Dorothee Degen-Zimmermann

Mich hat niemand gefragt

Die Lebensgeschichte der Gertrud Mosimann


Limmat Verlag

Zürich

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Ich sitze auf der Schaukel und bekomme dünnen, weissen Brei gelöffelt, darin schwimmen dunkle Flecken. Ich versuche sie mit meinen Fingern herauszuklauben, sie schmecken am besten, es sind Weinbeeren. Es ist schwierig, sie sind schlüpfrig wie Fischchen.

Das ist eine meiner frühesten Erinnerungen. Ich war damals im «Pilgerbrunnen» und etwa drei Jahre alt. Dass sich viele meiner Erinnerungs«bilder» mehr am Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn orientieren als am Sehen, liegt nicht nur an der Art kleiner Kinder: Ich sah schon damals fast nichts.

Einmal haben sie mich putzig zurechtgemacht mit Haarschleifen und einem niedlichen Röckchen. Ich stehe auf der Treppenstufe und kann mich nirgends festhalten. Alle wollen, dass ich lache, und der Mann tut so aufgeregt und schwatzt immerzu von einem Vögelein. Aber ich sehe kein Vögelein, ich sehe nicht einmal den Mann. Ich mag nicht lachen, ich habe Angst vor dem Mann, Angst vor dem Vögelein, Angst, ich könnte die Treppe hinunterfallen. Sie sollen nicht so lachen und ein Geschrei machen! Schliesslich hebt mich die Schwester hoch. Sie zieht mir das schöne Kleidchen aus, es gehört nicht mir, ich habe es nur für die Fotografie ausgeliehen bekommen.

Die Foto gibt es, man sieht mir meine Verstörtheit an. Der «Pilgerbrunnen» in Zürich – damals, vor der Eingemeindung von Altstetten und Albisrieden, noch am Stadtrand – war eine Maternité für ledige Mütter, die hier die letzten Wochen vor der Geburt verbrachten und für ihren Lebensunterhalt arbeiteten. Wenn sie nicht selbst für ihre Kinder sorgen konnten, wurden diese noch bis zu zwei Jahren im «Pilgerbrunnen» betreut, bis sie in einer Pflegefamilie oder in einem Heim untergebracht wurden. Die Maternité wurde von Diakonissen geleitet, die für Zucht und Ordnung sorgten und kräftig darauf hinwirkten, dass sich die jungen Mütter – «gefallene Mädchen» nannte man sie damals – bekehrten. Meine Mutter soll in der Nacht vor meiner Geburt den Heiland angenommen haben.

Hier wurde ich am 29. April 1916 geboren, zwei Monate nach dem 23. Geburtstag meiner Mutter, die selbst noch ein Kind war. Sie hatte keine Ahnung, das naive Geschöpf! Sie soll erst im sechsten oder siebten Monat erfahren haben, dass sie schwanger war. Eine Freundin hatte sie darauf aufmerksam gemacht. Was nun? Bei den zwei frommen Schwestern Rupflin in Zizers, wo sie diente, konnte sie nicht bleiben. Heim nach Biel? Das kleine Häuschen war auch ohne sie schon zu voll, und das Urteil über eine ledige Mutter unbarmherzig. Dann war da in Biel noch der Stauffer, der Kindsvater, und die ältere Schwester Ida riet heftig davon ab, dass sie sich weiter mit dem einlasse. Die Freundin, die sie über ihren Zustand aufgeklärt hatte, ein Dienstmädchen aus Österreich, wollte ihr zur Flucht ins Ausland helfen, aber dazu hatte sie den Mut nicht. Irgend jemand wusste dann vom «Pilgerbrunnen» in Zürich.

Nach meiner Geburt vermittelten die Diakonissen meiner Mutter eine Stelle als Küchenmädchen in der Epileptischen Anstalt. Dort hielt sie es nur ein Jahr aus, sie fürchtete sich immer, wenn einer der Patienten in der Küche umfiel und schäumte. Dann kam sie ins Bethanienheim hinauf, wieder in die Küche, dort blieb sie viele Jahre. Sie war gut aufgehoben, hatte rechtes Essen und ein Unterkommen, aber sie verdiente fast nichts.

Die Vormundschaftsbehörde nahm sich meiner an. Mein Erzeuger wurde ausfindig gemacht. Er versuchte sich aus der Verantwortung zu stehlen, ohne Erfolg, und wurde zum Zahlen aufgefordert. 25 Franken monatlich musste er für mich bezahlen, später 35, bis er arbeitslos und aus der Pflicht entlassen wurde.

Ich blieb drei Jahre lang im «Pilgerbrunnen» in Pflege. Gewöhnlich wurden die Kinder nach zwei Jahren an einem andern Ort untergebracht, aber ich hatte noch nicht laufen gelernt, die Rachitis hatte meine Beinchen krumm und schwach gemacht. So durfte ich noch ein Jahr länger bleiben. Dann kam ich in eine Pflegefamilie.

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Ich sitze auf dem Stubenboden, auf dem Tüchlein, das die Frau für mich ausgebreitet hat. Die Nische hinter der Stubentür ist meine Welt. Was weiter weg ist, ist verschwommen. Wenn sich etwas bewegt, ist es die Frau, manchmal auch die Mutter.

Ich bin allein. Ich habe meinen kleinen Ball. Der rollt mir manchmal weg, ich rutsche auf dem Po umher und greife und taste, bis ich ihn wieder erwische. Dann ziehe ich mich wieder in meine Ecke zurück. Hier soll ich bleiben, hat die Frau gesagt. Ich soll keine Unordnung machen, hat sie gesagt. Sie putze nicht gern. Sie putzt aber doch gern. Wenn sie nicht im Laden ist, putzt sie. Ich höre ihre Schritte auf der Treppe. Sie ist zufrieden, dass sie mich auf dem Tüchlein findet, ich bin ein braves Kind. Sie bringt mir Proches (zerbrochenes Gebäck) aus der Bäckerei oder angebrannte Guetzli. «Weisst, Trudeli, am Mittag bekommst du Makkcharoni und Salat.» Wie das kratzt und krost im Hals, wenn sie «Makkcharoni» sagt, sie widerstehen mir schon in den Ohren.

Am Sonntagnachmittag kommt die Mutter zu mir. Wie ich mich freue, wenn ich ihre Stimme höre! Ich laufe auf meinen unsicheren Beinen in den verschwommenen Nebel auf das Etwas zu, dessen Stimme ich kenne. Sie lacht und herzt mich. Wir gehen miteinander spazieren. Sie spielt mit mir Verstecken, sie muss nur ein paar Schritte weglaufen, dann sehe ich sie nicht mehr. Ich weine vor Entsetzen, ich bin ganz verloren und mausallein in der Welt. Aber da bewegt sich etwas, das ist ja das Muetti, ich habe es gefunden! Stolz halte ich es fest und will es nicht mehr loslassen.

Ja, spielen mag das Muetti mit dem Kindlein, spielen und jemanden haben, der einen anlacht und «Muetti» zu einem sagt. Aber sorgen für das Kind? Und zahlen, von dem mageren Dienstenlöhnlein etwas abgeben? Von frühester Kindheit an lässt mich die Frau, die meine Mutter ist, spüren, dass ich ihr eine Last bin, die sie zu gerne abgeschüttelt hätte.

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Meine Mutter ist nicht zufrieden mit meiner Pflegemutter.

«Die Frau hat zu wenig Zeit für das Kind», klagt sie der Grossmutter, «es hat zu wenig Bewegung, und es bekommt immer nur Makkaroni und Salat. Es isst nicht gut, sieh mal, wie klein und mager es ist.»

Die Grossmutter will es nicht glauben. «Makkaroni und Salat? So etwas Gutes sollte das Kind nicht essen?»

«Nein, wenn ich es sage! Bestimmt isst es keine Makkaroni!»

«Aber wenn ich sie koche, isst es, glaubst du?»

Ein lustiger Wettstreit ist zwischen den Frauen ausgebrochen. Ich mag es, wenn es lustig zu und her geht. Die Grossmutter macht sich am Herd zu schaffen, es brutzelt in der Pfanne und riecht so fein. Ich koste, es schmeckt anders als das, was ich gewohnt bin, Grossmutter hat Butter und ein Ei dran getan, das löffle ich mit Eifer. Und neben mir sitzt die Grossmutter und kostet ihren Triumph aus.

Grossmutter wohnt in Biel, immer noch in dem mickrigen Häuschen an der Burggasse, in dem meine Mutter und ihre zehn Geschwister gross geworden sind. Sie ist eine winzige Person und hat eine hohe, jammernde Stimme und immer etwas zu klagen. Meine Mutter nimmt mich mit zu ihr, als ich etwas mehr als drei Jahre alt bin. Dort begegne ich auch meinem Vater, das einzige Mal in meinem Leben. Aber ich erfahre erst viel später, dass es mein Vater war: Wir gehen den Kanal entlang, und Muetti spricht mit einem fremden Mann. Bevor er weggeht, drückt er mir einen Fünfliber in die Hand. Den schliesse ich fest in mein Fäustchen und lasse ihn nicht mehr los, auf dem Heimweg nicht, beim Essen nicht und auch während des Mittagsschlafs nicht. Muetti will ihn mir wegnehmen, «damit du ihn nicht verlierst». Meine Finger umklammern das Geldstück nur um so fester. Muetti lockt und säuselt und schimpft und droht, ohne Erfolg. Dann schlägt sie mich. Voller Wut schleudere ich den Fünfliber in die Zimmerecke: «Da hast du ihn!» Sie habe ihn ja nur in mein Sparkässeli tun wollen. Ob sie ihn nicht doch irgendwann gebraucht hat? Item, sie hat ihn gewollt, und ich, ich wollte ihn nicht mehr.

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Nach jenem Besuch bei der Grossmutter in Biel muss sich meine Mutter entschlossen haben, einen andern Pflegeplatz für mich zu suchen. Sie spricht bei der Vormundschaftsbehörde vor, und ich komme zu einem Ehepaar Schneller. Aber auch mit diesem Pflegeplatz ist meine Mutter nicht zufrieden.

«Die verwöhnt dich und lehrt dich dummes Zeug. Jetzt bist du doch sauber gewesen, nun machst du wieder in die Hosen. Überhaupt, so eine junge Frau mit einem alten Mann. Die hat ihn wohl geheiratet, damit sie bald erben kann. Die möchte ein Kind, unbedingt ein Kind, und er ist zu alt, sie kriegt ihn nicht mehr hin, macht ihm Liebestränklein, tut ihm Vergissmeinnicht in den Most, um ihn zu locken, nützt alles nichts. Sie will dich adoptieren, will mir mein Trudi wegnehmen. Am Sonntag, wenn ich es zum Spazieren abholen will, schläft es immer, und sie sagt, ich kann es jetzt nicht wecken. Dabei ist sie am Morgen extra mit dem Trudi auf den Üetliberg gelaufen, damit es nachher müde ist und schläft, wenn ich komme. Aber ich lasse mir mein Kind nicht wegnehmen, nein, es ist mein Kind, ich habe es unter dem Herzen getragen und mit Schmerzen geboren, nein, ich gebe es nicht her, nie gebe ich es her.»

So kommt es, dass ich innerhalb eines knappen halben Jahres zum dritten Mal den Pflegeplatz wechsle.

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Ich werde von einem grossen, schlanken Mädchen mit langen Zöpfen abgeholt. Es kommt mit einem Leiterwagen und fragt nach meinen Sachen. Ich habe einen braunen Puppenwagen, dazu Mutters Japankörbchen mit den Kleidern und der Puppe. Vertrauensvoll lege ich meine kleine Hand in Hedis rechte Hand, mit der linken zieht es den Leiterwagen. Zusammen wandern wir im Nieselregen die Badenerstrasse hinaus in die Kalkbreite. Von Anfang an ist mir wohl bei Hedi.

Ich lebe vier Jahre bei Familie Bucher. Sie zieht in diesem Zeitraum mehrmals um und ich mit ihr. Die Bucherin ist eine grosse, sehr dicke Frau und, gelinde gesagt, exzentrisch. Sie ist launisch und unberechenbar, manchmal freundlich, dann wieder missgelaunt und schimpfend. Sie soll einen Hirntumor haben und leidet fast immer an Kopfschmerzen. Sie verkehrt in spiritistischen Kreisen. Ob ihre geistige Verwirrung dem ersten oder dem zweiten Umstand zuzuschreiben ist, kann ich nicht sagen. Sie brummt häufig vor sich hin und ruft manchmal laut den verstorbenen Grossvater oder irgendwelche Geister an. In diesem Zustand nimmt sie mich nicht wahr, vergisst mich manchmal regelrecht. Möglicherweise haben die häufigen Wohnungswechsel mit dem Geisteszustand der Bucherin zu tun.

Zu meinem Glück ist Hedi da, bei meiner Ankunft etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt. Es ist immer freundlich zu mir und vermittelt mir Geborgenheit. Eigentlich bin ich nicht bei der Bucherin zu Hause, sondern beim Hedi. Sein Zwillingsbruder Walter treibt seine Spässe mit mir, lässt mich auf den Knien reiten und schwingt mich wild herum. Einmal schlage ich dabei den Kopf so heftig an, dass die Beule heute noch zu sehen ist. Der Bucher ist nicht der leibliche Vater der beiden Kinder, er ist gut zu ihnen und zu mir, ein bedächtiger Mann mit dunklem Schnurrbart.

Am Abend nimmt mich Hedi in die Küche. Wir putzen Schuhe miteinander, ich kratze den Dreck weg, Hedi reibt die Wichse ein, und ich glänze sie. Diesen Teil der Arbeit liebe ich besonders, ich bin stolz, wenn ich die Schuhe auf Hochglanz polieren kann. Hedi singt viel, und ich brumme mit. Ich darf mir Lieder wünschen, «Petrus schliesst die Türe zu» oder «Die lieben gold'nen Sterne» – Gassenhauer und Heimatlieder.

Manchmal flickt der Bucher abends in der Küche die Schuhe. Oder er rasiert sich, und ich muss ihm Papier bringen, damit er das Messer daran abwischen kann. Voller Interesse betrachte ich den Rasierschaum mit den komischen Härchen drin – ich muss ihn ganz nah vor die Augen halten, um sie zu sehen –, bevor ich das Papier in den Abfalleimer werfe. Nach der Arbeit behandelt er den Rücken seiner Frau mit dem Violettstrahler und macht ihr einen Eiswickel. Das Eis muss ich in Würfeln oder Scheiben beim Metzger holen. Er wickelt ihren ganzen Kopf ein, zuletzt sieht man nur noch den Mund, die Nase und knapp unter dem Verband die Augen, zum Fürchten! So geht sie zu Bett, das soll ihre Schmerzen lindern.

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Am Sonntag hat Hedi Zeit, da spielen wir Verkäuferlis miteinander. Es holt die Zuckerdose im Büffet und die Haferflocken und füllt kleine Schächtelchen damit. Wir sind ins Spiel vertieft, da kommt die Bucherin in die Küche wie ein Gewitter. Sie überblickt den Tisch – habe ich vielleicht ein Schächtelchen umgestossen? – und fährt Hedi an: 

«Was machst du da?» Und schlägt mit dem Geschirrtuch auf Hedi ein. Ich brülle vor Entsetzen!

«Du darfst Hedi nicht schlagen, Mame! Hör auf, hör auf!»

Endlich lässt sie ab und geht aus der Küche. Mich schütteln die Schluchzer. Hedi weint nicht. Es legt seinen Arm um mich und tröstet mich: 

«Das ist lieb, dass du dich für mich gewehrt hast, Trudeli. Aber weisst, die Mame ist halt krank, da kann man nichts machen.»

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Manchmal trifft es auch mich. Die Bucherin schlägt hart zu, bis zum Nasenbluten. Dann giesst sie mir kaltes Wasser über den Rücken, das soll das Bluten stillen. Anschliessend muss ich ins Bett. Oft sind es nichtige Anlässe, ein verlorenes Haarspängeli kann sie furchtbar aufregen.

Einmal soll ich beim Bäcker eine Torte abholen. Im Deckelkorb trage ich die kostbare Fracht über die Strasse.

«Was hast du da drin?»

Ein paar Buben haben mich aus der Bäckerei kommen sehen und sind von dem geheimnisvollen Korb angezogen wie die Wespen vom Zwetschgenkuchen.

«Das wisst ihr halt nicht, das muss ich heimbringen.»

Ich ängstige mich vor ihnen, aber ich kann es nicht lassen, ein bisschen in ihrer Neugier zu stochern. Da reisst mir einer den Korb weg, öffnet den Deckel und greift mitten in die schöne Torte! Jegerstroscht, wie bin ich erschrocken! Der lässt den Korb fallen und macht sich, die Finger leckend, davon. Und ich muss heim mit dieser kaputten Torte und weiss nicht ein noch aus. Unbemerkt schleiche ich mich in die Küche, steige auf einen Stuhl und versorge die Torte möglichst hoch oben im Schrank. Erst gegen Abend fragt die Bucherin danach: 

«Wo ist denn die Torte? Hast du sie nicht geholt?» Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr.

«Doch», sage ich, «aber die Buben haben sie mir verdorben.» Sie sieht sich die Bescherung an.

«Die Buben?» fragt sie. «Du wirst selbst genascht haben.»

«Nein, sie haben mir den Korb weggerissen!» weine ich.

Sie glaubt mir nicht. Sie will mich schlagen. Aber sie ist eine dicke, breite Frau. Ich lasse mich auf den Boden fallen und entwinde mich ihr wie ein Wiesel, sie schlägt immerzu ins Leere. Das macht sie noch wütender.

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Die Bucherin ist ziemlich verhühnert, geht mit bloss einer Strickjacke über dem Nachthemd hinaus, um beim Bauern, der mit dem Pferdewagen durch die Strassen fährt, Obst zu kaufen. Es kommt sogar vor, dass sie in diesem Aufzug in die Stadt läuft. Um mich kümmerte sie sich wenig.

Ich stehe auf dem Balkon und schaue auf die Strasse hinunter. Als ich zurück in die Wohnung will, ist die Fenstertür verschlossen. Ich rufe. Niemand kommt mir aufmachen. Ich rufe laut, klopfe an die Fensterscheibe. Nichts regt sich. Sie ist weggegangen, einfach so, und hat mich auf dem Balkon ausgeschlossen, wie lange? Es ist kalt und regnerisch, und eigentlich müsste ich ganz dringend … Ich kann das Wasser nicht mehr halten, es läuft mir heiss an den Beinen hinunter bis in die Finken, die wollenen Strümpfe saugen sich voll und jucken, und bald ist es nicht mehr heiss, sondern kalt, noch viel kälter als zuvor. Endlich höre ich sie kommen, ich erkenne sie schon von weitem, wie sie vor sich hinbrummt.

«Mame, Mame, du musst schnell heraufkommen», rufe ich vom Balkon, «du hast mich ausgeschlossen, und ich habe in die Hosen gemacht.»

«He, ruf doch nicht so laut, es hören dich ja alle Leute.»

Diesmal komme ich ohne Schläge davon.

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Dann ziehen Buchers wieder einmal um, diesmal in ein ehemaliges Bauernhaus mitten im alten Albisrieden. Heute befindet sich die Blindenhörbücherei in dem Haus.

Ein halbrunder Garten vor dem Stubenfenster. Ich bin ganz allein. Die Uhr schwatzt ihr ödes Ticktackticktack. Ich mag das Uhrengeschwätz nicht, es macht die Stube noch leerer. Da, ein Schatten am Fenster. Ich fahre zusammen. Eine schwarzweisse Katze ist es, mit grünschimmernden Augen starrt sie mich an. Von da an beginne ich Katzen zu fürchten.

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Meine Sehbehinderung ist zwar offensichtlich, aber es kümmert sich vorderhand niemand darum. Ich schiele heftig und werde deswegen auch häufig ausgelacht. Manchmal gerate ich in gefährliche Situationen, weil ich so wenig sehe.

Einmal schliesse ich mich einer Gruppe von Gvätterlischülern (Kindergartenkindern) an. Die Lehrerin beachtet mich nicht, wir gehen den Rain hinauf. Ich halte mich nicht ganz in der Reihe, und natürlich sehe ich den Velofahrer nicht, der den Rain herabschiesst. Er wirft mich um und fährt über meinen Rücken und kann erst weiter unten anhalten. Erschrocken kommt er zurück, hebt mich auf und fragt die Lehrerin nach mir, aber die kennt mich nicht, ich sei der Klasse nachgelaufen, sie wisse nicht, wo ich hingehöre. Der Mann setzt mich fürsorglich auf den Gepäckträger, fordert mich auf, ihn am Rücken festzuhalten, und fährt mich nach Hause. Der Bucherin empfiehlt er, mich ein bisschen hinzulegen.

«Ja, ist es denn schon wieder zu weit gelaufen?» brummelt diese.

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Wenn es geschneit hat, wird der Kirchenrain zur schönsten Schlittelbahn, die man sich denken kann. Ich gehe mit dem Marieli schlitteln, wir haben, wie die meisten Kinder, einen Kesselschlitten. Das sind ganz einfache, etwas umständliche Dinger, die die Väter oder grossen Brüder selbst herstellen. Von einer Kiste wird der Boden entfernt, unten werden zwei flache Kufen und oben ein Sitzbrettchen angebracht. Am vorderen Querbrett ist die Schnur zum Ziehen festgemacht, dazu einige eiserne Ringe, die beim Fahren einen scheppernden Lärm machen, darum der Name.

Ein paarmal fahren wir miteinander hinunter, dann hat Marieli genug, es hat kalte Füsse und will heim.

«Du gehst schon heim? Bleib doch noch, ich kann allein nicht lenken.» Marieli lässt sich nicht erweichen.

«Dann fahre ich halt allein!» rufe ich trotzig und sause los.

Lenken kann ich nicht, dazu fehlt mir die Kraft in den Beinen, und vor allem sehe ich nichts, noch dazu mit dem Fahrtwind in den Augen. Mein Schlitten schiesst die Strasse hinunter. Der Bauer sieht mich kommen und hält im Rank sein Fuhrwerk an. Ich kriege die Kurve nicht, ich sehe sie ja nicht einmal, und sause in voller Fahrt unter den Pferden durch und das Wiesenbord hinunter, wo es mich mehrmals überschlägt. Der Mann schimpft gutmütig vor sich hin – «Hab mir ja gedacht, dass das nicht gut kommt!» – und hilft mir meine Glieder einsammeln und den Schnee abklopfen. Dann lädt er mich samt dem Schlitten auf sein Fuhrwerk. «Hier kann ich nicht wenden», erklärt er, nimmt mich mit und bringt mich später nach Hause. Ist das gut, sich von den schnaubenden, dampfenden Pferden ziehen zu lassen! Aber vom Schlitteln habe ich für lange Zeit genug.

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Mit sieben komme ich in die Schule. Lehrer Binz ist ein gütiger Mann, der mir die Buchstaben auf die Schiefertafel schreibt und meine Hand beim Schreiben führt. Mehr tut er allerdings nicht für meine schwachen Augen. Was auf der Wandtafel steht, kann ich nicht sehen.

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Wenn ich in die Schule gehe, warte ich immer am Strassenrand auf die grossen Sekundarschülerinnen. Die lasse ich vorbeigehen und folge ihnen dann, sie sind meine Wegweiser.

In jenem Winter fällt ziemlich viel Schnee. Vor dem letzten Schneefall hat der Bauer Jauche ausgefahren, und jetzt hat Tauwetter eingesetzt. Das Wasser sammelt sich zusammen mit der Jauche im Graben unten am Wiesenbord zu einer braunen Brühe. Ich warte am Strassenrand, mit dem Rücken zum Graben, auf die grossen Mädchen, da kommt noch vorher ein Drittklässler gelaufen. Den fürchte ich, er mag mich gar nicht, er hat mir schon oft «Schilibingg» nachgerufen. Jetzt pflanzt er sich vor mich auf, und ehe ich mich's versehe, gibt er mir einen so heftigen Stoss, dass ich rückwärts in den Graben falle. Dort bleibe ich weinend in der eiskalten, stinkenden Brühe liegen, bis mich jemand findet. Es ist jener Bauer, dessen Pferden ich zwischen den Beinen durchgefahren bin.

«Was machst denn du hier?» fragt er und hilft mir auch jetzt wieder heraus.

«Ein Bub hat mich gestossen», schluchze ich.

«Nein aber auch – du gehst wohl besser heim jetzt.»

Aber das traue ich mich nicht. Ich muss doch in die Schule! Weinend laufe ich hinter den grossen Mädchen her, die inzwischen längst an mir vorbeigegangen sind. Kurz vor dem Schulhaus hole ich sie ein.

«Was ist mit dir passiert?» fragen sie verwundert. Auch ihnen klage ich mein Leid.

«Aber so kannst du nicht in die Schule! Du machst ja alles schmutzig, und das ganze Schulzimmer stinkt von Jauche.»

Zwei von den Mädchen holen sich beim Lehrer die Erlaubnis und begleiten mich nach Hause. Die Bucherin schimpft zu meinem Erstaunen nicht einmal. Sie setzt mich auf den Trog, zieht mir das Röcklein aus – es ist das handgestrickte von der Grossmutter – und wäscht mich sauber. Ich zittere am ganzen Leib. Dann werde ich ins Bett gesteckt.

Und da bleibe ich dann mindestens drei Wochen und nehme die Welt nur noch durch Fieberschleier wahr. Doppelte Lungenentzündung. Die Beleidigung und Demütigung haben mir wohl ebenso die Widerstandskraft geraubt wie die eisige Kälte. Das Fieber geht zurück, ich stehe wieder auf, aber von der Furcht vor jenem Buben genese ich nicht.

Ich traue mich nicht mehr in die Schule, sondern schleiche statt dessen zu den Nachbarskindern hinüber und spiele mit ihnen.

«Wo bist du gewesen?» fragt die Bucherin barsch, als ich am Mittag heimkomme. Die Nachbarin muss es ihr gesagt haben.

«Ich will nicht in die Schule, ich habe Angst!» klage ich. Da schlägt sie mich, und sie hätte wohl nicht so schnell aufgehört, hätte nicht der Bucher eingegriffen.

«Lass das, sonst bekommt es wieder das Nasenbluten!» So verabreicht er mir an ihrer Stelle die Schläge, die mir seiner Meinung nach zustehen.

Immerhin gibt man mir einen Brief für den Lehrer mit einer Erklärung, als ich am Nachmittag in die Schule gehen muss. Ich komme zu spät, ich habe mich nicht hineingetraut, die andern sind schon am Turnen. Ich kriege erst mal eins auf den Hintern.

«Warum hast du geschwänzt?»

«Weil ich Angst gehabt habe.»

«Wovor hast du dich gefürchtet?»

«Der Bape (Papa) hat gesagt, Sie sollen den Brief lesen.»

Am andern Morgen nimmt mich der Lehrer beiseite und fragt mich genau nach jenem Vorfall aus. Der Drittklässler wird ausfindig gemacht und bekommt Schläge, bis das Lineal zerbricht. Ich gönne sie ihm.

Bei dieser Gelegenheit wird auch nachgeforscht, wer den unheilvollen Schneeball geworfen hat, der mich einige Wochen zuvor ins linke Auge getroffen hat. Ich weiss nicht, wie jener Knabe heisst, und ich bin auch ganz sicher, dass er es nicht extra gemacht hat. Ich war versehentlich in sein Schussfeld hineingelaufen. Der Unfall sollte noch Folgen haben – das linke Auge war immerhin mein besseres gewesen –, aber das wusste damals noch niemand. Jedenfalls weist der Lehrer die grossen Mädchen an, ein bisschen mehr auf mich aufzupassen. Aber sie haben nicht mehr viel Gelegenheit dazu, denn ich werde bald wieder krank.

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Seit der Lungenentzündung hält mich eine bleierne Müdigkeit gefangen. Ich komme abends erst spät zum Schlafen. Mein Bett steht in der Stube, und da ist häufig noch lange Betrieb, der mich vom Schlafen abhält. Hedi und Walter kommen vom Orchester heim und spielen gleich noch ein bisschen weiter, Klavier und Geige. Ich stelle mich schlafend, damit sie nicht aufhören, ich mag es, wenn sie spielen. Aber am Morgen liegt die Müdigkeit zentnerschwer auf mir.

Die Bucherin weckt mich und ärgert sich, dass ich liegenbleibe. «Kommst zu spät in die Schule!» schimpft sie. Ich mag einfach nicht aus der warmen Höhle kriechen, meine Glieder, mein Kopf, alles ist so schwer. Da zerrt sie mich kurzerhand aus dem Bett – «Dich kriege ich schon wach!» –, setzt mich in die Badewanne und lässt das eiskalte Wasser über mich einlaufen. Mir bleibt die Luft weg, ich kann nicht einmal schreien. Zum Glück ist Walter auf das Schimpfen der Mutter aufmerksam geworden und kommt ins Badezimmer gelaufen.

«Um Gottes willen, Mutter, du bringst das Kind ja um!»

Er reisst mich aus dem Wasser und wickelt mich in ein Tuch. Was nachher geschehen ist, weiss ich nicht mehr. Die Folge ist – wieder eine doppelte Lungenentzündung.

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Im Frühling wird aller Hausrat auf die Strasse hinaus gestellt, wir ziehen wieder einmal um, in die Stadt, an die Denzlerstrasse. Mitten zwischen den Möbeln und Kisten entdecke ich meinen heissgeliebten Puppenwagen. Ich habe oft und oft danach gefragt. «Was brauchst du den!» hat die Bucherin bloss gebrummt. Also ist er doch noch da, und sie hat ihn mir das ganze Jahr einfach nicht gegeben! Mich packt die helle Wut. Dann will ich ihn jetzt auch nicht mehr! Ich hole ihn zwischen den Kisten hervor und schiebe ihn in die Nachbarsgasse. Dort biete ich ihn einer Frau mit zwei Mädchen an: 

«Wollen Sie diesen Puppenwagen? Ich will ihn nicht mehr.»

«Ja meinst du? Wart, ich gebe dir etwas.» Sie verschwindet im Haus, und als sie wieder herauskommt, sind wir handelseinig: Ich verkaufe meinen Puppenwagen für fünfzig Rappen und ein Konfibrot.

Mit dem Umzug wechsle ich auch die Schule. Ich komme in eine bestehende Klasse im Ämtlerschulhaus und muss mich als «Spätling « in die hinterste Bank setzen, vorne ist kein Platz frei. Die Lehrerin ist eine gestrenge Frau. Nun soll ich schreiben.

«Was schreiben?»

«Dort ist das Tintenfass und der Federhalter, schreib!»

«Ich weiss nicht, wie man das macht.» Ich habe bisher nur auf die Schiefertafel geschrieben. Sie wird ungeduldig.

«Jetzt schreib schon!» fährt sie mich an.

Ich suche tastend das Tintenfass, tauche die Feder ein – und habe schon den ersten Tolggen auf der Bank. Wie die Frau schimpfen kann! Merkt sie denn nicht, dass ich fast nichts sehe? Sie trägt doch selbst eine Brille. Doch, sie merkt es und verklagt mich prompt beim Schularzt. Es ist ein schlimmer Fehler, wenn man nicht gut sieht!

An einem Nachmittag werde ich zum Schularzt befohlen. Der ist ein barscher Mann, ich kann es ihm nicht recht machen.

«Stell dich da hinten an die Wand, was hat es vorn auf dieser Tafel?»

Ich schüttle den Kopf: 

«Nichts.»

Ich sehe ja kaum zwei Meter weit. Menschen, die weiter entfernt sind, kann ich nur an ihren Bewegungen erkennen. Er will mir nicht glauben, schüttelt mich: 

«Was steht da vorn auf der Tafel?»

«Wenn ich doch sage, dass ich es nicht sehe!»

«Wie, du gehst zur Schule und siehst nichts? Das geht doch nicht!» wettert er und schickt mich nach Hause.

Ich weine auf dem ganzen Heimweg vor mich hin. Was habe ich bloss falsch gemacht? Was kann ich dafür, dass ich nicht sehe?

Ich werde in eine Sonderschule umgeteilt, dort sind Schwerhörige, Schwachsichtige, vielleicht auch Schwachbegabte, ich weiss das nicht so genau. «Schwachsinnige», erzählt meine Mutter in der Verwandtschaft herum! Die Sonderschule ist im selben Schulhaus untergebracht wie meine bisherige Klasse. Die Lehrerin, Fräulein Otter, gewinnt sofort mein Herz. Sie erzählt uns das «Heidi» und singt mit uns «Da höch uf den Alpe». Wie ich das Heidi liebe! Ich bin doch auch so verlassen in der Welt, wenn ich nur einen Alpöhi hätte, der mich auf starken Armen auf die Alp trüge! Bei Fräulein Otter gehöre ich zu den Klassenbesten. Rechnen – das kann ich! Das habe ich bei Lehrer Binz gelernt.

Die Lehrerin sorgt dafür, dass mich endlich der Augenarzt, der vom Schularztamt für Kinder mit Augenproblemen beigezogen wird, untersucht. Er verschreibt mir eine Brille, und Fräulein Otter kommt selbst an einem Samstagnachmittag mit mir zum Optiker, dort wird mir die Brille angepasst. Ich darf das kostbare Stück nach Hause nehmen.

«Oh, dazu musst du Sorge tragen!» sagt die Bucherin und nimmt mir die Brille ab. Sie legt sie, damit ihr nichts passiere, ins Körbchen zuoberst auf dem Sekretär.

Da stehe ich nun ohne Brille und brenne darauf, endlich zu wissen, wie die Welt durch die Zaubergläser aussieht. Hat nicht Fräulein Otter gesagt, ich solle sie schon ein wenig tragen und am Montag in die Schule mitbringen? So steige ich am Sonntag heimlich auf einen Stuhl und angle das Körbchen vom Sekretär herunter. Ehrfürchtig bestaune ich das Wunderwerk. Es ist ein Nickelgestell, die Gläser sind sehr dick, und zwar am Rand dicker als in der Mitte. «Gebrochene Linsen» nennt man das, habe ich später gelernt. Das rechte Glas ist stärker als das linke. Und was kann man nun alles sehen?

In der Wohnung will ich nicht bleiben, da hätte mir die Bucherin die Brille gleich wieder abgenommen, also schleiche ich mich nach draussen. Das gibt ein Hallo unter den Kindern!

«Das Trudi hat eine Brille!»

«Brillenschaaggi, Brillenschaaggi!»

«Komm, zeig, ich will sie auch mal probieren!»

«Nein, pass auf, sonst geht sie kaputt!»

Ein Bub reisst sie mir von der Nase, um sie sich selber aufzusetzen, ein anderer will sie ihm wegnehmen, er lässt sie fallen, und in dem Gerangel tritt jemand drauf. Wie ich sie aufhebe, sind die Gläser zerbrochen und das Gestell verbogen. Ich wickle sie in ein Taschentuch und lege sie in die Schultasche. Ach, wenn ich am Montag nur nicht zur Schule müsste! Wenn ich doch sterben könnte!

«Trudeli, hast du deine Brille vergessen?» fragt die Lehrerin. Statt einer Antwort breche ich in Tränen aus.

«Komm schon, komm, erzähl mir, was ist passiert?» beschwichtigt sie.

Die andern Kinder kommen mir zu Hilfe und berichten, was vorgefallen ist. Fräulein Otter bringt dann die Brille eigenhändig zum Optiker und lässt auf ihre Kosten eine neue anfertigen. Sie sorgt dafür, dass ich sie ungestört tragen kann. Ich fühle mich zu Beginn recht unsicher, ich habe immerzu das Gefühl, der Boden senke sich vor meinen Füssen weg, der lange Schulhausgang sieht aus wie eine Rampe, und ich fürchte, ins Leere zu treten. Nach einigen Tagen gewöhne ich mich daran, und auch die andern Kinder vergessen, dass ich eine Brille trage. Sie verbessert meine Sehfähigkeit merklich, vor allem auf die Nähe. Von der vordersten Bank aus kann ich jetzt immerhin einigermassen erkennen, was auf der Wandtafel steht.

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An der Denzlerstrasse wohnen viele Kinder, sie holen mich oft zum Spielen. Einmal kommen sie ganz aufgeregt: 

«Komm, das musst du sehen!»

Sie nehmen mich in ihre Mitte und erzählen mir den schrecklichen Vorfall: 

«Ein grosser Bub hat einen Stein nach einem Kätzchen geworfen …»

«… es ist umgefallen. Vielleicht ist es tot?»

«… dann ist er hingegangen und hat ihm die Äuglein ausgestochen!»

Da liegt es. Ich knie nieder und beuge mich ganz nah darüber, streichle es. Das schöne Tigerkätzchen! Ja, es ist tot. Und das Äuglein …, es hängt an der Sehne in der Augenhöhle, blutverschmiert.

«Sieh mal, da ist ja noch der Draht!»

Ja, ich spüre ihn. Mich schüttelt es vor Ekel, Grauen und Empörung. Die andern Kinder sind jünger als ich, sie erwarten, dass ich etwas unternehme.

«Das müssen wir dem Polizist sagen», erkläre ich, «um drei Uhr kommt er immer hier vorbei.»

Wir stellen uns an den Gartenzaun und warten und bereden miteinander wieder und wieder das grauenvolle Ereignis. Wer kann bloss so etwas tun? Und warum?

Da, der Polizist! Die Kinder schieben mich vor.

«Kommen Sie, Mann», spreche ich ihn mutig an und erzähle ihm die ganze Geschichte.

«Was, was, was», brummt er ungläubig, folgt uns aber dann und besieht sich die schreckliche Tat.

«Wisst ihr, wem das Kätzchen gehört hat?» Niemand weiss es.

«Dann geht in der Nachbarschaft nachfragen, ob jemand ein Tigerli vermisst.»

Ich muss mir das Tierchen beschreiben lassen, so genau kann ich es ja nicht sehen. Zufälligerweise bin ich dann diejenige, die die Besitzerin ausfindig macht und ihr die Hiobsbotschaft überbringt. Das Bild des toten Kätzchens verfolgt mich bis heute.

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Meine Mutter hat alle zwei Wochen den Sonntagnachmittag frei, dann kommt sie mich bei Buchers abholen. An den andern Sonntagen kommt manchmal Onkel Fritz. Wir gehen miteinander ins Bethanienheim hinauf zur Mutter. Manchmal gehen wir auch nur zu zweit spazieren, kehren irgendwo ein, und der Onkel bestellt mir ein Glas Sirup.

Onkel Fritz ist mein Lieblingsonkel, er ist Buchprüfer und wohnt, noch ledig, in Zürich. Er ist immer zu Spässen aufgelegt und weiss viel zu erzählen, von der Grossmutter, von der Mutter und den Geschwistern. Eigentlich ist es mir genauso lieb, nur mit dem Onkel irgendwohin zu fahren statt zur Mutter. Oder fast noch ein bisschen lieber. Die Mutter hat immer so viel zu jammern und zu kritisieren. Sie macht auch Spässe, aber andere, so in der Art von: «Schau, da kommt ja die Tante Rosa», und ich freue mich, gehe auf sie zu, und dann ist es eine wildfremde Person, und ich schäme mich. Die Mutter findet das lustig.

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An Ostern 1924, ich bin knapp acht Jahre alt, gibt es ein grosses Familientreffen in Bern, einzigartig in unserer Familiengeschichte. Mir prägt sich dieses Ereignis tief ein, ist es doch das erste Mal, dass ich mich inmitten einer grossen Familie vorfinde und dazugehöre. Manche dieser Verwandten treffe ich zum ersten Mal in meinem Leben.

Das Fest beginnt sehr aufregend für mich. Onkel Fritz steht nämlich am Karsamstag um drei Uhr bei Buchers vor der Tür, aber die Bucherin hat versäumt, mich bereitzumachen, und ich weiss von nichts. Waschen, das Sonntagsröckchen anziehen, das Nachthemd einpacken … das muss nun alles in Windeseile gehen, ausserdem hat Onkel Fritz in der Bäckerei einen grossen Biskuit-Osterhasen für die Grossmutter bestellt, den er noch vor der Abfahrt abholen muss. Onkel Fritz zerrt mir, immer vor sich hin schimpfend, das Kleid über den Kopf und knöpft mir die Pelerine zu. Dann klemmt er mich sozusagen unter den Arm und eilt zuerst in die Bäckerei und dann zum Bahnhof, wo die Mutter auf uns wartet. Mit knapper Not erreichen wir den Zug.

In Bern treffen wir uns mit einigen Verwandten, die ebenfalls von Zürich hergereist sind, in einem Café. Es gibt etwas zu trinken, und ein Mann spielt die Handharmonika. Der übermütige Onkel Fritz packt mich und tanzt mit mir herum. Ach, tut das gut, von starken Armen herumgewirbelt zu werden, ohne Furcht, gleich wieder schmerzhaft an ein Hindernis zu stossen! Ausgelassen herumtoben und lachen, lachen! Ich bin wie berauscht von so viel Menschen, so viel Aufmerksamkeit. Aber zwei der Frauen erheben Einspruch, Tante Vreni, die ängstliche, befürchtet, es könne mir schwindlig werden (und wenn schon!), und die Mutter schimpft, das schicke sich nicht, dass der Fritz mich tanzen lehre. Der Onkel hört nicht auf sie, aber mir ist der Spass verdorben. Warum muss sie mir jedes Vergnügen schlecht machen?

Dann kommt uns Tante Rosa abholen. Die Mutter und ich sollen bei ihr und Onkel Konrad in Bümpliz übernachten. Da gibt es noch ein Lili, eine Cousine, ein Jahr älter als ich, von der haben sie mir erzählt. Wir sind schon da, als Lili vom Einkaufen heimkommt. Es bleibt auf der Türschwelle stehen und mustert mich aus kritischer Distanz. Die Erwachsenen stehen um uns herum, gespannt, wie wir zwei aufeinander zugehen werden. Ich halte es nicht mehr aus. «Saliii!» rufe ich laut, laufe auf Lili zu und umarme es. Die Erwachsenen lachen schallend. Lili weicht geniert zurück.

«Zeig dem Trudi deine Sachen», sagt Tante Rosa und gibt uns damit die Möglichkeit, den Erwachsenen zu entrinnen. Lili führt mir seine grosse Puppenstube vor.

«Das hat mein Vati alles selbst gemacht», erklärt es stolz.

Wunderbare Sachen gibt es da, es juckt mich in den Fingern, damit zu spielen. Aber berühren darf ich nichts. Als könnten die Sachen schon vom blossen Anschauen kaputt gehen. Die mag mich auch nicht, weil ich schiele, denke ich.

«Ja, der hat halt Zeit», brummt die Mutter, als ich ihr später von Onkel Konrads Wunderwerk schwärme, «der ist arbeitslos und findet keine Stelle, weil er Kommunist ist.» Was ist ein Kommunist? Ich möchte auch einen Vater haben, der Kommunist ist und Zeit hat zum Puppenstuben-Basteln.

Ich schlafe bei Lili im Bett. Mutter hat mich ermahnt, mein Nachtgebet nicht zu vergessen, und so singe ich ebenso innig wie falsch «I ghöre-n-es Glöggli». Lili hält sich die Ohren zu.

Am Ostersonntag fahren wir mit der Bremgartenbahn wieder in die Stadt hinein. Hier treffen wir einige Verwandte, Tante Ida und Onkel Adolf mit seinem schwäbischen Dialekt. Das klingt lustig, aber man muss genau hinhören, um ihn zu verstehen. Gemeinsam bummeln wir durch die Laubengänge und kommen zum Zytgloggeturm. Alle warten gespannt auf den Glockenschlag und das Spiel der Figuren.

«Siehste da oben? Siehste?» spricht Onkel Adolf auf mich ein, «du musst nauf schaue, siehste nich?»

«Lass sie doch in Ruhe», wehrt Tante Ida, «sie kann das doch nicht sehen.»

«Ach was, warum denn nicht?»

«Weil sie doch fast blind ist.»

Da beginnt er laut zu jammern und kann es nicht fassen. Er hat mich auch später immer gut gemocht und Mitleid mit mir gehabt.

Zum Mittagessen treffen wir uns in einem Saal mit Bühne. Ich staune, wer da alles zusammenkommt, manche Namen kenne ich erst vom Erzählen, von der Mutter oder Onkel Fritz. Meine Mutter hat fünf Brüder – der älteste ist gestorben – und vier Schwestern. Die meisten sind verheiratet. Onkel Alfred und Tante Fanny sind da, Tante Ida mit Onkel Adolf, Tante Vreni und Tante Sophie, die Grossmutter natürlich und der junge Onkel Ernst, Tante Rosa mit Onkel Konrad und Lili, Onkel Ruedi. Sie sind allesamt kleingewachsen, die Mosimannen, die meisten von Mutters Brüdern konnten keinen Militärdienst leisten, weil sie das Mindestmass von 156 cm nicht erreichten, nur der älteste, der Hans, und der starb 1918 im Aktivdienst an der Grippe.

Wir sind vier Kinder, das Lili und ich und die beiden Buben von Onkel Ruedi, die rennen im Saal und auf der Bühne herum, ist das ein Leben! Sie tragen Matrosenanzüge, die will ich mir ansehen, ich hätte zu gerne gewusst, was ein Matrose ist. Aber die Buben sind ständig in Bewegung, und ich halte immer am falschen Ort Ausschau nach ihnen.

Onkel Ernst hat jedem Kind etwas mitgebracht, nämlich einen Scherenschleifer, ein eisernes Männchen mit einem Hut und einem Messer in der Hand, das auf einem Brettchen steht. Daran ist ein Schleifstein befestigt, den kann man aufziehen und die Messer daran schleifen, dass die Funken sprühen. Das gefällt mir, ich mag so Bubenzeug gern.

Am Ostermontag ist ein Teil der Verwandten bereits abgereist. Wir anderen wandern miteinander die Taubenlochschlucht bei Biel hinauf, Grossmutter und Mutter sind dabei und Onkel Fritz, Tante Vreni, Tante Fanny mit Onkel Alfred, Onkel Liebi und der lustige Onkel Ernst. Es ist ein schmaler Fussweg, damals noch ohne Geländer, und die Schlucht an einigen Stellen eng und tief. Ich gehe mit Onkel Ernst voraus.

«Pass auf das Trudi auf!» rufen die andern von hinten, während er seine Spässe mit mir treibt.

Es juckt ihn, die ängstlichen Gemüter hinter uns ein wenig in Aufregung zu versetzen. Ich fühle mich vollkommen in Sicherheit bei ihm. Es ist regnerisch, ich trage eine Pelerine mit Kapuze, da legt er seine silberbeschlagene Tabakdose hinein.

«So, nun bist du mein Lasteselchen.»

Nimmt er sie heimlich wieder heraus, so spüre ich, dass das Gewicht nicht mehr da ist, und fürchte, jemand könnte sie gestohlen haben.

Oben, im Restaurant beim Eingang der Schlucht kehren wir ein, ich bekomme Sirup und Guetzli, das schmeckt so süss wie das Lachen und die Spässe von Onkel Ernst und das Funkeln in den Augen der Erwachsenen.

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Im Sommer 1924 liegen Veränderungen in der Luft. Die Bucherin wird immer verluderter und lässt den Haushalt schlittern. Walter hat eine Lehre begonnen und ist ausgezogen. Er wohnt jetzt bei seinem Onkel. Für mich ist die Hauptsache, dass Hedi noch da ist, aber wie lange? Es soll auch bald eine Lehre beginnen.

Einmal kommt das Fräulein Boller von der Vormundschaft mit einer Tante Rosa, nicht Mutters Schwester, auf Besuch. Die Bucherin beklagt sich lauthals über mich, was ich für ein unzuverlässiges, unordentliches Kind sei, wie ich dauernd die Haarspängeli verlöre – sie hat mir deswegen die Haare kurz schneiden lassen –, und überhaupt, ich sei immer auf der Strasse. Ich werde nicht gefragt, kann mich nicht rechtfertigen und weiss auch nicht, was der Besuch zu bedeuten hat.

Erst später habe ich es von meiner Mutter erfahren: Die Tante Rosa war Mutters Jugendfreundin und die Schwester meines Vaters, also eine echte Tante. Sie hatte anerboten, mich zu sich nach Biel zu nehmen. Meine Mutter hegte den Verdacht, dass sie mich als billiges Kindermädchen für ihre zwei kleinen Kinder benützen wollte, sah es wohl auch nicht gern, dass ich so fern von ihr und so nahe beim Vater leben würde. So kam ihr die Klage der Bucherin gelegen, man konnte mich als verwahrlostes Kind bei der Rosa unbeliebt machen.

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Es stimmt, dass ich viel auf der Strasse bin. Die Bucherin kümmert sich wenig um mich, sie schickt mich oft mit einer Scheibe Brot und ein paar Stück Zucker hinaus, und ich treibe mich gern mit den Kindern herum. Einmal spielen wir in einem der dunklen Hausdurchgänge das Dökterlispiel, da erwischt sie uns und macht ein Riesenlamento daraus. Ich weiss nicht, warum sie nachher mit mir den Arzt aufsucht, vielleicht hat sie ein schlechtes Gewissen und versucht es auf mich abzuwälzen, indem sie mich verklagt. Es ist der Vertrauensarzt der Vormundschaftsbehörde, er hat dort im Amt ein Sprechzimmer, ein freundlicher, väterlicher Mann, der mich von klein auf kennt. Der stellt der Bucherin unangenehme Fragen. Wie es komme, dass ich mich so viel auf der Gasse herumtreibe, wenn ich doch so wenig sähe, ob denn niemand zu mir schaue?

«Momoll, das Hedi», mische ich mich ein.

Ich habe aufgeschnappt, dass er gesagt hat, es sei wohl besser, wenn ich von Buchers wegkäme.

«Ich will beim Hedi bleiben.»

Dann wolle er dieses Hedi auch einmal sehen, sagt er, ich solle das nächste Mal mit dem Hedi kommen.

Das passt der Bucherin gar nicht. An dem Tag, da wir beide, Hedi und ich, uns für den Arztbesuch bereit machen, tobt sie vor Eifersucht und schlägt mit dem Handtuch auf Hedi ein. Ich kann es nie ertragen, wenn die Bucherin mein Hedi schlägt, ich schreie und zerre an ihr herum: 

«Du darfst Hedi nicht schlagen!» Hedi nimmt mich an der Hand und beschwichtigt mich: 

«Sei nur still, wir gehen jetzt.»