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EDGAR WALLACE – NEUE FÄLLE

Band 1

 

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In dieser Reihe bisher erschienen:

 

1901  Der unheimliche Pfeifer von Blending Castle von Dietmar Kuegler

Dietmar Kuegler

 

 

Der unheimliche Pfeifer von Blending Castle

 

 

Edgar Wallace – Neue Fälle

Band 1

 

 

 

 

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Impressum:

© 2016 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Umschlaggestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Druck: CPI, Clausen & Bosse, Leck

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-071-0

Der 1. Fall

 

 

Der Spuk in der Vollmondnacht

 

„Baines!“ Der grauhaarige Mann im dezent gemusterten Satin-Schlafrock rückte näher an den Kamin.

„Sehr wohl, Sir?“ Der Butler bewegte sich lautlos von der Tür in seine Richtung und verbeugte sich leicht.

„Noch einen Whisky, Baines.“

„Sehr wohl, Mylord.“ Der Butler trat zu einem fahrbaren Bartischchen und goss den alten Malt-Whisky in ein schweres Kristallglas. Auf einem silbernen Tablett trug er es zum Kamin. Das Feuer knisterte und knackte. Harzknoten zersprangen funkensprühend in der Glut. Die Flammen spiegelten sich in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit im Glas.

„Sie können zu Bett gehen, Baines.“

„Vielen Dank, Mylord.“ Der Butler verbeugte sich erneut und zog sich zurück.

Jeffries Gladstone, der siebzehnte Lord of Blending, lehnte sich entspannt zurück und nippte an seinem Whisky. Neben ihm, auf einem runden Intarsientisch brannte eine Petroleumlampe in elegantem Jugendstil. Ihr Licht fiel auf ein schmales, streng geschnittenes Gesicht mit energisch vorspringender Nase und einem schmallippigen Mund. Lord Blending war fast siebzig, aber seine großgewachsene, asketische Gestalt ließ ungebrochene Spannkraft erkennen. Er trug sein graues Haar straff zurückgekämmt, was seinen aristokratisch geformten Kopf unterstrich. Die Wärme des Kaminfeuers hüllte ihn ein, und er genoss den rauchigen Geschmack des Whiskys.

Seit dem Nachmittag zog ein heftiger Sturm über die grünen Hügel von Middleton. Er rauschte in den nahen Wäldern jenseits des Cherwell-Flusses, zerrte an den Wipfeln der mächtigen alten Eichen vor Blending Castle und rüttelte an den Scheiben. Ab und zu schwoll er an und fuhr heulend in den Kamin, sodass die Flammen hoch aufloderten.

Lord Blending war allein, wie meist um diese Stunde. Es war ihm die liebste Zeit des Tages, wenn das Personal schlief und die einzigen Geräusche, die das Schloss erfüllten, das geheimnisvolle Knistern und Knarren der alten Balken und Dielen waren. Diese Laute waren ihm so vertraut wie seine eigene Stimme. Das alte Schloss war ein Teil von ihm selbst, in ihm wohnte die Seele seiner Familie. Die Gemäuer waren angefüllt mit Erinnerungen, die ihm jetzt, am Abend seines langen Lebens, lieber waren als die Ereignisse der Gegenwart. Wenn er den Kopf wandte, konnte er seine Blicke über die Bilder seiner Vorfahren wandern lassen, die die holzgetäfelten Wände beiderseits der Tür zierten.

Die riesige Standuhr hinter ihm begann zu schlagen. Lord Blending zählte unwillkürlich mit. Mitternacht. Er setzte das Glas ab. Jaulend wie ein gefangener Wolf tobte der Sturm im Kamin. Lord Blending erhob sich und trat an eines der Fenster. Bizarr geformte Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Gerade kam die Mondscheibe hinter einer düsteren Wand hervor und tauchte die nächtliche Wald- und Hügellandschaft in bleiches Licht.

In diesem Moment drang ein Geräusch durch das Schloss, das dem Lord bis ins Mark fuhr.

Irritiert wandte er den Kopf zum Kamin. Doch es war nicht der Sturm, der diesen Laut hervorgerufen hatte. Dieser Ton hatte sogar den Wind übertönt. Da war er wieder, ein lang gezogener, grell quietschender und doch eigenartig melodiöser Laut, der aus einer anderen Welt zu kommen schien und vibrierend durch das alte Gemäuer zog. Lord Blending fühlte Kälte in seinem Körper. Hastig lieg er zur Tür, öffnete sie und trat in die große Halle hinaus, deren Wände mit zahllosen Hieb- und Stichwaffen, altertümlichen Gewehren und Pistolen und Gemälden geschmückt waren.

Wie gebannt blieb er hier stehen und lauschte den an- und abschwellenden Tönen, diesen kreischenden Pfeiflauten, die sich zu einer eigenwilligen, furchterregenden Melodie fügten.

Ein Dudelsack! Lord Blending fühlte, wie sich seine Kehle verengte. Mit steifen Bewegungen durchschritt er die Halle, hastete eine Treppe hinauf, eilte durch ein Musikzimmer und riss die Flügeltüren zum Balkon auf.

Der Sturm fuhr mit Wucht herein und wirbelte seinen Schlafrock auseinander. Lord Blending raffte ihn zusammen, zog sich die Kleidung fester um die Schultern und trat auf den Balkon. Er hob den Kopf und spähte zu den Zinnen des Westflügels hoch. Deutlich zeichneten sich vor dem silbrigen Mond die Umrisse des Schottischen Turms ab, des höchsten Bauwerks von Blending Castle. Hoch oben auf der Plattform konnte er einen merkwürdigen Schattenriss erkennen. Ein Mann in einem Kilt, der einen Dudelsack blies, wurde deutlich. Reglos stand er da und spielte gegen den Sturm an. Die wilden, grellen Melodien des Dudelsacks waren stärker als das Unwetter.

„Oh, nein“, flüsterte der alte Mann. Der Wind zauste sein graues Haar. Er erschrak zusätzlich, als eine Gestalt in der Balkontür auftauchte.

Es war Margaret, seine Tochter. „Vater, was ist passiert?“ Sie trat hinaus, gerade noch rechtzeitig, um ihn zu stützen. Er schwankte. Auch sie sah die Silhouette des Pfeifers.

Dann brach das Kreischen des Dudelsacks ab. Eine schwarze Wolkenwand schob sich vor den Mond. Als er wieder sichtbar wurde, war die Gestalt auf der Turmplattform verschwunden.

Lord Blending starrte seine Tochter an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Er war kreidebleich. „Der Fluch“, flüsterte er. Erneut klaffte sein Schlafrock unter dem Ansturm des Windes auseinander.

Sie führte ihn ins Zimmer, schloss die Balkontüren und drückte einen Klingelknopf, während Lord Blending in einen Sessel sank. Wenig später trat der Butler ein.

„Wo befindet sich das Personal, Baines?“ Lady Margarets Stimme klang scharf. „Wer hat sich diesen makabren Scherz erlaubt?“

„Ich verstehe nicht, Mylady.“ Der Butler wirkte sichtlich verstört. „Ich habe die Köchin und die Zimmermädchen gerade auf dem Gang getroffen. Sie sind von der Musik wach geworden, ich selbst hatte noch nicht geschlafen. Wir sind alle sehr erschrocken und verwundert, Mylady.“ Er drehte sich zu Lord Blending. „Ist Ihnen nicht gut, Mylord?“

„Es ist alles in Ordnung, Baines.“

Lady Margaret zog fröstelnd die Schultern hoch. „Helfen Sie mir bitte, Lord Blending auf sein Zimmer zu bringen.“

Lord Blending richtete sich unsicher auf. Er sprach kein Wort, wankte zur Tür, bis Baines neben ihn trat und ihn stützte.

„Ich rufe Doktor Shavers“, sagte seine Tochter.

„Nein!“ Lord Blendings Stimme bebte, er wirkte panisch. „Auf keinen Fall. Es … es hat nichts … Es darf niemand, der nicht zur Familie gehört …“ Er beendete den Satz nicht, bewegte nur noch tonlos die Lippen, als Baines ihn hinausführte.

 

 

Ein Fremder kommt

 

Dicke Schwaden von Pfeifen- und Zigarettenrauch durchzogen die niedrige Gaststube des Black Horse am Rand von Middleton. Die Mittagsstunde war vorüber, nach und nach leerte sich der Schankraum von den Landarbeitern, die auf eine kurze Pause hereingekommen waren, ihr Ale getrunken und den neuesten Klatsch ausgetauscht hatten.

Niemand hatte den kleinen, rundlichen Mann am hintersten Tisch beachtet, der soeben mit großem Appetit ein knuspriges Hammelkotelett verspeist hatte, das Besteck auf den Teller legte und sich mit einer Serviette sorgfältig das Fett vom Mund tupfte. Er machte einen zufriedenen Eindruck. Unauffällig hatte er vor knapp einer Stunde das Black Horse betreten, an der Theke sein Mittagessen bestellt und sich dann nicht mehr gemeldet. Fast schien es so, als habe der Wirt den Mann im abgetragenen Tweedanzug vergessen. Jetzt hob er die rechte Hand und rief zur Theke: „Ich möchte zahlen!“

Eine Kellnerin, die gerade damit beschäftigt war, die vielen leeren Biergläser von den anderen Tischen einzusammeln, beachtete ihn nicht.

Der Wirt, ein großer beleibter Mann mit rotem, schwitzendem Gesicht, näherte sich mit watschelnden Schritten und musterte den Gast neugierig. „Hat es geschmeckt, Sir?“

„Ausgezeichnet.“ Der Gast strich sich über seinen sorgfältig gestutzten Seehundschnauzbart und lehnte sich zurück. „Ich muss sagen, das war das beste Hammelkotelett, das ich außerhalb Londons je gegessen habe.“

„Sie kommen aus London, Sir?“

„Ja.“ Der rundliche Mann nickte. „Wie komme ich auf dem kürzesten Weg zum Schloss?“

„Nach Blending Castle?“ Der Blick des Wirts wurde noch neugieriger, seine Stimme senkte sich verschwörerisch. „Sie sind fremd hier, Sir? Sie kennen das Schloss nicht? Haben Sie dort zu tun?“

„Geschäftlich“, antwortete der Mann knapp.

„Dann haben Sie noch nichts von den Vorfällen auf Blending Castle gehört?“

„Vorfälle?“

„Nun, das Auftreten des Pfeifers, Sir.“

„Ich verstehe nicht ganz?“

„Ein Fluch, Sir.“ Der Wirt beugte sich tiefer und sprach noch leiser. „Er liegt lange zurück. Genaues wissen wir nicht, aber auf dem großen Turm von Blending Castle ist ein Dudelsackpfeifer gesehen worden, und seitdem geht es dem alten Lord schlecht.“

„Das hört sich ja unglaublich an“, sagte der Fremde.

„Das ist es auch, Sir. Ich bin ein Mann, der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. Natürlich kenne ich die vielen Geschichten, die überall auf dem Lande erzählt werden. Es gibt hier kaum einen Farmarbeiter, der nicht irgendwann einmal in seinem Leben auf dem Friedhof oder bei den Ruinen der alten Kapelle vor dem Ort oder in der Nähe des Schlosses einen Geist gesehen haben will. Meistens war es dunkel, es war stürmisch, oder es herrschte Nebel, und die Männer waren nicht ganz nüchtern, die das erzählt haben.“

Er machte eine heftige, wegwerfende Handbewegung. „Ammenmärchen, Sir! Ich bin nicht abergläubisch. Aber mit dem Pfeifer von Blending Castle ist es etwas anderes, obwohl ich auch daran nie geglaubt habe. Mein Großvater hat manchmal davon gesprochen, aber alte Leute erzählen viele Geschichten.“

„Nun, ich glaube auch nicht an solche Geschichten“, sagte der Fremde. „Über jedes alte Haus im Land sind solche Erzählungen im Umlauf. Aber Sie sagen, der Lord sei seitdem krank?“

„Man hat ihn seit fast vier Wochen nicht mehr gesehen.“ Der Wirt runzelte die Stirn. „Ein strenger Mann, der alte Lord Blending. Die Farmarbeiter mögen ihn. Er ist gerecht und hat trotz seines fortgeschrittenen Alters die Verwaltung der Ländereien fest im Griff. In den letzten Jahren ist ihm seine Tochter, Lady Margaret, sehr zur Hand gegangen. Eine feine Dame. Und klug. Mit seinen Söhnen hat er ja Pech gehabt, aber …“ Der Wirt unterbrach sich. Es schien ihm bewusst zu werden, dass er zu einem Fremden sprach. „Wenn Sie wirklich auf das Schloss wollen, Sir“, fuhr er geschäftsmäßig fort, „nehmen Sie am besten die nördliche Abzweigung von der Hauptstraße gleich hinter dem Ort. Sie fahren über eine Brücke des Cherwell River und können dann das Schloss sehen.“

„Ich danke Ihnen.“ Der Gast nickte freundlich.

Der Wirt betrachtete ihn nachdenklich, während der Fremde bezahlte. Hatte er zu viel geredet? Doch der Mann machte einen harmlosen, etwas phlegmatischen Eindruck, nicht sonderlich klug, eher etwas einfältig.

Der fremde Gast erhob sich und grüßte freundlich, als er hinausging. Nachdenklich blickte er die schmale Hauptstraße des verschlafenen Ortes hinunter. Aus den Vorgärten der kleinen, reet-, schiefer- und schindelgedeckten Häuser stieg der Duft von Lavendel und Thymian.

Der Mann bestieg den klapprigen, staubbedeckten Sunbeam-Roadster, nachdem er keuchend mit einer Kurbel den Motor angeworfen hatte. Das Getriebe knatterte und knirschte, als er die Straße hinunterfuhr und die letzten Häuser passierte. Der Auspuff knallte und spuckte, und der Mann wurde in dem schlecht gefederten Fahrzeug hin und her geschüttelt. Ein Heuwagen rollte an ihm vorbei, die Zugpferde scheuten und wieherten erschrocken, während der kleine Wagen auf die Cherwell-Brücke zufuhr.

 

*

 

Blending Castle, im 15. Jahrhundert erbaut, 1640 niedergebrannt und neu errichtet und seitdem immer wieder instand gesetzt und modernisiert, war ein beeindruckendes Bauwerk. Es beherrschte die Landschaft nördlich des Cherwell-Flusses. Umgeben von sanften Hügeln, ausgedehnten Schafweiden, wogenden Weizenfeldern und tief grünen Wäldern, lag das Schloss auf einer Anhöhe. Es bestand aus einem wuchtigen Mittelteil mit Erkern und Zinnen, einem West- und einem Ostflügel, die später angebaut worden waren, und abseits gelegenen Ställen und Gesindehäusern.

Knatternd rollte das klapprige Automobil auf den Schlosshof. Der kleine rundliche Mann stieg aus und steuerte mit einer Reisetasche in der Hand die breite, von zwei Steinlöwen bewachte Freitreppe an. Ein Gärtner und zwei Stallknechte beobachteten ihn. Er ließ den schweren Türklopfer gegen das Eichenportal fallen und wartete, bis ihm geöffnet wurde. Ein Butler stand dem Besucher gegenüber, hochgewachsen, kräftig, ein maskenhaftes Gesicht, das keine Empfindungen zeigte und durch einen dunklen, sauber gestutzten Vollbart noch abweisender wirkte. Er trug einen korrekt sitzenden Schwalbenschwanzrock und einen frisch gestärkten Stehkragen.

„Mein Name ist Ebenezer Pommery“, sagte der Besucher. „Bitte melden Sie mich bei Lady Margaret.“

„Werden Sie erwartet, Sir?“ Der Butler ließ seine Blicke unauffällig prüfend über die rundliche Gestalt gleiten und registrierte die abgewetzten Stellen am Tweedanzug des Besuchers.

„In der Tat“, erwiderte der Mann. „Sind Sie Baines?“

Der Butler zog erstaunt eine Augenbraue hoch. „Sie kennen mich, Sir?“ Er ließ den Fremden eintreten.

Pommery schaute sich interessiert in der geräumigen, hohen Halle um. „Lady Margaret sagte mir, dass Sie der Butler der Familie sind und ich mich an Sie wenden könne, wenn ich einen Wunsch hätte. Ich möchte einige Tage bleiben.“

„Lady Margaret hat mir nichts von einem Besuch gesagt.“ Der Butler unterdrückte mühsam jedes Anzeichen dafür, dass er beleidigt war. „Ich werde Sie anmelden, Sir.“

Pommery stellte seine Reisetasche ab und schlenderte durch die Halle. Er blieb vor einer matt schimmernden Rüstung stehen und betrachtete eingehend das Familienwappen derer von Blending, das einen Adlerkopf, einen Pflug und eine gebrochene Lilie zeigte.

Auf der breiten Treppe hinter ihm knarrten die Stufen. Pommery wandte sich um und sah eine große schlanke Frau mit einer Pagenfrisur herunterkommen. Sie trug ein schlicht geschnittenes dunkelgrünes Kleid mit einem einzigen Schmuckstück, einer Diamantbrosche, deren Wert Pommery auf wenigstens fünftausend Pfund schätzte.

„Ich freue mich, dass Sie da sind, Mr. Pommery.“ Lady Margaret besaß eine natürliche Würde, die weder geziert noch anmaßend wirkte.

Pommery war angenehm überrascht. Seinen scharfen Augen entging jedoch nicht, dass die junge Frau von einer Unruhe ergriffen war, die sie nur mühsam verbergen konnte.

„Bringen Sie das Gepäck von Mr. Pommery in das blaue Zimmer, Baines“, sagte sie. Zu Pommery gewandt erklärte sie: „Ich habe völlig vergessen, Baines über Ihr Kommen zu informieren. Es ist im Moment so viel für mich zu tun, weil ich die Verwaltung der Ländereien übernehmen musste.“

Der Butler gab durch nichts zu erkennen, ob er mit dieser Erklärung einverstanden war. Sein Gesicht ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass er die abgewetzte Reisetasche des Besuchers für wenig beeindruckend hielt.

„Er ist perfekt“, sagte Lady Margaret, als Baines die Treppe hinaufgegangen war. „Aber er benimmt sich manchmal gräflicher als ein echter Graf.“ Sie senkte die Stimme und fuhr fort: „Niemand im Haus weiß, wer Sie wirklich sind, Inspektor. Ich habe Baines gesagt, dass Sie an einem Buch über die Architektur englischer Schlösser arbeiten und hier sind, um Blending Castle zu besichtigen.“

„Ich hoffe, dass niemand auf die Idee kommt, meine architektonischen Kenntnisse zu überprüfen“, antwortete Pommery. „Ich fürchte, ich könnte nicht einmal die statische Festigkeit eines Hundezwingers berechnen.“

„Ich glaube kaum, dass irgendjemand vermuten wird, dass Sie Inspektor bei Scotland Yard sind.“

Lady Margaret führte Pommery in ein großes Kaminzimmer mit holzgetäfelten Wänden. „Dienstboten pflegen nicht zu fragen, und andere Menschen glauben meistens unbesehen das, was man ihnen sagt.“

„Da haben Sie durchaus recht, Lady Margaret. Zumindest wird sich niemand darüber wundern, wenn ich mich ausgiebig im Schloss umsehe. Sind das Ihre Vorfahren?“ Pommery deutete auf die Bilder an den Wänden, die ehrwürdige Männer zeigten, teilweise in altertümlicher Tracht.

„Das sind die verblichenen Lords of Blending“, bestätigte sie. „In diesem Raum war mein Vater, als er den Pfeifer hörte. Er stürmte ins Musikzimmer im ersten Stock, das einen Balkon hat, und von dort aus sah er die Gestalt.“ Sie war ernst und zog unwillkürlich die Schultern hoch. „Ich habe sie auch gesehen, obwohl ich mir immer noch einzureden versuche, dass es eine Sinnestäuschung war, eine merkwürdig geformte Wolke, die sich vor den Mond geschoben hat. Es war ein heftiger Sturm in jener Nacht, müssen Sie wissen.“

„Ich weiß nicht, was Sie gesehen haben“, sagte Pommery. „Aber die Folgen sind immerhin eindeutig. Es geht Ihrem Vater schlecht. Deswegen haben Sie mich kommen lassen.“

Sie musterte ihn prüfend: „Wahrscheinlich glauben Sie, es wäre besser, einen Arzt zu rufen und Beruhigungsmittel zu verteilen?“

„Durchaus nicht, Lady Margaret. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Verbrechen in der Weise verübt wird, dass die Opfer in panische Angst versetzt werden, sodass ihr Ende schließlich ganz natürlich erscheint. Was veranlasst Sie, an ein Verbrechen zu glauben?“ Er stellte die Frage unvermittelt und behielt die Frau fest im Auge.

„Ich glaube nicht an Geister“, antwortete sie. „Ich bin überrascht, wie mein Vater reagiert hat. Er ist ebenfalls ein Mensch ohne Aberglauben. Aber seit jener Nacht geht es ihm täglich schlechter. Er ist bereits kaum mehr in der Lage aufzustehen. Und er lehnt jede ärztliche Hilfe ab. Bald fange ich auch an, den Fluch ernst zu nehmen.“

„Was hat es mit diesem Fluch auf sich?“

„Mitte des 18. Jahrhunderts versteckte sich ein Angehöriger des schottischen Zweigs unserer Familie in diesem Schloss“, erklärte sie. „Er war ein Hochlandrebell, der gegen die Krone gekämpft hatte und gesucht wurde. Der damalige Lord of Blending war ein ehrgeiziger Mann, der Mitglied des Kronrats werden wollte. Er verriet seinen Vetter. Als die königlichen Soldaten kamen, stürzte der sich vom Turm des Westflügels zu Tode, nachdem er sich dort verschanzt und gegen die Soldaten, die den Turm stürmen wollten, gekämpft hatte. Vorher hat er die Blendings verflucht.“

„Eine interessante Geschichte.“

„Nicht wahr? Seitdem geht die Legende um, dass der Herr von Blending Castle sterben muss, wenn dreimal hintereinander in Vollmondnächten ein Dudelsackpfeifer auf dem Westturm erscheint. Der Turm wird übrigens seitdem nur der Schottische Turm genannt.“ Sie führte Pommery, während sie sprach, in die imponierende Bibliothek und blieb vor einem der bis zur Decke reichenden Regale stehen. „Hier irgendwo finden Sie die Geschichte des Schlosses. Die Pfeifer-Legende ist darin enthalten.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Wer weiß von dieser Legende?“

„Nun, bis zu jenem Tag haben nur ein paar alte Leute in Middleton davon gewusst, nehme ich an. Auch unter dem Personal hat es wohl nur wenige gegeben, die davon gehört haben. Inzwischen spricht die gesamte Grafschaft davon.“

„Und Ihr Vater? Hatte er schon einmal so ein – Erlebnis?“

„Absolut nicht. Er ist ein Realist. Er hat diese Geschichte nie ernst genommen. Wenn Sie ihn gekannt hätten … Er sah zehn Jahre jünger aus, war energisch und tatkräftig. Inzwischen verfällt er geradezu.“

„Werde ich mit ihm sprechen können?“

„Versprechen kann ich nichts. Er darf auf keinen Fall wissen, wer Sie sind. Wahrscheinlich aber wird er nicht ansprechbar sein.“ Sie führte Inspektor Pommery zur Galerie hinauf und zeigte ihm sein Zimmer, bevor sie in ihr Arbeitszimmer im Ostflügel verschwand.

Pommery blieb einen Moment auf dem Gang stehen und ließ die Atmosphäre des Hauses auf sich wirken. Über allem lag ein Hauch von Ewigkeit, von Ehrwürdigkeit und Geheimnis. Als Pommery sein Zimmer betrat, sah er, dass Baines seine Tasche neben das breite Himmelbett gestellt hatte. Pommery schob eine Zigarette in eine silberne Spitze, klemmte sie zwischen die Zähne und zündete sie an. Nachdenklich öffnete er seine Tasche. Obenauf lagen zwei Bücher, die er während seines Hierseins lesen wollte, doch er war fast sicher, dass er nicht dazu kommen würde. Er seufzte, als er den Schriftzug Edgar Wallace las.

„Wenn Wallace hier wäre – der wüsste sofort, was hier nicht stimmt“, murmelte er, während er auspackte. „Ich bin ja nur ein kleiner Kriminalinspektor.“

 

*

 

„Fürchten Sie sich eigentlich, Baines?“, fragte Pommery. Er stand auf einer Leiter in der Bibliothek und tat so, als suche er nach alten Folianten.

Baines staubte die bunten Staffordshire-Figuren auf den Kommoden und Simsen ab. „Warum sollte ich, Sir?“

„Nach allem, was über dieses Schloss geredet wird …“

„Ich gebe nichts auf Gerede, Sir. Meine Stellung verlangt Diskretion und Loyalität.“

„Sehr lobenswert. Sind Sie schon lange auf Blending Castle?“

„Ein halbes Jahr, Sir. Lord Blending hat mich über eine Personalagentur aus London angefordert und ich glaube, er ist zufrieden mit mir. Daher hat er mich behalten.“

„Das muss sehr befriedigend für Sie sein, dass Ihre Arbeit so anerkannt wird“, sagte Pommery während er gedankenverloren in einem staubigen Buch blätterte. Er wirkte zerstreut und fragte eher beiläufig: „Die Familie ist wohl sehr vermögend?“

„Ich denke schon.“

„Wenn der alte Lord stirbt, sind seine Kinder gut versorgt?“

„Das ist anzunehmen. Ich habe jedoch keine genauen Kenntnisse darüber.“

„Im Ort wird von den Söhnen seiner Lordschaft gesprochen.“

„Sie sind selten hier“, antwortete der Butler. „Sir Alfred lebt in London. Er ist der Ältere. Sir Stanley ist Captain in der Armee Seiner Majestät.“

„Demnach wäre Sir Alfred der Erbe des Titels. Sind seine Verhältnisse …?“

„Sir, ich glaube, Ihre Fragen gehen zu weit.“

„Ich bitte um Entschuldigung. Eine Schwäche von mir. Mich interessieren nicht nur die alten Schlösser, sondern auch die Geschichten der Familien.“ Pommery stieg von der Leiter und bot Baines eine Zigarette an.

Der Butler zögerte, überwand seinen Stolz und griff zu.

„Was halten Sie von dem Spuk, Baines?“

„Ich habe dazu keine Meinung, Sir. Ich habe nichts gesehen, lediglich den Dudelsack gehört. Das Personal ist seitdem sehr verschreckt. Eine unangenehme Geschichte. Wir hoffen, dass Lord Blending bald wieder gesund wird.“

Das Pochen des Türklopfers dröhnte durch das Haus. Baines verließ die Bibliothek, um zu öffnen. Pommery folgte und sah, dass ein magerer Mann in abgetragener Kleidung mit einer schwarzen Tasche vor der Tür stand.

„Nein, Dr. Shaver“, hörte Pommery Baines sagen. „Es tut mir sehr leid. Lord Blending lehnt nach wie vor jede Behandlung ab, Lady Margaret hat seine Meinung bislang nicht ändern können.“

Der magere Mann lüftete seinen steifen Hut und ging. Baines schloss die Tür.