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Norbert Arntz
Der Katakombenpakt

topos taschenbücher, Band 1037

Eine Produktion der Verlagsgemeinschaft topos plus

„Gloria Dei vivens pauper"

(„Gott wird geehrt, wenn und wo die Armen leben können.“)

Erzbischof Oscar A. Romero, 2. Februar 1980

„Aus diesem Grunde wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen!“

Papst Franziskus, 24. November 2013 (Evangelii gaudium, 198)

Norbert Arntz

Der Katakombenpakt

Für eine dienende und arme Kirche

topos taschenbücher

Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Lahn-Verlag, Kevelaer
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

I. Franziskus – die Konversion des Papstamtes?

Ende und Wende

Der neue Papst: „Bischof von Rom“

II. Das Konzil – ein neuer Weg in der Geschichte

Johannes XXIII.: „Die Kirche der Armen“

Die Konzilsgruppe „Kirche der Armen“

Die Konzilsdebatte um die „Kirche der Armen“

Paul VI. übergibt seine Tiara den Armen und Bedürftigen

Der Katakombenpakt: „Für eine dienende und arme Kirche“

III. „Kirche der Armen“ im Konflikt – Wirkungen des Katakombenpaktes

Auf dem Weg von Rom nach Medellín

Die Enzyklika „Über die Entwicklung der Völker“ (Populorum progressio)

Das Manifest von Bischöfen aus der Dritten Welt

Die von den Bischöfen ausgelöste „Priesterbewegung für die Dritte Welt“

Medellín – ein kontinentales Pfingsten

Der Konflikt mit der politischen Macht

Der Konflikt mit dem Vatikan

Konflikt und Widerstand in Puebla 1979

Der Konflikt um den Erzbischof Romero

Geheimbündnis zur Forcierung des Konflikts um die Kirche der Armen

Evangelisierung, Eroberung und Widerstand im Konflikt

Der Konflikt bei der Bischofsversammlung in Santo Domingo 1992

Die Totgesagten stehen auf

IV. Überraschung in Aparecida: Auftakt einer pontifikalen Konversion zur armen Kirche?

Exkurs: Der Konflikt um den Theologen Jon Sobrino

Der Versammlungsort Aparecida

Das Dokument von Aparecida

Der Kommentar des Erzbischofs von Buenos Aires, Kardinal Jorge Mario Bergoglio

V. Umkehren heißt Schablonen zerbrechen – ein Nachspiel

Die Rückkehr zu den Quellen

Die Umkehr zur „Samaritanischen Kirche“

Die Umkehr zur Kirche als Volk Gottes

Auf der Suche nach einer anderen Welt – Die Umkehr zum Reich Gottes

Anmerkungen

Vorwort

Vom Katakombenpakt erzählen will dieses Buch. Wie jede Erzählung muss auch diese an einem bestimmten Punkt beginnen. Aber der Katakombenpakt ist kein Nullpunkt. Vielmehr hat dieser Punkt seine eigene Vorgeschichte. Die Menschen, die sich dafür zusammenfinden und ihre eigene Geschichte mitbringen, gehören zu dieser Erzählung. Das Ereignis des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962 bis 1965, bei dem sich unter anderen auch diese Menschen treffen, gehört zu dieser Erzählung. Die beiden Kalenderdaten – der Pakt am 16. November 1965 und der Abschluss des Konzils am 8. Dezember 1965 – stehen zwar in enger Verbindung zueinander, aber die Wirkungsgeschichte des Konzils wird so weitererzählt, als bestehe die Verbindung nicht mehr. Der Pakt fällt in Europa dem Vergessen anheim. Wenn wir den Erzählfaden über den Katakombenpakt wieder aufnehmen, leitet uns das Interesse, den Katakombenpakt als „geheimes Vermächtnis des Zweiten Vatikanischen Konzils“ wieder ans Licht zu heben und zu erinnern. „Heute, über fünfunddreißig Jahre nach diesem Ereignis, wurde noch nicht einmal der Versuch gewagt, eine Bilanz über den konkreten Einfluss dieser ‚Selbstverpflichtungen‘ zu ziehen“, stellt der bedeutende Konzilshistoriker Giuseppe Alberigo im Jahr 2000 fest.1 Wir erzählen also die Geschichte des Katakombenpaktes, um mindestens dazu anzuregen, das Konzil nach fünfzig Jahren auch im Lichte dieser Selbstverpflichtungen neu zu lesen. Vor allem aber, weil es unsere Absicht ist, daran zu erinnern, dass die aus dem Konzil hervorgehende und von den Bischöfen des Katakombenpaktes getragene Geschichte um die Kirche der Armen und ihre Theologie der Befreiung wie ein „Stachel im Fleisch der Kirche“ wirkt.

Das Zweite Vatikanische Konzil 1962–1965 ist zweifellos eine Wasserscheide: Zum ersten Mal versammelt sich die Weltkirche wirklich aus allen Erdteilen des Globus vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Zum ersten Mal ringen Vertreter (im Laufe der Konzilsjahre auch Vertreterinnen) aus allen Ecken der Erde miteinander um das, was die Kirche ist und sein soll. Zum ersten Mal üben sie Mitbestimmung über Weg und Dienst der Kirche und wagen dafür öffentliche Konflikte. Menschen, Interessen, Denkströmungen und Kulturen begegnen sich und stoßen aufeinander. Am schärfsten stellen die Vertreter einer „Kirche der Armen“ das herrschende Modell der Kirche infrage: Es müsse Schluss sein mit dem zeitweiligen Bündnis zwischen der Kirche und dem „Imperialismus des Geldes“. Es genüge jedoch nicht, von der „Kirche der Armen“ bloß zu sprechen; die Kirche müsse selbst arm sein. Die Bischöfe seien mit Flitter und Prunk behangen; sie müssten sich von ihrer bunten Kleidung, von ihrem Gold und ihren Juwelen trennen. Sie dürften nicht wie feudale Herren leben, in ihren Palästen versteckt, um ihre Position zu wahren. Wozu dienten all dieser Tand und all dieses Theater? Wie könnten sie den hungernden Massen als Väter erscheinen, wenn sie wie feudale Herren auftreten? Alle von weltlichen Traditionen übernommenen Formen müssten in der Kirche beseitigt werden. Dazu gehöre nicht nur die Kleider- oder Gebäudeordnung. Es müsse auch darum gehen, auf Alleinvertretungsansprüche, traditionelle Studienpläne und Forschungsmethoden zu verzichten. Kurzum: Was man „konstantinische Ära“ zu nennen pflegt, sollte mit dem Konzil ein Ende haben.

In seiner unnachahmlichen Sprache, die Emotion und Reflexion miteinander zu verbinden weiß, schildert Dom Hélder Câmara in seinen Briefen aus dem Konzil, wie er die Abschlussfeier der Zweiten Konzilsperiode am 4. Dezember 1963 in St. Peter erlebt:

Ganz genau auf der Höhe des kolossalen Reiterdenkmals von Konstantin traten wir in St. Peter ein […]

Wer hat behauptet, die konstantinische Ära sei vorbei? Während der ganzen Zeremonie – es war für mich ein Alptraum – sah und hörte ich das steinerne Pferd durch die Basilika galoppieren. Es trug den bedauernswerten König, der wie ein trauriges Symbol für eine Epoche wirkte, die wir längst hinter uns gelassen haben wollten. Aber da ist sie noch – höchst lebendig …2

Nach den schrecklichen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und in der Konfrontation mit der mehrfach gespaltenen Welt muss das Konzil den Bruch der Kirche mit der konstantinischen Ära vollziehen. Davon sind Hélder Câmara und die anderen Mitglieder der Gruppe „Kirche der Armen“ überzeugt. Sie spüren den grundsätzlichen Konflikt, der ihnen hier abverlangt wird. Aber sie stellen sich ihm – um des Evangeliums willen, von dem sie sich herausgefordert fühlen, um der Menschen willen, zu denen sie sich gesandt wissen, und um der Kirche willen, die das Zeichen des umfassenden Heils für alle Menschen werden soll.

Im Münsteraner „Institut für Theologie und Politik“ beginnen wir im Jahr 2009 mit den Vorbereitungen zur Arbeit, das „geheime Vermächtnis des Konzils“ zu erinnern. Wir wollen die Geschichte erzählen, um die Inspirationen, die sich in ihr verbergen, aufgreifen zu können. Neugieriges Erstaunen über diese weitgehend unbekannte Geschichte ist die Reaktion in vielen Gruppen, Gemeinden, Akademien und Bildungseinrichtungen. Die interessierten Nachfragen und das Bemühen, diese Geschichte immer besser zu verstehen, bestimmen die weitere Forschungsarbeit. Da tritt im Jahr 2013 plötzlich Papst Benedikt XVI. zurück, und Papst Franziskus übernimmt das Amt des Bischofs von Rom. Sein Wunsch, „eine arme Kirche für die Armen“ zu verwirklichen, fordert die Erinnerungsarbeit zusätzlich heraus. Jetzt wirken plötzlich Konzil, Katakombenpakt und „Franziskus-Projekt“ aufeinander ein.

Wie die Erinnerung die Gegenwart inspiriert und gegenwärtige Erfahrungen auch die Erinnerung wieder in ein neues Licht rücken – davon erzählt das Buch. Ansporn dafür war die Zusammenarbeit im Team des Instituts für Theologie und Politik, treibende Kraft die theologisch und sprachlich motivierende Begleitung durch meinen Bruder Heinz-Theo Arntz. Allen Gefährtinnen und Gefährten bin ich von Herzen dankbar für die gemeinsame Arbeit an gesellschaftlicher, kirchlicher und persönlicher Umkehr. Für den Exodus aus der babylonischen Gefangenschaft von Seele und Kirche in der „konstantinischen Ära“ kann die Einsicht des Baal Schem Tow, des Begründers der chassidischen Bewegung, nützlich sein:

„Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“

Kleve, am Festtag des „Magnificat“, dem 2. Juli 2015

I. Franziskus – die Konversion des Papstamtes?

Ende und Wende

Am 11. Februar 2013 erklärt Papst Benedikt XVI. seinen Rücktritt vom Amt des Papstes zum 28. Februar des Jahres. Damit endet eine Etappe der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie hatte im Jahr 1978 begonnen. Nach etwa 450 Jahren tritt der erste nichtitalienische Papst sein Amt an. Zugleich aber beginnt hier – aus dem Rückblick betrachtet – ein „kirchlicher Winter“ (Karl Rahner), in dem die Leitlinien des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) eingefroren wurden.

Der junge dynamische Kardinal Wojtyla, der 1978 nach dem kurzen Pontifikat Johannes’ Pauls I. im Alter von 58 Jahren den Stuhl Petri bestieg, nimmt zwar in seinem Namen die Programmatik auf, die sein Vorgänger mit der Übernahme der Namen der beiden Konzilspäpste intendiert hatte, setzt aber in seinem mehr als fünfundzwanzig Jahre dauernden Pontifikat nur eine halbierte Umsetzung der Beschlüsse des Vatikanum II durch. Theologisch durch Joseph Ratzinger unterstützt, den er an die Spitze der obersten Glaubensbehörde beruft, befestigt er aus verschiedenen Gründen die zentralistische Grundstruktur der Kirche vor allem durch die Reform des Kirchenrechts und den römischen Katechismus. Wichtige Reformvorhaben des Konzils werden blockiert. Gestützt auf sein Renommee als Konzilstheologe, überhöht Joseph Ratzinger die Tendenz zum Zentralismus noch theologisch durch Uminterpretation wichtiger Beschlüsse des Konzils sowie durch entsprechende lehramtliche Dokumente. Die durch die charismatische Persönlichkeit von Johannes Paul II. verdeckten Schwächen des langen Pontifikats entarten in seiner Verfallsphase zu einer problematischen Nebenregierung des kurialen Apparates. Als sein Nachfolger Benedikt XVI. in seinem eigenen Pontifikat den Zentralismus noch zu vertiefen sucht, treten eruptiv und unübersehbar die Verfallserscheinungen zutage (unter anderem Missbrauchsskandale in verschiedenen Ländern, Vatileaks, Williamson-Fiasko) und führen schlussendlich zur Abdankung Benedikts. Damit entsteht eine kirchengeschichtlich einmalige Lage. Das kurze Konklave bei Lebzeiten eines abgedankten Papstes bringt ebenfalls ein völlig überraschendes Ergebnis: Der neue Papst begrüßt die Menge auf dem Petersplatz mit diesen einfachen Worten:

Brüder und Schwestern, guten Abend.

Ihr wisst, dass das Konklave die Pflicht hatte, Rom einen Bischof zu geben. Es scheint so, als ob meine Kardinalsbrüder fast bis zum Ende der Welt gehen mussten, aber wir sind nun hier. Ich danke euch für den Empfang. Die diözesane Gemeinschaft von Rom mit ihrem Bischof. Danke.

Der neue Papst: „Bischof von Rom“

Schon mit seinen ersten Auftritten setzt der ehemalige Kardinal von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, Aufsehen erregende Zeichen: Er nennt sich Franziskus, verzichtet auf papalen Pomp und Autoritätsgehabe, grüßt die Öffentlichkeit auf dem Petersplatz und an den Fernsehschirmen mit einem einfachen „Buona sera“ und verneigt sich vor dem Volk Gottes mit der Bitte, es möge ihm Segen wünschen, bevor er für das Volk um Segen betet. Die scheinbar harmlose Geste enthält einen kirchenpolitischen und theologischen Sprengsatz: Der neue Bischof von Rom erkennt an, dass er selbst in erster Linie Mitglied des Volkes Gottes ist.

„Ich bin eben kein Renaissance-Fürst“, soll er erklärt haben, als er dem Konzert fernblieb, das wenige Wochen nach dem Dienstantritt in der Aula für den Papst aufgeführt wurde. Der Stil des Hofstaates wird verlassen, der Dienstcharakter des Amtes betont und jedem Karrierismus eine Absage erteilt.

Zwei Jahre nach der Wahl kommentiert Papst Franziskus in einem Interview mit dem mexikanischen Fernsehen am 13. März 2015 beiläufig das höfische Zeremoniell:

Jede Veränderung beginnt mit dem Herzen: mit der Bekehrung des Herzens […] und auch mit einer Bekehrung der Lebensweise. Ich glaube, hier haben wir den letzten Hof, den es noch in Europa gibt, die übrigen sind alle demokratisch geworden, sogar die klassischsten. Es gibt etwas am päpstlichen Hof, das eine völlig überholte Tradition fest beibehält. Das meine ich nicht abwertend, eher im Sinne einer Kultur […]. Und das muss geändert werden. Alles, was noch nach wie vor höfisch erscheint, müssen wir hinter uns lassen. Die Kurie muss eine Arbeitsgruppe werden, im Dienst der Kirche, im Dienst der Bischöfe. Das bedeutet offensichtlich eine persönliche Umkehr. Es geht um Umkehr, beim Papst angefangen, er ist natürlich der erste, der umkehren muss. Ständig umkehren, entsprechend dem, was Gott von uns erwartet. Und das versuche ich …3

Franziskus lebt nicht mehr im päpstlichen Palast, wo er unvermeidlich isoliert und von den Menschen entfernt hätte leben müssen, abhängig von der Kanalisierung jeglicher Information durch die vatikanische Kurie. Er lebt vielmehr im Gästehaus Santa Martha, nah bei den Menschen, die aus der Weltkirche in den Vatikan kommen, jeden Tag mit anderen Gesprächspartnern und -partnerinnen in Kontakt. Er macht das Ungewöhnliche zum Normalen. Er berät sich, weiß Aufgaben zu verteilen, organisiert einen synodalen Prozess. So beseitigt er alle sakrale Überhöhung aus dem Petrusdienst der Kirche.

In seinem Interview mit Pater Antonio Spadaro, dem Vertreter der Jesuitenzeitschriften, im September 2013 erläutert er, dass er diese Gesten mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verbindet:

Das Zweite Vatikanum war eine neue Lektüre des Evangeliums im Licht der zeitgenössischen Kultur. Es hat eine Bewegung der Erneuerung ausgelöst, die aus dem Evangelium selbst kommt […] Die Dynamik der aktualisierten Lektüre des Evangeliums von heute, die dem Konzil eigen ist, ist absolut unumkehrbar.4

Diese Anknüpfung ans Konzil ist keine bloße Rhetorik. Sie entstammt einer tiefen, in die eigene Existenz übernommenen Überzeugung. Kein vorheriges Pontifikat verwendet so entschieden und konsequent das Bild der Kirche als des Volkes Gottes:

Das Bild der Kirche, das mir gefällt, ist das des heiligen Volkes Gottes. Die Definition, die ich oft verwende, ist die der Konzilserklärung „Lumen Gentium“ in Nummer 12. Die Zugehörigkeit zu einem Volk hat einen großen theologischen Wert: Gott hat in der Heilsgeschichte ein Volk erlöst. Es gibt keine volle Identität ohne die Zugehörigkeit zu einem Volk. Niemand wird allein gerettet, als isoliertes Individuum. […] Das Volk ist das Subjekt. Und die Kirche ist das Volk Gottes auf dem Weg der Geschichte – mit seinen Freuden und Leiden …5

Von dieser Überzeugung aus formuliert der Papst seine Erwartungen an die anderen Amtsträger in der Hierarchie:

Das Volk Gottes will Hirten und nicht Funktionäre oder Staatskleriker. Die Bischöfe speziell müssen Menschen sein, die geduldig die Schritte Gottes mit seinem Volk unterstützen können, sodass niemand zurückbleibt. Sie müssen die Herde auch begleiten können, die weiß, wie man neue Wege geht. […] Man muss gemeinsam gehen: Volk, Bischöfe, Papst. Synodalität muss auf verschiedenen Ebenen gelebt werden.“6

Zeichen und Gesten

Franziskus wählt eine neue Art der Kommunikation: offenherzige und unzensierte Gespräche mit Journalisten auf dem Flug von Rio nach Rom, mit Redakteuren von Jesuitenzeitschriften, mit einem atheistischen Zeitungsverleger, mit einem freikirchlichen Pastor. All diese Worte und Gesten überraschen die Öffentlichkeit.

Auch das hatten wir bislang kaum gehört: Der Papst bekennt sich als Sünder, anerkennt sein autoritäres Verhalten als Jesuitenprovinzial in Argentinien, gesteht zu, dass er sich geirrt habe und auch in Zukunft irren werde. Er erinnert daran, dass die Kirche der Umkehr bedarf – in einer ständigen Reformation; dass der Hofstaat die Lepra des Papstamtes sei, dass die Kurie auf den Vatikan zentriert sei und ihre Weltsicht auf die Welt übertrage; dass der Klerikalismus nicht christlich sei; dass die Kirche nicht der Vergangenheit nachtrauern und restaurativen Bestrebungen nachlaufen dürfe; dass die Hirten den Geruch der Schafe an sich haben müssten und nicht bürokratische Kleriker oder Antiquitätensammler sein sollten; dass Karrieristen in der Kirche nichts zu suchen hätten, sondern Alpinisten werden sollten; dass Zentralismus und autoritäres Verhalten in der Leitung der Kirche zu vermeiden seien; dass die Kirche Jesus nicht in den eigenen Gemäuern festhalten dürfe, sondern ihn begleiten müsse auf seinem Weg an die existenziellen Peripherien, wo Menschen leiden und hoffen, trauern und kämpfen. Die Kirche sei eher eine Art Feldlazarett, in dem die Menschen mit ihrem verwundeten Leben Aufnahme fänden und Heilung erführen, als eine Zollstation mit Kontrolleuren der Gnade. Deshalb habe sie allen imperialen Anschein abzustreifen.

Der neue Bischof von Rom beeindruckt eher durch seine Gesten, Symbole und bildhafte Sprache als durch lange wissenschaftliche Reden oder Enzykliken, die ohnehin nur wenige lesen. Franziskus verwendet die Methode, die auch Jesus praktiziert. In Gleichnissen und in Zeichen wird das Reich Gottes erfahren: die Kranken heilen, den Hungrigen zu essen geben, mit den Sündern Mahl halten, den Jüngern die Füße waschen …

Der Weckruf im Brief an die Kirche

All diese Gesten und aufmunternden Worte werden unterstrichen vom „Weckruf“ des Apostolischen Schreibens, das er „Die Freude am/des Evangelium/s“ (Evangelii gaudium) nennt.

Evangelisieren hat nichts mit Proselytenmacherei zu tun, Mission nichts mit „geistlicher Eroberung“. Das Evangelium ist für den Papst vielmehr „die schönste Botschaft, die diese Welt hat“. Die Botschaft ist kein „Privateigentum“ dieser oder jener Kirche. Sie gehört der Welt. Und sowohl diese wie jene Kirche stehen im Dienst des Evangeliums, nicht über ihm. Dem Evangelium dienen heißt, seine Botschaft von der göttlichen Würde jedes Lebens zu bezeugen. Missionarisch sein heißt, für den Aufbau einer besseren Welt einzutreten. Aber eben ausgehend von den Armen, von den Letzten, von denjenigen, welche die Gesellschaft als „Abfall“ betrachtet. Den Grund dafür findet der Papst im Evangelium selbst:

Der ganze Weg unserer Erlösung ist von den Armen geprägt. Dieses Heil ist zu uns gekommen durch das „Ja“ eines einfachen Mädchens aus einem kleinen abgelegenen Dorf am Rande eines großen Imperiums. (EG, 197)

Bereits an diesen wenigen Worten wird der Zusammenhang der spirituellen Orientierung mit dem politischen, kulturellen und ökonomischen Engagement erkennbar. Politik „ist eine der wertvollsten Formen der Nächstenliebe“ (EG, 205). Deshalb behandelt der Papst auch die Ökonomie nicht als Problem, das im Fachbereich „Katholische Soziallehre“ zu bearbeiten wäre.

Die Wirtschaft müsste die Kunst sein, eine angemessene Verwaltung des gemeinsamen Hauses zu erreichen, und dieses Haus ist die ganze Welt. (EG, 206)

Die realen ökonomischen Verhältnisse sind der konkrete Kontext, innerhalb dessen die Freude am Evangelium sich erst als glaubwürdig erweist. Entschieden erteilt der Papst daher allen Mächten und Gewalten eine Absage, die das Leben von Mensch und Natur bedrohen. Ja, er gibt dieser Absage den Rang des Tötungsverbots aus dem Dekalog: „Ebenso wie das Gebot ‚du sollst nicht töten‘ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern“ (EG, 53), müssen wir heute Nein sagen: Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung, also einer Wirtschaft, die tötet; Nein zur aktuellen Vergötterung des Geldes; Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen; Nein zur gesellschaftlichen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt. (EG, 53–60) Das ist ein völlig neuer Ton und Inhalt gegenüber der bisher bekannten katholischen Soziallehre: Der Papst hält diese Wirtschaft weder für rational noch für säkularisiert, sondern beherrscht vom „Fetischismus des Geldes“. So wie Israel gegen das „goldene Kalb“ zu kämpfen hatte, hat die Kirche heute gegen den Götzendienst von Geld, Markt und Kapital zu kämpfen. Das sind irdische Götter, keine metaphysischen Größen, die jenseits der Wolken in Konkurrenz zum Gott des Lebens treten. Diese irdischen Götter haben vielmehr Macht über die Gedanken, Herzen und Hirne der Menschen gewonnen. Sie verlangen Menschenopfer und bestreiten den Vorrang des menschlichen Lebens. Aber die Menschen merken gar nicht mehr, dass in der Wirtschaft, die tötet, Menschenopfer dargebracht werden. Ihre Gedanken und Herzen sind bereits so verformt, dass sie es für „marktkonform“ halten, wenn Menschen überflüssig gemacht und als Abfall betrachtet werden. Das ist in den Augen von Papst Franziskus die entscheidende Herausforderung für die Kirche: Evangelisieren heißt, den Gott des Lebens zu verkündigen, der will, dass alle leben können, den Gott des realen und konkreten menschlichen Lebens gegen die Götzen des Todes in Stellung zu bringen. Es geht dem Papst nicht mehr in erster Linie um die Bekämpfung von Atheismus, Rationalismus oder Relativismus, sondern um die Entlarvung des Götzendienstes. Nur wenn man Abschied nimmt von den Götzen von Macht und Markt, wird man den Gott des Lebens entdecken, der keine Menschenopfer will. Gott wird Mensch, damit die Menschen ihre göttliche Würde entdecken. An sie knüpft Papst Franziskus an, wenn er den realen und konkreten Menschen, mit Leib, Seele und Geist, daher auch mit seinem Beziehungsnetz zu anderen Menschen und zur Mutter Erde, wieder in seinem Vorrang vor allen gesellschaftlichen Institutionen anerkannt wissen will.

Eine globale Perspektive für eine humane Welt

Seit seinem Amtsantritt setzt Papst Franziskus immer neue Zeichen dafür, dass er eine andere Welt für möglich hält. Die Insel Lampedusa ist sein erstes Reiseziel. Dort verneigt er sich tief vor den Opfern der Abgrenzungspolitik Europas und kritisiert die „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Mit dieser Formel deckt er zugleich auf, dass das Globalisierungsprojekt interessengeleitet organisiert ist. Die Globalisierung ist nicht der „naturwüchsige“ Prozess, als den man sie uns verkaufen will. Auf seiner ersten Auslandsreise nach Brasilien fordert er die Jugendlichen auf, Krach zu schlagen, damit sie nicht einer „kulturellen Euthanasie“ zum Opfer fallen.

Er mischt sich aktiv in die Politik ein: Er appelliert im September 2013 an die in St. Petersburg versammelten G-20-Staaten, einen Krieg in Syrien zu vermeiden, nachdem er mit Christen aus der ganzen Welt auf dem Petersplatz in Rom einen Fast- und Gebetstag für den Frieden gehalten hatte.

Bei seinem Besuch in Jerusalem im Mai 2014 betet Papst Franziskus an der Klagemauer gemeinsam mit dem Rabbiner Abraham Skorka und dem Imam Omar Abboud, die zu seiner Delegation gehören. Danach umarmt er sie dort als Zeichen dafür, dass die Angehörigen der abrahamitischen Religionen einander „als Brüder und Schwestern“ achten und lieben sollten. „Niemand gebrauche den Namen Gottes als Rechtfertigung für Gewalt.“

Im Juni 2014 betet er gemeinsam mit dem israelischen Präsidenten Peres und dem Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas in den Vatikanischen Gärten. Er hatte den Juden Peres und den Muslim Abbas in den Vatikan eingeladen, um sie zu drängen, endlich Frieden im Nahen Osten zu schaffen.

Im Oktober 2014 lädt ein Papst zum ersten Mal die Verantwortlichen von sozialen Bewegungen aus aller Welt zu einem Treffen im Vatikan ein. Zirka zweihundert Männer und Frauen aus allen Erdteilen kommen zusammen, die engagiert sind in den Bewegungen landloser Bauern, ausgeschlossener Arbeitender, VertreterInnen selbstgeführter Betriebe, MigrantInnen und BewohnerInnen von Elendsvierteln. Anwesend sind unter anderen die brasilianische Landlosenbewegung MST, der zambische Obdachlosen- und Armen-Verband, eine kurdische Jugendorganisation aus Syrien sowie eine Vereinigung koreanischer Bäuerinnen. Organisiert vom Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden unter der Leitung von Kardinal Turkson und in Absprache mit den RepräsentantInnen der verschiedenen Bewegungen, ist das Treffen der Frage gewidmet, wie sich die Bewegungen den Herausforderungen von Krieg, Vertreibung, Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit stellen sollen. Sie diskutieren die Ursachen der weltweit wachsenden sozialen Ungleichheit und der Mechanismen von Exklusion. Die drei thematischen Schwerpunkte des Treffens sind: „tierra – techo – trabajo“: Land (Bauern, Landwirtschaft, Nahrungsmittelsouveränität und Umwelt), Wohnraum (informelle Ansiedlungen, Mangel an Wohnraum und arme urbane Peripherien) und Arbeit (informelle Arbeit, Kinder- und Jugendarbeit). Papst Franziskus hält am Dienstag, den 28. Oktober, eine Ansprache, die von einigen Journalisten als „spontane Enzyklika zu Armut und Umwelt“ gewertet wird:

Wir stecken mitten im Dritten Weltkrieg, allerdings in einem Krieg in Raten. Es gibt Wirtschaftssysteme, die, um überleben zu können, Krieg führen müssen. Also produzieren und verkaufen sie Waffen. So werden die Bilanzen jener Wirtschaftssysteme saniert, die den Menschen zu Füßen des Götzen Geld opfern.7

Im November 2014 tritt der Papst vor die in Rom stattfindende Welternährungskonferenz und kritisiert das Paradox, „dass wir genug zu essen für alle Menschen auf der Welt hätten, aber es nicht schaffen, alle zu ernähren“. Grund dafür sei, „dass der Kampf gegen die Unterernährung durch den Vorrang der Märkte und der wirtschaftlichen Interessen behindert wird. Nahrung ist zu einem normalen Rohstoff geworden, mit dem auf Finanzmärkten spekuliert wird.“8

Er arbeitet diplomatisch mit an der Annäherung zwischen den USA und Kuba. Bei einer Zusammenkunft mit neuen Botschaftern verrät er die auch von ihm angewandten Mittel: Als Diplomat habe man es mit einer „Arbeit der kleinen Schritte, der kleinen Dinge“ zu tun.

Der Papst mischt sich weltweit ein. Er macht Politik. Aber anders als zuvor wird weltweit offenbar begriffen, dass er nicht die Interessen des Vatikanstaates christlich garniert vertritt, sondern dass er bei all seinen Interventionen die leidenden und hoffenden Menschen in den Mittelpunkt rückt und dass er an einer Welt mitarbeiten will, in der alle Platz haben, in erster Linie die Verachteten und Getretenen. Die kulturellen Unterschiede zwischen den Menschen sind für Franziskus beim Aufbau einer humanen Welt nicht hinderlich, sondern ganz im Gegenteil: „Reichtum und Ressource“.

Der Bischof von Rom aus Lateinamerika

Hinter all diesen Worten und Gesten steht eine große, einzigartige Geschichte der Kirche in Lateinamerika und der Karibik, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil beginnt. Von dort spannt sich der Bogen dieser Geschichte über die Bischofsversammlungen von Medellín 1968, Puebla 1979 und Santo Domingo 1992 bis nach Aparecida 2007. Keine andere Kontinentalkirche – weder die von Europa, noch die von Asien oder Afrika – hat einen derart intensiven kirchlichen Prozess aufzuweisen. Von ihm ist Jorge Mario Bergoglio in Denken und Handeln mitbestimmt.

Auch die Schuldenkrise Lateinamerikas im Allgemeinen und Argentiniens im Besonderen hinterlässt ihre Spuren im Gedächtnis des ehemaligen Kardinals von Buenos Aires. Sie haften seiner Deutung der Vaterunser-Bitte an. Im Juli 2014, bei einer Predigt im italienischen Isernia, deutet er das Gebet politisch, ohne ausdrücklich die europäische Schuldenkrise zu erwähnen:

„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ In diesen Worten des Vaterunsers steckt ein ganzes Lebensprojekt, das auf Barmherzigkeit gegründet ist. Barmherzigkeit, Nachsicht, Vergebung der Schulden, ist nicht einfach irgendeine fromme, intime Sache, ein spirituelles Beruhigungsmittel, eine Art von Öl, das uns hilft, etwas sanftmütiger, etwas gütiger zu sein, nein. Es ist die Prophetie einer neuen Welt; Barmherzigkeit kündigt eine neue Welt an, in der niemandem das Lebensnotwendige vorenthalten wird, sondern die Güter der Erde und der Arbeit an alle gleichermaßen verteilt sind.9

Das kirchliche Ereignis im brasilianischen Aparecida spielt für Jorge Mario Bergoglios Lebensgeschichte eine entscheidende Rolle. Die 5. Generalversammlung der Bischöfe aus Lateinamerika und der Karibik im Jahr 2007 beauftragt ihn, die Redaktionskommission zu leiten. Diese soll dafür Sorge tragen, dass aus dem Zusammensein unter dem Thema „Jünger und Missionare Jesu Christi – Damit unsere Völker in ihm das Leben haben“ ein Dokument entstehe, das der Kirche Lateinamerikas den Weg ins nächste Jahrzehnt weisen könne.

Was Jorge Mario Bergoglio hier in Aparecida für sein Kirchenverständnis lernt, erzählt er selbst mit bewegenden Worten:

… dass wir uns ausgerechnet in den Katakomben der Kathedrale trafen. Über uns waren die Pilger. Wir hörten deren Gesänge und deren Gebete. Wir hatten also keine Versammlung, die sich sozusagen hinter verschlossenen Türen in einem abgeschlossenen Raum abspielte, sondern waren bei unseren Beratungen täglich mitten in das Pilgergeschehen einbezogen.10

Das Dokument von Aparecida11, das aus diesem Prozess hervorgeht, gewinnt programmatische Bedeutung für das Pontifikat von Papst Franziskus. Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme überreicht er jedem Staatsbesucher im Vatikan das Dokument als Geschenk. Zugleich sendet er damit das Signal: Wer die Art und Weise meines Papstamtes verstehen will, muss das Dokument von Aparecida lesen.

Die pastorale Umkehr zur samaritanischen Kirche, seine Rede vom „Geruch der Schafe“, seine Aufforderung, „raus auf die Straßen“, „an die Ränder“ zu gehen – darin klingt die Erfahrung aus Lateinamerika an und wird zu einer Botschaft für alle Welt.

Aus dem Süden der Kirche, von den Armen, von den an den Rand Gedrängten, von den Frauen, den Jugendlichen, den Indígenas her weht ein neuer Geist.

Dieser Papst aus dem Süden bringt der ganzen Kirche einen neuen pastoralen Stil, der den Weg der lateinamerikanischen Kirche von Medellín bis Aparecida widerspiegelt: die Option für die Armen, die Denunzierung der ungerechten Strukturen der Sünde, den Respekt vor dem Glauben und der Religiosität der einfachen Leute, die Volksfrömmigkeit in Marien- und Heiligenverehrung, die Achtsamkeit für die Mutter Erde, das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes, die immer für Vergebung offen ist.

Ich gehe noch einen Schritt weiter und behaupte: Er knüpft mit seiner spirituell-theologischen Orientierung, seinem Kirchenverständnis, seiner Option für die Armen und seinem globalen Projekt – bewusst oder unbewusst – an die Überlegungen an, die während des Konzils eine Gruppe von Bischöfen veranlasst hatte, die Gruppe „Kirche der Armen“ zu bilden und am Ende des Konzils den Katakombenpakt zu schließen. Diese These gilt es auf den folgenden Seiten zu überprüfen. Der Leser und die Leserin sind eingeladen, im Lichte des Franziskus-Projekts die Geschichte des Konzilsereignisses auf neue Weise deuten zu lernen: wie der Katakombenpakt aus ihm hervorgeht und wie der Katakombenpakt seinerseits neue Wirkungen in der Nachkonzilszeit hervorruft. Aber auch umgekehrt: das Pontifikat von Franziskus im Licht des Katakombenpaktes und seiner Geschichte neu verstehen zu lernen. Es wird sich zeigen, dass in diesem Pontifikat noch andere Faktoren im Spiel sind als ausschließlich die eindrucksvolle Persönlichkeit des Jorge Mario Bergoglio aus Buenos Aires. Wir graben sozusagen in den „Katakomben“ der hinter uns liegenden fünfzig Jahre, um besser zu begreifen, wer mit welchen Interessen und welchen Begründungen das Projekt einer „Kirche der Armen“ verdächtigt, verdrängt, unterdrückt und verfolgt hat; aber auch, wer dieser organisierten Diskriminierung mit welchen Hoffnungen und Wünschen unerschütterlich widerständigen Glauben entgegengesetzt hat. Eine solche Erinnerungsarbeit mag für die herrschenden kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse subversiv wirken. Aber eben sie befreit davon, sich den gerade herrschenden Verhältnissen zu unterwerfen. Auf solche Weise greifen wir das Erbe unserer Väter und Mütter im Glauben kreativ auf und werden dadurch bestärkt, uns den heutigen Herausforderungen mit unseren eigenen Kräften zu stellen.

II. Das Konzil – ein neuer Weg in der Geschichte

Johannes XXIII.: „Die Kirche der Armen“

Papst Johannes XXIII. hält am 11. September 1962, genau einen Monat vor dem öffentlichen Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils, über Radio Vatikan eine Rundfunkansprache zum Konzil.12 Zur damaligen Zeit war der Rundfunk das einzige Kommunikationsmedium, das über eine globale Reichweite verfügte. Dass der Papst dieses Medium nutzt, lässt darauf schließen, dass er seine Vorstellung vom Konzil dem gesamten Globus – und nicht nur der katholischen Welt – persönlich übermitteln will. In dieser Botschaft macht er unmissverständlich deutlich, wie er über das Konzil denkt und welche Richtung er dieser Weltversammlung geben will.

Das Konzil soll die innere Lebenskraft der Kirche zum Leuchten bringen: „Was ist ein Ökumenisches Konzil anderes als die erneute Begegnung mit dem Antlitz Christi, des Auferstandenen?“ Aber zugleich soll angesichts der „Bedürfnisse und Nöte der Völker“ der Sozial- und Gemeinschaftssinn, „der innerlich zum wahren Christentum gehört“, nachdrücklich bekräftigt werden.

Zwei Gedanken aus der Botschaft sind besonders hervorzuheben: die globalisierte Welt und die Kirche der Armen:

Das ökumenische Konzil steht vor seinem Zusammentritt 17 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Zum ersten Mal in der Geschichte werden die Konzilsväter wirklich allen Völkern und Nationen angehören, und jeder wird seinen Beitrag an Wissen und Erfahrung leisten zur Heilung der Narben der beiden Kriege, die das Antlitz aller Länder tief verändert haben.13

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