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Bernhard Welte

Das Licht des Nichts

Von der Möglichkeit
neuer religiöser Erfahrung

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen
von Holger Zaborowski

topos taschenbücher

Bernhard Welte
Das Licht des Nichts

Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Lahn-Verlag, Kevelaer
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1027-5

E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5028-1

E-Pub: ISBN 978-3-8367-6028-7

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim

Verlag Butzon &Bercker, Kevelaer.

Der Text von Bernhard Weltes Das Licht des Nichts wird wiedergegeben nach: Bernhard Welte, Versuche zur Frage nach Gott (= Bernhard Welte, Gesammelte Schriften III, 3), eingeführt und bearbeitet von Holger Zaborowski, Freiburg i. Br. 2008, 118–164.

Umschlagabbildung: kallejipp/photocase

Einband- und Reihengestaltung: Finken &Bumiller, Stuttgart

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

topos taschenbücher, Band 1027

Eine Produktion des Verlags Butzon & Bercker

Vorwort

Es sei mir erlaubt, zuvor die Entstehungsgeschichte der nachfolgenden Studie zu erzählen.

Den Kern des folgenden Gedankens über religiöse Erfahrung habe ich schon in meinem Buch Religionsphilosophie erläutert.1 Der Gesichtspunkt der Erfahrung kommt in diesem Text nur beiläufig vor.

Ich habe diesen Gedanken dann ganz neu ausgearbeitet für einen Vortrag im Rahmen einer Zusammenkunft katholischer Katechetik-Dozenten in Augsburg im Dezember 1978. Hier ging es nun ausdrücklich um die Sache der religiösen Erfahrung, und hier habe ich mich eingehend mit diesem Gesichtspunkt befaßt.2

Ich hatte aber dann Anlaß, auf diese Frage noch einmal zurückzukommen in einem Vortrag im Rahmen der Katholischen Akademie in Bayern im Februar 1979. Darin schien es mir insbesondere notwendig, auf die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Mangels an religiöser Erfahrung und die daraus sich ergebende neue Form religiöser Erfahrung einzugehen.

Schließlich ergab sich die Notwendigkeit, noch einmal auf dieses Thema in einem Vortrag zurückzukommen, und zwar in Jerusalem an der Theologischen Fakultät der Benediktinerabtei Dormitio auf dem Berg Sion und unter Anwesenheit jüdischer Gelehrter der Bar-Ilan-Universität. Das war im April 1979. Dort verlangte es die Situation, die groß-ökumenische Bedeutung der neuen religiösen Erfahrung zu bedenken. Dies geziemt sich an einem Ort wie Jerusalem, weil dort ja nicht nur die verschiedensten Gestalten des Christentums vertreten sind, sondern diese leben in Jerusalem auch eng zusammen mit anderen nichtchristlichen Religionen, vor allem mit dem gläubigen Judentum und mit dem Islam.3

In diesen Vorträgen habe ich zum großen Teil immer wieder die gleichen Beispiele und das gleiche Material verwendet. Aber die Gesichtspunkte waren immer wieder anders. Ich versuche nun in dieser Studie, alle diese Gesichtspunkte zusammenzunehmen zu einem Ganzen. Auch habe ich die einzelnen Schritte des Gedankens, der mir – wie angedeutet – in Stufen heranwuchs, noch einmal überprüft unter Berücksichtigung der regelmäßigen Diskussionen, die sich bei meinen Vorträgen ergaben und aus denen ich nicht weniges gelernt habe. Auch habe ich die Reihen der Zeugen, die ich für den Gedanken anführe, erheblich vervollständigt und genauer zu erläutern gesucht.

So findet man in der folgenden Studie manche Texte, die sich zum Teil auch in anderen Veröffentlichungen finden oder finden werden. Aber alles dies ist nun, wie ich meine, in einen engeren und zugleich umfassenderen Zusammenhang gebracht, es ist in vieler Hinsicht vervollständigt und, wie ich hoffe, auch präzisiert. So darf ich glauben, daß aus dem Alten etwas Neues geworden ist.

Ich danke allen denen, die mich immer wieder durch Fragen und kritische Bemerkungen veranlaßt haben, meinen Gedanken genauer zu fassen.

Freiburg i. Br., den 22. Juli 1979
Bernhard Welte

Zur Einführung

In der neueren Diskussion über die Begründung von Religion und religiösem Glauben ist der Begriff der Erfahrung immer mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt.4 Darin zeigt sich ein starkes Bedürfnis, die Legitimation von Religion und religiösem Glauben im Leben selbst zu suchen, in jenem Zusammenhang also, den wir, lebendig miteinander lebend, unmittelbar empfinden.

Allerdings ist der Begriff der Erfahrung, der aufgrund dieses Bedürfnisses in den Vordergrund gerückt ist, einer genaueren Erläuterung bedürftig. Auch das Lebensbedürfnis selbst, das nach Erfahrung ruft, ist sich zumeist über sich selbst kaum genügend im Klaren, und so muß gerade darüber nachgedacht werden.

Darum wollen wir hier zuerst im Dienst möglicher Klarheit wenigstens einige Grundzüge eines für den religiösen Zusammenhang zulänglichen Begriffs von Erfahrung entwerfen, um von da aus dann auf eine Erörterung heutiger Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten von religiöser Erfahrung einzugehen.

Inhalt

Vorwort

Zur Einführung


I. Über den Begriff der Erfahrung

II. Vom Ausfall der religiösen Erfahrung in der Moderne

III. Über den geschichtlichen Ursprung des Ausfalls der religiösen Erfahrung in der Moderne

IV. Die Erfahrung der Grenze der Moderne

V. Die Erfahrung des Nichts und der moderne Nihilismus

VI. Die Zweideutigkeit des Nichts

VII. Die Gegeninstanz gegen die nichtige Deutung des Nichts

VIII. Die Wende des Nichts als Wende zu neuer religiöser Erfahrung

IX. Die geschichtliche und die groß-ökumenische Bedeutung der neuen religiösen Erfahrung

X. Die Notwendigkeit der Konkretion

Glauben und Denken in dürftiger Zeit

Holger Zaborowski

Anmerkungen

I. Über den Begriff der Erfahrung

1. Kant hat seinerzeit den Begriff der Erfahrung im Zuge seines Neuentwurfs des abendländischen Denkens präzisiert. Er hatte dabei die neu aufsteigende Wissenschaft im Auge, deren Möglichkeiten und deren Begründung er neu aufgerissen hat. So ist sein Begriff der Erfahrung konsequent an dem orientiert, was wir Wissenschaft im Sinne Kants und im Sinne der nachkantischen Zeit nennen, nämlich im Sinne der empirischen oder der Erfahrungswissenschaften oder der rein formalen logischen Wissenschaften.

Der in diesem Zusammenhang von Kant entwickelte Begriff von Erfahrung ist aber – wie man sieht – im religiösen Kontext nicht zu gebrauchen. Darum hat ja Kant zeigen können, daß die Metaphysik als Wissenschaft, nämlich als Wissenschaft im modernen Sinne dieses Wortes, nicht möglich ist. Und Metaphysik heißt für ihn ja vor allem das Wissen um Gott. Es ist nach Kant als Wissenschaft nicht möglich, weil es außerhalb dessen fällt, was Kant im Sinne der Wissenschaft seiner Zeit Erfahrung nennt. Und in der Tat ist die gesamte moderne empirische Wissenschaft in dieser Hinsicht Kant gefolgt. Darum hat Ludwig Wittgenstein in seinem Traktat gesagt: „Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.“5 Gemeint ist damit die wißbare, und weil wißbare, auch sagbare Welt. Die Welt ist aber die Welt der Erfahrungen im Sinne der wissenschaftlichen Erfahrungen.

Allerdings hat sich nun inzwischen gezeigt, daß der Begriff der Erfahrung weit über den Horizont der empirischen Wissenschaft ausgedehnt werden kann und muß. Dies hat bekanntlich schon Hegel getan, indem er die Phänomenologie des Geistes entwarf, von der er in der Vorrede sagte: „Die Wissenschaft dieses Weges ist Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht.“6 Er ging damit so weit über Kant hinaus, wie es überhaupt denkbar ist. Und er hat damit den Begriff der Wissenschaft ebensoweit ausgedehnt. Später hat Nietzsche von Erfahrungen gesprochen, die den Rahmen der exakten Wissenschaften ganz sprengen. Vor allem aber hat nach Nietzsche Husserl mit seinem phänomenologischen Neuansatz auf eine sehr genaue Weise für einen zugleich präzisen und unbegrenzt weiten Begriff von Erfahrung die Grundlagen entworfen. Und später hat Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode einen Begriff von Erfahrung entwickelt, der alle diese nachkantischen Denkanstöße aufnahm und der noch heute als Modell dienen kann für einen Begriff von Erfahrung, der aus der Enge des bloß Empirischen hinausführt, so wichtig dieses auch nach wie vor ist.7 Der hier entwickelte Begriff von Erfahrung steht also durchaus auf der Höhe des heute möglichen Denkens, und seine wesentlichen Elemente dürften gerade im religiösen Zusammenhang, auf den es uns ankommt, höchst relevant sein. Es ist ja auch kein Zufall, daß sich Gadamer selber ausdrücklich auf die theologische Überlieferung bezieht.

Auf diesen neueren und weiteren, aber genauen Begriff von Erfahrung wollen wir uns hier beziehen. So entwerfen wir, im Blick besonders auf die Gedanken von Gadamer und in Abhebung von der Linie, die sich bis Kant zurückführen läßt, einige Grundzüge eines Begriffs von Erfahrung, der für die Frage nach religiöser Erfahrung und damit für die breite moderne Diskussion darüber grundlegend sein dürfte.

2. Demgemäß muß Erfahrung grundlegend als unmittelbare Gegebenheit des zu Erfahrenden bestimmt werden. Das Erfahrene zeigt sich selber in der Erfahrung unmittelbar dem, der die Erfahrung macht. Diese Unmittelbarkeit kann dann freilich verschiedene Stufen und verschiedene Modifikationen haben. Sie kann zum Beispiel ganz unbemerkt und verdeckt, vielleicht sogar verstellt und verdrängt werden, und sie kann doch unmittelbar da sein und sich zeigen. Und solche Unmittelbarkeit kann umgekehrt auch im hellen Licht der Aufmerksamkeit stehen und kann deren Weite ganz und von Anfang an erfüllen. Und dazwischen gibt es viele mögliche Grade, Stufen und Abwandlungen.

3. Die unmittelbare Gegebenheit des Erfahrenen der Erfahrung darf keineswegs als bloße sinnliche Gegebenheit gesehen werden. Bloße Sinnlichkeit, zum Beispiel bloßes Sehen oder bloßes Hören oder bloßes Riechen, ist überhaupt nichts Unmittelbares, vielmehr sind die Gegebenheiten der einzelnen Sinne, vereinzelt und bloß als solche betrachtet, das Resultat einer Vermittlung durch einen Abstraktionsprozeß. Denn wir sehen ja nie bloß farbiges und schon gar nicht bloß physikalisch verstandenes Licht. Wir sehen vielmehr Sachen, Sachverhalte und Sachverhaltszusammenhänge, und diese sind es, die für uns unmittelbar gegeben sind. Auch sind wir niemals bloßes Sehen in Abhebung vom Hören, von den übrigen Sinnen und von dem, was wir Denken nennen können, sondern wir sind immer eine ganze Offenheit, die freilich reich strukturiert ist, und diese ganzheitliche Offenheit ist das Erst-Gegebene, das Unmittelbare. Was wir als Sehen, Hören, Denken usw. zu unterscheiden gewohnt sind, ist unmittelbar und also vor aller sekundären Unterscheidung eine umfassende und ungeschiedene, wenn auch reich strukturierte, ganzheitliche Offenheit auf die Welt hin und Offenheit der Welt zu uns. Und darin zeigen sich unmittelbar welthafte Sachzusammenhänge. Sie sind das Unmittelbare und also das, was sich im Sinne der Unmittelbarkeit dem Erfahrenden als Erfahrung gewährt. In diesem Sinne hat Erfahrung einen ganzheitlichen Charakter. Sie nimmt den ganzen lebendigen Menschen unmittelbar in Anspruch.

Die hier gemeinte Unmittelbarkeit schließt vielfältige Einflüsse aus dem geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem wir Menschen immer leben, keineswegs aus. Immer stehen wir unter solchen Einflüssen. Sie werden für uns am deutlichsten in der Sprache. Die Sprache, die wir sprechen, ist uns immer vermittelt aus dem geschichtlich-gesellschaftlichen Prozeß, in dem wir alle leben. Und solchermaßen vermittelt, ist sie zugleich das Medium aller unserer Erfahrungen. Denn wir könnten ja nicht von Erfahrungen sprechen, ohne überhaupt zu sprechen. Erst in der Sprache werden unsere Erfahrungen deutlich. Also, so sollte man meinen, ist die Rede von der Unmittelbarkeit deswegen fragwürdig, weil auf jeden Fall die Vermittlung durch die Sprache und mit ihr durch alles, was zu ihr gehört, für die Erfahrung unerläßlich ist.

Aber dabei ist zu beachten, daß diese Vermittlung durch die Sprache die zu erörternde Unmittelbarkeit dann nicht aufhebt, wenn die Sprache als Sprache sich rein ihrem Wesen gemäß und also ohne Beeinträchtigung entfaltet. Denn dann sprechen wir nicht Sprache, sondern wir sprechen unmittelbar Sachen und Sachverhalte und Sachverhaltszusammenhänge aus. Und ebenso hören wir auch nicht Sprache, wenn die Sprache gut funktioniert, sondern wir hören von den Sachen und Sachverhalten, von denen gesprochen wird. Die Sprache als Sprache, d. h. als ein für sich bestehendes Medium, verschwindet also in diesem Falle ganz, sie wird vollkommene Durchsichtigkeit für die unmittelbare Gegebenheit der Sachzusammenhänge der Welt. Die Vermittlung durch die Sprache geht also in diesem Falle ein in die Unmittelbarkeit des Gegebenen, die gerade durch die Sprache erst möglich wird. Und so ist es auch mit allen anderen Momenten des geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesses, welche unsere Erfahrungen – allerdings nie ohne Sprache – bestimmen. Alles dies mündet in dem Fall, den wir hier vor Augen haben, ein in die unmittelbare Gegebenheit der sich der Erfahrung gewährenden Sachverhalte und Zusammenhänge.

Nur dann, wenn die Sprache entgegen ihrem eigentlichen Sinn nicht richtig geht, wenn also etwa bloße Worte gesagt werden und diese Worte dann nur äußerlich mit einer gemeinten Sache assoziativ verbunden werden, verschwindet die Unmittelbarkeit der Gegebenheit und damit die Möglichkeit einer Erfahrung in dem hier gemeinten Sinn. Und entsprechend ist es, wenn aus dem gesellschaftlichen Kontext, in dem wir alle leben, lediglich Meinungen und Redensarten auf dem Wege bloßer Anpassung übernommen und nachgesagt werden. Dann wird gleichfalls die Unmittelbarkeit des Gegebenen aufgelöst, ja sie kommt überhaupt nicht zustande, es ist dann alles vermittelt, und so ist nur noch die Rede da, die von keiner Erfahrung mehr Zeugnis gibt.