte. »Er hat einen Plan. Ein Konzept. Und so, wie es ablief, hat er sowas vermutlich nicht zum ersten Mal getan.«

»Sieht jedenfalls danach aus. Es ist alles zu perfekt.« Stelios erhob sich, schnappte sich die Tatortfotos und heftete sie an die Pinnwand hinter dem Schreibtisch. »Vom Opfer wissen wir, dass der Junge zu klein war für sein Alter. Der Arzt meint, die physische Entwicklung entspricht der eines Fünfzehn-, Sechzehnjährigen. Die Körpergröße jedoch der eines Zwölfjährigen.«

»Was vielleicht ein Hinweis auf den Täter sein könnte«, überlegte Stefania laut. »Zwerg und Riese … Im Mythos ist Tityos ein Riese. Doch der Täter hat ihn für seine Zwecke zu einem Zwerg schrumpfen lassen. Denn das Todesszenario spiegelt für mich eindeutig Tityos‘ Leiden wider.« Abermals landete ein sich gefährlich krümmender Aschestrang in ihrem leeren Kaffeebecher. »Das beweist allein die Lage des auf dem Boden ausgestreckten Körpers.«

Alles deutete auf den Riesen Tityos hin. Die Tat geschah in einer Neumondnacht. Und auch die Erdkrumen in der Schnittwunde, die einen Teil der Leber freilegte, sowie der Plastikvogel, der ein Stück der Leber im blutroten Schnabel trug, waren für Stefania eindeutige Hinweise. 

»Die Erdkrumen wurden wahrscheinlich absichtlich in die Wunde gelegt«, sagte sie.

»Das meint auch Katzounis«, erwiderte Stelios.

Stefania trat neben Stelios vor die Pinnwand. Als sie die fast aufgerauchte Zigarette an die Lippen führte, begann ihre Hand derart heftig zu zittern, dass das Mundstück um ein Haar sein Ziel verfehlte. Sie versuchte, das Beben unter Kontrolle zu bekommen.

»Was?«, fauchte sie, als sie Stelios‘ Blick bemerkte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Alles okay.«

Wenn es okay ist, dass ein junger Mensch auf diese Weise stirbt …

Sie zog an der Zigarette und kniff die Lider vor dem beißenden Rauch zusammen. »Mach weiter«, meinte sie locker, ohne seinem Blick auszuweichen.

Von ihrer gespielten Leichtigkeit irritiert, fuhr Stelios fort. »Der Einschnitt über der Leber wurde, ebenso wie die gesamte Inszenierung, postmortal ausgeführt.«

»Auch das deckt sich mit dem Schicksal des zur ewigen Verdammnis verurteilten Riesen. Tityos erlitt seine Bestrafung im Hades, nachdem er von Apollon und Artemis erschossen wurde.«

»Der Junge wurde aber nicht erschossen«, wandte Stelios ein.

»Ein weiterer Punkt, der vom Mythos abweicht. Es gibt also zwei Widersprüche«, resümierte Stefania. »Die Körpergröße des Opfers und die Art des Todes.« Sie warf sich in ihren Drehsessel, die Selbstgedrehte ertrank unter zischendem Protest im Kaffeesatz des Plastikbechers. »Und woran ist er nun gestorben?«

»Gute Frage«, seufzte Stelios. »Der Dok weiß es noch nicht.«

Er lehnte sich ans Fensterbrett, die Fußknöchel gekreuzt. Draußen, in der heißen Mittagsbrise, raschelten die Fächer der Palmenkronen mit den Stechpalmenblättern um die Wette. Das Handy an seinem Gürtel vibrierte. Stelios schaute auf das Display und nahm das Gespräch an. 

»Der Tod des Jungen trat zwischen eins und drei in der Nacht ein, und es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit«, begann der Rechtsmediziner Georgios Katzounis ohne weitere Einleitung. »Der Kerl hat Kaliumchlorid benutzt. Die Einstichstelle liegt verdeckt in der Leiste. Deshalb habe ich sie auch nicht sofort entdeckt.«

»Kaliumchlorid … Das Zeug verwenden sie doch in Amerika als Todesstrafe durch die Giftspritze, oder?«

»Ganz genau. Intravenös gespritzt, in Form einer Kurzinfusion in die Vene femoralis, erhöht es die Kaliumkonzentration im Körper. Die Hyperkaliämie führt zur Lähmung der Herzmuskulatur und somit zum Tod.«

»Hm«, brummte Stelios. »Das sind ja nette Aussichten.« Sollten sie es hier, auf der friedlichen Insel Korfu, plötzlich mit einer völlig neuen Dimension von Kriminalität zu tun bekommen? 

»Aber sicher kannst du es nicht sagen, Dok, oder?«, hakte er nach.

»Nein. So etwas kann man meist nur indirekt nachweisen, da der natürliche Kaliumspiegel nach dem Tod ohnehin auf die zwei- bis dreifache Konzentration ansteigt. Der Junge ist an Herzversagen gestorben. Obwohl sein Herz intakt und unversehrt ist. So jedenfalls stellt es sich dar. Ein weiteres Indiz ist die Einstichstelle. Sowie eine erhöhte Chlorid-Konzentration.«

»Der perfekte Mord also.«

»Könnte man so sagen«, bestätigte der Arzt. »Wenn die Inszenierung, die er uns mitgeliefert hat, nicht das Gegenteil bezeugen würde.«

»Kaliumchlorid«, murmelte Stefania nachdenklich, nachdem Stelios das Gespräch mit Georgios Katzounis beendet hatte. »Passt überhaupt nicht zum Mythos, oder?«

»Nun ja, sowas kannten sie im Hades ganz sicher noch nicht.«

»Dennoch«, grübelte sie, »vielleicht sind es gerade die Dinge, die vom Mythos abweichen, ihm also widersprechen.« Sie schürzte die Lippen. »Vielleicht sind es genau die, die uns etwas über den Täter verraten.«

*

Ich war vier, als meine Mutter mich verließ. Es geschah ganz plötzlich, mitten aus meinem eintönigen, glücklichen Kinderleben heraus. 

Aus dem Leben gerissen …

Bei Mama passte diese Plattitüde. Sie starb durch einen Verkehrsunfall. Mein Vater erkannte den entgegenkommenden Lastwagen zu spät. Mama war auf der Stelle tot. So erklärten es die Sanitäter meinem Onkel. Mama hatte ihn also nicht einmal bemerkt, den Übergang in die jenseitige Welt, aus der sie nun zu mir herabblickte, ohne mich wirklich zu sehen. 

Wie sonst wäre das alles mit mir geschehen?

Mama hätte die abscheulichen Dinge, denen ihr kleiner Junge fortan ausgesetzt war, nie und nimmer zugelassen. Kraft ihrer Allmacht hätte sie mich aus den Fängen des Onkels befreit. 

Ja, Mama war allmächtig!

Mama war jetzt bei Gott!

In meiner kindlichen Vorstellung war sie im Himmel, oder wo auch immer sie sein mochte, zu einer Matrone beeindruckenden Ausmaßes mutiert. Wunderschön, mächtig und erhaben wachte sie über die Sterblichen meiner kleinen Welt. 

Die Frau des Onkels, meine Tante, war das genaue Gegenteil. Eine verhärmte, schwache, unterwürfige Frau, ängstlich und unbedeutend. Ein Schattengespenst. Sie spielte im Leben meines Onkels eine untergeordnete Rolle. Wie eine Küchenmaschine. Oder ein Kehrbesen, schweigsam, pflegeleicht, stets funktionsbereit, den man nach Gebrauch in die Ecke zurückstellte.

Manchmal starrte ich hinauf zum Himmel. Ich dachte, vielleicht sieht sie mich, meine Mama. Vielleicht schaut sie gerade, in diesem Augenblick, durch das Wolkenloch über mir auf die Erde hinab. Ich gab die Hoffnung nicht auf. Wann immer der Onkel von mir abließ, ich mich unbeobachtet fühlte, ging mein Blick nach oben. Ich starrte hinauf gen Himmel und hoffte. Vielleicht entdeckte mich Mama zwischen all den anderen Sterblichen, die sie behüten musste. Vielleicht weinte sie um mich. Vielleicht erwartete ich auch zu viel, und Mamas Macht reichte doch nicht bis zur Erde hinunter, um mir zu helfen. Vielleicht konnte sie einfach nichts daran ändern, dass all diese schrecklichen Dinge mit mir geschahen.

Der Weg von oben nach unten ist weit.

Unvorstellbar weit …

Wie weit muss eine Seele fliegen, um vom Himmel bis hinunter ins Irdische zu gelangen? Als ich mir den Kopf darüber zergrübelte, war ich sechs. Damals beschloss mein Körper, nicht mehr zu wachsen. Ich blieb ein Zwerg. Viele grausame Jahre lang. Doch sollten noch weitere etliche Jahre vergehen, bis mir klar wurde, dass die Seele meiner Mutter nicht existierte. Dass es überhaupt keine Seelen gab. Weder im Himmel noch auf Erden und schon gar nicht in der Hölle. 

Als ich dies erkannte, war ich erwachsen.

Und es war zu spät umzukehren. 

Die Zeit hatte ihre Weichen gestellt.

Der unheilvolle Zug war längst abgefahren.


Mein Vater überlebte meine Mutter zwei volle Stunden. Die Sanitäter berichteten, er hätte auf dem Transport ins Krankenhaus bis in den Operationssaal hinein geschrien. Nach dem kurzen Eingriff sei er nicht wieder aus der Narkose erwacht. Der Onkel, ein Bruder meiner Mutter, bekreuzigte sich drei Tage und Nächte lang. Dann spuckte er vor der Familiengruft auf Papas Sarg und schickte ihn mit einem Schwall schmutziger Flüche und Verwünschungen zur Hölle.

Der Tod, sagte der Onkel, sei meinem Vater gnädig gewesen. Er hätte es ihm leicht gemacht, Hades in die ewige Verdammnis zu folgen. 

Verzeihen Sie, aber an dieser Stelle möchte ich die Aussage des Onkels doch ein wenig revidieren:

Ich glaube, der Gott der Unterwelt hatte einen Pakt mit meinem Vater geschlossen. Sein Leben gegen den Zorn des Onkels. Mein Vater willigte ein und der Totengott half ihm, dem Onkel zu entkommen. Denn das Martyrium, das sich der Onkel ausgedacht hatte, übertraf jede Verdammnis. Dagegen ist der Hades ein warmes, kuscheliges Plätzchen am Kamin der Unendlichkeit.

Ein jeder, erklärte der Onkel, müsse für seine Schuld zahlen. So sei es immer gewesen, im Leben wie im Tode. Mein Vater, sagte er, habe das Leben meiner Mutter, seiner geliebten Schwester, ausgelöscht und sich anschließend feige der irdischen Gerechtigkeit entzogen. Daher müsse nun ich, der Sohn des Sünders, stellvertretend für den Vater büßen. 

Sicher, es bleibt Ihnen überlassen, mir zu glauben oder auch nicht. 

Doch ich versichere Ihnen, beim Frieden meiner geliebten Mutter: Jedes meiner Worte ist wahr. So wahr ich auf dieser Erde existiere. So wahr Sie noch unter den Sterblichen weilen. So wahr ich gerade Sie auserwählt habe, ein kleines Stück von mei-nem irdischen Lebenskuchen zu probieren. 

4

Das Thermometer auf der Veranda zeigte noch immer achtundzwanzig Grad. Stefania streifte die Sandalen von den Füßen, zog im Gehen das verschwitzte Baumwolltop über den Kopf, blieb stehen und schlüpfte aus ihrer dreiviertellangen Jeans. Sie hob die Jeans auf, schleuderte die Klamotten in einen der zwei Korbsessel, die einen niedrigen Korbtisch flankierten, und ließ sich in BH und Slip in den anderen fallen. Sie streckte die Beine, legte sich seufzend zurück, verschränkte die Arme im Nacken und starrte hinauf zur Verandadecke. Im purpurnen Licht der einfallenden Abendsonne rangen die Schattenarme der Bougainvillea in einem Schlangentanz miteinander. Eine laue Brise strich vom Meer her über sie hinweg, jagte sanfte Schauer über ihre nackte Haut und richtete die Härchen auf ihren dunkel gebräunten Armen auf.

Stefania schloss die Augen.

Der heutige Tag hatte in ihr eine widersprüchliche Mischung von Trauer, Zorn und Fassungslosigkeit und das teigige Gefühl von Ohnmacht hinterlassen. Das Bild des toten Jungen auf dem Boden der Ruine hatte sie zutiefst erschreckt. Sie hatte eine Zigarette nach der anderen geraucht, war zeitweilig vollkommen abgedriftet und derart gefangen gewesen in ihren eigenen Gedanken, dass Stelios sie nicht mehr erreichen konnte und schließlich nach Hause schickte. Er selber wollte nach Paleokastritsa fahren, um den Eltern des ermordeten Jungen die entsetzliche Nachricht zu überbringen. Doch statt nach Hause zu gehen, war Stefania allein und ziellos durch die Stadt geirrt und stand plötzlich – ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war – wieder vor der Astynomia.

Ihr gemeinsames Büro war leer. Stefania rechnete nicht damit, dass Stelios in den nächsten zwei Stunden aus Paleokastritsa zurückkehren würde. Sie hockte sich in die Computerecke und ließ den Rechner hochfahren. Nachdem sie ihren Code eingegeben hatte, gab sie die entsprechenden Stichworte in die Suchmaschine ein. Kurz darauf wurden die Zeitungsseiten über das landesweite interne Netzwerk der Polizei aufgelistet. Sie rief die Seiten der Reihe nach auf, scrollte sich durch und schob dann ihren MP3-Stick in eine der dafür vorgesehenen Buchsen, um sämtliche Zeitungsberichte zu kopieren. Als sie das Büro verließ, war Stelios noch immer nicht zurück.

Stefania öffnete die Augen. 

Der Lichteinfall hatte sich verändert, die Schattenarme der Bougainvillea hatten ihren Tanz beendet. Stefania fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Früher trug sie ihre rotbraune Mähne bis zur Hüfte, mit den Jahren wurden die Haare immer kürzer und immer dunkler, heute waren sie streichholzkurz und kohlrabenschwarz. Stefania tastete mit den Fingerspitzen zwischen dem Korbgeflecht des Sessels und dem Polster, auf dem sie saß, und zog einen kleinen ledernen Tabakbeutel hervor. Zeit für eine Selbstgedrehte, Zeit für eine Auszeit. Sie inhalierte das Nikotin tief in ihre Lungen, spürte, wie es etwas in ihrem Innern weitete. Sie strich mit den Händen über ihren flachen Bauch, die Zigarette im Mundwinkel. Sie fragte sich, ob sie ein paar Kilo zunehmen würde, gesetzt den Fall, sie hörte mit dem verdammten Rauchen auf. Stelios würde ihr dafür einen goldenen Orden verleihen. Aber da solcherart Überlegungen ohnehin irrelevant waren – sie war ja gottlob keinem außer sich selber Rechenschaft schuldig – zog sie das Nikotin noch tiefer in die Lungen und blies die fixe Idee gegen die Verandadecke, wo sie sich mitsamt den Rauchschlieren verflüchtigte.

Während sie rauchte, wanderte ihr Blick über die Balustrade der Veranda hinaus. Das Haus, in dem sie wohnte, befand sich in der Solomou Straße, eine schmale Gasse, die links hinauf zur Neuen Festung führte und rechts hinunter zur Platia Neofrouríou, wo das Denkmal für die in Auschwitz ermordeten korfiotischen Juden stand. Wenn man die Platia überquerte, gelangte man zur Mole am Alten Hafen. Dort parkte Stefania ihren Wagen, den sie allerdings nur selten benutzte. Von ihrer Wohnung zum Polizeigebäude am San Rocco brauchte sie nur wenige Gehminuten durch die Gassen der Altstadt.

Stefania hatte lange gebraucht, all dies hier zu akzeptieren.

In der ersten Phase ihres Neuanfangs bedeutete ihr die Wohnung nicht mehr als ein Dach über dem Kopf, ein trockener Platz zum Schlafen. Damals trieb sie sich in Cafés und Bars herum, verschanzte sich hinter einer Leck-mich-am-Arsch-Maske und ertränkte ihren Schmerz in allem, was sie zwischen die Lippen bekam. Meistens torkelte sie erst gegen Morgen nach Hause, oder wohin auch immer ihre Beine sie trugen. Etliche Male erwachte sie in einer fremden Wohnung, neben einem Kerl, den sie meinte, nie zuvor in ihrem Leben gesehen zu haben. Als eines Morgens drei Geldscheine neben ihrem Kopf auf dem Kissen lagen, begriff sie, dass es so nicht weitergehen konnte, dass sie ihr Leben nicht wegwerfen durfte, dass der Preis, den sie zahlte, zu hoch war. Wie auch immer sie es anstellte, ob sie sich exzessiv an fremde Männer verschenkte oder wie ein Eremit in der Einsamkeit verkroch, sie konnte die Uhr der Vergangenheit nicht zurückdrehen, das, was geschehen war, nicht auslöschen. Also verpasste sie sich einen inneren Stoß und dem geräumigen Wohnraum einen farbfrohen Flickenteppich, der den Großteil des Bodens abdeckte. Kurz darauf, anlässlich eines kleinen Fauxpas, begegnete sie Stelios Angelis, der ihr einen Job als Polizeianwärterin beschaffte sowie zwei alte gepolsterte Couchliegen, die sie im Neunziggradwinkel in die Kaminecke vor der offenen Feuerstelle aufstellte und mit zwei weiteren bunten Flickendecken und einer Vielzahl flauschiger Kissen ausstattete. Seit kurzem gab es auch einen Fernseher mit Flachbildschirm, der seinen bulligen, rauschenden und bildverzerrenden Vorgänger abgelöst hatte, und dessen Aufgabe es war, die hin und wieder aufkommende Leere zu füllen. 

Stefania zog ein letztes Mal an ihrer Selbstgedrehten und drückte die glühende Kippe in den Sand eines Tontöpfchens. Sie schnappte sich die Klamotten und verließ die Veranda.

Ihr Schreibtisch in einem von Fenstern umrahmten Erker war überladen mit ungeöffneter Post. Sie schob Santana in den CD-Player, zog ein weites Herrenhemd über, das ihr bis zu den Schenkeln reichte, und krempelte die Ärmel hoch. Sie trank in der Küche ein Glas Wasser, füllte es ein zweites Mal und nahm es mit hinüber zum Schreibtisch. Sie blätterte die Umschläge rasch durch. Rechnungen, vier Zeitschriften, von denen sie zwei gar nicht bestellt hatte, etliche Werbebriefe, die immer wieder den Eingang zu ihrem Briefkasten fanden, und eine Karte von einer Freundin, die zwei Jahre zuvor nach einer dramatischen Scheidung, in deren Verlauf beide Ehepartner einander fast umgebracht hatten, zu ihren Eltern nach New Jersey gezogen war. Achtlos schob Stefania Post, Bücher und Mappen beiseite und hockte sich mit der Karte auf die Tischkante. Zwischen den wenigen Zeilen las sie heraus, dass ihre Freundin nicht nur einen lukrativen Job als Assistentin in einer Anwaltskanzlei ergattert hatte und daher nicht plane, wie Stefania sicher verstehen könne, derzeit nach Griechenland zurückzukehren.

Stefania betrachtete die Vorderseite der Karte mit der Freiheitsstatue von New York und spürte eine leise Tristesse. Eine weitere Freundschaft, die sie in der Sammelmappe der Vergangenheit abheften konnte, eine weitere Umdrehung des Lebensrades, das sich nicht anhalten ließ. 

Stefania warf die Karte auf den übrigen Posthaufen und rutschte von der Tischkante. Sie schaute sich um und entdeckte ihre Jeans neben dem Kamin auf dem Boden. Sie angelte den MP3-Stick aus der Hosentasche und steckte ihn in den Laptop, der mit einem Drucker verkabelt war, der sich wiederum eine Konsole seitlich des Schreibtisches mit einem schwarzgoldenen Oldtimertelefon teilte. Das Telefon hatte Stefania vor vielen Jahren auf einem Athener Flohmarkt erworben. Das altertümliche Ding war das einzige, was sie aus ihrem früheren Leben mit hinüber gerettet hatte.

Sie schaltete den Laptop ein, blickte stirnrunzelnd auf das sich aufbauende Menü und steuerte den Cursor auf das Symbol für den Stick. Den Zeigefinger über der linken Maustaste hielt sie inne.

Nein! Noch nicht! Noch war sie nicht bereit. 

Ganz langsam, sich jedes Schluckes bewusst, trank sie ihr Wasserglas leer. Sie nahm den schweren goldfarbenen Telefonhörer ab, dem der Duft so vieler Erinnerungen anhaftete. Unschlüssig wog sie den Hörer in der Hand und legte ihn schließlich behutsam zurück auf die Gabel. 

Sollte sie ihn anrufen? Nein. Keine gute Idee. 

Nur ein weiteres unnützes Ablenkungsmanöver. 

Sie wusste ja nicht einmal, ob sie wirklich Lust hatte, ihn noch einmal zu treffen. Sie hatten sich vor einigen Tagen im Mikró Café kennengelernt. Er war neu auf der Insel, groß, schlank und ein bisschen abgedreht. Ein Künstler eben, aus Kreta. Sie hatten über moderne, zeitgenössische Kunst gestritten – was das sei, wenn sie denn überhaupt existierte - und am Ende hatte er sie in sein Atelier eingeladen. Sie lächelte in der Erinnerung an das aufgeladene Wortgefecht, das schlussendlich in einem, die gesamte Umgebung erfassenden Gelächter endete.

Sie betrachtete ihre Hand, die noch immer unschlüssig auf dem Hörer lag, und musste unweigerlich an den verwirrten Ausdruck denken, der für Sekundenbruchteile in seinen Augen aufgeblitzt war. Er hatte nicht gefragt, und sie hatte nichts gesagt. Damals, als es geschah, schien es ihr richtig. Folgerichtig und gut. Eine Opfergabe. Eine Form von Sühne. Es war ihre Antwort auf das Unfassbare. Eine Möglichkeit, der Sinnlosigkeit etwas Sinnloses entgegenzusetzen.

Santanas Schlussakkorde verebbten. Stefania hob die Hand gegen das vom Fenster her einfallende Licht, spreizte die Finger. Nachdem die Wunde verheilt war, hatte sie sich vor dem Anblick gefürchtet, und als sie endlich meinte, die Stelle ohne Scheu berühren zu können, hatte sie nichts als Abscheu und Ekel empfunden. Es hatte fast drei Jahre gedauert, bis sie den runden Höcker auf ihrer linken Hand akzeptierte. Bis der Stumpf, auf dem einst ihr kleiner Finger saß, kein Fremdkörper mehr war.

*

Stelios parkte den Mitsubishi Pajero unter dem Carport und ging langsam die Auffahrt hinauf. Müde beäugte er den Lotusbaum vor seinem Haus. Irgendein verdammter Schädling hatte der Pflanze fast den Garaus gemacht, und Stelios hatte einen Gärtner zu Hilfe gerufen, der den Lotusbaum in einer aufwendigen, gleichermaßen wort- wie gestenreichen sowie kostentreibenden Sprayaktion gerettet hatte. Nun zeigte der Baum junge Triebe und signalisierte seinem Besitzer die Bereitschaft, im kommenden Winter wieder seine süßen orangeroten Früchte zu tragen. Obwohl sich Stelios Angelis‘ Interesse, was die Pflanzenwelt seines Gartens betraf, in überschaubaren Grenzen hielt, tätschelte er freundschaftlich den Stamm des Baumes. Er trat durch den mit Jasminen berankten Bogengang, schloss die Tür seines Hauses auf und öffnete die Fensterläden, die die Hitze des Tages aussperrten und die Innenräume angenehm kühl hielten.

Stelios hatte das zweistöckige traditionelle rosa Giebeldachhaus in Potamos von seinen Eltern geerbt. Es war alt und ein wenig verbaut, doch Stelios hatte in dem Haus seine Kindheit verbracht. Hier war er aufgewachsen, wenngleich im Schatten seiner beiden elf Jahre älteren Schwestern nicht immer sorgenfrei. Doch, wer konnte schon von seiner Kindheit behaupten, dass sie allzeit dem paradiesischen Urzustand glich. Wie auch immer, in diesem Haus waren seine Wurzeln begraben, hier fand er die Ruhe und Geborgenheit, die er zum Nachdenken und Auftanken brauchte. 

Nach dem Tod seiner Eltern hatte er keine wesentlichen Veränderungen vorgenommen. Gleich neben dem Eingang gab es eine kleine Gästetoilette, die schmale Diele führte in eine Wohnküche, von der man in einen weitläufigen Wohnraum mit drei Erkern und zwei Kaminen gelangte. Die hohe, leicht gewölbte Decke wurde von quer verlaufenden Holzbalken getragen. Eine Treppe aus Nussbaumholz führte ins obere Stockwerk. Dort befanden sich zwei Schlafräume und ein Gästezimmer mit schrägen Wänden, sein Büro, ein Bad und eine weitere Toilette. 

Stelios liebte den venezianisch nostalgischen Charakter des Hauses, das Spiel der Dächer, die Nischen und Wandvorsprünge, die alten Steinfußböden und die urige gemauerte Sitzecke im Wohnzimmer, die quasi aus dem Mauerwerk der Wand wuchs. Er mochte die orientalischen Teppiche auf den Holzdielenböden, die mit Decken und Kissen überfrachteten Betten, die Nussbaumvitrinen mit dem alten Porzellan und den zierlichen Figurinen hinter Glas, obenauf, zwischen Vasen und kleinen Krügen, gerahmte Familienfotos, eingehüllt vom Staub der Jahrzehnte. Vom Wohnraum ging es hinaus auf eine große Veranda, von der seitlich ein paar Steinstufen in einen verwilderten Garten hinab führten, an dessen Rand Stelios nun stand und seinen Blick stirnrunzelnd über die wuchernden Bougainvilleas, Glyzinien, Jakaranda- und Mandelbäume, Palmen, Bananenstauden, Orangen- und Zitronenbäume schweifen ließ. Es war höchste Zeit, den Gärtner zu bestellen, bevor das vom Sommer verdorrte Unkrautgestrüpp und die dornenreichen Ranken der Brombeerhecken die Vorherrschaft über die einstmals gepflegte Parkidylle übernahmen. 

Er seufzte. Im Gegensatz zur Liebhaberei seiner Mutter war Gartenarbeit absolut nicht sein Ding. Da trat er eher in die Fußstapfen seines Vaters, da gab es nichts zu beschönigen, aber auch keinen Grund, sich darüber den Kopf zu zermartern. Zumindest nicht wirklich. Wozu gab es schließlich Gärtner? Also kehrte er dem vorwurfsvollen Anblick den Rücken und ließ sein schlechtes Gewissen auf der Terrasse zurück.

Nachdem er kalt und ausgiebig geduscht und sich das nasse Haar sorgfältig nach hinten gekämmt hatte, zog er eine helle Jeans und einen dünnen Leinenpulli über und ließ sich mit einem Glas Ouzo, aufgefüllt mit Wasser, auf der Holzbank seiner Sitzecke auf der Veranda nieder. Er hob das Glas an die Lippen, während aus dem Hintergrund die zuvor eingelegte CD zu spielen begann und eine milde Abendsonne zwischen den Pinien und Zypressen des Westens hindurch schimmerte und sein Gesicht wärmte. Der Anis bewirkte ein Kribbeln in seiner Nase, der Alkohol und die Stimme von Sting glätteten ein wenig das aufgewühlte Blut in seinen Adern. 

Was für ein Tag! 

Auch wenn ein Tötungsdelikt ihm und seiner Kernmannschaft -bestehend aus Stefania Stefanidou und ihm selbst - die eigentliche Daseinsberechtigung gab, nach einem Mord beschlich ihn stets das Gefühl, nicht zur rechten Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Eine Gewalttat mehr, die er nicht hatte verhindern können. Diesmal noch dazu an einem so jungen Menschen. In einer entlegenen Kammer seines Bewusstseins fühlte sich Stelios Angelis immer ein bisschen mitschuldig, was ihn vielleicht zu genau dem Polizisten gemacht hatte, der er war. 

Stelios angelte mit der Fußspitze nach einem der beiden Holzsessel, rückte ihn polternd zurecht und legte die Füße auf den Leinenbezug. Er lehnte den Kopf gegen die Hauswand und schloss die Augen. Mit der linken Hand balancierte er sein Glas auf dem Oberschenkel, während die Zeigefingerkuppe seiner rechten mit einem hohen singenden Ton auf dem Rand des Glases kreiste. Durch die milchige Leinwand seiner geschlossenen Lider tanzten bizarre, sich ineinander verschlingende Kreise.

Nachdem er das Büro verlassen hatte, war Stelios nach Paleokastritsa aufgebrochen. Stefania hatte sich angeboten, ihn zu den Eltern des Jungen zu begleiten, doch er hatte spontan beschlos-sen, ihr für den Rest des Nachmittages freizugeben. 

Morde an Kindern gehörten zu den psychisch aufreibendsten Fällen, mit denen Ermittler es gemeinhin zu tun bekamen. Als junger Polizist in Ioannina war Stelios einmal an solch einer Mordermittlung beteiligt gewesen. Der Verteidiger hatte vor Gericht auf Totschlag plädiert und war damit durchgekommen, weil den Ermittlern Verfahrensfehler unterlaufen waren. Stelios hatte damals nur eine untergeordnete Rolle gespielt, dennoch hatte er diese Sache nie wirklich verwunden. Für Stefania war es der erste derartige Fall, und es war offensichtlich, dass sie das Todesszenario von Angelokastro nicht verkraftet hatte. Stelios wollte ihr Zeit lassen, ihr helfen, ein wenig Abstand zu gewinnen, ihre Gedanken und Gefühle zu ordnen. 

Das Haus, in dem die Eltern des Jungen lebten, lag auf einem Hang, hinter einer hohen Böschung versteckt, auf der Serpentinenstraße, die hinunter zu den Buchten von Paleokastritsa führte. Das Überbringen einer Todesnachricht gehört zu den grauenvollsten Aufgaben eines Polizisten. Doch als Ermittlungsleiter gab es für Stelios keine Frage, wem die Rolle des Todesengels diesmal zufiel. Ein Kind war gewaltsam zu Tode gekommen. Ein junger Mensch, dessen Leben noch die Anfangskapitel schrieb. Ein Junge, dessen Eltern ihn nun zu Grabe tragen mussten, und deren Hoffnungen mit einem Schlag ausgelöscht wurden. 

Während der Fahrt hatte sich Stelios eine vage Strategie zurechtgelegt. Der Faktor Zeit spielte bei einem Mordfall eine entscheidende Rolle, je früher die Befragung von Angehörigen und etwaigen Zeugen, umso sinnvoller die Hinweise. Aber das Ehepaar Bardis erlitt bei seiner Botschaft einen Schock, sodass keiner von beiden mehr ansprechbar war. Stelios überließ das Paar einer herbeigeeilten, nicht minder geschockten Nachbarin, die um Fassung ringend sich bereit erklärte, den Bardis in ihrer schwersten Stunde beizustehen. Er vereinbarte mit der Frau, zwei Stunden später wiederzukommen und traf sich in der Zwischenzeit, nach einem kurzen Telefonat, mit dem Arbeitgeber des Jungen, der ihn bereits hinter der Theke seiner Strandtaverne erwartete.

Die Taverne befand sich auf einem ausbetonierten Grund etwa drei Meter oberhalb einer kleinen, abseits gelegenen, kiesigen Strandbucht. Die wenigen Tische wirkten ungepflegt und zu der frühen Abendstunde verlassen. Der Wirt, ein rotgesichtiger, korpulenter Mann unbestimmten Alters mit Knollennase, stützte hemdsärmelig die Ellbogen auf die vom Putzen noch feuchtglänzende Theke, zuckte muffig die Schultern und schüttelte den Kopf. 

»Fleißiger Bursche. Immer höflich. Bescheiden. Schüchtern, ja, fast scheu. Typischer Einzelgänger. Hatte keine Geschwister. Auch keine engeren Freunde oder Bekannte. Nicht mal eine kleine Freundin. Was ja normal gewesen wäre, in dem Alter, oder?« 

Der Wirt wischte sich mit dem Handrücken über Mund und Nase und fuhr, ohne auf Antwort zu warten, fort. 

»Hat die Schule abgebrochen. Letzten Winter. Jobbte seit Mai hier, bei mir, als Kellner. Hab ihn mehr aus Mitleid genommen. Kenne den Vater. Guter Mann. Gingen zusammen zur Schule. Und was sollte der arme Junge auch sonst machen, so scheu, wie der war, oder?« 

Stelios merkte, dass sein Gegenüber auch auf diese Frage nicht wirklich eine Antwort erwartete, also nickte er nur kurz und ließ den anderen weiterreden. Der war es offenbar gewohnt, auf diese Weise zu kommunizieren. 

»Ioannis hat nicht viel geredet. Mit niemandem. Hat gearbeitet und den Mund gehalten. Egal, wie lang die Nacht wurde, egal, wie viel Gäste da waren. Wie man es sich wünscht, als Boss, oder? Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich so einen wieder herkriege?« Er stemmte die Ellbogen hart auf die Theke, ballte die Rechte zur Faust und stieß seinen Zeigefinger wie den Lauf einer Pistole nach vorn, Stelios entgegen. »Ich sag Ihnen was, Kommissar. Wenn Sie den Wichser erwischen, der ihn umgebracht hat, bringen Sie ihn her, damit ich Hackfleisch aus ihm machen und ihn an die Hunde verfüttern kann.«

Viel mehr hatte der Mann nicht zu sagen, und so trank Stelios den Ellinikós, den der Wirt ihm spendiert hatte, und machte sich dann auf den Weg zurück über die Serpentinenstraße zum Elternhaus des Jungen.