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www.limmatverlag.ch

Umschlagbild: Collage mit dem Tristan Tzara zugeschriebenen Manuskript des Gedichts «Arc» und der Zeichnung zweier Kirschen aus «Le Coeur à gaz» von Tzara.

Umschlaggestaltung von Trix Krebs

Edition originale: Lénine dada

© 2007 by le dilettante, Paris

Schrift: Merriweather; Courtesy of 2010-2013 Sorkin Type Co (www.sorkintype.com); OFL 1.1

Alle deutschen Rechte vorbehalten

© 1990, 2015 by Limmat Verlag, Zürich

ISBN print 978-3-85791-797-4

ISBN epub 978-3-03855-032-7

ISBN mobi 978-3-03855-033-4

Dominique Noguez

Lenin Dada

Essay

Herausgegeben und – in Zusammenarbeit mit Patrick Straumann – aus dem Französischen übersetzt von Jan Morgenthaler

Limmat Verlag

Zürich

Über dieses Buch

Waren Lenin und seine Freunde das «Balalaika-Orchester», das am Eröffnungsabend des Cabaret Voltaire «entzückende russische Volkslieder und Tänze» gespielt hatte? Sass Lenin im Publikum und rief da! da! (ja! ja!)?

Dominique Noguez geht genau dieser Frage nach und zeigt, dass Lenin schon ein Dadaist war, bevor Dada da war, dass er an den Soireen im Cabaret Voltaire teilnahm und gar ein dadaistisches Gedicht verfasste. Doch damit nicht genug: «Es ist vor allem in der Politik, wo Lenin dada ist.» Und so landet das sinnfreie und absurde Treiben der Dadaisten plötzlich in der Realpolitik. Die Tatsache, dass zwei der wichtigsten Bewegungen des 20. Jahrhunderts in unmittelbarer Nachbarschaft ihren Anfang nahmen, war also alles andere als ein Zufall und Lenins Revolution ein grosses dadaistisches Unterfangen in den Fussstapfen von Père Ubu.

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Dominique Noguez, geboren 1942, studierte Philosophie und war Dozent an der Sorbonne Paris für Film- und Literatur-Ästhetik. Er schrieb zahlreiche Arbeiten über Experimental- und Avantgarde-Filme, Essays, Romane und wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix Femina. 2012 wurde er mit den höchsten Ehren des Collège de Pataphysique – der Ernennung zum Satrapen – ausgezeichnet. 

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Jan Morgenthaler, geboren 1956 in Zürich. Studium der Medizin an der Universität Zürich, seit 1980 publizistische Tätigkeit sowie Arbeiten als Autor / Kurator im Bereich Theater, Film, Bildende Künste in Zürich und in Esfahan / Iran. Projekte u. a. «Transit 1999, Reisende Denkmäler – ein flüchtiger Sommer in Zürich» oder «Swiss Transit Esfahan – visual» (als Initiant und Organisator einer Ausstellung mit 10 Künstler/innen im Museum für zeitgenössische Kunst in Esfahan / Iran), zuletzt «Zürich Transit Maritim». 

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Friedrich Glauser

Dada
und andere Erinnerungen aus seinem Leben
ISBN 978-3-85791-931-2 (epub)
ISBN 978-3-85791-932-9 (mobi)

Friedrich Glauser hat sein schwieriges Leben nicht nur immer wieder literarisch verarbeitet, er hat auch wiederholt Erinnerungen an markante Ereignisse in seinem Leben schriftlich festgehalten. Sie sind immer brillant geschrieben und zeugen von einem grossen psychologischen Gespür und tiefem Lebenswissen. Oft sind die Berichte von einer lakonischen Gelassenheit, sie strahlen selbst dann noch Wärme aus, wenn er zur Satire greift. So erzählt er etwa, wie die «Individualpädagogik» im Landerziehungsheim Glarisegg am Bodensee nicht immer in der gewünschten Art fruchtbar geworden ist. Oder er berichtet als einer der wenigen bei Dada aktiven Schweizer ganz von innen aus den Anfängen dieser Bewegung. Ebenso unnachahmlich beschreibt er die Ansammlung an Lebensreformern und Künstlern in Ascona, und er schreibt offen und ohne Beschönigung von dunklen Zeiten, etwa in der Fremdenlegion oder in Frankreich, oder vom Kreislauf der Sucht.

II

Wladimir Uljanows Schwäche fürs Cabaret

Eine Bemerkung zunächst: Was Janco wie beiläufig offenbart hat, dürfte diejenigen, die mit der Lebensgeschichte Lenins vertraut sind, nicht überraschen. Wladimir Uljanows Schwäche fürs Cabaret hat ihren Ursprung nicht erst im Jahr 1916. Die durchaus verständliche Verschwiegenheit von Historikern oder Zeugen desselben politischen Lagers, wie auch jene des Betroffenen selbst in seiner Korrespondenz, konnte nicht verhindern, dass einige präzise Hinweise durchgesickert sind. Krupskaja verrät uns schon viel, wenn wir sie nur richtig zu lesen wissen. Die 1901 bis 1902 in München verbrachte Zeit etwa blieb dem revolutionären Paar, wie sie schreibt, «stets in angenehmer Erinnerung». Schamhaft versucht sie, «die harmlose Fröhlichkeit zu erklären, mit der wir uns auf dem Karneval amüsierten, und jene übermütige Laune, die allerseits (…) herrschte».18 Ein wenig später, in London, treibt sein Gefallen an der Arbeiterklasse Wladimir Iljitsch gar so weit, sich überall dorthin zu begeben, «wo er die Massen traf: ins Freie, (…) in die Trinkhallen …».19 Zudem verrät sie uns an anderer Stelle, dass Lenin den Gesang liebt:

In Paris begeisterten wir uns, wie ich mich erinnere, eine Zeit lang für das französische revolutionäre Chanson. Wladimir Iljitsch schloss Bekanntschaft mit Montéhus, einem ausserordentlich talentierten Verfasser und Sänger revolutionärer Lieder.20

Das Ehepaar geht an die entlegensten Orte, um den Sänger zu hören. Aline, ein Zeitzeuge, schildert die erste Begegnung:

Nach der Vorstellung von Montéhus verschwand Lenin. Wir suchten ihn im Saal, aber er war nicht mehr da. Wir erfuhren, dass er hinter den Kulissen Bekanntschaft mit dem Chansonnier geschlossen hatte. Im Laufe ihrer Unterhaltung begeisterten sie sich derart füreinander, dass sie, ohne es zu merken, bis vier Uhr morgens blieben.21

Diese «Begeisterung», die uns einen nachtschwärmerischen Lenin offenbart, führte sogar zu einer Einladung: «Montéhus», schreibt Krupskaja, «kam einmal an einer unserer russischen Soireen singen.»22 (Man merke sich den Ausdruck.) Fahren wir fort: In Brüssel fand im Juli / August 1903 der zweite Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands statt. Krupskaja berichtet:

Die Delegierten schlugen im «Goldenen Hahn» ihr lärmendes Quartier auf, und Gussew [Delegierter der Don-Region] sang abends, wenn er ein Gläschen Kognak getrunken hatte, mit so mächtiger Stimme Opernarien, dass sich unter den Fenstern des Gasthofes eine Menge ansammelte. Wladimir Iljitsch liebte Gussews Gesang sehr. Besonders gern hörte er das Lied «Nicht in der Kirche sind wir getraut».23

Bei seinem Biografen Jean Jacoby lesen wir, dass sich der berühmte Mann nicht damit begnügte, zuzuhören:

… während der Kongress-Arbeiten isolierte sich die Gruppe von Lenin; abends versammelte man sich in einem Kaffeehaus, wo die lärmende Bande mit ihrem Heisshunger, ihrem Lachen und ihren Gesängen die Stammgäste in Staunen versetzte. Der Russe ist Musiker aus Instinkt; er hat das Bedürfnis, seine Empfindungen lyrisch auszudrücken. Es brauchte sich nur eine Melodie zu erheben, ein Motiv, und sei es kaum hörbar, von weit entfernt, die Diskussionen verstummten, die Gesichter veränderten ihren Ausdruck je nach Laune der Musik. Und so sang man im Chor …24

Ein weniger schönfärberisches, dafür ernsthafteres Bild zeichnet sein Bruder Dmitri, wenn er uns dessen Freude am Singen – allein oder in der Gruppe – bestätigt. Sie kam wahrscheinlich von der Mutter, denn sie «liebte das Klavierspiel sehr. Sie musizierte und sang viele alte Lieder und Romanzen.»25 «In den Jahren 1888 bis 1890», präzisiert Dmitri Uljanow, «sang Wladimir Iljitsch oft mit Olga [seiner Schwester] zum Klavier»; und er fährt fort, Lenins Lieblingslieder – darunter das berühmte Kriegslied von Valentin aus dem Faust von Gounod – aufzuzählen.26 Ebenso berichtet uns Krupskaja, wie sie und Lenin einige Jahre später während des Exils in Sibirien, wo sie ihn wirklich kennenlernt, mit einigen Freunden zusammen heitere Lieder in «Russisch, dann (…) auf Polnisch» anstimmen.27 Und in Paris, so erzählen André Beucler und Grégoire Alexinsky, habe der für Montéhus schwärmende Lenin keine Gelegenheit verpasst, «in den Refrain des Saales einzustimmen».28

Wie hätte dieser in Gesang und herzliches Beisammensein vernarrte Mann sich denn auch um den Genuss von häufigen Cabaret-Besuchen bringen können, zumal in einer Stadt wie Paris, wo solche in Hülle und Fülle vorhanden sind? Jean Fréville hat sich wie viele Historiker oder Geschichtsschreiber, die der Kommunistischen Partei nahestehen, Mühe gegeben, uns in seinem Lénine à Paris davon zu überzeugen, dass Wladimir Iljitsch die literarische und künstlerische Boheme des Montparnasse gemieden hätte und dass bei ihm im Allgemeinen «die Zerstreuungen, wo andere sich zu vergessen suchen», kaum Anklang fanden.29 Ärgerlich ist nur, dass eine Reihe zeitgenössischer Schilderungen genau das Gegenteil belegen. Es sind da zuerst die eingeschobenen Bemerkungen von Lise de K. zu erwähnen, die Lenin von 1905 bis 1914 kannte – und, so scheint es, sehr intim –, Bemerkungen, die von Beucler und Alexinsky gesammelt und kommentiert worden sind. Mit der Zeit, so erfahren wir da, habe Lenin

die Bibliothèque nationale immer seltener besucht und es stattdessen vorgezogen, in Gesellschaft Kamenews, Sinowjews und anderer oder, falls es Pariser waren, mit Rykow und Schuljatikow, dem Säufer der Bande, Bier trinken zu gehen. (…) Er hätte Museen und Konzerte besuchen und in künstlerischen Kreisen verkehren können, aber er bevorzugte Fabriken, Kaffeehäuser und die Vorstädte.30

Vor allem aber gibt es diese «Nacht im Rabelais», von der Franz Toussaint in einem Kapitel seines Lénine inconnu so mitreissend berichtet, aufgrund von Notizen, die er sich, wie er sagt, unmittelbar nach dem Ereignis gemacht hat. Ereignis in der Tat für den Erzähler, der Lenin (er wohnte damals – im Sommer 1911 – in Longjumeau) völlig überraschend in einem Pariser Etablissement begegnet ist:

Lenin im Rabelais, diesem grossen Nachtlokal, dessen Champagner so miserabel ist wie die zwei Orchester! Vabre [der gemeinsame Freund, der den Autor eingeladen hat] hätte mich wahrscheinlich weniger ins Staunen versetzt, wenn er mir mitgeteilt hätte, der Erzbischof von Paris wäre im Tabarin und der Präsident der Republik ginge kommenden Sonntag in Lourdes zum Abendmahl. (…) Lenin, in einer dieser Spelunken, wo Greise, ein Papphut auf dem Kopf, mit Papierschlagen um sich werfen und satten Affen gleich rülpsen! Lenin, betäubt von amerikanischen Trompeten, angeekelt von argentinischen Tangos, angerempelt von Tänzern und umworben von Mädchen!31

Ein Wunsch trieb den zukünftigen Chef der sowjetischen Revolution an diesen so besonderen Ort, er wollte einen Georgier wiedersehen, den er zur Zeit seiner Gefangenschaft in Samara gekannt und der ihm damals Dienste erwiesen hatte. Dank diesem Georgier, den das Schicksal nach Paris verschlagen hatte, wo er als Kellermeister eine Anstellung fand – und heimlich die Etiketten wechselt –, konnten Lenin und seine Freunde «Mumm extra-sec» zum Preis eines gewöhnlichen Fusels trinken. Die drei Gäste entkorken eben ihre vierte Flasche und kommen auf jenen Schriftsteller zu sprechen, dessen Name dem Cabaret als Aushängeschild dient – eine Art Hommage, wie sie Hugo Ball in Zürich, 1916, spontan wiederfinden wird! –, da antwortete Lenin auf die Frage, ob er Rabelais liebt, welch Zufall (oder welch Vorahnung!), mit folgenden Worten:

Ja und nein. Aber eher ja. (…) Er hat Voltaire den Weg bereitet. Rabelais und Voltaire sind eure besten «Jahrgänge»!32

Apropos Wein, hier sei noch geschildert, wie der Abend – immer gemäss den Notizen von Franz Toussaint – zu Ende gegangen ist:

Wir sind um fünf Uhr morgens gegangen. Der Georgier hatte nicht wiederkommen wollen, trotz der Ermahnungen des Oberkellners. Vabre folgerte daraus, dass es eine Geschichte gegeben hatte wegen der Flaschen.33

Lenin im Cabaret! Fréville kann es nicht glauben. In einer Anmerkung seines Buches qualifiziert er das Zeugnis von Toussaint als «absurde Hirngespinste», «Dummheiten» und «Unwahrscheinlichkeiten» ab.34 Wie peinlich für ihn, dass es der Betroffene selber in seinen Briefen bestätigt. Am 2. Januar 1910 etwa schreibt er seiner Schwester Manjascha, die nach Russland zurückgekehrt ist:

Überhaupt haben wir an den Feiertagen «gebummelt» (…). Auch heute habe ich vor, in ein Vergnügungslokal zu gehen, wo «Sänger» (ungeschickte Übersetzung von chansonniers) goguettes révolutionnaires* singen.35

* revolutionäre Liedchen, Couplets (Hervorhebung vom Autor)

Gut, könnte man sagen. Aber es ist nicht das Gleiche, ob einer manchmal ein Cabaret betritt oder ob ihm das auch noch gefällt, er sein Wort an Nachbarn richtet und fröhlich lärmt, das heisst: ob er wirklich teilnimmt! Wohlan denn, darüber besteht kein Zweifel: Lenin hat teilgenommen! Hören wir Lise de K.:

Lenin hatte sich für diese Gelegenheit mit einem hellgrauen Anzug gekleidet, der auf wundersame Weise von sämtlichen Flecken gereinigt worden war, und er trug seinen steifen Hut schief auf dem Kopf, wie es einige Pariser taten, die ich mit ihm in den Cabarets des Boulevard de Clichy und in den Kaffeehäusern der Place de la République gesehen hatte.36

Dann der Genosse Aline (es handelt sich um einen Abend am Neujahrstag im Keller eines Kaffeehauses nahe der Porte d’Orléans):

Alle amüsierten sich. Wir sangen. Lenin sang aus vollem Herzen mit, als wir «Stienka Rasin» anstimmten. Er versuchte, den Bariton zu intonieren, aber es gelang ihm nicht, und so fuhr er fort, so gut er konnte, und schlenkerte dabei verzweifelt mit den Armen. Gegen vier Uhr spazierten wir angeheitert auf dem verlassenen Boulevard. Die Frau von N. A. Semaschko und Ilja Safir (Moissejew) begannen einen russischen Tanz. Aber Polizisten auf Fahrrädern verlangten höflich, dem Lärm ein Ende zu bereiten.37

Offensichtlich sind Frau Semaschko und Moissejew nicht die einzigen, die liebend gerne tanzen. Krupskaja zum Beispiel erzählt, dass sich Wladimir Iljitsch und sie im Sommer 1916 während sechs Wochen in den Flumserbergen im Erholungsheim Tschudiwiese, unweit von Zürich, aufgehalten haben: «Abends spielte der Sohn der Wirtin auf seiner Harmonika, und die Gäste traten zum Tanz an …»38 Und wie schaffte es Lenin, gut zu tanzen? So wie er alles tat: mit einem ungewöhnlichen Eifer. Denn wenn er ruhigere Zeiten verbrachte, erklärt uns Nicolas Valentinov, der ihn gut kannte,

war dies nur von kurzer, manchmal minimaler Dauer. Der Normalzustand wich einer Leidenschaftlichkeit; dann veränderte Lenin sich psychisch. Dieser neue Zustand zeichnete sich durch Masslosigkeit und ein Element immenser Begeisterung aus, was Krupskaja mit einer «Raserei» verglichen hat. Dieser Persönlichkeitswandel kam im Laufe seines Lebens in Sibirien plötzlich zum Vorschein: Nachdem er sich Schlittschuhe gekauft hatte, begann Lenin von morgens früh bis abends spät auf dem Fluss eiszulaufen und, wie Krupskaja erzählt, «die Bewohner durch seine Riesenschritte und seine spanischen Sprünge in Erstaunen zu setzen».39

Dieses erstaunlich farbige und bewegte Lenin-Bild, ein wenig Don Quichotte und Monsieur Fenouillard, gewinnt in der Tat noch an Glaubwürdigkeit, wenn uns seine Gefährtin selbst beschreibt, wie er in Sibirien jagte:

Wladimir Iljitsch war ein leidenschaftlicher Jäger, er schaffte sich Lederhosen an und stapfte durch alle Sümpfe.40

Für einen Augenblick ist zu unserem grössten Vergnügen dieser Lenin dem Flaubert von Bouvard et Pécuchet und dem Daudet von Tartarin sehr ähnlich.

Zum Schluss legt uns ein anderer Schriftsteller nahe, dass diese kabarettistische Lebenskraft sich noch andere Ventile als den Tanz zu finden wusste. Es ist dies – wer hätte das geglaubt? – der liebenswürdige und fromme Julien Green, der am 5. Februar 1932 in seinem Tagebuch notiert:

Ein Maler erzählt mir von Lenin, den er 1912 im Quartier Latin kennengelernt hat. «Wir teilten unsere Mädchen. Lenin war sehr lustig, sehr gut und, in der Liebe, sehr schamlos.»41

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«Ein Element immenser Begeisterung ...» Lenin, rechts, 1908 in Capri, zusammen mit Alexander Bogdanow, links, und Maxim Gorki (Foto: Editions Robert Laffont SA, Paris).

Zum Geleit

Dada hat eine kleine Nase nach russischem Aussehen.

Francis Picabia1

Dadaist sein kann unter Umständen heissen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein – nur zufällig Künstler sein.

Richard Huelsenbeck2

Ja, gewisse Reflexionen Lenins haben tatsächlich alle Züge dessen, was man «Pluralismus» (…) genannt hat.

Louis Althusser3

Lenin (…) dachte in anderen Köpfen, und auch in seinem Kopf dachten andere.

Bertolt Brecht4

IV

Begegnungen und Rätsel

Zwei Fragen sind noch unbeantwortet: Wie sind sich Lenin und die künftigen Dadaisten begegnet? Und warum diese Beharrlichkeit, mit welcher von beiden Seiten eine solche Zusammenkunft verborgen, ja gar bestritten wird?

Auf die erste Frage können wir nur mit Hypothesen antworten. Am plausibelsten ist die einer Begegnung zwischen Ball und Lenin, entweder in Zürich, wo Lenin schon lange vor dem Februar 1916 an Konferenzen teilgenommen hat (beispielsweise Ende Oktober 191562), oder in Bern, wo sich auch Ball eine Zeit lang aufhielt, bevor er nach Zürich kam, um sein Cabaret aus der Taufe zu heben. Denn Ball interessierte sich seit jeher für die russischen Revolutionäre. Huelsenbeck bezeugt es:

Er interessierte sich für Bakunin, und er ging zu einer anarchistischen Gruppe in Zürich – auch ich ging dorthin, obwohl ich regelmässig fast einschlief vor Langeweile –, Ball war daran sehr interessiert.63

Gewiss, von Bakunin zu Lenin ist ein langer Weg, aber für einen Internationalisten wie Ball, zugleich skeptisch64 und ökumenisch,* ist jede Stimme gut genug, gehört zu werden, sind alle Begegnungen wünschenswert. Zweite Hypothese: Die beiden Männer sind sich ganz einfach am Eröffnungsabend, dem 5. Februar 1916, begegnet. Schliesslich erschien ja in der Lokalpresse am 2. Februar ein Communiqué, das die Gründung eines Cabarets ankündet, wo «bei den täglichen Zusammenkünften musikalische und rezitatorische Vorträge stattfinden», und das «die junge Künstlerschaft Zürichs» einlädt, «sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung» einzufinden. Lenin könnte sehr wohl diese rätselhafte Persönlichkeit sein, die jener «orientalisch» anmutenden Delegation angehörte, die sich, so Ball in seinem Tagebuch, an jenem Abend beim Organisator vorstellte:

* Erwähnen wir jetzt schon die Worte des Aufrufes vom 2. Februar (siehe weiter unten): «… es ergeht an die jüngere Künstlerschaft Zürichs die Einladung, sich ohne Rücksicht auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen einzufinden» (Hervorhebung des Autors) (Zit. nach Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, a. a. O., S. 71 ; siehe auch Hans Richter, DadaKunst und Anti-Kunst, a. a. O., S. 14).

5.11. (…) Gegen sechs Uhr abends (…) erschien eine orientalisch aussehende Deputation von vier Männlein, Mappen und Bilder unter dem Arm; vielmals diskret sich verbeugend. Es stellten sich vor: Marcel Janco, der Maler, Tristan Tzara, Georges Janco und ein vierter Herr, dessen Name mir entging.65

Orientalische Gesichtszüge, kleine Statur:* passt alles zusammen. Diese Hypothese erklärt gewiss nicht, wie Lenin vorher mit den Brüdern Janco und Tzara (oder sie mit ihm) in Kontakt gekommen war, aber sich dies zu erklären, braucht wenig Vorstellungskraft: Alle waren sie im Exil, Slawen, die aus benachbarten Ländern stammen, und alle waren sie am gesellschaftlichen Umsturz interessiert; alles Gründe, die eine Begegnung begünstigen. Ein Ort wie das Café Terrasse in Zürich, wo auch Richter ausgerechnet die drei Rumänen kennenlernte,66 ist im Übrigen einer solchen Begegnung noch förderlich, zumal auch Lenin gern dorthin zum Schachspiel ging.67

* Darüber eine einzige Zeugenaussage – von grosser Statur sozusagen: jene von Joseph Stalin, als er über seine erste Begegnung mit «dem Adler unserer Partei» berichtet, die er im Dezember 1905 anlässlich der Konferenz der Bolschewiki im finnischen Tammerfors hatte. «Ich sah», sagt er, «einen gewöhnlichen Mann von unterdurchschnittlicher Grösse …» (Lénine tel qu’il fut, mit Beiträgen von J. Stalin, W. Molotow, K. Worochilow u. a. Paris, Bureau d’éditions, 1934, S. 21. Hervorhebung des Autors).

Ball ist darüber von Anfang an auf dem Laufenden. Warum aber – und dies ist unsere zweite Frage –, warum aber hat er bis Juni 1917 gewartet, um die Anwesenheit Lenins überhaupt zu erwähnen, und noch dazu, wie wir gesehen haben, in einer so ungenauen Art und Weise?* Wir wären versucht zu antworten: Eben genau weil Lenin zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Zürich ist, sondern unter den bekannt abenteuerlichen Umständen nach Russland zurückgekehrt und deshalb keiner Gefahr mehr ausgesetzt war. Denn für einen politischen Flüchtling wie ihn war es nicht ungefährlich, sich im Cabaret Voltaire öffentlich sehen zu lassen. Alle Zeitzeugen haben die Ironie jener Situation hervorgehoben, in welcher die dadaistischen Spassvögel von der Polizei bespitzelt oder sogar belästigt wurden, während sie jene, die im Begriffe waren, eine der grössten Revolutionen der Geschichte vorzubereiten, glänzend ignorierte.68 Weder Lenin noch die paar Dadaisten, die seine wahre Identität kannten, hatten ein Interesse, daran etwas zu ändern.

* Siehe oben. Das heisst, dass Ball zu durchsichtigen Anspielungen durchaus fähig ist. Siehe unten, Kap. IX, Anm. I.

Doch als Lenin im April 1917 in seine Heimat zurückgekehrt war, hätte die Dadaisten nichts mehr gehindert, zu reden und den wichtigen Anteil, den Lenin in den Anfängen ihrer Bewegung leistete, hervorzuheben. Erstaunlich also ist, wie wir gesehen haben, ihr Schweigen, oder mindestens die Ungenauigkeit ihrer Zeugenaussage. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Merkwürdigkeit ist nicht unbedingt in einer zähen Komplizenschaft mit dem bolschewistischen Führer zu finden, so als ob sein dadaistisches Abenteuer ein schwerer Fehler gewesen wäre, das der Welt für immer hätte verschwiegen werden sollen. Die einleuchtendste Erklärung ist so viel naheliegender: Die meisten Dadaisten haben gar nicht gewusst, dass Lenin in Zürich einer der ihren war. Das war besser so. Denn es existierte nicht nur die äussere Bedrohung durch die Schweizer Polizei: Im Innern selbst des Cabaret Voltaire wimmelte es nur so von seltsamen Typen. Wiederholen wir, welche hauptsächlich vertretenen Gattungen Marcel Janco in seinen Erinnerungen aufzählt:

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