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R. S. Stone

 

DIE SCHATZRÄUBER UND DIE FELSENSTADT

 

 

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In dieser Reihe bisher erschienen:

 

1801 Die Rückkehr des Schut von G. G. Grandt

1802 Die Rache des Schut von Hymer Georgy

1803 Der Fluch des Schut von Hymer Georgy

1804 In der Gewalt des Schut von Hymer Georgy

1805 Das Geheimnis des Schut von Hymer Georgy

1806 Der Krieg des Schut von Hymer Georgy & G. G. Grandt

1807 Die Schatzräuber und die Felsenstadt von R. S. Stone

R. S. Stone

 

 

Die Schatzräuber und die Felsenstadt

 

 

Eine Reiseerzählung nach den Charakteren
von Karl May

 

 

 

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© 2017 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Exposé: Guido Grandt

Titelbild: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-117-5

1. Kapitel: Die Begegnung mit einem Schweizer

 

Bethlehem, 24. Dezember 1872

 

Dem biblischen Sinne nach sollte man meinen, am heiligen Geburtstag unseres Herrn Jesu Christi müsse sich eine weiße Schneedecke über Jerusalem ausbreiten und droben am Himmel helle Sterne blinken. Andere Gemüter waren der Auffassung, im Lande Israel könne es gar keinen Winter geben, sondern nur warme Temperaturen – und das am besten Tag und Nacht.

Nun, weit gefehlt. Denn weder das eine, noch das andere traf zu. Jedenfalls für jenen 24. Dezember, als ich mich in der Geburtskirche befand, um dem Geburtstag Christi beizuwohnen.

Am diesem Tage regnete es – und wie. Wahre Sturzbäche fielen vom Himmel, und ich war froh, mich in geschützten Gemäuern zu befinden, umgeben vom herrlichen Prunk jahrhundertealter Reliquien, welche die hohen, kunstvollen Wände zierten und inmitten einer Schar von Hundertschaften, die, genauso wie ich, an der Christmette teilzunehmen gedachten.

In jenen Momenten der Andacht unseres Herrn Jesu Christi kam mir mein getreuer Freund Hadschi Halef in den Sinn. Und ich gestand mir ein, dass ich ihn bereits jetzt schon sehr vermisste, obgleich seit unserem Abschied auf dem Ölberg{1} kaum vier volle Stunden vergangen waren. Nun, ich wusste, dass wir uns eine lange Zeit nicht wiedersehen würden. Ihn nicht und auch nicht meinen treuen Rappen – Rih!

Denn schließlich beabsichtigte ich, nach Deutschland zurückzukehren. Nicht für immer. Das stand fest. Aber doch für eine gewisse Weile.

Meine treuen Freunde!

In wie vielen Abenteuern hatten wir doch gemeinsam zusammengestanden, Seite an Seite?

Ich vermochte es kaum mehr zu zählen.

Ein Mann erregte meine Aufmerksamkeit, dessen Erscheinung sich nicht in das Bild des hiesigen Zeremoniells hineinzufügen vermochte. Er war gekleidet wie ein Europäer, auch wiesen Hautfarbe und Gesichtszüge auf einen solchen hin. Dieser Mann stand etwas abseits des Geschehens, lehnte an einer Säule und schien mich eine Zeitlang schon in sein Augenmerk genommen zu haben. So in etwa, als hätte er den dringenden Wunsch, mich anzusprechen, sei allerdings unschlüssig, wie er das anstellen sollte.

Als ich zu ihm herüberblickte und unsere Blicke sich trafen, schob sich ein verunsichertes Lächeln in sein weißes Gesicht, welches ein dünnes Oberlippenbärtchen zierte. Ein wenig hob er die rechte Hand, als wollte er mich zu sich bitten.

Nun, ich tat ihm den Gefallen, schob mich an einigen Menschen vorbei und trat zu ihm heran. Zwei rauchgraue Augen blickten zu mir auf, das Schnurrbärtchen teilte sich unter seinem dankbar wirkenden Lächeln, das er mir entgegenbrachte.

»Verzeiht, Herr, ich wollte Euch nicht anstarren und dabei unhöflich erscheinen«, kam es in einem Dialekt, den ich sofort als Schweizerischen identifizieren konnte. »Aber seid Ihr nicht Kara Ben Nemsi, der berühmte Abenteurer und Schriftsteller?«

»Ja, der bin ich«, gab ich zur Antwort und sah ihn fragend an.

Er lüftete seinen Hut und entblößte dabei sein fast kahles Haupt.

»Mein Name ist Konstantin Rügli. Gottlob, ich bin so froh, Euch gefunden zu haben, Effendi.«

Die Anrede Effendi war gewiss nicht typisch für einen Schweizer. Aber er mochte wohl wissen, dass sie hierzulande gebräuchlich war.

»Nun, Herr Rügli, was kann ich für Euch tun?«, fragte ich, neugierig geworden auf das, was er mir zu sagen hatte.

»Mein Anliegen würde ein wenig Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen, verehrter Effendi. Aber ich kann Euch schon jetzt offenbaren, dass es sich um eines von äußerster Wichtigkeit handelt. Ich möchte Euch bitten, mich nach der Mette in mein Hotel zu begleiten. Es ist nur einen Steinwurf vom heiligen Ort hier entfernt. Und Ihr würdet mir somit eine hohe Gunst erweisen.« Etwas gewichtiger setzte er hinzu: »Jawohl, eine sehr hohe Gunst, mein Herr.«

Ich gebe zu, dieser kleine Bursche schaffte es binnen von Sekunden, meine Neugier zu entflammen. Fast vergaß ich dabei den Grund, der mich in diese stattliche Geburtskirche unseres Herrn Jesu Christi geführt hatte. Und auch meine Trauer um die Trennung des geliebten Gefährten Hadschi Halef rückte in meinen Gedanken etwas beiseite.

So sagte ich: »Das lässt sich einrichten, verehrter Herr Rügli. Wir wollen das Ende der Mette abwarten. Anschließend werde ich Euch zu Eurem Hotel begleiten.«

Er ergriff dankbar meine Rechte und hielt sie in beiden Händen. Sein Lächeln war dabei so strahlend wie ein Sonnenaufgang am Karibischen Meer.

 

*

 

Konstantin Rüglis Hotelzimmer befand sich in einem dreistöckigen Gebäude, aus Lehm errichtet, und war für hiesige Verhältnisse mit einem manierlichen Luxus ausgestattet. Nun, es war nicht sonderlich groß. Aber immerhin verfügte es über einen recht großzügigen, offenen Kamin, in dem munter die Flammen prasselten, so dass es schnell gemütlich warm wurde. Zu unseren Füßen lag ein bunter Teppich. Zwei Stühle und ein roh zusammengehauener Tisch standen mitten im Raum. In der Ecke am Fenster befand sich das Bett. Ich dachte an mein Zimmer, welches ich mir zwei Kilometer weiter entfernt in einem anderen Hotel genommen hatte. Und ich fand, dass es dort nicht so gemütlich war wie hier. Zu mindestens gab es keinen Kamin, und wenn ich mich recht erinnere, auch keinen Teppich auf dem Boden.

Nun, ich war ohnehin ein Mann, der sehr gut ohne Luxus auszukommen verstand – wenn man Teppich und Kamin als solchen empfinden mochte.

Wir saßen uns also gegenüber am Tisch, schlürften unseren Tee, den uns ein Diener ins Zimmer gebracht hatte, und ich wartete ungeduldig darauf, dass mein Gegenüber sich mir endlich offenbaren würde. Denn bislang hatte sich Konstantin Rügli noch beharrlich ausgeschwiegen. Ob er dies nur tat, um meine ohnehin tüchtig angestachelte Neugier noch weiter zu erhöhen, entzog sich meiner Kenntnis. Vielleicht wollte er nur nicht seine Anliegen an mich »zwischen Tür und Angel« besprechen.

Wie auch immer.

Jedenfalls stellte Rügli seine Teetasse auf den Tisch, legte seine Hände ineinander und sagte, während seine Augen fest auf mich gerichtet waren: »Nun, mein Freund, ich möchte Euch nicht länger auf die Folter spannen. Natürlich gehe ich davon aus, dass wir unser Gespräch in unserer Muttersprache führen können, nicht wahr?«

Ich nickte. Er war ein höflicher, kultivierter Mann. Soviel stand für mich schon mal fest.

»Selbstverständlich. Ich würde dies sogar sehr begrüßen. Hierzulande komme ich nicht sehr oft in den Genuss, deutsch zu sprechen.«

»Mir geht es genauso. Nun, ist Euch der Name Johann Ludwig Burckhardt ein Begriff?«

Ich dachte eine kurze Weile nach, sagte dann: »Ein Orientreisender, glaube ich mich zu erinnern. Und ein Abenteurer. Schweizer, nicht wahr, genau wie Ihr. Aber seine Zeit liegt sehr lange zurück, wenn ich mich nicht irre.«

Ein eifriges Nicken Rüglis war die Antwort.

»Ihr irrt beileibe nicht, mein Freund. Ich darf Euch doch so nennen, oder?«

Ich hatte keine Einwände. Im Gegenteil. Durch meine vielen Reisen durch die Welt verfügte ich bereits über ein großzügig angelegtes Sortiment verschiedenster Namen und Anreden. Und jene, die Rügli anzuwenden gedachte, gefielen mir davon gewiss mit am besten. Sie klangen ehrlich gemeint in meinen Ohren.

Nachdem dies durch ein Kopfnicken meinerseits geklärt war, fuhr Rügli fort: »Johann Ludwig Burckhardt hat durch seine Reise ins Jordanienland die verschollen geglaubte Nabatäerstadt Petra wiederentdeckt. Das war im Jahre 1812. Am 22. August, um genau zu sein. Nun, verehrter Freund, damals begleitete ihn ein Mann, der nicht nur sein treuer Begleiter bis zu Burckhardts Tod gewesen war, sondern auch sein allerbester Freund. Es war ein Mann mit Namen Anton Rügli.«

Er machte eine kleine Pause, sah mich dabei erwartungsvoll an. So, als würde ich mich erinnern müssen. Allerdings war dies nicht der Fall.

Viele Geschichten rankten sich um den Schweizer Abenteurer Burckhardt, der auch unter Namen wie Jean Louis Burckhardt oder sogar Scheikh Ibrahim Ibn Abdallah bekannt geworden war. Einige dieser Geschichten davon mochten sicherlich der Wahrheit entsprechen. Andere wiederum nicht. Soviel mir bekannt war, verstarb dieser Mann vor etwa fünfundfünfzig Jahren, also im Jahr 1817.

Sehr viel mehr wusste ich über ihn allerdings nicht. Geschweige denn von seinem Freund, jenem besagten Anton Rügli.

Aber über diese Unkenntnis klärte mich nun mein Gegenüber auf: »Ich bin der Nachfahre von Anton Rügli, müsst Ihr wissen. Und durch ihn im Besitz über Aufzeichnungen Burckhardts, in denen dieser von einem Königsgrab dort in Petra ausging. Einem Königsgrab, verehrter Freund, mit einem sagenhaften Pharaonenschatz vergraben.«

Wieder machte er eine Pause. Ich erntete seine durchdringenden Blicke und staunte. Denn vom Pharaonenschatz eines Königsgrabes hörte ich in diesen Augenblicken wahrhaftig zum allerersten Mal. Konstantin Rügli schien von der Existenz überzeugt zu sein, zumal sich ein helles Leuchten in seinen Augen zeigte.

»Ich habe mich sehr lange und intensiv mit dieser Sache beschäftigt, müsst Ihr wissen. Und ich bin sicher, dass die Aufzeichnungen Burckhardts der Echtheit entsprechen. Ich habe eine sehr, sehr weite Reise gemacht, um diesen Schatz zu finden. Mehr noch, ich habe bereits in Jaffa{2} eine Ausgrabungsmannschaft zusammengestellt. Das war bereits vor über einer Woche.«

»Vor über einer Woche? Was hat Euch am sofortigen Aufbruch gehindert?«

»Meine Schwester Helena, guter Freund. Wir hatten vereinbart, dass sie mit einem Dampfer von Konstantinopel nach Jaffa kommen sollte, damit wir uns gemeinsam dort treffen. Sie wollte unbedingt dabei sein, wenn es auf die Suche nach dem Pharaonenschatz geht. Aber sie traf nicht ein. Aus welchem Grund auch immer, ich weiß ihn nicht. Ja, eine Woche habe ich vergebens gewartet.«

»Sie kann sich ihre Entscheidung gewiss anders überlegt haben, Herr Rügli. Ihr wisst ja, wie Frauen sein können.« Ich erlaubte mir bei dieser Äußerung ein verschmitztes Lächeln, welches Rügli mit einem hilflosen Hochwerfen seiner Arme bedachte.

»Der Herr mag’s wissen. So gehe auch ich davon aus. Aber wie dem auch sei, ich kann und will nicht mehr länger warten. Die Zeit drängt. Ich habe ohnehin viel davon verloren. Ich will unbedingt nach Petra aufbrechen. Die Männer der Ausgrabungsmannschaft scharren bereits mit den Füßen, einige drohten bereits, abzuspringen, wenn es nicht bald zum Aufbruch käme. Wenn Helena doch noch Jaffa erreicht, so kann sie nachkommen. Ich werde eine entsprechende Nachricht hinterlassen.«

»Ich kann Euch durchaus verstehen. Aber bislang habe ich noch nicht feststellen können, weshalb Ihr Euch an mich gewandt habt, Herr Rügli.«

Mein Gegenüber bedachte mich nun mit einem beschwörenden Blick. Mehr noch, er beugte sich über den Tisch zu mir vor, legte mir seine Rechte an die Schulter.

»Ich bitte Euch – nein, ich flehe Euch an, verehrter Freund! Begleitet mich auf den gefahrvollen Weg nach Petra. Ihr kennt Euch in diesem Land aus wie in Eurer eignen Westentasche. Ihr seid im Orient ein angesehener Mann. Ja, man achtet und respektiert Euch in allergrößtem Maße. Freund, wie auch Feind. Von einem meiner Männer hörte ich, dass Ihr euch zufällig hier aufhalten würdet. Ich bin sofort von Jaffa aufgebrochen, um Euch aufzusuchen. Oh, ich weiß, dass man sich auf Euch und Euer Wort verlassen kann. Ich brauche Eure Hilfe, Kara Ben Nemsi! Und es soll sich gewiss auch lohnend für Euch erweisen. Das verspreche ich Euch. Ihr habt mein Wort. Das Wort eines Schweizers, eines unmittelbaren Landsmannes von Euch. Schlagt ein und begleitet mich zu jenem kostbaren Schatz, der irgendwo in der Felsenstadt Petra verborgen liegt.«

Seine Worte, der flehende Blick und all die Gestik, die damit verbunden waren, setzten mir gehörig zu. Nun, mir ging es dabei nicht um Geld und Reichtum. Wahrhaftig nicht. Über jene Dinge war ich schon immer erhaben gewesen. Damals wie heute. Aber ich hatte mir vorgenommen, nach Deutschland zu reisen. Zu lange schon war ich den heimatlichen Gefilden fern gewesen.

»Was ist mit den Männern Eurer Ausgrabungsmannschaft? Gibt es nicht einen unter denen, der sich hier im Land auskennt?«

Rügli schüttelte mit energischer Gebärde den Kopf.

»Nicht einen. Es sind Männer, die nicht aus hiesigen Regionen kommen. Zudem gäbe es niemanden, dem ich die Rolle eines Führers anvertrauen würde.«

Wieder ein flehender Blick, der an mich gerichtet war.

Was sollte ich tun?

Was blieb mir übrig?

Rügli hatte Recht, ich kannte mich ausgezeichnet aus, wusste um die gefährlichen Tücken des Landes, welches es zu bereisen galt. Nicht nur die gefährlichen, zum Teil schwer passierbaren Wege waren es, die zu einer tödlichen Falle werden konnten. Auch steckte das Land voll von Dieben, Mördern und verbrecherischen Stämmen, die nur darauf warteten, einen solchen Zug überfallen, plündern und brandschatzen zu können. Ein Fremder, nicht kundig genug, um jene Gefahren zu umgehen, hätte große Chancen, sein Leben zu verlieren.

Ich wusste das genau. Ich konnte Konstantin Rügli unmöglich meine Hilfe verwehren.

Heimweh hin oder her – hier sah ich mich in einer Situation, in der ich die geplante Deutschlandreise einfach verschieben musste. So sprach ich: »Nun, Herr Rügli, es liegt mir fern, Euch im Stich zu lassen.«

Seine Augen leuchteten wie Sterne.

»Ihr werdet mich also begleiten? Oh, verehrter Freund, Ihr glaubt nicht, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Ich danke Euch von ganzem Herzen! Wirklich, Ihr seid …«

»Schon gut, schon gut!«, unterbrach ich seine euphorischen Worte und winkte ab. »Keine Lobeshymnen, lieber Freund. Noch sind wir längst nicht am Ziel unserer Reise. Wann gedenkt Ihr aufzubrechen?«

»So schnell wie möglich. Schon morgen, wenn es sich einrichten ließe?«

Ich nickte, denn das war mir recht.

 

*

 

Die Gedanken jagten sich in meinem Kopf, während ich den Weg durch die dunkle Nacht zu meinem Hotel einschlug. Mittlerweile war es recht spät; der Regen hatte aufgehört und ein Wind pfiff zwischen den aus Stein gemauerten Häusern hindurch. Kalt und eisig erreichte er mich und ich zog meinen Thawb{3} enger zusammen.

Noch vermochte ich nicht zu sagen, auf was ich mich da eingelassen hatte. Wohl aber ahnte ich, dass es alles andere als eine Vergnügungsreise werden sollte. Und als mir dies klar genug geworden war, bedauerte ich zutiefst, meinen Rih an Halef ausgeliehen zu haben. Gewiss, bei meinem treuen Freund war er in guten Händen – keine Frage. Aber Rih würde mir bei meinen anstehenden Abenteuern wahrhaftig ein unersetzlicher Kamerad gewesen sein. So sah ich mich gezwungen, mit einem anderen Pferd vorlieb zu nehmen, dessen Qualitäten sich erst während der gefahrvollen Reise herausstellen würden. Gott sei Dank hatte ich noch meinen Henry-Stutzen, den Bärentöter und meinen Revolver. Die Waffen sollten mich darüber hinwegtrösten, Rih nicht bei mir zu haben.

Ich erreichte mein Hotel, das sich nahe am Rande der Stadt befand, als der schwarze Himmel droben erneut die Pforten öffnete und es wieder fürchterlich zu regnen begann. Ein sintflutartiger Guss stürzte auf die Erde herab, gerade, als ich durch den Eingang in die Halle stürmte.

2. Kapitel: Auf dem Mittelmeer

 

Vor wenigen Stunden hatte die Sansibar Queen die Insel Zypern verlassen, welche sie angesteuert hatte, um Kohle, Proviant und zusätzlich noch einige Passagiere mit an Bord zu nehmen, die ebenfalls nach Jaffa zu reisen gedachten.

Nun glitt sie bei vollständiger Auftakelung ihrer Masten und voller Maschinenkraft über die Wellen, als wolle ihr französischer Kapitän François Deveraux einen neuen Rekord aufstellen. Die Sansibar Queen war ein aus Holz gebautes Dampfschiff, hatte einen Propeller und wurde von Dampfmaschinen angetrieben, die bis zu einhundert Pferdestärken erreichten. Sie verfügte über drei Masten mit der Takelage einer Schonerbark. Der Schornstein, aus dem dichter, schwarzer Rauch quoll, saß zwischen Haupt- und Besanmast. Auf Backbord- und Steuerbordseite waren je zwei Rettungsboote festgemacht. Gewiss viel zu wenig für die neunzig Passagiere und die dreißig Mann starke Besatzung, sollte es jemals zu einem bedrohlichen Ernstfall kommen.

Aber an einen solchen wagte man nicht zu denken. Auch Helena Rügli tat dies nicht. Viel zu sehr war sie mit dem Gedanken belastet, so schnell wie möglich Jaffa zu erreichen, um sich mit Konstantin zu treffen. Bereits in Konstantinopel{4} kam es – in ihren Augen – zu unverzeihlichen Verzögerungen, die sicher zu vermeiden gewesen wären. Versehentlich falsche Fracht war an Bord genommen worden und musste unverzüglich umgetauscht werden. Schlamperei, so etwas hätte man im Vorfeld besser im Auge haben müssen, so sah es Helena an. Auch der Zwischenstopp auf Zypern war in ihren Augen nur eine lästige Verzögerung. Da half es nichts, jetzt das Schiff in voller Fahrt übers Mittelmeer sausen zu lassen.

Die Zeit war nun mal verloren, konnte nie und nimmer aufgeholt werden. Und Konstantin würde gewiss nicht mehr lange in Jaffa auf sie warten. Sie kannte doch ihren Bruder, wusste, wie ungeduldig er in gewissen Dingen sein konnte. Viel zu lange schon lebte er seinen Traum. Und er brannte darauf, ihn in die Tat umzusetzen, ihn zur Wirklichkeit werden zu lassen.

Wer konnte ihn besser verstehen als sie, seine eigene Schwester?

Es gab keinen.

Dieser behäbige Stoffel von einem Kapitän, zürnte sie in Gedanken. Der Kerl lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Ein typischer Franzose eben!

Helena saß am kleinen Tischlein in ihrer recht engen Kabine, hatte ein Buch, die französche Originalausgabe Voyage au centre de la terre von Verne aufgeschlagen und versuchte vergeblich, sich auf das Werk zu konzentrieren. Es mochte ihr einfach nicht gelingen. Sie sandte die Blicke ihrer rauchgrauen Augen, welche eine erstaunliche Ähnlichkeit mit denen ihres Bruders Konstantin aufwiesen, aus dem Bullauge hinaus auf die vorbei jagenden Wellen des Mittelmeeres. So, wie diese an ihr vorbeirauschten, mochte sie meinen, die Sansibar Queen flöge direkt über das Wasser hinweg.

Natürlich war das ein Irrtum und für Helena ohnehin nicht schnell genug.

Sie strich sich eine widerspenstige Locke ihres braunen, zu einem Zopf zusammengebundenen Haares aus der Stirn und versuchte, sich wieder dem Text des Buches zu widmen.

Für eine Weile gelang es ihr sogar. Aber wirklich nur für eine Weile. Denn draußen zogen sich dunkle, fast schwarze Wolken am Himmel zusammen und legten sich vor die Sonne. Dunkelheit und rauschende Geräusche drangen zu Helena in die Kabine. Ein heftiger Ruck erfasste das Schiff. Das Buch rutschte vom Tisch und Helena wäre beinah vom Stuhl gefallen. Schritte polterten über ihr auf dem Deck, aufgeregte Stimmen erklangen.

Mein Gott, was ist das?, drang es durch ihren hübschen Kopf. Sogleich ahnte sie die Antwort schon und sie wurde weiß wie ein frisch gestärktes Laken.

Die Sansibar Queen geriet in einen plötzlichen Sturm.

 

*

 

Der Orkan kam so unvermittelt auf sie zu, dass es für einen in diesen Gewässern noch recht unerfahrenen Kapitän, wie Deveraux einer war, zu einer bösen Überraschung wurde. Dabei war es in diesem Teil des Mittelmeeres keine Seltenheit, dass plötzlich heftige Winde aufkamen und binnen von Sekunden zu Stürmen heranwuchsen.

Dies hätte Kapitän Deveraux wissen müssen, um entsprechend reagieren zu können.

Jetzt war es zu spät.

Die Sansibar Queen segelte bei voller Betakelung in einen mörderischen Sturm hinein.