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Dorian Hunter Band 90: Das Todeslied der Uhrmacherin

Der Testlauf war erfolgreich, die Dämonenbevölkerung von Großbritannien wurde so gut wie ausgelöscht. Es sieht so aus, als könnte Dorian Hunter diesen Kampf endlich ein für alle Mal gewinnen. Doch natürlich legen seine Gegner nicht einfach die Hände in den Schoß und sehen ihm dabei zu. Während die Uhrmacherin Vorbereitungen trifft, den Rest der Welt von der Schwarzen Familie zu befreien, entfesselt Salamanda Setis den Totentanz.

 

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www.Zaubermond.de

 

 

Tick tock

 

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Band 89

 

Tick tock

 

von Catherine Parker und Christian Schwarz

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm

 

© Zaubermond Verlag 2017

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

www.Zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Was bisher geschah:

 

Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.

Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte. Ihn kann Dorian schließlich töten.

Nach vielen Irrungen nimmt Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi an. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und letztendlich wird ihre Maskerade Wirklichkeit. Dass Lucinda sich einen Teil Asmodis einverleibt hat, um seine Macht zu erlangen, wird ihr zum Verhängnis. Der in ihr schlummernde Asmodi übernimmt die Kontrolle über ihren Körper und ersteht so tatsächlich wieder auf.

Und die Umstände wollen es, dass ausgerechnet Coco Zamis die neue Schiedsrichterin wird. Das Dämonenkiller-Team droht zu zerfallen, Dorian stirbt. Die Dämonen scheinen gesiegt zu haben.

Aber mit vereinten Kräften gelingt es Dorians Freunden, ihn ins Leben zurückzuholen. Das Team formiert sich neu, und Coco Zamis nimmt zum Schein den Posten als Schiedsrichterin der Schwarzen Familie an, um aus dem Inneren heraus gegen die Dämonen zu kämpfen.

Gerade als sich alles wieder eingependelt zu haben scheint, taucht die Uhrmacherin auf, Dorians lang verschollene Tochter Irene. Sie behauptet einen Weg zu kennen, wie man die Schwarze Familie ein für alle Mal ausrotten kann. Aber kann das wirklich funktionieren?

 

 

Neferets Rache

 

von Catherine Parker

nach einem Exposé von Susanne Wilhelm

 

 

Kapitel 1

 

Theben (Altes Ägypten)

Neferet konnte es nicht fassen.

Eben noch hatte sie Kamal geküsst. Sie hatte den warmen Hauch seines Atems auf den Lippen gespürt, als er ihren Namen keuchte, und den Druck seiner Hände auf den nackten Hüften. Über ihren Köpfen funkelten Sterne, der Himmel war übersät davon.

Glücksboten, glaubte Neferet.

Es war nicht die erste Nacht, in der die junge Haremsdame und ihr Geliebter sich heimlich im Palastgarten von Theben trafen, aber es sollte ihre letzte sein.

Schwere Schritte näherten sich. Alarmiert horchte Kamal auf. »Was …?«

Da traf ihn ein brutaler Hieb in den Nacken.

Jäh wurde sein Körper von Neferets geschleudert. Hände griffen nach ihr. Jemand fluchte. Neferet schrie und versuchte sich zu bedecken, aber die Männer der Palastwache zerrten sie grob in die Höhe. Zerrissen ihren Schleier. Schüttelten sie. Schlugen sie, während sie wüste Beschimpfungen brüllten.

Gleich darauf schleppten sie Kamals Körper und Neferet mit sich fort. Das dunkle Gewand, mit dem sie sich verhüllt hatte, ehe sie zu ihrer nächtlichen Verabredung aufgebrochen war, blieb bei den Mandelbäumen zurück. Panik erfasste sie.

»Wartet«, schluchzte sie. »Kamal?«

Er antwortete ihr nicht. Leblos schleiften seine erschlafften Gliedmaßen über den Boden. Blut rann aus seinem Haar.

»Wo bringt ihr uns hin? Was habt ihr mit ihm vor?«

»Frag dich lieber, was dein Herr, der Pharao, mit ihm vorhat.« Der Mann, der sie vorwärts stieß, lachte. »Oder mit dir, du …« Er spuckte abfällig in den Staub.

Neferet ahnte, dass sie ihr Leben verwirkt hatten. Der Pharao war ein kalter, gnadenloser Herrscher, der Zuwiderhandeln streng ahndete. Eine verbotene Liebschaft zwischen einer Haremsdame und einem seiner Schreiber würde er niemals dulden.

Und trotzdem! Sie konnten sich doch nicht wie treue Ziegen zum Schlachter führen lassen? Voller Verzweiflung begann Neferet sich gegen das Unabänderliche zu wehren.

»Lasst mich los!« Sie trat um sich, biss und kratzte. Ohne jeden Erfolg.

Gegen die muskulösen Männer der Palastwache konnte sie nichts ausrichten. Ebenso wenig wie Kamal, der erst jetzt wieder zu sich kam. Sein Stöhnen drang durch die Nacht, während man Neferet die Hände fesselte. Der Laut traf sie mitten ins Herz.

»Kamal? Was …?«

Ein Schlag ins Gesicht unterbrach sie. »Halt den Mund, Hure.«

»Tut ihm nichts, ich flehe euch an. Lasst ihn gehen! Lasst uns beide gehen!«

Gab es überhaupt einen Ort, an den sie gehen konnten? Wo sie vor dem Zorn des Pharaos sicher waren? Neferet brauchte gar nicht darüber nachzudenken. Es gab keinen. Aber ihr Wimmern und Betteln wurde ohnehin ignoriert.

Mittlerweile hatten sie den Garten verlassen. Die Wachen schubsten sie quer über den Hof, vorbei an den hohen Haremsmauern und dem schmalen Seitentor, durch das Neferet zuvor entwichen war. Nun standen zwei Bewaffnete davor. Bei deren Anblick stolperte sie prompt und stürzte. Schmerz zuckte durch ihr Knie.

»Weiter, los.« Einer der Männer zerrte sie hoch.

Die Stille zwischen den Mauern ringsum wirkte trügerisch. Neferet war überzeugt, dass keine der übrigen Frauen im Harem schlief. Bestimmt lauschten sie alle, was hier draußen geschah. Manch eine pries vielleicht die Göttin, dass es eine andere erwischt hatte ...

Neferet ahnte, dass sie verraten worden waren. Aber von wem? Hatte man sie und Kamal schon länger beobachtet und nur darauf gewartet, dass sie einen Fehler machten? Wer wusste von ihrer Liebe und hatte dieses Wissen dem Pharao zugetragen?

Sie sollte es an diesem Tag nicht erfahren.

Ehe der Morgen heraufdämmerte, wurde das ertappte Liebespaar in den Thronsaal gebracht. Der Rauch aus den Opferschalen brannte in Neferets verweinten Augen. Noch immer war sie bis auf den zerrissenen Schleier nackt, dennoch hielt sie sich aufrecht – im Gegensatz zu Kamal, der völlig benommen wirkte. Eine Gesichtshälfte war übel verfärbt von den Hieben, die ihn niedergestreckt hatten.

»Steh gerade, Unwürdiger.« Die Stimme des Anklägers schallte durch den Raum. »Du hast die Ehre deines Amtes beschmutzt. Der gottgleiche Pharao hat dir in seiner wohlwollenden Güte eine Ausbildung zum Schreiber ermöglicht. Er hat dich in seine Dienste genommen und dich mit Gold teuer bezahlt. Wie aber hast du es ihm vergolten?« Drohend deutete er auf Kamal. »Indem du beansprucht hast, was allein deinem König gehört.«

»Ja, Herr.« Kamals Augen flackerten. »Vergebt mir. Ich war von Sinnen.«

Wie wahr, dachte Neferet. Wir waren beide von Sinnen. Ein solches Wagnis einzugehen, aus Liebe. Und trotzdem möchte ich nicht eine unserer gestohlenen Stunden missen.

»Der Frevel muss gesühnt werden. Ihr werdet beide eine gerechte Strafe für euer Vergehen erhalten.«

»Ja, Herr.«

Nein, wollte Neferet rufen. Bestraft den Mann, den ich liebe, nicht dafür, dass er meinen Reizen so wenig widerstehen konnte. Ich war es, die Kamal gelockt und umschmeichelt hat – mit meinem Duft, meinem Tanz und meinen geflüsterten Botschaften. Ich bin eine Meisterin der Verführung.

Im Dienste des Pharaos war sie eigens für diesen Zweck ausgebildet worden. Sie wusste, wie sie ihren Körper einsetzen musste, um Begehren auszulösen. Doch Neferet schwieg. Denn selbstverständlich wusste der Pharao das auch. Er hatte sie in der Vergangenheit oft genug zu sich gerufen und an ihrer Kunst erfreut. Aber ein Gottkönig wie er teilte seinen wertvollen Besitz nicht ungefragt mit einem Schreiber …

Das zu erwartende Urteil dröhnte gleich darauf wie ein Donnerschlag in Neferets Ohren. Der Herrscher selbst verkündete es: »Schlagt diesem jämmerlichen Schreiber die Hände ab, die berührt haben, was mein ist. Und dann den Kopf, der meine Verbote und Gesetze nicht geachtet hat.«

»Nein!« Neferet kreischte wie eine Furie.

Einer der Palastwächter trat vor und zog sein Sichelschwert. Es war Ini, der Anführer der inneren Garde. Die scharfe Klinge blitzte im Fackelschein. Mit einer mühelosen Bewegung holte Ini aus. Einen Wimpernschlag später sprühte Kamals Blut in einer Fontäne durch den Thronsaal.

Neferet glaubte, die warmen Sprenkel auf der Haut zu fühlen. Ihr Magen bäumte sich auf und gab den Rest seines Inhalts von sich. Sie krümmte sich zitternd auf dem Boden und streckte die Hand nach ihrem Geliebten aus. Vergeblich.

»Kamal«, wimmerte sie.

Er starb mit offenen Augen. Sein letzter Blick galt ihr.

Der Pharao nickte zufrieden, als ihm der abgetrennte Kopf vor die Füße rollte. »Gut. Geht und werft seine Überreste den Krokodilen zum Fraß vor. Der Weg ins Totenreich soll ihm auf ewig vorenthalten sein.«

Ein grausameres Urteil hätte er nicht fällen können. Er löschte damit Kamals Existenz für alle Zeiten aus. Kamals Seele würde nicht weiterreisen, nicht überdauern.

Als hätte es ihn nie gegeben, meinen klugen, talentierten Schreiber mit den sanften Augen.

Der Blick des Pharaos fiel auf Neferet.

Seine Worte vernichteten jeden Hoffnungsschimmer, den sie noch in sich trug. Der König würde sie nicht auf dieselbe Weise hinrichten und damit von ihrem unerträglichen Schmerz erlösen.

»Dir untersage ich, ihm zu folgen«, sagte er kalt. »Auf dich wartet nicht der Tod. Stattdessen sollst du mit der Erinnerung an mein Urteil leben, bis deine falsche Schönheit verblichen ist. In meinem Harem bist du nicht länger willkommen. Ich verbanne dich nach Dachla, fern in die Wüste. Als Magd eines Bauern wirst du auf den Feldern der Oase für mich arbeiten. Und kein Mann darf dich jemals wieder anrühren.«

Es war ihr egal. Sie hatte kein Leben mehr. Kamal war tot.

Die Männer der Palastgarde schafften den Leichnam aus dem Thronsaal.

Neferet beobachtete das Ganze regungslos. Völlig erstarrt. Innerlich fühlte sie sich wie taub. Mit seinem entsetzlichen Urteil hatte der Pharao das allerletzte Band zwischen ihr und Kamal durchtrennt.

Er hat uns für die Ewigkeit auseinandergerissen.

Ein Teil von ihr wünschte sich sehnlichst, niemals geboren zu sein.

Gleichzeitig sickerte ein neuer Gedanke in ihr Bewusstsein. Durchtränkte ihren Geist mit purem Gift, bis sie nichts anderes mehr wahrnahm.

Doch. Es gab noch etwas, das sie wollte. Mehr als alles andere.

Rache.

Allein dafür würde sie weiterleben.

 

 

Kapitel 2

 

Voller Genugtuung sah Irene dem geschäftigen Treiben in der großen Halle zu.

Mit der Uhrmacherwerkstatt stand alles zum Besten – die zahlreichen Zhi Ren erledigten flink und geschickt die Aufgaben, für die Irene sie geschaffen hatte. Alfred, ihre rechte Hand, beaufsichtigte inzwischen eine ganze Armee von Uhrmachergesellen.

Er teilte die Zhi Ren ein, dirigierte und kontrollierte ihre Arbeiten und tat das trotz seines hohen Alters mit Freude. Auf Alfred war Verlass.

Sie nickte ihm wohlwollend zu, während sie die Halle durchquerte. Am Ende des langen Förderbands warteten die neu gefertigten Lebensuhren darauf, dass Irene ihnen den letzten entscheidenden Schliff verpasste.

Erst mithilfe ihrer Magie wurden aus den Uhren tödliche Waffen.

Irene lächelte. Bald konnte sie Dorian Hunter Bescheid geben, dass alles bereit war. Sie hatte ihrem Vater versprochen, mit ihm gemeinsam den Kampf gegen die Schwarze Familie und sämtliche Dämonen der Welt aufzunehmen. Gab es ein höheres Ziel für die Tochter eines Dämonenkillers? Nein. Dank Irenes Lebensuhren konnten die Menschen ein für alle Mal von diesem Übel befreit werden. Dorian würde für immer stolz auf Irene sein.

Dummerweise existierte da nur ein klitzekleines Problem.

Der Pakt, den Irene einst mit Yama geschlossen hatte, stand ihren Plänen im Weg.

Yama, dem chinesischen Totengott, verdankte sie ihre Macht über die Zhi Ren. Auch den Zugang zur Werkstatt, die in einer anderen Dimension existierte, hatte Yama ihr verschafft – aber selbstverständlich hatte er Bedingungen gestellt, ehe er ihr das alles gewährt hatte. Seine Anhänger unter den Dämonen mussten verschont bleiben. Damals hatte sie dem leichtfertig zugestimmt.

Mittlerweile bereute sie es. Und wusste nicht weiter. Sie konnte Dorian ja schlecht erklären, dass einige Dämonen doch überleben sollten …

Irene seufzte, während sie ihr Büro betrat und die Tür hinter sich schloss. Die Geräusche der Produktion waren jetzt nur noch stark gedämpft zu vernehmen. Gut so. Sie brauchte Ruhe, um nachzudenken.

Aus der Bibliothek ihres Vaters hatte sie vor einiger Zeit ein Buch ausgeliehen. Dorian hatte sie misstrauisch beäugt, jedoch nicht weiter nachgebohrt, warum seine Tochter ausgerechnet eine Abhandlung über Teufelspakte lesen wollte. Sie hatte natürlich gehofft, darin Hinweise zu finden, wie man aus einer solchen Vereinbarung unbeschadet wieder herauskam.

Tatsächlich hatte sie einige Beispiele gefunden: Menschen, die ihre Bauprojekte mit Hilfe des Teufels vorantrieben, Rathäuser in kürzester Zeit oder Kathedralen von schwindelerregender Höhe bauten, hatten anschließend den Höllenmeister um den versprochenen Lohn betrogen. Der Teufel hatte die ersten Seelen, die das fertige Bauwerk betraten, für sich eingefordert – und man hatte einfach Schweine und Ziegen in die Gebäude getrieben.

Ein netter Trick, der funktioniert hatte.

Leider half er Irene absolut nicht bei ihrem Problem mit Yama.

Obwohl sie Dorians Buch in der letzten Woche genauestens studiert hatte, blätterte sie es nun erneut durch. Vielleicht hatte sie ja doch etwas Wichtiges übersehen?

Irgendwann musste Irene einsehen, dass der Inhalt nicht mehr hergab. Enttäuscht klappte sie den alten Folianten zu. Nichts von dem, was sie gelesen hatte, ließ sich auf ihren speziellen Fall übertragen. Außerdem waren die meisten Versuche übel ausgegangen für diejenigen, die versucht hatten, den Teufel zu betrügen. Als Baron de Conde war auch Dorian vor langer Zeit dasselbe widerfahren. Sein Versuch, Asmodi zu hintergehen, schlug damals fehl. Nicht nur er, sondern die ganze Familie des Barons hatte dafür bitter büßen müssen.

Eigentlich sollte Irene das Warnung genug sein.

Aber sie weigerte sich, an die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens zu glauben. Niemand war unfehlbar, auch ein chinesischer Gott nicht. Es musste doch einen Weg geben, selbst Yama zu überlisten!

Mit nachdenklich gefurchter Stirn betrachtete Irene die kleine Uhr auf ihrem Schreibtisch. Sacht schwang das winzige Pendel hin und her, erinnerte an die Vergänglichkeit der Zeit. Mahnte die Uhrmacherin zur Besonnenheit. Sie war so weit gekommen, sie durfte nicht voreilig agieren und alles aufs Spiel setzen.

Solange sie und Dorian die Dämonenscharen dieser Welt noch nicht vernichtet hatten, war Yama ein äußerst nützlicher Verbündeter. Es war also besser, ihn weder zu verärgern noch misstrauisch zu machen. Aber verdammte sie das wirklich zur Untätigkeit?

In Irenes Fingerspitzen kribbelte es. Behutsam strich sie über das Zifferblatt der Uhr. Das leise Ticken wirkte stets beruhigend auf sie. Schon oft hatte es ihr geholfen, ihre Gedanken zu klären, bis ihr am Ende doch noch eine Lösung einfiel.

So auch heute.

Zwar fand sie keinen sofortigen Ausweg aus ihrem Dilemma. Vorerst musste sie den Pakt mit Yama ja unbedingt aufrechterhalten. Offiziell zumindest.

Aber was sprach dagegen, einen kleinen Test zu wagen?

Wenn sie irgendeinem unbedeutenden Dämon aus Yamas Anhängerschaft eine Lebensuhr schickte – würde der chinesische Gott das überhaupt bemerken?

Falls ja, konnte sie behaupten, der Tote sei lediglich ein Versehen gewesen, sie hätte nichts von seiner Zugehörigkeit zu Yama gewusst. Falls Yama von seinem Ableben aber gar keine Kenntnis erlangte und der Mord unentdeckt vonstattenging …

Irenes Mund verzog sich zu einem triumphierenden Lächeln.

Dann konnte sie still und heimlich auch für alle Dämonen Yamas Lebensuhren vorbereiten, bis sie an der Seite des Dämonenkillers in den finalen Kampf ziehen würde.

 

Wenige Tage später schlenderte Irene durch Manhattan.

Ein kalter Wind pfiff hier, am südlichen Rand der Lower East Side, östlich des Broadways. Die Canal Street war das Herz Chinatowns, wo Tag und Nacht das Leben pulsierte. Trotz der beißenden Kälte drängten sich zahlreiche Touristen an den Läden und Lokalen vorbei, auf der Suche nach Parfum, Uhren, Elektronik oder Handtaschen – Markenschnäppchen made in Chinatown.

Chinesische Schriftzeichen zierten die Fassaden, überall flackerten Neonreklamen. Irene hatte Mühe, sich zu orientieren. Was für ein Lärm! Was für ein Gewusel von Passanten! Imbissstände verströmten würzigen Duft, Straßenhändler lockten mit seltsamen Früchten und Gemüse, in der Schauvitrine eines Restaurants hingen rotgebeizte Enten. Dazwischen pagodenförmige Telefonzellen – dass es so etwas überhaupt noch gab! –, Mahjongspieler, Drachenfiguren neben einer Bäckerei, leuchtende Lampions vor einem Tempeleingang.

Irene beschloss, sich heiße Teigtaschen zu gönnen – mmh, sie liebte Dim Sum – und sich ansonsten einfach treiben zu lassen.

Je tiefer sie dabei in die Seitenstraßen gelangte, umso mehr prägten bald Einheimische statt der Touristen das Bild. Irene spürte, dass sie ihrem Ziel langsam näher kam. Irgendwo hier gab es einen verborgenen Yama-Schrein, das hatten ihre Recherchen ergeben.

Vielfältige Dialekte drangen an ihr Ohr, nicht alles, was um sie herum gesprochen wurde, verstand sie. Irene verdankte ihre Chinesisch-Kenntnisse zum großen Teil der Füchsin, die sie auch in asiatischer Kampfkunst unterrichtet hatte.

Aber je länger Irene durch das alte, das echte Chinatown spazierte, desto mehr nahm sie von dem wahr, was um sie herum vorging. Seit jeher verfügte sie über besonderes Talent. Ihre magischen Wurzeln ließen sie Dinge aufspüren, die anderen verborgen blieben – sie musste nur all ihre Sinne auf das gewünschte Ziel richten.

Irene entdeckte den Zugang zu Yamas Schrein schließlich im Hinterhaus einer Schneiderei. Der Familienbetrieb war bis zum Abend gut besucht, sie musste also eine Weile ausharren, ehe sie sich der Tür unauffällig nähern konnte. Immerhin wurde ihre Geduld belohnt.

Der Schrein wurde von einem verkrüppelten Chinesen gehütet, dessen Schlangenaugen ihn als Dämon auswiesen. Einem besser aussehenden Exemplar war Irene vor Jahren begegnet – damals, als der Fuchsgeist ihren Körper übernommen hatte. Erneut ließ die Erinnerung an die Füchsin Irene traurig lächeln. Mae hätte es hier in Chinatown bestimmt gefallen. Aber sie war tot. Gefallen in einem Kampf, der Irene gegolten hatte.

Rasch schüttelte sie alle Gedanken an die Vergangenheit ab. Sie musste sich konzentrieren. Trödelei war nicht angesagt, ihre Mission zu heikel, um erwischt zu werden.

Irene prägte sich den Ort des Schreins, die Umgebung und die Physiognomie des Dämons, der ihn bewachte, genau ein. Wie zu ihren Anfangszeiten, als sie ganz auf sich gestellt gewesen war, musste sie dieses Mal allein vorgehen. Mitwisser konnte sie nicht gebrauchen. Daher wollte sie die tödliche Uhr später auch ohne die hilfreichen Zhi Ren hierher schaffen.

Dank des magischen Schlüssels zu ihrer Werkstatt konnte sie jegliche Distanz zum Glück schnell überwinden – es bedurfte nur einer Tür, die sie öffnen konnte, um an jeden Ort zu gelangen, an den sie wollte. Aber dieses Mal galt es, bei jedem Schritt unentdeckt zu bleiben und in Chinatown keine verräterischen Spuren zu hinterlassen.

Nichts sollte Yama verraten, dass sie je hier gewesen war.

Ein letztes Mal blickte Irene sich aufmerksam um, dann verschwand sie wie ein Schatten aus der New Yorker Dunkelheit.

Zurück an ihrem sicheren Schreibtisch arbeitete Irene die ganze Nacht, um die Lebensuhr für Yamas verkrüppelten Diener fertigzustellen. Es machte ihr Spaß, die winzigen Schrauben festzudrehen und alle Einzelteile zu einem Gesamtkunstwerk zu verbinden.

Eine Strähne ihres blonden Haares fiel ihr in die Stirn und verdeckte ihr die Sicht. Unwirsch schob Irene sie beiseite. Bei dieser besonderen Uhr musste sie äußerst penibel vorgehen. Dank jahrelanger Erfahrung saß zum Glück jeder Handgriff.

Sie spürte, wie die Magie sie durchströmte, als sie mit der Feinjustierung begann.

Im Grunde funktionierten ihre Uhren nach der Kontaktaufnahme durch das Opfer wie ein mentaler Scanner. Das Leben der Zielperson wurde nach Schwachstellen durchforstet, an denen die Uhr andocken konnte. Sichtbar wurde das, wenn sich das Zifferblatt wandelte. Sobald dort eine Schlüsselszene aus dem Leben des Opfers erschien, war die Uhr geprägt. Dann musste sie nur noch angehalten werden. Wenn die Uhr stillstand, starb auch der, mit dem sie auf magische Weise verknüpft worden war.

So hatte Irene es Dorian erklärt. Besser konnte sie die Funktionsweise ihrer Magie nicht beschreiben. Der Dämonenkiller hatte sich damit zufrieden gegeben. Die Lebensuhren funktionierten, davon hatte Irene ihn eindrucksvoll überzeugt. Es war ihr sogar gelungen, Salamanda Setis damit Todesangst einzujagen. Leider lebte die verhasste Rabisu immer noch – aber wenigstens war sie nicht mehr Teil von Dorians Team.

Das zumindest hatte Irene erreicht.

Mit prüfender Miene drehte sie die neu geschaffene Uhr in den Händen. Sie sah alt aus, war mit schlangenförmigen Ornamenten verziert und wirkte auf den ersten Blick vollkommen harmlos. Genau wie Irene es beabsichtigt hatte.

Die Magie, die der Uhr innewohnte, war jedoch so stark, dass Yamas hässlicher Diener sie nicht einmal berühren musste, um sie auf sich zu prägen.

Irene wollte kein Risiko eingehen.

Wenn der Krüppel die Uhr nicht sah, konnte er sie auch niemandem zeigen. Oder darüber reden. Sie würde Yamas Dämon umbringen, ohne dass er die Gefahr auch nur erahnte, in der er schwebte. Dafür musste sie die Lebensuhr nur für ein paar Stunden in seiner Nähe platzieren.

Sie dachte da an ein passendes Versteck direkt neben dem Schrein …

 

Vierundzwanzig Stunden. Das sollte reichen, hatte Irene beschlossen.

Doch selten war ihr die Zeit so dehnbar vorgekommen. Der Tag kroch nur so dahin, seit sie die Uhr nach Chinatown gebracht hatte. Fast kam es ihr vor, als wollte es nie wieder Abend werden. Sie tigerte rastlos durch die Werkstatt und reagierte gereizt, als Alfred sie fragte, was los war. »Nichts.«

»Aber ...«

»Ich sagte doch: Nichts!«

Kopfschüttelnd wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Irene stapfte zurück in ihr Büro und knallte die Tür ins Schloss.

Dann, endlich, war die Frist, die sie sich selbst gesetzt hatte, verstrichen.

Jetzt konnte sie nach New York und den Test beenden. Die Uhr anhalten. Yamas Dämon töten. Und sehen, was geschah … Würde der chinesische Gott durchschauen, was passiert war? Würde Yama ihr auf die Schliche kommen? Dass sie versuchte, ihn zu betrügen und den einst geschlossenen Pakt zu umgehen?

Irenes sonst so ruhige Finger zitterten leicht, als sie den magischen Schlüssel benutzte. So sparte sie sich den Gang durch die nächtlichen Straßen von Chinatown, das Gewirr und die exotischen Gerüche. Die Tür, die sie öffnete, führte direkt ins Hinterhaus der Schneiderei.

Düstere Stille empfing sie.

Neben Yamas dekoriertem Schrein flackerten zwei fast heruntergebrannte Kerzen. Sonst war der Raum leer. Von dem dämonischen Hüter mit den Schlangenaugen war nichts zu sehen.

Vorsichtig fasste Irene unter die zersplitterte Bodendiele, wohin die sie die Uhr geschoben hatte. Sofort ertasteten ihre Finger das vertraute Metallgehäuse.

Sie atmete auf. Niemand hatte das Versteck entdeckt.

Ihr Herz klopfte schneller, als sie die Uhr hervorzog – behutsam, um sie nicht zu zerkratzen oder anderweitig zu beschädigen. Sie konnte es kaum erwarten, das Zifferblatt zu sehen. Welche Szene aus der Vergangenheit des verkrüppelten Dämons würde darauf abgebildet sein? Gleich würde sie es wissen. Und dann die Uhr stoppen. Sobald das Ticken verstummte, würde auch das Leben des dargestellten Dämons enden.

Irene trat einen Schritt näher an die Kerzen heran und hielt die Uhr ins Licht.

Als sie das Zifferblatt erkannte, hätte sie ihr Werk beinahe fallen lassen.

Eine Mädchengestalt blickte ihr entgegen. Blond, lächelnd – und sehr vertraut. Neben dem Mädchen saß ein Fuchs mit neun Schweifen.

»Nein, das kann nicht sein …?«

Grenzenlos entsetzt starrte Irene das Bild an. Es zeigte eindeutig sie selbst.

Sie hielt ihre eigene Lebensuhr in den Händen.

Noch bewegte sich das Pendel.

Noch tickten die Zeiger.

Noch.

 

 

Kapitel 3

 

Salamanda Setis warf dem Eidesstab einen ungnädigen Blick zu. Dass sie hier festsaß, in diesem öden Schiedsrichterbüro, während draußen das Wiener Aprilwetter Graupelkörner über den Asphalt jagte, verdankte sie allein ihm.

Der Eidesstab hatte sie erneut an dieses Amt gefesselt. Als hätte sie ihm nicht schon lange genug gedient! Mehr als irgendjemand sonst …

»Warum hast du das getan?«, knurrte sie. »Warum ausgerechnet ich?«

Natürlich erhielt sie keine Antwort. Sie hatte auch keine erwartet. Der Eidesstab besaß eine Menge Fähigkeiten, die in der Schwarzen Familie gleichermaßen geschätzt wie gefürchtet waren, aber Sprechen gehörte nicht dazu. Dennoch spürte Salamanda die enorme magische Kraft, die von dem Feuerschädel ausging. Seit dem Totentanzritual in Meroe zierten seltsame Muster aus weißem Staub das Holz des Stabes.

Die Ereignisse im Sudan hatten die Fronten zwischen ihr und Dorian Hunter verhärtet. Ihre Zusammenarbeit war immer schon ein fragiles Arrangement gewesen, sie hatten einander nie wirklich vertraut. Zu Recht, wie sie beide aus Erfahrung wussten. Trotzdem hatte es eine ganze Weile gut funktioniert.

Tja, vorbei. Die Rabisu biss sich auf die Lippen. Abgehakt.

Dass sie sämtliche Dorfbewohner Meroes nach dem fehlgeschlagenen Ritual umgebracht hatte, würde der Dämonenkiller ihr nie verzeihen.

Andererseits hatten sie sich zuvor schon auf Leben und Tod bekämpft.

»Was soll’s also.« Salamanda schnippte den Kugelschreiber vom Schreibtisch, der noch die Initialen von Coco Zamis trug.

Überall fanden sich Überbleibsel aus der Zeit, als Coco hier Streitigkeiten geschlichtet hatte. Allzu lange lag das ja noch nicht zurück. Ebenso wenig wie die Gerichtsverhandlung, bei der Salamanda die Hexe gegen Asmodis Anklage raffiniert und erfolgreich verteidigt hatte.

Ein gefährliches Spiel, auf das ich mich da eingelassen habe ...

Und was hatte ihr das Ganze eingebracht?

Den verhassten Schiedsrichterposten, den sie nun zum zweiten Mal innehatte. Dabei war sie einst so froh gewesen, die lästige Bürde endlich los zu sein.

Außerdem ärgerte sich Salamanda darüber, dass Coco ausgerechnet in Dorians Londoner Jugendstilvilla Unterschlupf gefunden hatte. Ihr selbst hatte man den Zutritt in der Baring Road stets verwehrt; selbst zu der Zeit, als sie noch Teil des Teams gewesen war.

Leider war dann eines Tages Irene aufgetaucht. Dorians angebliche Tochter. Seitdem stand die Rabisu an erster Stelle auf der Abschussliste.

Die verfluchte Uhrmacherin.

Erneut kochte Wut in Salamanda hoch. Sie grub die krallenartigen Fingernägel so fest in die Tischplatte, dass sie hässliche Kratzer hinterließen.

Denk nach, beschwor sie sich. Es wird Zeit, Irenes Treiben endlich Einhalt zu gebieten.

Die Ereignisse im Sudan waren kein Zufall gewesen. Zweifellos hatte Bastet ihre Schritte gezielt nach Meroe gelenkt. Sie hatte Salamanda auf die machtvolle Magie des Totentanzes aufmerksam gemacht – und wahrscheinlich verdankte sie es auch der katzenäugigen Göttin, dass sie zuvor den Eidesstab zurückerlangt hatte. Denn ohne das Artefakt wäre Salamanda kein Eingreifen möglich gewesen. Die Rabisu besaß keine eigenen magischen Kräfte und erfüllte somit die Voraussetzungen nicht, den Totentanz zu übernehmen.

Der Eidesstab allerdings schon.

Nur wusste Salamanda noch immer nicht, wie sie dessen neu erlangte magische Kraft gegen die Uhrmacherin einsetzen konnte. Was sollte sie jetzt konkret damit anfangen? Wie konnte sie Irene mit dem Staub schaden oder das Miststück am besten gleich ganz ausschalten?

»Ja, wie?«, herrschte Salamanda den Eidesstab an.

Durch die Staubzeichnungen wirkte er verändert. Inwieweit er das tatsächlich war, wusste sie nicht. Sie war keine Hexe, ihre Kenntnisse von Magie waren eher dürftig.

»Mir fehlt eine Gebrauchsanweisung, verdammt.«

Frustriert vor sich hin murmelnd, tastete sie den ehemaligen Feuerschädel ab. Sie rief sich das Ritual in Meroe in Erinnerung – die Gesänge, das Trommeln. Der heilige Platz zwischen den Felsen, wo die Menschen sich in Trance getanzt und den Staub aufgewirbelt hatten.

Nichts lieferte einen Hinweis darauf, wie sie dieselbe magische Kraft in einem Wiener Büro entfesseln konnte. Geschweige denn, wie sie diese gezielt anwenden konnte.

Salamanda wollte schließlich nicht diejenige sein, gegen die der Totentanz sich richtete. Was passierte, wenn der Staub toste, hatte sie eindrucksvoll miterlebt: Menschen, die innerhalb von Sekunden alterten, verschrumpelten wie Dörrpflaumen und tot zusammenbrachen.

Höchst gern würde sie Irene dasselbe Schicksal erleiden lassen.

Aber der Eidesstab gab sein magisches Geheimnis nicht preis.

Genervt umkreiste Salamanda den Schreibtisch. Setzte sich wieder, stützte den Kopf in die Hände. Es war nicht zum Aushalten! Sie kam mit ihren Überlegungen einfach nicht weiter. Irgendwann sah sie die Nutzlosigkeit ihrer Bemühungen ein.

Allein würde sie das Problem nicht lösen.

Sie brauchte Hilfe. Oder einen guten Rat.

Von jemandem, der sich besser mit Magie auskannte.

Begabte Hexer hatte sie Zeit ihres Lebens zwar einige kennengelernt, aber spontan schien ihr keiner davon ausreichend vertrauenswürdig. Sollte sie es trotzdem wagen?

Noch während Salamanda zögerte, ob sie einen alten Freund in Dubai kontaktieren sollte, dem sie am ehesten zutraute, sich mit Wüstenmagie auszukennen, meldete sich überraschend Asmodi bei ihr – und nahm ihr kurzerhand die Entscheidung ab.

 

»Ich hatte erwartet, von dir zu hören, Schiedsrichterin«, sagte er. »Gibt es keine Neuigkeiten, die für mich von Interesse sind? Oder hast du etwas zu verheimlichen?«

»Selbstverständlich nicht«, versicherte Salamanda.

Wie immer, wenn Asmodi so unvermittelt auftauchte, spürte sie ein nervöses Flackern im Bauch. Mit dem Oberhaupt der Schwarzen Familie war nicht zu spaßen. Zwar kannte sie Asmodi seit Ewigkeiten und wusste durchaus, wie sie mit ihm umgehen musste, aber jeder direkte Kontakt mit ihm war und blieb eine Gratwanderung.

Vor allem wenn er so ungehalten wirkte wie heute.

»Du hättest dich nicht extra herbemühen müssen«, sagte sie. »Ein Anruf hätte genügt. Oder selbstverständlich wäre ich auch zu dir gekommen. Bald schon.«

»So?« Seine glatte weiße Gesichtsfläche ließ keine Regung erkennen. Lediglich der aggressive Tonfall und die Art, wie er dastand, verrieten die Bedrohung.

»Ja. Ich wollte nur noch etwas kläre...«

Er schnitt ihr das Wort ab. »Und ich wollte mich lieber persönlich davon überzeugen, was du hier so treibst.«

Sie straffte die Schultern. »Ich versuche, ein wichtiges Rätsel zu lösen.«

»Gehört das zu deinen Aufgaben als Schiedsrichterin?«

»Nun ja, gewissermaßen …«

»Schluss mit den Ausflüchten.« Er kam näher, den Finger anklagend auf sie gerichtet. »Ich bin hier, um mich nach deinen Fortschritten zu erkundigen. Du erinnerst dich? Du wolltest dich um die Uhrmacherin kümmern.«

»Tja, hm…« Salamanda wusste nicht, wo sie beginnen sollte.

»Pass auf«, zischte Asmodi. »Du hast meine Geduld bei der Gerichtsverhandlung gegen Coco Zamis genug strapaziert. Noch einmal lasse ich dir das nicht durchgehen. Ich rate dir dringend davon ab, weitere Spielchen mit mir zu treiben.«

Mit wenigen Worten brachte sie ihn auf den neuesten Stand: Dass Bastet sie nach Meroe geführt hatte, von wo sie den Totentanz mitgebracht hatte. Die Details der Ereignisse im Sudan, soweit sie ihre Auseinandersetzung mit Dorian betrafen, verschwieg sie lieber. Alles musste der Fürst der Finsternis nicht wissen. Wie erwartet reagierte Asmodi bereits auf die pure Erwähnung des Dämonenkillers mit Missbilligung.

»Was hatte Hunter dort zu suchen?«

»Vermutlich ist er mir gefolgt. Aber das spielt keine Rolle, denn er konnte ja rein gar nichts ausrichten.« Salamanda lächelte betont gleichgültig. »Ich bin diejenige, die erfolgreich war.«

»In der Tat«, knurrte Asmodi und wandte sich fasziniert dem Eidesstab zu. »Der Totentanz steckt also in diesen seltsamen Linien?«

»Ja. Hast du davon schon einmal gehört?«

»Von einer Wolke aus machtvollem magischem Staub? Nein.« Asmodi konnte den Blick nicht von den Mustern auf dem Holz losreißen.

Salamanda seufzte. »Leider habe ich keine Ahnung, wie man die gewaltige Kraft wieder aktivieren kann, die der Stab während des Rituals aufgenommen hat.«

»Dann müssen wir es herausfinden.«

Als Asmodi die Hand nach dem Eidesstab ausstreckte, glaubte Salamanda ein abwehrendes Knistern zu hören. Oder hatte sie sich getäuscht?

»Ich bin sicher, dass man den Totentanz gegen Irene einsetzen kann«, sagte sie. »Die Macht muss sich verwenden lassen, um die Uhrmacherin auszuschalten. Das scheint mir jedenfalls die einzig logische Erklärung, warum Bastet mich dorthin geführt hat.«

»Mag sein.« Asmodi fuhr fort, den Eidesstab zu inspizieren, ohne ihn anzufassen.

Wieder glaubte Salamanda ein feines Knistern zu hören. Doch die verschlungenen weißen Linien gaben auch dem Anführer der Schwarzen Familie ihr Geheimnis nicht preis.

»Wahrscheinlich ist es sinnvoll, wenn du mir den Eidesstab für eine Weile überlässt«, meinte Asmodi schließlich. »Ich werde ihn mitnehmen. Dann kann ich ihn in Ruhe untersuchen und herausfinden, wie man die Magie benutzt.«

»Das halte ich für keine gute Idee.« Die Worte entschlüpften Salamandas Lippen, ehe sie es verhindern konnte. Asmodi etwas zu verweigern, das er haben wollte, war unklug. Trotzdem spürte sie, dass es falsch war, den Eidesstab aus der Hand zu geben.

»Ich borge ihn mir nur aus. Du bekommst ihn schnellstmöglich zurück.«

Salamanda zögerte. Ein Teil von ihr reagierte durchaus erfreut auf die Aussicht, den Stab samt der Bürde, die er bedeutete, für eine Weile los zu sein. Ein anderer Teil warnte sie jedoch davor, den Eidesstab an Asmodi auszuliefern – ohne zu wissen, was er mit dem mächtigen Artefakt anstellen würde.