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Rudolf Schermann

Vinzenz von Paul

topos taschenbücher, Band 1025

Eine Produktion des Lahn-Verlags

Rudolf Schermann

Vinzenz von Paul

Anwalt der Ärmsten

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Lahn-Verlag, Kevelaer

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der

Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1025-1

E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5039-4

E-Pub: ISBN 987-3-8367-6039-3

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

© 2015 Lahn-Verlag in der Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100,

47623 Kevelaer, Deutschland, www.lahn-verlag.de

Umschlagabbildung: http://de.wikipedia.org/wiki/Vinzenz_von_Paul

Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: SATZstudio Josef Pieper, Bedburg-Hau

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Zu diesem Buch

Als Jesus nach Nazaret kam und man ihm in der Synagoge das Buch des Propheten Jesaja reichte, las er davon die folgende Passage vor: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht. Damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ Dann schloss er das Buch, gab es den Synagogendienern und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. Da begann er, ihnen darzulegen: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“

Das „Programm Nazaret“ des Gottesgesandten Jesus wurde verpflichtende Aufgabe für alle seine Jünger bis auf den heutigen Tag. Und es ging nicht um irgendwelche gönnerhaften Almosen, wie in der langen Geschichte des Christentums das „Programm Nazaret“ oft genug missverstanden wurde, sondern um Gerechtigkeit. Logischerweise. Denn Gott kann nicht dulden, dass auch nur ein Mensch, sein Wunderwerk, nicht die gleiche Würde, die gleiche Behandlung bekommt wie alle anderen. Für die Kirche, Christi Volk Gottes, hat jeder Mensch, ob Herr oder Sklave, Staatspräsident oder Müllmann, die gleiche Würde. Ein revolutionierendes, umwälzendes Programm. Seit die Christen aber dank römischer Kaiser zu Macht kamen, ist die Geschichte der Kirche von der Krankheit des Hochmuts und der Machtgier kontaminiert. Bis heute. Zum Glück gab es immer wieder mehr oder weniger erfolgreiche Versuche der Rückkehr zum „Programm Nazaret“. Einige Namen sollen hier ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit genannt werden: Franz von Assisi, die Waldenser, die Mönche von Cluny, einige Orden, zumindest in ihrer ersten Zeit, die Reformatoren, Oscar Romero, Hélder Câmara, Mutter Teresa, unzählige Einzelpersonen, Frauen und Männer, wenn auch mit begrenzter Wirkung. Einen von Papst Franziskus ausgehenden wahrlich epochalen Versuch der Rückkehr zum „Programm Nazaret“ erleben wir alle gerade gegenwärtig. Es ist ein echter Diadochenkampf, den dieser begnadete Papst und wir, seine Schwestern und Brüder mit ihm, im Namen Jesu Christi und seines Programms Tag für Tag gegen eine von der Ideologie des Hochmuts und der Machtgier kontaminierte Kirche führen müssen! Es genügt, die Medien zu konsultieren.

Wie ein Leuchtturm aus der Reihe aller, die sich während der langen Geschichte der Kirche um das Programm Jesu Christi bemüht haben, erhebt sich die Gestalt des südfranzösischen Bauernsohnes Vinzenz de Paul, der wie Papst Franziskus schon mit der Zusammenstreichung seines Namens auf „Depaul“ ein Signal setzte, dass er, der zunächst so sehr auf Karriere und Macht aus war, sich von dem Gift der Eitelkeit und des Hochmuts beizeiten befreite und sein Leben nunmehr der Verwirklichung des „Programms Nazaret“ widmete. Und das mit einer Begeisterung und Vielseitigkeit wie kaum ein anderer in der Geschichte. Natürlich gab es auch andere herausragende Frauen und Männer, die auf dem einen oder anderen Gebiet der Nächstenliebe Großes bewirkt haben. Doch einen, der sich von der Armutsbekämpfung über die Priesterausbildung hin bis zur Befreiung von Galeerenhäftlingen, aber auch als Kriegsgegner und Friedensapostel auf schier allen Gebieten mit ganzer Hingabe einsetzte, gab es außer ihm kaum. Vinzenz Depaul: Ein uomo universale der Gottes- und Nächstenliebe!

Er hat buchstäblich „den Armen eine gute Nachricht gebracht“. Er hat für „Gefangene die Entlassung“ erreicht, „Zerschlagene in Freiheit gesetzt“ und „Blinden (physisch oder psychisch) die Augen geöffnet“.

Lesen Sie das Buch über diesen großen, nach wie vor brandaktuellen Menschenrechtskämpfer und sozialen Helden, der parallel zu der kämpferisch-zornigen Reformation Luthers und Co. eine zweite, weniger spektakuläre, aber durchaus wirksame Erneuerungsbewegung auf den Weg brachte. Die zwei Gesichter der einen Reformation: Während Luther und Co. die eiternde Wunde der Kirche sichtbar machten, eilten Vinzenz und seine Freunde mit der heilenden Salbe herbei. Beide Reformbewegungen waren notwendig im Sinne von „Not wendend“. Und wirken bis heute.

Wien, am 27. September 2015

Rudolf Schermann

I. Ein Mann mit Vergangenheit

Man nannte das Zeitalter, in dem er lebte und wirkte, das Grand Siècle. Und in der Tat: Es war eine Epoche großer Männer und Frauen, Ereignisse und Katastrophen.

Da schreibt Monsieur Molière seine virtuosen Komödien, Corneille seinen Cid, wirkt Shakespeare in Stratford upon Avon; da schaffen Bildhauer wie Michelangelo und Bernini ihre unvergänglichen Werke, malt Rubens seine wohlgenährten Engel, krempeln Leibniz, Bacon, Newton und Descartes das herkömmliche Denken um und Kopernikus, Kepler, Bruno, Tycho Brahe und Galilei gleich dazu das ganze Universum.

Doch in keinem anderen Jahrhundert bilden Licht und Schatten, Glanz und Elend einen so grellen Kontrast wie gerade in diesem Zeitalter.

Ein Jahr, bevor Vinzenz von Paul in dem verlorenen südfranzösischen Nest Pouy bei Dax als drittes Kind des Kleinbauern Jean de Paul und seiner Frau Bertrande von Moras am 24. April 1581 das Licht der Welt erblickt, erscheint das meistgelesene Buch der Zeit: Jean Bodins Dämonomanie, eine blutrünstige Hetzschrift gegen die Hexen. Bodin ist einer der bedeutendsten Männer des Jahrhunderts, sein Lebenslauf spiegelt die ganze üppige und unberechenbare Vielfalt der Lebensumstände im zu Ende gehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert.

Zunächst war er Karmelitermönch, verließ aber nach kurzer Zeit den geistlichen Stand und wurde Professor des römischen Rechts. Später trat er in den Dienst des Königs, erklomm die Würde eines Kronanwalts und starb schließlich an der Pest. Sein Hexenbuch erreichte bis 1698 elf Auflagen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und hatte eine ungeheure Wirkung. Wie eine Epidemie raste der Hexenwahn über Europa hinweg. Daneben blühten schwarze Messen und Teufelsaustreibung, Alchimie und Zauberwesen, Kriege, Mord, Banditentum und Betrug.

Was Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen verschonten, rafften Epidemien und Hungersnot dahin. An den Rudern mächtiger Schiffsflotten saßen Galeerenhäftlinge in schweren Ketten.

Bei ungeduldigen Erben standen Giftmischer und Meuchelmörder hoch im Kurs, es blühte die Prostitution, und im Schatten des Sonnenkönigs trieben sich von rund 17 Millionen Franzosen gleich zwei Millionen als Bettler herum. Die Landbevölkerung ist schmutzig, schlecht gekleidet und heruntergekommen. Sie scheint bisweilen – wie auf den Bildern von Mathieu und Antoine le Nain – in den Urzustand der Wildheit zurückgesunken zu sein.

Das Proletariat des Grand Siècle verfügt über keinerlei Rechte. Es ist auf Gedeih und Verderb ihren Herren, den „großen Hansen“, wie sie Thomas Münzer, der christliche Rebell, ironisch nennt, ausgeliefert.

„Die Adligen“, klagt Richelieu, „erblickten in ihrer Freiheit den Freibrief, schamlos alle Arten verruchter Taten zu verüben, denn sie meinten, unzulässig in ihren Rechten beschnitten zu werden, wenn man versuchte, sie in den gerechten Grenzen von Recht und Billigkeit zu halten.“

Am 26. Oktober 1614, anlässlich der Eröffnung der Generalstände, einer Art Reichstag, sagt der Obmann der Pariser Zünfte, Robert Miron, vor Ludwig XIII: „Die armen Leute arbeiten unablässig, sie schonen weder ihres Körpers noch ihrer Seele, das heißt, sie schonen nicht ihres eigenen Lebens, um das ganze Reich zu ernähren; sie pflügen den Boden, verbessern ihn, legen ihn frei; sie schaffen Nützliches aus dem, was er hervorbringt; es gibt keine Jahreszeit, keinen Monat, keine Woche, keinen Tag, noch Stunde, die nicht unablässige Mühe verlangt. Und von dieser Mühe bleibt ihnen nichts als Schweiß und Elend. Der Erhalt Eurer Majestät, der Erhalt des Klerus, des Adels, des dritten Standes hat ihre Gliedmaßen zum Unterpfand.“

Und in der Tat: Gibt es zwischen den im Namen Jesu geführten Kriegen und vollbrachten Massenmorden eine relativ kurze Periode des Friedens, so können sich die Armen dessen kaum erfreuen.

Was ihnen plündernde Soldaten belassen, raffen unmenschliche Steuer- und Zinsgesetze weg. Die Könige und Herrschaften dürfen alles nehmen, was sie begehren.

Kehrseite des großen Jahrhunderts: Während Abertausende in bitterer Armut und in einfachsten Behausungen leben, verschlingen allein die Prunkbauten des Sonnenkönigs unvorstellbare Summen. Ein Drittel davon entfällt allein auf Versailles mit seinen Gärten und Wasserspielen. Das Schloss, das Fouquet, der im Jahr 1661 gestürzte Minister Ludwigs des XIV., in Vaux errichtet, ist 18 Millionen Livres wert. Für die königlichen Gärten mussten drei Ortschaften vom Erdboden verschwinden. Sie wurden, ohne die Leute zu befragen, geschleift, nachdem sie immerhin aufgekauft worden waren. Der Bauer musste, ohne Rücksicht auf den Ernteertrag, einen Grundzins in Silber und Naturalien entrichten. Rückstände durften rückwirkend neunundzwanzig Jahre lang eingetrieben werden.

Zu den hohen Pachtgebühren gesellten sich unzählige Abgaben-Verpflichtungen kirchlicher und weltlicher Art. Das schöne Wort Heinrichs IV., das wie ein neuzeitliches Sozialprogramm klingt: in keiner französischen Familie dürfe Sonntags das Huhn im Topf fehlen, war ein Politikerbluff. Fleisch gehörte zu den Privilegien der Stände, Geflügel und Wild blieben dem Adel vorbehalten.

Fische wurden wenig genossen, die Transportschwierigkeiten waren zu groß. Brennholz war teuer, die Straßen schlecht und die Flussfahrtrinnen durch privilegierte Mühlenbesitzer beengt.

Die Salzknappheit führte zu einer geradezu inquisitorischen Eintreibung der Salzsteuer. So komisch es für uns heute klingen mag: Man fahndete nach Leuten, die zwecks Würzung ihrer Speisen Süßwasser mit Meereswasser mischten, um sie wegen Salzsteuer-Hinterziehung zu bestrafen.

Entsprechende Hausdurchsuchungen aufgrund von Denunziationen waren an der Tagesordnung. Fast ein Drittel der Sträflinge des Landes kam wegen Salzdelikten hinter Gitter. Die Salzsteuer wurde erst durch die große Revolution abgeschafft.

Nicht anders verhielt es sich auch mit der Getränkesteuer. Der Feudalherr bestimmte die Weinlesezeit, wodurch nicht selten die Ernte verdarb und der Verlust sehr hoch ausfiel. Ungerechte Sonderrechte der Reichen sorgten dafür, dass der Gewinn dessen, der den Weingarten eigentlich bearbeitete, in bescheidensten Grenzen blieb. Das in Weingärten grassierende Wild – Delikatesse am Tisch der Adeligen – durfte nicht getötet, nur mit Steinwürfen verscheucht werden. Gegen durchgaloppierende Jagdherren und ihr Gefolge gab es nicht einmal diese Abschreckungsmöglichkeit. Da konnte man in ohnmächtiger Wut höchstens die Fäuste ballen.

Wir verweilten etwas ausführlicher bei der Schilderung der sozialen und gesellschaftlichen Zustände der Zeit, da auch Vinzenz von Paul aus diesem „triste milieu“ des Jahrhunderts stammte. Anders gesagt: Er war ein Kind des zeitgenössischen Proletariats.

Diese Tatsache – von seinen bürgerlichen Biografen äußerst unscharf gelassen – bestimmte seine Grundhaltung und sein späteres soziales Engagement ganz entscheidend. Sein stiller Trotz, seine stille Abneigung gegen „die da oben“, sein Proletarierbewusstsein kommen in vielerlei Gestalten und durchs ganze Leben hindurch zum Vorschein. Der etwas unterspielend-ironische Satz: „Ich bin nur ein Schweinehirt und der Sohn eines armen Dörflers“, gehörte zu seinen Standard-Redewendungen.

Um wegen des Wörtchens „von“ in seinem Namen keinerlei adelige Assoziationen aufkommen zu lassen, zog er es mit seinem Familiennamen zusammen und unterschrieb hinfort mit „Vincent Depaul“. Er bevorzugte außerdem die schlichte Bezeichnung „Monsieur Vincent“.

„In meiner Heimat“, schreibt er später, „nährt man sich von einem kleinen Samenkorn, man nennt es Hirse, die man in einem Topf kocht. Zur Essenszeit wird sie in ein Gefäß geschüttet, alle Hausbewohner setzen sich um es herum, nehmen ihre Mahlzeit ein und gehen dann an die Arbeit zurück.“

Immer wieder wird in ihm dieses Proletarier-Bewusstsein – später durch einen vertieften Glauben geformt und bestätigt – durchbrechen. So sagt er in einer seiner später berühmt gewordenen Ansprachen: „O Herr, gib Du den Geist Deines Priestertums, den die Apostel und ihre Nachfolger, die ersten Priester, besaßen. Gib uns den wahren, großen und göttlichen Geist dieses geweihten Standes, den Du in arme Fischer, Handwerker und arme Leute jener Zeit gesenkt und ihnen aus Deiner Gnade heraus übertragen hast. Denn, Herr, auch wir sind nur geringe Leute, arme Arbeiter und Bauern.“

Oder: „Ich darf einen armen Bauern oder eine arme Frau nicht nach ihrem Äußeren oder nach der Tragweite ihres Geistes beurteilen. Oft genug haben sie überhaupt kein ‚Gesicht‘, noch weniger den Geist denkender Menschen. Sie sind grob und erdhaft. Aber drehen Sie die Medaille um, dann werden Sie im Lichte des Glaubens sehen, dass der Sohn Gottes, der arm sein wollte, uns in diesen Armen entgegentritt. Auch er hatte in seiner Passion kaum noch ein menschliches Gesicht. Er galt bei den Heiden für toll, bei den Juden als Stein des Anstoßes. Und in alledem war er fähig, der Evangelist der Armen zu werden: Den Armen das Evangelium zu predigen bin ich gesandt! Die Armen sind schön anzuschauen, wenn wir sie in Gott und in der Achtung sehen, die Jesus Christus für sie hatte! Nur wenn wir sie vom Körperlichen her und im verweltlichten Geiste betrachten, erscheinen sie verächtlich.“

Bis dahin war es freilich noch ein langer Weg.

Trotz aller Impulse, die sich aus der Tatsache nährten, dass Vinzenz zwar aus keiner bettelarmen, doch stark unterprivilegierten sozialen Schicht stammte, wird er nicht zu einem erbitterten Sozialrevolutionär wie etwa Thomas Münzer. Dazu ist er zu oberflächlich, zu bequem. Seine Einstellung ist nicht die eines Mannes mit einem starken Solidaritätsbewusstsein – sosehr auch spätere Biografen seine angeblich bereits in den Jugendjahren sichtbar gewordene soziale Gesinnung hervorheben –, sondern die eines Individualisten, der versucht, dem „triste milieu“ zu entkommen.

Seine Zielvorstellung lautet: Ausbruch aus dem „triste milieu“ durch gesellschaftlichen Aufstieg in einen der Stände des herrschenden Establishments. Auch er möchte ein „großer Hanse“ sein, einer von der High Society seiner Zeit. Das bürgerliche Streben nach Karriere scheint ihm die einzige Möglichkeit zu bieten, seine Absetzung vom „gemeinen Volk“, zu dem er gehört, zu vollziehen.

Von den drei Ständen: Klerus, Adel und Bürgertum, steht ihm eigentlich nur der Weg in den ersten Stand offen. Da sich als schnellster Weg, sein gestecktes Ziel zu erreichen, die kirchliche Laufbahn anbietet, beschließt Vinzenz, Priester zu werden. Wie für Heinrich IV. ist auch für ihn Paris „eine Messe wert“.

Jenes Paris, in dem auf ihn im Dunstkreis höfischer Courtoisie und verschwenderischen Prunkes – bei entsprechender Protektion – ein Leben in Glanz und Gloria warten könnte. Die kirchliche Karriere verspricht Prestige, fette Pfründe und sorgloses Leben. Die Vorstellung, aus dem vierten gleich in den ersten Stand katapultiert zu werden, ist verständlicherweise verlockend. Dazu erlaubt die damalige Vorstellung vom Priesterberuf eine sehr großzügige Lebensweise. Von den Kandidaten gilt, was Abbé Brémond einmal über Richelieu sagt: „Er fürchtet die Hölle; er liebt die Theologie; er ermangelt nicht völlig des Interesses an den Dingen Gottes; aber im Grunde ist sein Reich von dieser Welt.“

Die Pläne des jungen von Paul decken sich mit den Sehnsüchten seiner Eltern. Sie hoffen – und das mit einigem Recht – auf ein sorgenfreies Alter. Die fetten Pfründe des Priestersohnes sollen die Realisierung dieses Wunsches ermöglichen.

Schließlich erinnerte man sich eines Cousins namens Etienne de Paul, der es immerhin zum Prior von Poymartet gebracht und seiner Familie ähnliche Dienste geleistet hatte. So kommt Vinzenz zu den sogenannten schwarzen Franziskanern, den Cordeliers, nach Dax.

Die Internatsspesen bewegen sich in erträglichen Grenzen. Die Bildung entspricht den Kosten; sie ist recht mittelmäßig. Doch für Vinzenz ist das Tor des Kollegiums das Tor zu den Verheißungen der Feudalgesellschaft. Er will von dem, was er hinter sich lässt, nichts mehr wissen.

„Ich erinnere mich“, schreibt er später, „dass man in dem Kollegium, in dem ich studierte, mir meldete, mein Vater, der ein armer Bauer war, verlange nach mir. Ich lehnte es ab, mit ihm reden zu gehen.“

Es ist eigentlich erschütternd, wie sehr die Scham über die eigene soziale Situation bereits das Bewusstsein des jungen Schülers prägt. Gleichzeitig verrät sie den ungeheuren Druck des Wohlstands- und Prestigedenkens der Feudalgesellschaft, deren Leitbilder sich, was Geld und Geltung betrifft, von den Vorstellungen der heutigen bürgerlichen Wohlstandsgesellschaft kaum unterscheiden. „Ich erinnere mich, dass mein Vater mich als kleinen Knaben in die Stadt mitnahm. Weil er schlecht gekleidet war und ein wenig hinkte, schämte ich mich, mit ihm zu gehen und mich zu meinem Vater zu bekennen.“

Vinzenz ist begabt und beliebt. Als ein Herr Comet, Advokat am Gerichtshof in Dax und Richter in Pouy, für seine Kinder einen Hauslehrer sucht, schlägt ihm der Pater Guardian den jungen von Paul vor. Vinzenz wird im Hause Comet alsbald zum Familienmitglied. Der Hausherr ermuntert ihn unablässig, die kirchliche Laufbahn zu ergreifen. In einer Zeit, in der zehnjährige Knaben zu Bischöfen geweiht und zu Kardinälen ernannt werden, stellt es keine Besonderheit dar, wenn Vinzenz, von Comet protegiert, bereits am 20. Dezember 1596 die Tonsur und die niederen Weihen erhält.

Selbst die Priesterweihe lässt nicht allzu lange auf sich warten. Um freilich auch eine möglichst fette Pfründe ergattern zu können, bedarf es einer akademischen Ausbildung an einer Universität, die einen guten Ruf hat. Das kostet Geld, aber Vater Jean de Paul ist nichts zu teuer, um das Studium seines Sohnes zu finanzieren.

Er verkauft ein paar Ochsen, und Vinzenz kann an der im Jahr 1230 gegründeten Universität von Toulouse inskribieren, zu deren Professorenkollegium vor nicht allzu langer Zeit auch Hexenjäger Bodin gezählt hatte.

Wir wissen nicht sehr viel über die Studienjahre des jungen Depaul. Möglicherweise bestritt er auch hier seinen Lebensunterhalt, nach dem Verbrauch der väterlichen Starthilfe, durch Nachhilfeunterricht. Jedenfalls ist er noch nicht zwanzig Jahre alt, als ihm der Bischof von Périgueux, François de Bourdeille, in seiner Privatkapelle am 23. September 1600 die Priesterweihe erteilt.