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DIE SCHWARZE FLEDERMAUS

Band 9

 

 

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In dieser Reihe bisher erschienen:

 

6001  Der Anschlag von G. W. Jones

6002  Der Sarg von G. W. Jones

6003  Angriff der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones

6004  Ein harmloser Fall von Angelika Schröder

6005  Tote schweigen nicht von M. Schwekendiek

6006  Liga der Verdammten von G. W. Jones

6007  Die Spione von G. W. Jones

6008  Der Kreuzzug von G. W. Jones

6009  Der Flammenpfad von G. W. Jones

G. W. Jones

 

 

Der Flammenpfad

 

 

Die Schwarze Fledermaus

Band 9

 

 

 

 

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© 2016 by BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Dr. Nicolaus Mathies

Illustrationen: Dorothea Mathies

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Umschlaggestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-009-3

Kapitel 1
Des Todes Schachfigur

 

Der junge Mann, der die Eingangstreppe des recht imposant wirkenden Gebäudes hinaufstieg, schaute sich zu beiden Seiten um, als wolle er sichergehen, dass ihn niemand verfolgte. Oben läutete er und wurde fast sofort hineingelassen.

Eine junge Frau, unbestreitbar hübsch und mit aufgeweckten Augen, trat zurück und schloss die Tür, nachdem er eingetreten war. Ein, zwei Momente lang standen die beiden da, dann bot sie ihm die Hand an. Er nahm sie und trat näher, bis sie ihn umarmte. „Dick, Liebling“, flüsterte sie. „Sei vorsichtig; er ist nebenan. Ich fürchte mich; ich habe Angst um Vater und Mutter, um dich und – mich. Du ahnst nicht, was für ein Unmensch er ist. Er sieht ja nicht einmal aus wie ein Mensch.“

Der junge Mann tätschelte ihre Wange und grinste sie an. „Lydia, er mag zwar nicht aussehen wie ein Mensch, wird sich aber wie einer behandeln lassen müssen, wenn Sie ihn nach Alcatraz bringen. Ich habe eine Menge über den großen Dr. Zuro herausgefunden. Stell mich ihm vor und lass dir zeigen, wie ich ihn handzahm mache.“

Die junge Frau ging hinaus auf den Flur zu einer Tür mit einem schweren, dunkelroten Vorhang und verschwand dahinter. Dick fasste sich unbewusst an die Hüfte und öffnete die Tasche, in der seine Automatikwaffe steckte. Irgendwie war ihm seine Selbstsicherheit abhandengekommen, die er während wochenlanger harter Arbeit gewonnen hatte. Eventuell lag dies an der Atmosphäre an diesem Ort – oder an Lydias Angst vor dem Mann, der hier wohnte.

Als sie aus dem Zimmer kam, hielt sie den Vorhang offen und schaute ihn kalt an. „Sie dürfen eintreten, Mr. Bennett. Dr. Zuro erwartet Sie.“ Als der junge Mann durch die Tür gegangen war, bemerkte er, wie der Vorhang hinter ihm zufiel. Einen Augenblick lang machte er einen verwirrten Eindruck; der Raum, in dem er sich umschaute, glich eher einem Tempel als einem herkömmlichen Wohnzimmer. In einer Ecke stand ein Altar kruder Machart, der überhaupt nicht zum Rest der eleganten, zeitgenössischen Einrichtung passte. Über ihm hingen Bilder verschiedener symbolhafter Götter, und in der Mitte darauf türmten sich in einer Schale Speisen, flankiert von jeweils einer Kalebasse. Ein Langschwert, das in der Ecke stand, sah auch in seiner Scheide noch gefährlich aus. Wimpel in grellen Farben hingen nicht nur von beiden Seiten des Altars herab, sondern waren auch im Abstand von rund fünf Fuß links und rechts daneben an die Wand geheftet worden.

„Ah, Mr. Bennett“, ertönte eine aalglatte, tiefe Stimme. „Ich sehe, Sie sind vertraut mit Altären des Voodoo. Bitte nehmen Sie doch Platz.“

Bennett erschrak, da er so unvermittelt angesprochen wurde, und fuhr halb herum, bevor sein Blick auf einen Mann fiel, der an einem kleinen Tisch saß. Er saß in einem Kegel aus bläulichem Licht, das den ganzen Raum, wie der junge Mann nun bemerkte, in unterschiedlichen Abstufungen erhellte. Als Dick nähertrat, machte er große Augen.

Einen bizarreren Typen hatte er vermutlich noch nie gesehen. Der Mann hatte breite Schultern wie ein Gorilla und praktisch überhaupt keinen Hals, dafür aber einen umso dickeren Kopf. Seine Haut war weder weiß noch dunkel. Dass Bennett der Atem stockte, lag indes vor allem am Gesicht des Kerls. Es war auf feine Art kantig und stand somit im deutlichen Kontrast zu seinem Körperbau. Ferner sahen seine schwarzen Brauen zart wie mit dünnem Pinselstrich aufgemalt aus, die Augen darunter fast mandelförmig wie bei Asiaten. Die schmale Nase gemahnte an einen Raubvogel, und seine Lippen waren bloß zwei hellrote Streifen.

Bennett setzte sich nahezu automatisch auf einen Stuhl vor dem kleinen Tisch. Bei diesem handelte es sich, wie er auf den ersten Blick sah, um ein Schachspiel, also war der Mann offensichtlich in Überlegungen zu möglichen Zügen einzelner Figuren vertieft gewesen. Bennett schenkte der Aufstellung keine weitere Aufmerksamkeit, da Dr. Zuros Präsenz zu dominant war, als dass er auf etwas anderes hätte achten können. „Sie suchen mich auf, weil Sie Rat und Hilfe benötigen, Mr. Bennett, nicht wahr?“, fragte er zuvorkommend. Der junge Mann fasste mit Mühe wieder klare Gedanken.

„Ja, ja, ganz richtig. Dr. Zuro, Sie sind gewiss eine der größten Kapazitäten in den Vereinigten Staaten, wenn es um Voodoo geht. Auf Haiti nehmen selbst die angesehensten Papalois{1} Ihren Namen ehrfürchtig in den Mund. Hier lachen die Menschen über Voodoo und seine Macht, aber ich nicht, Doktor. Ich weiß, was er bewirken kann. Aus diesem Grund bin ich auch hier: Ich brauche eine Ouanga – eine Todes-Ouanga, also einen Zauber, um jemanden zu beseitigen, der mir Böses will. Ich will ihn unauffällig aus dem Weg räumen, ohne dass Verdacht aufkommt, und bin gewillt, dafür zu zahlen – viel, wenn es sein muss. Können Sie mir helfen?“

Zuros markantes Gesicht blieb relativ ausdruckslos. „Möglicherweise, Mr. Bennett. Es wäre nicht sonderlich schwierig, und dass Sie an Voodoo glauben, freut mich, da mir so einiges leichter fallen wird. Ich muss Sie nicht darauf hinweisen, dass man dank Voodoo vermag, die Gedanken anderer zu lesen – Ihre zum Beispiel Mr. Bennett. Sie haben eine Marke mit dem Wappen des Bundesamts für Ermittlung in der Tasche und gehen davon aus, mich dazu bewegen zu können, einige meiner Pläne zu offenbaren oder vielleicht eine Ouanga für Sie anzufertigen, die Sie dann als Beweis gegen mich verwenden können!“

Der junge Mann fuhr halb von seinem Platz hoch, blieb dann aber doch sitzen, obwohl alle seine Nerven angespannt waren. Wie konnte dieser unheimliche Typ wissen, dass er als FBI-Agent arbeitete und nur deshalb hergekommen war, um Zuro irgendeine Art von Geständnis abzuringen, welches seinen Ermittlungen auf die Sprünge half?

Der Doktor verschränkte geruhsam die Arme vor seiner breiten Brust und schürzte verächtlich die Lippen. „Werfen Sie einen Blick auf das Schachbrett, Mr. Randall. Ja, fast hätte ich vergessen, Ihnen zu sagen, dass ich Ihren richtigen Namen weiß und jenen von Lydia Martin, die sich als meine Sekretärin ausgibt und Sie über alles liebt. Es gibt nichts, was ich nicht weiß, Mr. Randall; jetzt schauen Sie sich die Figuren an.“

Als der Entlarvte aufs Brett schaute, riss er die Augen weit auf. Die Figuren – Bauer, König, Königin und Läufer – waren jeweils kleine Schädel, und zwar menschliche. Sie schienen den Agenten anzustarren und sich köstlich über seine peinliche Lage zu amüsieren. Er hob einen vom Tisch und betrachtete ihn genauer, dann wandte er sich wieder an sein Gegenüber.

„Zuro …“ Seine Stimme blieb ruhig. „Allein dafür, dass Sie aus Schädeln Schachfiguren gemacht haben, setzt man Sie auf den elektrischen Stuhl. Hiermit nehme ich Sie fest. Dass ich unter falscher Identität zu Ihnen gekommen bin, ist jetzt kaum mehr von Belang, was auch immer Sie mir zuvor erzählt haben ebenfalls. Diese Figuren weisen Sie als Mörder aus, und als solchen werde ich Sie nun abführen.“

Randall erhob sich ruckartig, legte beide Hände flach aufs Schachbrett und wollte sich auf die wuchtige Gestalt stürzen, die ihn weiterhin unbeeindruckt ansah. Dann aber setzte sich Zuro in Bewegung, und dies so schnell, dass Randall weder seine Pistole ziehen noch handgreiflich werden konnte. Inmitten des bläulichen Lichts funkelte etwas und ging auf Randalls Handrücken nieder wie ein Rinnsal aus geschmolzenem Stahl. Als er nach unten blickte, wurde er leichenblass: Ein Messer steckte in seiner Hand, sodass er sie nicht mehr vom Tisch nehmen konnte.

Zuro hatte sich im Nu erhoben, trat hinter Randall und nahm die schwere Pistole aus seiner Tasche. Dann kehrte er zu seinem Sessel zurück und legte die Waffe aufs Brett, sodass der Agent sie verführerisch leicht hätte schnappen können. Wie die beiden einander vorübergehend anstarrten, glich Todesqual und Schrecken, eingefroren in einem Gemälde.

Dann nahm Zuro Handschellen hervor und legte sie um Randalls unversehrte Hand, das andere Ende hakte er an der Stuhllehne fest. Nun war der Agent so machtlos, als sei er mit einem Dutzend Lederriemen gefesselt worden. Die durchbohrte Hand konnte er nicht bewegen, denn schon geringstes Muskelzucken ließ heftige Schmerzen durch seinen Arm fahren. „Der Teufel soll Sie holen“, ächzte er. „Ich hätte gleich ziehen und Sie erschießen sollen!“

Zuro lächelte andeutungsweise und ließ sich erneut in seinem Sessel nieder.

„Ja, das ist gut möglich, Mr. Randall. So hätten Sie sich eine Menge Ärger erspart, weil Sie sofort gestorben wären. Sie sind auf einen Teil der Wahrheit gestoßen, leugnen Sie es nicht. Ein Blick auf diese Figuren, diese Schädel, hat es mir bestätigt, also erhellen Sie mich doch über alles, was Sie entdeckt haben.“

„Ich sage Ihnen nichts“, brüllte Randall und verzog gleich wieder das Gesicht, da er an seiner verletzten Hand gezogen hatte. Blut trat schon aus der Wunde, quoll dünn über das Schachbrett und ergoss sich wie ein kleiner Wasserfall über die Kante.

Zuro zuckte mit seinen breiten Schultern. „Es macht keinen Unterschied. Ihre Freundin ist natürlich auch ein Spitzel. Die Mutter zählt zu meinen besten Kunden und zeigt sich stets sehr freigiebig, weshalb mich ihr Vater wiederum hasst. Das Mädchen wurde vor einigen Tagen auf mich angesetzt. Doch das wusste ich schon, bevor sie einen Fuß in mein Haus gesetzt hat. Sie spionieren also beide, also werden Sie auch das Schicksal von Spionen erfahren. Ich glaube, Randall, ich werde Lydia dazu zwingen, Sie umzubringen, das wird ein sehr interessantes Experiment für mich – für Sie natürlich weniger, es sei denn, Sie erklären sich zum Reden bereit …“

„Sie sind wahnsinnig!“, brauste Randall wieder auf. „So verrückt wie Ihr Altar und alles, wofür Sie zu stehen vorgeben. Sie sind ein Hochstapler, Dr. Zuro, und ich habe keine Angst vor Ihnen.“

Da klatschte der Doktor in die Hände, woraufhin ein vierschrötiger Mann durch den Vorhang eintrat und grinste. Er zerrte Lydia hinter sich her. „Fessle Sie an die Säule“, befahl ihm Zuro.

Als dies geschehen war, fuhr er fort: „Eine Schande, denn Sie ist viel zu jung und schön, um zu sterben, aber … es liegt jetzt nicht mehr in meinen Händen. Randall, das Mädchen, das Sie lieben, wird in wenigen Augenblicken den Tod finden. Sobald wir uns gewiss sein können, dass Sie nicht mehr lebt, werde ich Sie zurückholen. Unmöglich? Dass Sie dieser Ansicht sind, sehe ich in Ihrem Blick, aber das ist es nicht. Zombies sind Ihnen doch bestimmt ein Begriff, nicht wahr? Menschen, die gestorben sind und wieder zum Leben erwachen; Menschen, die ohne eigenen Geist weiterexistieren, ohne Kontrolle über ihren eigenen Willen. So wird es dem Mädchen ergehen: Sie wird zum Zombie und führt dann aus, was ich ihr auftrage – Sie zu töten, Randall, Sie genauso zu beseitigen, wie Sie es mit mir vorhatten. Sie gehen schon seit Wochen gegen mich vor, klauben hier und dort Hinweise zusammen beziehungsweise wagen sich in Gefilde vor, die Sie nichts angehen.“

Zuro erhob seine Stimme vor Zorn lauter, und seine Augen funkelten vor Verachtung. Randall versuchte vergeblich, seine durchbohrte Hand vom Tisch zu lösen, was ihm logischerweise nur noch ärger zusetzte. Der Doktor ging zu der Gefesselten hinüber, die ihn fassungslos anstierte. Ohne weitere Worte streckte er einen Arm aus und drückte ihr den Hals zu. Sie gab keinen Ton von sich. Fast schien es, als habe sie ihren Verstand verloren.

Während er sie würgte, fing Randall zu schreien an, so laut er konnte. Der junge Mann war kein Feigling, doch zu seiner Verteidigung besaß er nichts anderes mehr außer seiner Stimme. Die Schmerzen und der Blutverlust machten ihn benommen. Der kräftige Kerl, der Lydia hereingezerrt hatte, stand nun mit einer Pistole in der Hand neben ihm. Fünf Minuten lang war Randall dazu gezwungen, einfach nur dort zu sitzen und mitanzusehen, wie das Mädchen, das er liebte, erdrosselt wurde. Dabei trat eine pulsierende Ader an seiner Stirn hervor. Er schloss die Augen und drehte den Kopf vor dem grausigen Anblick zur Seite, doch plötzlich öffneten sie sich wieder, wenngleich nur zu Schlitzen, und zuckten nach links, wo sein Bewacher stand.

Dieser konzentrierte sich auf Zuro, während Randall die Finger äußerst langsam und beschwerlich verschob, da kaum noch Kraft in ihnen steckte. Sein Gesicht war schweißnass, aber er schaffte es, den Zeigefinger ein wenig anzuheben und auszustrecken, bis er die Grundplatte von einem der stilisierten Schädel berührte. Er nestelte unauffällig daran, sodass er den Finger wie einen Hebel verwenden und die Figur zu sich schieben konnte. Dann stemmte er den Tisch ein wenig mit den Knien in die Höhe, woraufhin der Schädel durch die Blutlache rollte und vom Brett in Randalls Schoß fiel.

Als er sich wieder zu Zuro umdrehte, lag Lydia erschlafft und ihrer Fesseln entledigt in einem Sessel. Ihr Gesicht war dunkelrot angelaufen, ihre Brust blieb still. Zuro prüfte geruhsam ihren Puls, da fiel sein Blick auf Randall. „Sie ist tot, würde ich sagen. Tut mir leid, dass ich Sie nicht losmachen kann, damit Sie sich selbst davon überzeugen können. Nun werden Sie erfahren, was Voodoo bedeutet, mein skeptischer Freund. Sobald Lydia wieder erwacht, wird sie eine lebende Tote sein, die meine Kommandos ohne eigenen Willen ausführt.“

Mit einer ruckartigen Kopfbewegung beorderte der Doktor seinen Handlanger zu sich, der Lydia alsdann zum Altar in der Ecke trug und sachte davor niederlegte. Zuro nahm die beiden Kalebassen an sich und gab jeweils ein paar Tropfen des Inhalts in eine Holzschale. Damit kniete er sich hin und flößte Lydia die Flüssigkeit ein. Nachdem er sich wieder erhoben hatte, trat er drei Schritte zurück und murmelte etwas in einer Sprache, die Randall noch nie gehört hatte.

Einen Moment später glaubte er, seinen eigenen Sinnen nicht mehr trauen zu können: Lydia bewegte sich, obwohl sie doch definitiv tot gewesen war. Zuros krallenartige Finger hatten die Sauerstoffzufuhr in ihre Lunge mehrere volle Minuten lang unterbrochen, und in den Armen des wuchtigen Kerls war sie auch nicht wieder zu Atem gekommen. Dennoch schien sie nun Luft zu holen; ihre Brust hob und senkte sich wieder so regelmäßig wie bei jedem gesunden Menschen. Zuro schob einen Arm unter ihre Schultern, um sie hochzuheben. Wie ihre Füße den Boden berührten, richtete sie sich auf, schwankend zwar, und hielt die Augen fest geschlossen. Als Zuro eine Hand langsam vor ihrem Gesicht bewegte, schlug sie die Lider auf.

Die letzten Minuten seines Lebens wurden für Randall die fürchterlichsten: Lydias Augen ging jeglicher Ausdruck ab; sie glotzte hohl, fixierte schlichtweg die Leere. Ihre Lider waren weiß, als würden sie nicht mehr durchblutet, und wirkten über den Augen wie schauerliche Lichtkronen. Randall wollte sprechen, stellte aber fest, dass seine Kehle zu trocken dazu war. Darüber vergaß er die Pein, die ihm das Loch ihn seiner Hand verursachte, und auch alles weitere, abgesehen von dem gräulichen Bild, das Lydia abgab – eine wiederauferstandene Tote, eine wandelnde Leiche.

Zuro fuhr flink unter sein Hausgewand und zückte ein anderes Messer, drehte es in den Händen um und hielt Lydia den Griff hin. Auf einen strengen Befehl hin nahm sie die Waffe, ohne auch nur ansatzweise das Gesicht zu verziehen. Dann trat der Doktor zur Seite, und sie holte mit dem Messer aus, indem sie es fast auf Augenhöhe ausrichtete. Ihre Schritte waren nun langsam und bemessen, wobei ihr Oberkörper steif blieb.

Randall schaute hin, während sie näherkam, und hörte nicht auf, ihren Namen zu rufen, doch sie blieb weder stehen, noch senkte sie das Messer wieder, dessen Klinge, bereit zum Todesstoß, im Licht glänzte.

Mehr nahm Randall nicht mehr wahr, da seine Hirnfunktion allmählich aussetzte. Nicht nur, dass der Schmerz ihn schwächte; sein Entsetzen machte alles umso schlimmer, und der Raum fing an, sich um ihn zu drehen. Zuro, der wieder die Arme vor seiner kräftigen Brust verschränkt hatte, schien immer größer zu werden, bis er das gesamte Zimmer ausfüllte. Was an Randalls Gesicht vorbeihuschte, sah er nur verschwommen. Dunkelheit breitete sich über ihm aus, ehe er mit einem Seufzer nach vorne zusammensackte. Sein Kopf landete auf seinem festgehefteten Arm, sodass seine Wange mit Blut verschmiert wurde. Der Agent spürte nicht, wie die Klinge in seinen Rücken stieß und das Herz durchbohrte.

 

*

 

Fünf Minuten später sputete sich Zuro, die geschnitzten Schädel zusammenzuraffen und in einem Säckchen aus Samt zu verstauen. Dabei erteilte er Befehle und … machte einen Fehler, indem er vergaß, die Figuren zu zählen. „Riga, wir müssen dieses Haus gleich nach Einbruch der Dunkelheit verlassen“, sagte er zu seinem Gehilfen. „Niemand weiß, wer hier wohnt, und keiner meiner Kunden suchte mich je an dieser Adresse auf, doch Randall brachte sie in Erfahrung, und was einem Mann gelingt, mag kein Einzelfall bleiben. Davon abgesehen müssen wir uns auch mit Mrs. Martin und ihrem idiotischen Ehemann herumschlagen; ihn sollten wir aus dem Weg schaffen, bevor er uns gefährlich werden kann. Darum kümmere ich mich selbst, Riga, aber zuerst muss ich seine Frau hier haben und mich vergewissern, dass sie nichts ausgeplaudert hat.“

„Was wird aus ihm?“ Riga zeigte auf die Leiche, die halb auf dem Schachtisch lag.

Zuro erwiderte gelassen: „Er bleibt hier. Zu versuchen, ihn irgendwohin zu schaffen, wäre jetzt zu heikel. Du kennst deine Anweisungen nun; an die Arbeit, Riga – und enttäusche mich nicht.“

Der Kraftprotz schauderte, nahm einen Lederbeutel vom Tisch und steckte ihn in seine Tasche. Das Haus verließ er in aller Eile, und froh war er selbst über das schwindende Tageslicht. Riga verdiente gerne leichtes Geld, von dem Dr. Zuro eine ganze Menge zahlte; außerdem genoss er Macht und Überlegenheit, die der Doktor denjenigen, die ihm wohl dienten, eines Tages ebenfalls zuteilen mochte. Riga würde ihm treu bleiben – bis er erhielt, wonach er trachtete.

 

 

Kapitel 2
Die Ouanga

 

Carol Baldwin war jung, blond und ausgesprochen hübsch anzusehen. Sie wäre ohne weiteres als liebstes Modell eines Fotografen durchgegangen, das nach einem harten Tag vor Lampenschein und Kamera nach Hause zurückkehrte, wie sie so über die Straße eilte. Unter ihrem Arm klemmten drei recht dicke Bücher, allesamt alt und abgegriffen. Sie hatte einige Stunden in mehreren Läden verbracht, die antiquarische Schinken führten, bevor sie auf diese gestoßen war. Es handelte sich jeweils um erschöpfende Abhandlungen zur Voodoo-Religion und damit einhergehenden Mystik.

Carol wusste selbst ein wenig über den Kult und fand ihn interessant, doch der Mann, dem sie diese Bücher brachte, war davon regelrecht fasziniert und wollte unbedingt alles über diese Form der Schwarzen Kunst lernen. Voodoo hatte sich während der letzten Monate ausgebreitet und grassierte mittlerweile wie eine üble Krankheit überall in der Stadt. Der Glaube nahm Dummköpfe mit mehr Geld als Verstand für sich ein und bewegte sogar nüchternste Gemüter dazu, vor sogenannten Papalois beziehungsweise Hohepriestern des Kultes zu Kreuze zu kriechen. Zusammenkünfte waren gut besucht, einige Sitzungen gar regelrecht überlaufen. Carol hatte in Vertretung des Mannes, für den sie arbeitete, mehreren beigewohnt.

Sie war natürlich kein Fotomodell, aber auch nicht die Sekretärin eines reichen Schnösels, sondern aktives Mitglied eines Klüngels, das sich dem Aufspüren und Ausmerzen von Verbrechern widmete. Carol Baldwin kannte als einzige Frau auf der Welt die wahre Identität der Schwarzen Fledermaus. Sie wusste, dass es sich bei dieser rätselhaften Geißel der Unterwelt um Tony Quinn handelte, dem einst als Bezirksstaatsanwalt eine rosige Zukunft beschieden war, bis ihm Kriminelle eines Tages vor Gericht beim Versuch, Beweise zu zerstören, das Augenlicht mit Säure raubten und sein Gesicht auf ewig entstellten. Daraufhin hatte Quinn Spezialärzte auf der ganzen Welt aufgesucht, die ihm versicherten, kein Chirurg der Welt könne seine vernarbten Augen je wieder heilen. Carol erinnerte sich noch daran, wie Quinn eines Nachts zutiefst verzweifelt gewesen war: Was konnte er tun, sollte er ein hilfsbedürftiger Mann bleiben, auf dem für immer der Fluch der Dunkelheit lastete? In jener Nacht hatten sich die beiden kennengelernt. Quinn war auf ihr Anraten hin untergetaucht und in eine Kleinstadt im Mittleren Westen gefahren, wo ein weithin unbekannter Leibarzt die verbrannten Teile seines Sehapparats gegen die intakten eines Mannes im Sterben ausgewechselt hatte. Nach Wochen konnte er endlich wieder sehen, doch davon wussten nur wenige Menschen. Später erfuhr er, dass der Spender der gesunden Augen Carols Vater war, den die Kugel eines feigen Killers zum Tode verdammt hatte.

Dann war Silk Kirby ins Leben des Juristen getreten, der sich damals noch als Trickbetrüger verdingte und nunmehr als sein Diener beziehungsweise Gehilfe in allen Belangen arbeitete. Kurz darauf stieß Quinn auf Butch O’Leary, ein Baum von einem Mann im Gegensatz zu Silk, der das Trio derer, die sich dem immerwährenden Kampf gegen das Verbrechen verschrieben hatten, um die oft benötigte Schlagfertigkeit ergänzte. So wurde aus dem Staatsanwalt die Schwarze Fledermaus, und sowohl Kirby als auch O’Leary und Carol Baldwin dienten ihm als Mitstreiter.

Quinn war dank seiner finanziellen Rücklagen unabhängig und wahrte tagsüber den Schein des hoffnungslos Blinden. Nachts hingegen ging er als Schwarze Fledermaus um, wobei sein Name zum Fluch für all jene geworden war, die gegen das Gesetz verstießen. Er versteckte sein verunstaltetes Antlitz hinter einer Maske, während ein Umhang, der zweigeteilt und versteift den Schwingen einer Fledermaus nachempfunden war, seine symbolische Verkleidung ergänzte. Das Zeichen des Rächers genügte, um selbst ausgekochteste Gangster auf die Frage zu stoßen, ob sie ihre völlig fehlgeleitete Laufbahn eventuell doch noch in redliche Bahnen lenken sollten.

Quinn schlug seine Feinde mit ihren eigenen Waffen. Gewalt erzeugte Gegengewalt, und feigen Schleichern trat er mit einer Listigkeit entgegen, die jeden verblüffte, gegen den er vorging. Er hatte seine anderen intakten Sinne nämlich während jener Monate der Blindheit erstaunlich weit ausgebildet, und als er wieder sehen konnte, schien ihn die Natur für die langen Qualen entschädigen zu wollen: Er stellte fest, dass er im Finsteren genauso gut sehen konnte wie am helllichten Tag. Objekte im Schatten zu erkennen war für seine Augen kein Problem; Hindernisse oder Fallen, die im Dunkeln verborgen lagen, offenbarten sich ihm plastisch.

Carol rekapitulierte all dies in Gedanken, derweil sie zügig durch einen ruhigeren Bezirk der Stadt ging, als plötzlich ein nobler Sportwagen um die Kurve kam und vor einem kleinen, exklusiven Juweliergeschäft anhielt. Eine Frau stieg aus, und dann bezeugte Carol folgendes:

Es handelte sich um eine ungefähr 45-Jährige, die äußerst vornehm gekleidet war und schon durch ihre Haltung hervorkehrte, dass sie viel Geld besaß, von dem mit Diamanten besetzten Armband, das ansehnlich an ihrem Handgelenk funkelte, ganz zu schweigen. Sie ging wenige Schritte auf die Tür des Ladens zu, ehe aus einem Hauseingang zehn Yards die Straße hinunter ein hässlicher, gedrungener Mann hervortrat. Er hielt etwas in einer Hand und lief geradewegs auf die Frau zu. Carol trat instinktiv hinter einem geparkten Auto zurück.

Der beleibte Kerl drückte der Frau etwas in die Hand, schaute sich verstohlen um und wähnte sich offensichtlich unbeobachtet. Nachdem er ihr einmal kurz zugenickt hatte, lief er weiter die Straße hinauf und verschwand hinter der nächsten Ecke. Da Carol aufgrund seines zwielichtigen Äußeren damit gerechnet hatte, er werde die Frau überfallen und ihr das Armband stehlen, war sie drauf und dran gewesen, schnell zu ihrer Rettung zu eilen. Sie hielt schon die kleinkalibrige, aber sehr gute Dienste leistende Automatikpistole aus ihrer Tasche in der Hand, und die Voodoo-Fachbücher lagen schon auf dem Kotflügel des Fahrzeugs, hinter dem sie stand.

Nun beobachtete sie, wie die Frau dem davonlaufenden Mann hinterherschaute, doch wie sie den Blick auf den Gegenstand richtete, den er ihr gegeben hatte, stieß sie einen leisen, aber deutlich hörbaren Schrei aus. Dann zog sie ihre Handschuhe aus und schien das Ding genauer zu betrachten. Einen Augenblick später drehte sie sich halb herum – ihre Knie gaben nach – und sie sackte ohnmächtig gegen ihren Wagen.

Ansonsten hielt sich niemand auf dieser ruhigen Seitenstraße auf, also eilte Carol zu ihr und legte sie in eine angenehmere Position, hob einen ihrer schlaffen Arme hoch und massierte die Hand, um die Durchblutung anzuregen. Da fiel ihr auf, dass die Bewusstlose etwas festhielt, und versuchte, ihre Finger aufzubiegen. Ein schweres, kugelförmiges Etwas fiel auf den Gehsteig. Sie hob es auf und erschrak, denn es handelte sich um einen kleinen, fein aus hartem Blei gefeilten Menschenschädel, in dessen Hals ein winziger Dolch steckte.

Der Anblick machte Carols eigene Kehle trocken. Sie schaute sich hektisch um und entdeckte einen handlichen Lederbeutel, den die Frau, als sie das Bewusstsein verlor, fallen gelassen hatte. Wie sie diesen hastig in einer Hand ausschüttelte, lief ihr ob des skurrilen Inhalts ein Schauer über den Rücken: Knochensplitter, eine schwarze und eine weiße Hühnerfeder, deren Spitzen rot getränkt waren wie mit Blut, ein Glücksstein und mehrere Laubblätter unbekannten Ursprungs, vielleicht auch von Kräutern.

Ouanga!“ Carol zuckte vor ihrer eigenen Stimme zusammen. „Voodoo!“

Als jemand laut grölte, schaute sie auf. Ein Mann rief einen Streifenpolizisten. Carol steckte den Bleikopf und die Ouanga rasch in ihre Handtasche.

„Die Frau dort ist ihn Ohnmacht gefallen“, erklärte sie dem Beamten, nachdem dieser zu ihr gelaufen war. „Ich sah sie zusammenbrechen und versuchte, Erste Hilfe zu leisten, aber am besten rufen Sie den Notarzt.“ Die Liegende jedoch schlug die Augen schon wieder auf, bevor der Polizist irgendjemanden zu einer Telefonzelle schicken konnte.

„Mit … mit mir stimmt alles soweit“, behauptete sie. „Mir geht es gut, vielen Dank. Helfen Sie mir einfach nur beim Einsteigen ins Auto. Das war nichts ernstes, denn in letzter Zeit bin ich etwas angeschlagen. Schwaches Herz, verstehen Sie?“ Der Beamte, dem die Diamanten an ihrem Handgelenk, die Qualität ihrer Kleider und der noble Sportwagen Respekt abnötigte, stützte die Frau, als sie auf dem Fahrersitz Platz nahm. Dann ruckte sie plötzlich den Kopf herum und schaute auf den Bürgersteig.

„Ist mir zufällig etwas aus der Tasche gefallen?“, fragte sie angespannt. „Ein Ledersäckel, wie man sie auch für Schmuck verwendet. Ja, stimmt: Ich wollte ein älteres Stück zu diesem Juwelier bringen.“

Der Polizist suchte den Beutel und warf dann einen argwöhnischen Blick auf Carol. „Ich finde nichts hier, Lady. Diese junge Dame hat Sie zuerst gefunden, also ist ihr vielleicht …“

„Nein, kann gar nicht sein“, schob die Frau im Auto rasch nach. „Ich habe mich geirrt, aber jetzt fällt es mir wieder ein: Ich ließ das Säckel zu Hause, und weil ich mich so darüber aufregte, es vergessen zu haben, wurde mir wohl schummrig. Die junge Dame hat nichts verbrochen, Officer. Wäre das jetzt alles?“

Carol hörte gar nicht mehr zu, wie die Streife die Frau dazu anhielt, vorsichtig zu fahren, sondern lief über die Straße, wo zwei Taxifahrer die Köpfe aus ihren Türfenstern streckten, um zu gaffen. Nachdem sie beide zum Warten angehalten hatte, ging sie weiter bis zu einem Kiosk an der Ecke, kaufte eine Zeitung und wickelte die Ouanga flugs in das Papier ein. Sie schrieb eine kurze Nachricht auf eine Seite ihres Adressbuchs, riss diese heraus und legte sie in eines der Bücher. Beides reichte sie dem ersten Taxifahrer. „Geben Sie dies an der Adresse Elsmore Road 1195 ab, bitte. Ein Hausdiener wird es in Empfang nehmen.“ Carol bezahlte ihn – nicht ohne üppiges Trinkgeld – und notierte sich nachträglich sein Kennzeichen. Dann stieg sie ins zweite Taxi.

„Folgen Sie dem Sportwagen.“ Sie zeigte auf das Auto der Frau, die gerade losfuhr. „Wenn Sie ihn nicht verlieren, gebe ich Ihnen zehn Dollar zusätzlich.“

Der Fahrer grinste sie an. „Lady, für ’nen Zehner verfolge ich alles und jeden bis nach Alaska. Ich wäre ja dumm, wenn ich so ein Geschäft ausschlagen würde.“