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Das Wasser ist resedagrün und mit Schaum gesprenkelt. Ich stehe neben Kaltesophie und betrachte ein Schiff. Weit draußen ein helles Schiff, ein Leuteschiff, ein Feiertagsschiff, aus dem unverhofft ein dunkles, betäubendes, himmelschreiendes Heulen hervordringt. Ich schlage lang hin und breite die Arme aus. Kaltesophie stellt mich wieder auf und drückt mich mit dem Rücken an eine Hauswand. Wieder und wieder jagt das Schiff dieses Heulen aus sich heraus. Ich halte mir die Ohren zu und höre es trotzdem. Ich bin vollkommen eingehüllt in die Sirenentöne. Ich starre es an und kriege nicht heraus, ob es wegfährt oder sich nähert. Ich will, daß das Schiff aufhört zu brüllen und herkommt. Meine erste Erinnerung ist das Toben einer Schiffssirene auf der offenen See vor Cuxhaven-Duhnen.
Noch jahrelang hat Kaltesophie, wenn Besuch kam, erzählt, wie ich verlorenging. Sie hatte mich am Strand ausrufen lassen.
Geswucht wird ein Mädchen, vier Jahre alt, dunkel, mit einer roten Propellerschleife und langen goldenen Ohrringen. Es ist nackt und streckt den Bauch vor. Wer das Mädchen gesehen hat, melde sich bitte sofort bei der Strandwache.
Dann zeigte sie ein Foto herum, groß wie ein Küchentablett, und ich kroch unter den Eßtisch.
aufessen
aufessen
der Teller wird leergegessen bis zum letzten Happen
rein in den Mund und schlucken
schlucken
schlucken nicht vergessen
kau nicht ewig auf derselben Kartoffel herum
bitte
nimm den Schieber nicht in den Mund
zum Essen ist der Löffel da
mit dem Schieber wird das Essen auf den Löffel
geschoben
rein in den Mund
kauen
schlucken
ich bleibe so lange neben dir sitzen bis der Teller leer ist
Ein Fremder begleitete uns zum Kurkonzert und an den Strand.
Ach, die wunderhübschen Schleifen, die sie trägt.
Die sehen abends auch anders aus als morgens.
Die Augen, die Haare, sie muß aber ganz nach dem Vater kommen.
Nimm deinen Eimer und die Schippe und geh buddeln!
Karl befand sich in Altheide und kurierte sein Herz.
Und die Wärme des Hauses, in dem wir ein Zimmer haben
und die Wärme der Heuschober, wo ich meine Arme reinstecke
und die Wärme des Kuhstalls, wo ich mich verkrieche
und die Wärme in den Milcheimern, wo heimlich meine Hände untertauchen
und die Wärme der Wasserlachen, wo ich bei Ebbe drin sitze
und die Wärme der Modderpampe am Strand
und die Wärme, wie Concordia ankommt, extra von Berlin uns besuchen kommt und mich hochnimmt und mich auf den Brunnenrand setzt
die große Concordia ist da
Concordia, alt, riesengroß, dünn, grauhaarig, in einem langen geblümten Kleid
Concordia in Knopfstiefeln
und die Wärme, wenn sie mich ins Bett bringt und vorsingt.
Maikäfer flieg
dein Vater ist im Krieg
dein Mutter ist in Pommernland
Pommernland ist abgebrannt
Maikäfer flieg.
Eines Tages stehe ich auf dem Gang vor einer Zimmertür. Die Türen gehen auf den Korridor, und mir fährt eine Tür über die nackten Füße. Ich trug dann Badeschuhe, trotzdem habe ich seitdem verkrüppelte Nägel an den großen Zehen.
Kaltesophie ist für ein paar Tage nach Helgoland rübergefahren, und ich habe Concordia für mich allein. Sie geht mit mir im Hafen und überall spazieren. Das Kurkonzert sparen wir uns.
wie es dröhnt und prasselt auf dem Rückweg von der Kugelbake zurück zurück die Seen schlagen über die Mole schlagen an die Steine an die seitlichen Befestigungen schlagen über uns hinweg die See rollt über meinen Kopf hinaus so naß so stark so weich klatscht es mir ins Gesicht ich habe Schaum im Gesicht und sehe nichts mehr Concordia hält mich an der Hand die rutscht ihr dauernd weg dann hält sie mich am Arm zieht mich und die Seen treiben uns an den Rand der Mole Concordia hält mich fest und zurück wir laufen nicht mehr wir waten wir treiben wir stoßen gegen die Wassermengen vor es peitscht mal hoch mal tief vorwärts wir sind selber schon ganz Wasser fliegendes Wasser am Strand liegen alle Körbe auf dem Rücken und keine Spur mehr von einer Burg
Längst wieder zu Hause in Berlin, richtiger: in dem Vorort, der am weitesten nach Osten liegt. Und so stelle ich mir, den späteren Erzählungen nach, folgenden Dialog vor.
Hast du denn erwartet, daß ein Kind, was mit drei erst laufen lernt, dauernd verschwindet und wegrennt und ist unauffindbar?
Weit kann sie ja nicht sein, bist du nicht hinterhergegangen? Hast du sie nicht gesucht?
Das kleine Luder hat sich seit vier Stunden nicht mehr blicken lassen.
Ihre Frau ist überall herumgelaufen und hat gefragt.
Ich wollte erstmal warten, bis du nach Hause kommst.
Warum bist du nicht zur Polizei gegangen, wenn sie nicht in der Nachbarschaft ist?
Damit sich alle den Mund zerfetzen.
Wir gehen jetzt los, soll Tante Mieze hier unten warten, ob sie von allein wiederkommt.
Ich wollte zum Bahnhof, Karl abholen, und bin aus Versehen am Dämeritzsee gelandet. Zwei Mädchen haben mich aufgelesen und nach Hause gebracht. Kaltesophie hat mich nicht geschlagen. Ich habe Karl gesagt, daß ich den ausgebrochenen Spinat wieder aufessen mußte. Kaltesophie hat gesagt, sie lügt doch wie gedruckt, aber sie hat mich nicht geschlagen.
Wir besitzen ein Paddelboot, das ist in einem Bootshaus am Flakensee untergebracht. Wenn wir ausfahren, schlingt Karl eine Wäscheleine um meinen Bauch. »Ich hab dich einmal rausgezogen, das kann auch schiefgehen.« Wir paddeln die Löcknitz rauf und runter. Zwischendurch steigen wir aus und gehen in einem Gartenlokal Kaffee trinken. Oder wir haben Kartoffelsalat mit und halten an einer Badestelle.
Im ersten Kriegswinter hat mir Kaltesophie zu Weihnachten eine überlebensgroße Babypuppe geschenkt, für die sie im Laufe der nächsten drei Jahre so viele Kleider gehäkelt und gestrickt und bestickt hat, daß Karl gezwungen war, mir einen Puppenkleiderschrank zu bauen.
Ihr Haar ist recht dünn und noch zu kurz, aber wenn man ein bißchen zieht, kriegt man schon richtige kleine Zöpfe raus. Sieh mal, Karl, wie das aussieht mit den beiden großen Schleifen. Frau Ederling hat heute, als wir im Laden standen, gesagt, wunderhübsch, wie Sie das Kind anziehen, bestrickt und bestückt von Kopf bis Fuß, und die Schleifen sehen ja aus wie Schmetterlinge. Und das Kleidchen, was ich ihr jetzt häkele, rosaumrandet, wie das zu dem Grün paßt, ich würde es mir am liebsten selber anziehen. Morgen fahre ich mit ihr nach Köpenick rein zu Kepa und suche passende Schleifen aus. Na, nun kommt essen.
sitz gerade beim Essen
Ellbogen vom Tisch
man spricht nicht mit vollem Mund
erst schlucken dann reden
halt die Füße still
kau nicht ewig auf dem einen Bissen herum
beeil dich
wozu ist eigentlich der Schieber da
Im Kindergarten spielen wir »Die Mahlzeit«.
Auf dem Boden liegt ein Apfel, den darfst du dir holen. Aber: du mußt kniend auf dem Boden vorwärts rutschen und mußt dich dem Apfel mit einem Stock in den Kniekehlen nähern. Während du dich kniend auf den Apfel zu bewegst, greifen deine Arme zwischen den Beinen unter dem Stock durch auf den Boden. In dieser Haltung versuche nun, mit dem Mund den Leckerbissen zu erbeuten.
Der Apfel kann auch in eine Schüssel Wasser gelegt werden. Dann wird gefischt, aber kniend und mit dem Mund.
Ich kriege jeden Tag einen Apfel mit, den werfe ich auf dem Weg zum Kindergarten in den Kanal, bis Gisela Mohn mich verpetzt und Kaltesophie mich durchhaut.
Es gibt keine Bananen mehr.
Kaltesophie sagt: Das liegt am Krieg.
Karl sagt: Die Engländer sollten mal eins aufs Haupt kriegen, aber sonst.
Karl fettet die Spazierstöcke ein und breitet Wanderkarten aus. Kaltesophie zählt und sortiert und bügelt und faltet und zählt nochmal nach. Koffer werden gepackt, mein Löffel und der Schieber liegen obenauf. Dieses Jahr fahren wir alle zusammen ins Gebirge. »Klettern, wandern, – sie muß ihre Beine stärken. Pack nicht so viel Kleider ein, Schuhe sind wichtiger.«
Das Gepäck wird mit der Bahn vorausgeschickt und ist nicht da, wenn wir ankommen. »Immer dasselbe«.
Hinter dem Haus, in dem wir zwei Zimmer gemietet haben, erstreckt sich eine endlose Liegewiese bis zum Fuße des Berges, der mit Fichten bestanden ist. Der Wald steht als schwarze Wand vor unseren Fenstern, und je nach Wetter nähert er sich oder entfernt sich. Ich weiß nicht, was derweile mit der Wiese geschieht.
Ich stehe früh auf und laufe ans Fenster, und mit einemmal hängen die Wolken so tief, daß ich darüber deutlich wieder Bäume erkenne. Die Wolken fliegen über die Wiese, rund um das Haus, und über den Wolken Bäume. Die Spitzen der Fichten klettern den Berg hinauf.
Im Haus neben uns, es ist mit Holz verkleidet, beschnitzt und bemalt, wohnt ebenfalls eine Urlauberfamilie. Karl und Kaltesophie haben sich schnell mit denen bekannt gemacht, und ich spiele mit dem Sohn. Der Junge ist älter als ich, größer und heißt Hermann. Vor dem Kaffeetrinken komme ich allerdings nicht zum Spielen, erstmal die Berge rauf und runter.
Karl natürlich vorneweg. An seinem Gürtel hängt ein Emailletäßchen, in seiner rechten Hand läßt er den Spazierstock kreisen, er spielt Propeller und Windmühlenflügel. Sein Stock ist schon voller Plaketten.
Hier wachsen andere Pflanzen, manche haben Blätter wie Regenschirme, und die Farne sind größer als ich.
»Was unter zehn Kilometern ist, kann man nicht als Wanderung bezeichnen. Das ist besseres Spazierengehen, und dazu brauchen wir nicht ins Eulengebirge zu fahren.«
Also weiter getrabt und gesprungen und getrampelt und geschlichen und die Füße durchgescheuert und zurückgeblieben und gejammert und herbeigerufen und gerastet und an einer Quelle aus dem Emailletäßchen Quellwasser getrunken und auf und weitermarschiert und nach dem sogenannten Ausruhen taten die Füße noch viel mehr weh.
Karl natürlich immer noch vorneweg und singt besonders gern, wo er ein Echo erwartet, und singt Lützows wilde verwegene Jagd und ein anderes Lied, von dem ich nur zwei Zeilen erinnere: Und dennoch hab ich harter Mann so manches Mal gewaahahaint.
ich habe Zeit ich kann warten bis du aufgegessen hast
hier wird nichts übriggelassen
bei mir wird aufgegessen
na los schon
kauen ja und schlucken nicht vergessen
sowas habe ich schon einmal erlebt
mit meiner Christa
die sechs Stunden an einer Pflaume herumgekaut hat
sechs geschlagene Stunden an einer Pflaume
wer bin ich denn
das passiert mir nicht nochmal
bei mir wird alles aufgegessen
Kaltesophie neigt den Kopf und sagt, den Mund voller Torte: Gut, du darfst aufstehen.
In meiner Erinnerung, und die trügt wahrscheinlich, standen mindestens hundert Tische im Gartenlokal. Alle Sommergäste bei Kaffee und Kuchen unter Linden oder Kastanien oder Ahornbäumen, in blitzsauberen Kleidern, einander in Fröhlichkeit, die von Tisch zu Tisch sprang, überbietend, und die und wir Schnurrbärte aus Sahne und braungebrannt.
Darf ich aufstehen?
Kannst du keinen Moment still bei uns sitzenbleiben?
Laß sie gehen, sie ist ja fertig.
Na, meinetwegen. Aber nicht auf die Straße! Nicht das Grundstück verlassen!
Aus Silberpapieren von Zigarettenschachteln und Schokoladentafeln hatten wir uns, Dorfkinder und Sommerkinder, einen kleinen Ball geformt. Damit spielten wir Fußball auf der Dorfstraße, unter der ein Bach verlief: egal, wo man die Straße überquerte, man ging über den Bach. Der rauschte und lag ziemlich tief. Nicht weit vom Gartenlokal war ein gemauerter Zugang zum Wasser, das über eine Steintreppe erreichbar war. In dieser tosenden Höhle hatte ich die Waschfrauen verschwinden sehen und sie nicht beneidet um ihren Untergang.
Wer den Ball hatte, versuchte, ihn dorthin zu stoßen, wo er selber als Nächster wieder herankam. Als ich am Ball war, stieß ich ihn vorsichtig, aber doch ganz nahe an den Rand der brodelnden Tiefe. Kein anderer sollte sich zwischen mich und den Ball schieben können. Irrtum: der Junge aus der Urlauberfamilie im Haus neben uns rempelte mich hart an und stieß mich mitsamt dem Ball in die Tiefe. Heulend und patschnaß fand ich mich zwischen Steinbrocken im Wasser und kroch zerschlagen die Treppe zur Straße hinauf.
Da stand auch schon Kaltesophie, das Wasser übertönend mit Gebrüll. Sie hob mein triefendes Kleid hoch, zog mir die Hose runter und schlug und schlug.
Inzwischen waren alle Gäste aus dem Gartenlokal herbeigestürzt, ebenso die Dorfbewohner. Umkreist von Kindern und Leuten verdrosch sie mich nach Strich und Faden mitten auf der Straße.
Ich denke mir was aus.
Ich bleibe die nächste Nacht aufrecht im Bett sitzen.
Ich warte, bis mir was Passendes einfällt.
Ich weiß, mir fällt was ein, darauf kann er Gift nehmen.
Ich schlafe nicht ein.
Ich nicht.
Ich binde den Gürtel von meinem Nachthemd am Bettpfosten fest.
Ich kann gar nicht einschlafen.
Ich stelle mir was vor, was Schreckliches.
Ich bemühe mich, nichts Schreckliches auszudenken.
Ich kann gar nicht anders, als mir was Schreckliches ausdenken.
Ich zahle es ihm heim, der soll sich noch wundern.
Ich weiß, daß er mich mit Absicht gestoßen hat.
Ich weiß, wo er wohnt.
Ich weiß, in welchem Zimmer.
Ich weiß, daß die jeden Abend ihre Schuhe rausstellen.
Ich zermartere mir den Kopf.
Ich schlafe natürlich ein.
Ich werde wach.
Ich habs und gehe ans Werk.
Beim Schuppen ein Flaschenhaufen, dort finde ich Steine und nehme mir eine Wein- oder Bierflasche vor, jedenfalls grün. Dort zerschlage ich eine Flasche zu kleinen, immer kleiner werdenden Brocken, Scherben, Splittern und sammle die Splitter in eine Konservendose. Ich stehle mich zwei Morgen später und noch vor dem Frühstück – »Du gehst mir weder vor dem Frühstück noch nach dem Abendbrot einen Schritt vor die Tür!« – also noch vor dem Frühstück ins Nachbarhaus, und da stehen tatsächlich seine Schuhe vor dem Zimmer.
und rein mit den Splittern in die Schuhe nicht alle nicht zu viele daß sie nicht gleich hervorkollern und nach vorne in die Spitzen geschüttelt und raus aus dem Nachbarhaus niemand hat mich beobachtet niemand mich gefragt den Jungen hab ich bis zu unserer Abreise nicht mehr gesehen und zurück wieder in mein Bett ich bin nochmal davongekommen.
Endlich wieder bei Concordia. Sie umarmt mich und setzt mir Malzkaffee in einer bemalten Tasse vor. Bei ihr kann ich mich wärmen und ausruhen. Concordia hantiert in der Küche, tappt von dort in den Garten, kehrt mit einer Schürze voll Pflaumen zurück und rührt einen Brei aus Obst und Weißkäse an. Sie fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn, dann bindet sie sich die Schürze ab und kramt das Schachspiel hervor, nachdem sie sich die Hände an der Schürze abgewischt hat. Ich will nicht, mich interessieren die Termitenbauten in Uluguru viel mehr. Bitte, zeig mir das Zigarettenbilderbuch von Afrika und lies vor.
Afrika ist für uns vorbei und erledigt.
Ach wo, lies doch bitte vor.
Omarururivier zur Trockenzeit. Wie fast alle Flüsse Südwestafrikas führt er nur zur Regenzeit oberirdisch Wasser. Andererseits ist das Anschwellen, das sogenannte Abkommen bei plötzlichen Regenfällen so gewaltig, daß Mensch und Vieh nicht Zeit finden, sich vor den Fluten zu retten und elendiglich umkommen.
Herero und Buschmann. Die Hereros gehören zu den hochstehenden Bantuvölkern Südafrikas. Diese ihre Herden über alles liebenden Viehzüchter waren groß, oft herkulisch gebaut. Ihre geistige Befähigung war keineswegs gering, aber ihr Charakter war wenig ansprechend. Hochmut, Anmaßung und besonders Grausamkeit waren für sie bezeichnend. Im größten Gegensatz zu den Hereros stehen die zwergenhaften, unstet durch die Wüsten und Steppen Deutsch-Südwestafrikas wandernden Sammler und Jäger, die nur 150 cm großen Buschmänner.
Wir spielen im Kindergarten »Negertanz«.
Mehrere oder mindestens zwei Kinder fassen sich bei den Händen und versuchen, einander auf die Füße zu treten. Wer einem anderen Kind dreimal auf die Füße getreten hat, scheidet aus. Das letzte Kind ist der Verlierer.
An meine verkrüppelten Zehennägel denkt dabei niemand.
Karl hat mir den Weg zum Bahnhof eingeprägt, mit Festpunkten, die ich auswendig lerne und mir unterwegs laut vorspreche.
Wenn ich rauskomme, gehe ich Richtung Marktplatz, und auf der Seite bleibe ich auch. Ich lasse die Gärtnerei Landgraf rechts liegen und gehe weiter, so daß ich an Eberts Tischlerei vorbeikomme, gegenüber hat Mutter Wolfen gewohnt, ich gehe die Wilhelmstraße runter, bis sie zu Ende ist. Dann biege ich nach links um die Ecke und überquere die Straße bei der Sparkasse. An der nächsten Ecke gehe ich rechts rum, und schon bin ich auf der Kanalbrücke zwischen Dämeritzsee und Flakensee. Ich gehe über die Brücke, sehe drüben und unter mir den Laden von Uhrmacher Kalisch liegen, daneben das Studio des Fotographen Harupka. Ich aber bleibe auf der Straße, bis ich die Eisenbahnunterführung sehe, kurz vorher überquere ich noch einmal die Straße und stehe direkt vor der Treppe, die zum Kindergarten hinauf führt.
Kaltesophie hat mich meinen Namen, Alter und Adresse auswendig lernen lassen.
Concordia hat mir beigebracht, meinen Namen auch schreiben zu können, vorerst in kleinen Buchstaben. Anfangs hielt sie eine Schiefertafel bereit und Griffel, später kramte sie summend eine Blechschachtel hervor, Faber-Bleistifte, und legte einen winzigen Bleianspitzer und einen Radiergummi neben mein Heft. Sie ließ mich Buchstaben für Buchstaben nachzeichnen, während sie jedem einzelnen eine märchenhafte Geschichte andichtete. Zuletzt schrieb ich die beiden Wörter als Ganzes. »Es heißt nicht Nachname, sondern Familienname!«
Frau Düring ist alt und weiß geheimnisvolle Sätze, die sich auf Pflanzen reimen. Anstatt Guten Tag sagt sie: Nessel, schmerzhaft drückt mich deine Fessel.
Karl trägt mich abends huckepack in mein Zimmer.
Karl bringt mich ins Bett.
Karl liest aus dem Zigarettenbilderalbum »Deutsche Hausmärchen« vor.
Karl erzählt vom Kaiser und vom Sedanfest.
Karl erzählt vom ersten Weltkrieg und zeigt mir seine Narben.
Karl hat eine Narbe im Genick und eine neben dem Herzen.
Karl hat in seinem Nachttisch ein Eisernes Kreuz.
Karl gehörte zur Truppe der Gebirgsjäger.
Karl sagt: Bei uns durfte keiner unter einsfünfundachtzig sein.
Karl ist größer und fast so groß wie Concordia.
Karl ist zu Fuß über die Alpen, hin und zurück.
Karl ist zu Fuß über die Karpaten, hin und zurück.
Karl muß mir jetzt mal Jorinde und Joringel vorlesen.
Karl liebt das Märchen von Rapunzel.
Karls Firma heißt so ähnlich wie Köllnrottweil.
Karl lehrt mich seine Telefonnummer, wenn mal was ist.
Karl ist früher manchmal Jäger gewesen.
Karl hat unsere Veranda voller Hörner und Geweihe gehängt.
Karl sagt: Das sind nicht bloß Staubfänger, jedes hat eine Geschichte.
Karl muß unbedingt die Gänsemagd vorlesen, die habe ich am liebsten.
Karl singt: Wem Gott will rechte Gunst erweisen.
Karl sang als Kind bei den Berliner Domspatzen.
Karl sagt zu Kaltesophie: Soffie – du brummst.
Karl liest nochmal die Gänsemagd: Jetzt ist aber Schluß.
Ich konnte einigermaßen meinen Namen schreiben, als Kaltesophie mit mir wie üblich zur Sparkasse ging, um auf mein Sparbuch zwei Mark einzuzahlen. Es handelte sich regelmäßig um einen funkelnagelneuen Schein, denn Karl brachte nur neues Geld mit nach Hause, worauf ich sehr stolz war.
Concordia: Wenn er nichts kann, Geld drucken lassen kann er.
Kein Fältchen dran, der sieht wieder aus wie selbstgemacht, sagte der Schalterbeamte lächelnd. Ich habe ihn extra gebügelt, antwortete Kaltesophie und zwinkerte dem Mann seltsam zu. Der Bankbeamte beugte sich über seine Barriere und ließ mich selber einen Zettel unterschreiben, weil er wußte, daß ich das schon kann. Er sprach mich mit »junge Dame« an. Noch schrieb ich mich klein, aber ich schrieb meinen Namen.
Dieser infernalische Gestank wieder, ich schäme mich zu Tode. An nicht einem, an keinem einzigen Morgen steht die Göre aus dem Bett auf, ohne daß die Matratze, daß das Laken, ja sogar das Oberbett klatschnaß sind. Die kriegt ab jetzt keinen Tropfen mehr zu trinken beim Abendbrot, keinen Schluck mehr ab mittags. Und nachts werde ich sie regelmäßig zweimal wecken und auf den Topf setzen. So geht das nicht weiter. Nirgends gibt es dermaßen große Gummiunterlagen. Ich bin vollkommen ratlos und weiß auch gar nicht, wie ich das Zeug und wo trocknen soll. Auf dem Hof etwa, vor aller Nachbarn Augen?
Patsch – eine Backpfeife.
Zu faul, nachts aufzustehen, was?
Patsch – ein Katzenkopf.
Ist dir wohl zu weit zum Nachttopf?
Patsch – eine Kopfnuß.
Wenn du noch einmal das Bett naßmachst!
Pengpeng – rechts und links eine geklebt.
Alles nur aus Gemeinheit gegen mich!
Ritsch – noch ein Backenstreich.
Verschwinde in deinem Zimmer, verdammte
Pißjule!
Drrrr – an den Zöpfen hin und her.
Willst mich vor allen Leuten unmöglich machen!
O du Falada, da du hangest,
O du Jungfer Königin, da du gangest,
Wenn das deine Mutter wüßte,
Das Herz tät ihr zerspringen.
Und in dem Feld setzte sie sich wieder hin und fing an, ihr Haar auszukämmen.
Ich gehe nicht an den kleinen Barren.
Ich gehe im Kindergarten nicht ans Reck.
Ich habe Angst vor dem Turnen.
Ich werde feige genannt und eine Memme.
Ich sage keine Liederstrophen auf.
Ich kann kein s sprechen, kein l, kein sch.
Ich erhalte täglich die Aufgabe, laut vorzusprechen.
Ich soll sagen: Esel essen Nesseln nicht, Nesseln essen Esel nicht.
Ich kann auf dem Hof auf den Ahornbaum klettern.
Ich kann über den Maschendrahtzaun klettern.
Ich kann schnell laufen: Du bist doch kein Junge.
Ich kann beim Schattenspielen den bösen Wolf an die Tapete werfen.
Ich habe eine Sicherheitsnadel aufgebogen.
Ich schreibe überall meinen Namen hin.
Ich ritze ihn mit der Nadel in Tische, Stühle, Fensterbretter ein.
Ich soll sagen: Sechshundertsechsundsechzig sächsische Schuhzwecken. Die andern lachen sich kaputt.
Kaltesophie ist nicht groß. Sie geht Karl bis an die Schulter. Karl und seine Schwester sind groß. Onkel Egon geht Concordia bis an die Schulter. Ich wachse schnell. Karl sagt: Wenn du so weitermachst, kannst du mit fünfzehn aus der Dachrinne trinken.
Du mit deinem Gequassel, bringst mich ganz durcheinander.
Wenn ihr die Leiter unter den Füßen weggleitet, bin ich schuld. Wenn ihr beim Abschrecken der Nudeln – Concordia: Nudeln schreckt man nicht ab! – das Sieb wegrutscht und das Essen in den Ausguß strömt, daß es aussieht wie ein blasses Schlangennest, bin ich schuld. Wenn sie ihre Brille verlegt hat und mit aufgeschlagenem Lokal-Anzeiger von der Küche ins Wohnzimmer segelt, auf der Kredenz landet, hinüber zum Buffet und von dort zum Sofatisch flattert und zwar vergeblich, bin ich schuld. Wenn ihr bei allzu heftigem Abwaschen ein Zinken aus der Aluminiumgabel bricht, bin ich schuld.
Kaltesophie hat schwarze, dauerkrause Haare. Sie hat dunkelbraune Augen. Ihre Lippen sind dünn, besonders die obere. Am wichtigsten sind ihre Augen, nicht zu vergessen die schwarzen zuckenden Brauen. Sie ist nicht schlank, nicht dick und wird von ihren Bekannten als hübsch bezeichnet.
Ich finde Concordia hübscher. Sie hat hellgraue Haare, die sie tagsüber mit Kämmchen hochsteckt. An Feiertagen nimmt sie eine Brennschere und legt das Haar in Wellen. Zum Geburtstag schenkt Kaltesophie Concordia Porzellan. Concordia schenkt Kaltesophie ein Buch. Karl liest die Bücher, die Concordia seiner Frau schenkt.
Karl liest Gustav Freytag. Kaltesophie liest Gustav Frenssen. Concordia liest Flaubert. Sie ist schon zweiundsechzig Jahre alt.
Einmal, als ich aus dem Kindergarten kam, sah ich vor dem Fischladen in der Bismarckstraße einen Jungen stehen, den wollte ich sofort als Bruder haben. Hätte ich zaubern können, würde ich ihn ohnmächtig machen und mit nach Hause nehmen und in meinem Zimmer verstecken. Schon von weitem gefiel mir seine Haltung, er hielt den Kopf so hoch und hatte krause dunkelbraune Locken. Er war größer als ich, nicht viel älter und trug einen Arm angewinkelt und im Gipsverband. Ziemlich unwillig anwortete er mir, er habe sich den Arm gebrochen und heiße Reinhold Wagner und sein Vater sei nämlich Lehrer. Freundlich war er eben nicht, und ich habe ihn wieder aus den Augen verloren, obgleich er nicht weit von uns wohnte, gleich in der Friedrichstraße gegenüber der Kirche. Ach, hätte ich doch wenigstens solche Lederhosen wie der.
Mittlerweile hatte ich mehrere Sicherheitsnadeln erobert und sie gerade gebogen. Bei denen, die ich schon länger benutzte, krümmte sich durch starkes Aufdrücken die Spitze, wodurch vorne ein zierliches Häkchen entstand. Mit diesem Häkchen ließen sich Beize und Lack leichter durchdringen, und ich kam besser an die äußeren Holzfasern.
Als mich eines Vormittags die Kindergärtnerin bei der Arbeit unterbrach, um »ein paar Tische vor mir zu retten«, stach ich ihr ein paarmal in den Arm. Sie setzte einen Brief auf, den ich Kaltesophie übergeben sollte, und sagte, ich sei für den Kindergarten untragbar und gestorben. Sie sagte, ich bräuchte hier nie wieder aufzutauchen, und schickte mich nach Hause.
Kaltesophie war dermaßen entsetzt, daß sie mit dem Brief erstmal zu Tante Mieze hinauflief, bevor sie mich mit dem Besenstiel versohlte. Ins Bett!
Karl: Wenn wir den Krieg gewinnen, kaufen wir uns ein großes Motorboot.
Unglaublich, nach den Wolkenbrüchen gestern wieder das herrlichste Wetter, und ich sehe nach, klar, es handelt sich um einen jüdischen Feiertag, ahnte ich es doch, mein Leo hatte recht, recht hatte er, die werden vom lieben Gott bevorzugt behandelt, ist das Wetter nicht Beweis genug, es kann noch so trübe oder wild sein, an einem jüdischen Feiertag geht die Sonne auf und steht da und scheint uns ins Gesicht, aller Sturm vergessen, umgefallene Bäume vergessen, die abgedeckten Dächer, sowas, gestern standen wir noch unter Wasser, und heute ist eine Witterung, als befänden wir uns im sonnigen Süden, verstehen tue ich es nicht, ich sehe nur, mein Leo hatte recht, die haben mit ihrem Gott einen Sondervertrag abgeschlossen, na, verdient haben sie das nicht, und Leo schon gar nicht, daß an seinen Feiertagen ein Himmel blaut wie auf Postkarten, so unschuldig ist er wirklich nicht gewesen, und dann wieder, wenn ihre Festlichkeiten vorüber sind, geht’s wieder los mit Nieselregen und Landregen und Dauerregen und Schauerregen, als wüßte Gott nicht genauso gut wie ich, daß Leo im ersten Krieg ganze Waggons mit Pelzen verschoben hat, der Ganove der, dem nicht beizukommen war, bloß gut, daß ich ihn rechtzeitig durchschaut habe, sonst wär ich noch mit dem ins Standesamt gelaufen, immer piekfein angezogen, der Herr Verlobte, und angegeben wie ’ne Lore Affen, höflich, zärtlich, ach wie gern habe ich ihn gehabt, und dann eines Tages verschwunden, auf Nimmerwiedersehen, mitten im Krieg und mitten in Antwerpen, einfach nicht mehr aufgetaucht, und was hatte ich davon, die Sonne an seinen Feiertagen, ach der.
Zur Kur, Herr Doktor?
Tja, vielleicht helfen Solbäder.
Wir sitzen im Heim abends am Kamin und lernen:
Wir haben das Kohorn geschnihitten mit unserem goldenen Schwert.
Wir werden in Zweierreihen zum Badehaus geführt und lernen, wo rechts und wo links ist.
Rechts ist die Hand, mit der ich den Löffel halte.
Rechts ist der Fuß, mit dem ich den Ball anstoße.
Rechts ist die Hand, die ich hochheb beim Grüßen.
Rechts ist der Fuß, den ich zuerst anziehe.
Wir gehen im Gleichschritt durch die Stadt und betrachten ein Denkmal von Gneisenau und Nettelbeck.
Wir sitzen auf einer Lichtung um ein Feuer, und die Leiterin singt zur Klampfe.
Wir besuchen im Hafen – »Ich habe einen Cousin, der ist Matrose« – ein Boot, das Minen sucht, damit andere Boote nicht von unten her entzweigehen.
Wir stolpern auf dem Boot bei jeder Tür über die erhöhten Schwellen, meine Schienbeine sind schon fast durch.
Wir hören, daß das Boot unten aus Holz ist, um nicht selber Minen abzukriegen.
Wir sitzen abends am Kamin, und die Leiterin spielt auf dem Schifferklavier: Blaue Jungs, blaue Jungs.
Ich komme inmitten vieler Kinder am Lehrter Bahnhof an, und Mütter und Väter stürzen uns entgegen. Kaltesophie ist auch da. Ich habe eine Menge zu erzählen.
Was hast du denn da in den Haaren? Wo sind denn die Schleifen geblieben? Wie siehst du denn überhaupt aus? Das ist doch Strippe, reine Strippe, die du da in den Zöpfen hast.
Noch in der Bahnhofshalle wird mein Koffer inspiziert, an dessen Deckelinnenseite sich das sorgfältig eingeklebte Inhaltsverzeichnis befindet.
Ich stelle nur eins fest, es sind sämtliche Schleifen weg.
Dafür habe ich nicht ins Bett gemacht, nie.
Das interessiert mich jetzt nicht. Komm du mir mal erst nach Hause. Laß du uns erstmal unter vier Augen sein.
Es war weit vom Lehrter Bahnhof bis raus zum östlichsten Vorort von Großberlin.
Concordia, Onkel Egon, Karl und Kaltesophie sind alle noch im vorigen Jahrhundert geboren. Concordia ist zwei Jahre älter als Onkel Egon und zwölf Jahre älter als Karl. Karl ist vier Jahre älter als Kaltesophie.
Concordia und Karl haben als Kinder im Lustgarten den Kaiser gesehen, als ein Pfund Pflaumen nur sechs Pfennige gekostet hat. Sie sind in Berlin am Cöllnischen Ufer groß geworden. Sonntags erhielten sie zwei Sechser für die Kollekte, damit gingen sie in eine nahegelegene Konditorei und kauften sich für einen Groschen Kuchenbrocken. Sonntags saßen sie an der Spree und aßen süße Krümel.
Kaltesophie geht nicht in die Kirche: Beten kann ich auch im Wald.
Karl geht ebenfalls nicht in die Kirche: Ob es nicht doch ein höheres Wesen gibt?
Tante Mieze geht jeden Morgen um sechs in die Kirche. Kaltesophie sagt: Katholiken sind falsch. Concordia sagt: So’n Blödsinn!
Concordia und Karl hatten noch drei Geschwister. Ihre Eltern sind als Saisonarbeiter aus Polen gekommen und blieben. Der Vater arbeitete als Königlicher Kutscher, die Mutter konnte kein Wort Deutsch. Sie stammten aus Wolomin. Concordia war die Älteste, Karl der Jüngste, die anderen sind früh gestorben. Das heißt, Hermann ist erst später gestorben, er hat drei Dutzend Schreibhefte voller Gedichte hinterlassen, Gelegenheitsgedichte.
Wo liegt überhaupt Wolomin?
hör auf zu husten hör auf hör endlich auf zu husten wozu haben wir dich eigentlich zur Kur geschickt hööör aaaauuff ich halte das nicht länger aus du hast doch gar nichts hör auf zu husten der Arzt hat gesagt du hast gar nichts erst hat er gesagt Solbäder bitte schön Solbäder und wozu das alles du bist nicht krank du hast überhaupt keinen Husten Herrgottimhimmelnochmal halt den Mund sage ich dir schlucks runter und hör auf zu husten du hast einfach keinen Grund zu husten weder erkältet noch Asthma noch Bronchitis nichts nichts weiter als Theater Karl sag du ihr doch mal sie soll aufhören zu husten tut gerade so als würde sie ersticken die will mich bloß auf die Palme bringen jetzt reichts mir aber gleich setzt es was daß dir der Husten vergeht aber gründlich und für immer ich kann das nicht mehr ertragen
Im zweiten Kriegswinter stand zu Weihnachten ein langer Schlitten halb aufgerichtet an der Wohnzimmerwand. Naturfarben und mit breiten, blitzenden, gewölbten Kufen. Der reicht für drei Kinder: Na, weil ihr doch meistens im Liegen fahrt, auf dem Bauch. Dabei habe ich mir die ersten Kinnhaken geholt.