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Für meinen besten Freund. Und für meinen Mann.
(Das ist nicht dieselbe Person.)

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2015

ISBN 978-3-8270-7752-3
Deutschsprachige Ausgabe
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2015
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotive: FinePic®, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Eins

Marie stieß mit aller Kraft die Tür des Restaurants auf und trat hinaus in die warme Nachtluft. Kälte hätte ihr jetzt gutgetan, vielleicht sogar Regen, der hätte jetzt gepasst, aber nein, es war natürlich warm und niemand zog grimmig den Kopf in den Kragen, niemand eilte nach Hause und fluchte dabei leise vor sich hin. Stattdessen spazierten in aller Ruhe glückliche Liebespärchen vorbei, Nachtschwärmer wechselten die Bar, alle bester Laune, alle mit einem Lachen oder diesem gottverdammten, verliebten Lächeln auf den Lippen, als gäbe es keinen schöneren Moment! Wütend lief sie los, durch irgendwelche Gassen, Hauptsache weg, weg vom Restaurant, weg von Robert und weg von all den glücklichen Menschen, die sie jetzt gerade nicht sehen wollte.

Immer wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie zwang sich, sie zurückzuhalten. Ich werde jetzt nicht weinen! Ich habe das Richtige getan, das einzig Richtige!

Aber sie wusste: Wenn sie jetzt nach Hause ginge, würde sie in Selbstmitleid versinken und die Tränen würden nur so fließen. Dann würde sie wieder Zukunftsangst bekommen. Und Zweifel. Sie würde ihre Entscheidung von heute Abend in Frage stellen. Sie würde sich selbst in Frage stellen und alles, was sie hierhergebracht hatte. Und das würde wieder zu noch mehr Frust und noch mehr Selbstmitleid führen.

Sie wollte irgendwohin, wo es ihr etwas besser gehen würde. Wo sie runterkommen würde, bevor die negative Gedankenspirale überhaupt erst anfing.

Sie wühlte ihr Handy aus der Tasche und wählte Fins Nummer, während sie sich schon auf den Weg zu ihm machte.

Fin lag entspannt im Bett. Fast entspannt. Wäre da nicht sein Arm gewesen, der unter dem komatös schlafenden Mädchen langsam, aber sicher taub wurde. Wieso passierte ihm das immer? Er blickte zu dem Mädchen hinüber. Hübsch war sie, erstaunlich unkompliziert. Sie hatten Spaß gehabt, doch jetzt hätte er gerne seinen Arm zurück. Während er noch überlegte, wie er das am besten anstellen sollte, klopfte es an der Wohnungstür. Fin sah irritiert auf den Radiowecker: kurz nach Mitternacht. Wer würde so spät bei ihm klopfen? Und viel wichtiger: Wie sollte er zur Tür kommen – ohne seinen Arm?

Es klopfte noch mal. Dann war es wohl wichtig. Fin drückte seinen tauben Arm in die Oberfläche seiner Super-Hightech-Matratze und das Material gab nach, so wie der Matratzenfachverkäufer es ihm im Laden vorgeführt hatte. Fast mühelos konnte er seinen Arm herausziehen, ohne damit seine neue Bekanntschaft zu wecken. Sie schien sich nicht einmal besonders gestört zu fühlen.

Saugut, freute sich Fin. Die Matratze war ihr Geld jedenfalls wert.

Als es ein drittes Mal klopfte, beeilte sich Fin, aufzustehen und zur Tür zu kommen. Unterwegs fischte er seine Boxershorts vom Boden und zog sie im Laufen über. Dann riss er die Tür auf.

»Marie!«, rief er erstaunt. Im Hausflur stand seine beste Freundin, die Haare hochgesteckt, die Mundwinkel in dem sonst so herzlichen, runden Gesicht schlecht gelaunt nach unten gezogen.

»Robert ist ein Arschloch!«, sagte sie und trat ganz selbstverständlich an ihm vorbei in die Wohnung. Achtlos ließ sie ihre Handtasche auf den Boden fallen. »Wieso gehst du nicht ans Telefon?«

Fin war überrascht, so viel Vorwurf in ihrer Stimme zu hören.

»Ich war … beschäftigt.« Unwillkürlich blickte er an Marie vorbei, Richtung Schlafzimmer. Marie verstand sofort, sie presste erschrocken die Lippen aufeinander und zog den Kopf ein. Fin musste schmunzeln. Sie sah aus wie eine Schildkröte.

»Tut mir leid«, sagte sie leise. »Habe ich euch gestört?«

»Nein, sie ist schon eingeschlafen. Komm rein.«

»Sicher?«, fragte Marie skeptisch.

Anstelle einer Antwort machte Fin nur eine Komm-mit-Geste und ging ins Wohnzimmer. Marie blieb noch einen Moment stehen, aber dann hörte er ihre Schritte hinter sich. Ihr Trenchcoat raschelte, als sie ihn sich abstreifte.

»Kenne ich sie?«, flüsterte sie mit Blick auf die offene Schlafzimmertür. Sie verengte die Augen bei dem Versuch, etwas zu erkennen.

Fin schüttelte den Kopf. »Sie ist neu«, flüsterte er. »Sie heißt …« Er musste kurz überlegen. »Celine!«

Marie guckte belustigt.

»Warst du heute nicht mit deinen Soccer-Jungs in der Halle?«

»Doch.«

»Und dann bist du mit einem Mädchen zurückgekommen?«

»Ja.«

Ohne weitere Erklärung ging Fin zum Schlafzimmer, schloss leise die Tür und holte sich sein T-Shirt, das vor gut zwei Stunden auf dem Wohnzimmerboden gelandet war, als Celine es ihm über den Kopf gezogen hatte.

»Möchtest du ein Bier?«, fragte er Marie. Sie legte sich die Hand auf den Bauch, als würde sie nachdenklich in sich hineinhorchen.

»Hast du noch von deinem Ammoniak?«, fragte sie.

Fin lachte. »Armagnac. Sofort.«

Er holte zwei tulpenförmige Gläser und die braune Flasche, die er mal zum Geburtstag bekommen hatte. Eigentlich schmeckte ihm das Zeug nicht besonders, aber Marie fand es wunderbar. Sie hatte mal gesagt, allein wie der Armagnac bernsteinfarben im Licht leuchte, würde sie schon in eine ganz gemütliche, entspannte Stimmung bringen. Sie hatte sich angehört wie eine Alkoholikerin, und Fin musste lächeln, als er sich daran erinnerte, wie er sie deswegen aufgezogen hatte.

Als er zurück ins Wohnzimmer kam, lag Marie tief in den Kissen seiner Couch, als wolle sie sich darin verbergen. Erst als er eingeschenkt hatte und ihr ein Glas hinhielt, richtete sie sich ein wenig auf. »Prost«, sagte er und ließ sein Glas gegen ihres stoßen. Dann setzte er sich ihr gegenüber in seinen alten, abgewetzten Ledersessel.

»Also, Robert ist ein Arschloch«, nahm er den Gesprächsfaden wieder auf. Marie atmete tief durch und nickte dann.

»Lass mich raten: Er will seine Frau immer noch nicht verlassen.«

»Es ist noch nicht der richtige Moment«, sagte Marie imitierend. Fin riss in gespielter Überraschung die Augen auf.

»Ach was! Das ist ja mal ganz was Neues!«, rief er gedehnt. Er sah an Maries Gesichtsausdruck, dass sie seinen ironischen Unterton missbilligte, aber vor allem sah er noch etwas anderes: eine stille Akzeptanz. Als wäre sie es müde, ihm zu widersprechen. Und tatsächlich wies sie ihn nicht zurecht und nahm Robert auch nicht in Schutz – wie sie es sonst immer tat. Fin bemerkte diese Veränderung mit gemischten Gefühlen. Erst empfand er heftiges Mitleid, aber dann, schleichend, Erleichterung. Vielleicht würde sie jetzt langsam einsehen, dass Robert sie nur hinhielt. Seit fünfzehn Monaten ließ er sich immer neue Gründe einfallen, warum er sein Leben im Moment nicht umkrempeln und nicht offiziell mit Marie zusammen sein könne. Offiziell. Dem Inoffiziellen hatte derweil noch nie etwas im Wege gestanden.

»Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr warten kann«, sagte Marie ernst. Jetzt war die Überraschung auf Fins Seite echt – das hatte er nicht erwartet. Marie war bisher sehr nachsichtig gewesen. Sehr geduldig. Um nicht zu sagen blauäugig.

Sie nickte langsam. »Ich habe Schluss gemacht.«

»Wirklich?« Fin blieb kurz der Mund offen stehen. »Gut so«, freute er sich, bevor er darüber nachdenken konnte. Es war das erste Mal, dass er ganz klar Stellung zu der Sache bezog. Ohne Ironie oder Witz. Unwillkürlich fasste er an seine Armbanduhr und führte sie über das Handgelenk vor und zurück.

»Du machst es wieder«, sagte Marie beiläufig und deutete auf seine Geste. Fin blickte auf seine Hände wie auf zwei Fremdkörper und ließ sofort sein Handgelenk los.

»Danke.« Er hatte Marie gebeten, ihm dabei zu helfen, den Tick abzulegen, nachdem er ihn auch bei anderen Männern als Zeichen von Unsicherheit beobachtet hatte. Marie sprach unbeirrt weiter.

»Das Schlimmste an der Sache ist: Ich wollte gar nicht Schluss machen! Eigentlich will ich doch mit ihm zusammen sein, eine Zukunft haben, eine Familie gründen! Bin ich bescheuert?«

»Bescheuert, Schluss zu machen?«, fragte Fin.

»Bescheuert, noch mit ihm zusammen sein zu wollen.«

Ja, ziemlich. Er sagte es nicht, aber Marie sah ihm seine Gedanken an, als wären sie ihm ins Gesicht geschrieben, und sie lächelte mild.

»Warum ist für Robert denn diesmal nicht der richtige Moment?«, lenkte Fin ab. »Was hat er gesagt?«

»Seine Schwägerin ist schwer krank.«

»Die Schwester seiner Frau.«

»Genau.«

»Und?«

»Und da will er sie nicht ausgerechnet jetzt sitzenlassen – seine Frau.«

»Hm. Weil das so gefühllos wäre«, stellte Fin fest. Diesmal ging sein Sarkasmus an Marie vorbei und sie verfiel wieder in ihren üblichen Modus der Selbsttäuschung. »Ja«, sagte sie in vollem Ernst. Sie zog die Schultern hoch. »Eigentlich ist das ja ganz löblich von ihm …«

Fin konnte es nicht fassen. »Stimmt«, sagte er trocken, »wir sollten uns alle ein Beispiel an ihm nehmen.«

Marie stieß ihn an den Fuß, weil sie sonst nichts von ihm erreichen konnte.

»Au.«

»Blödmann.«

»Und was hat er dann vorgeschlagen? Dass ihr einfach weitermacht wie bisher?«

»Ja. Dass ich noch eine Weile warte.«

»Klar.«

»Aber er kann mir nicht sagen, wie lange.«

»Mhm.«

Sie machte ein entnervtes Kehlgeräusch.

»Aber irgendwas ist immer! Bevor die Schwägerin krank war, hatte seine Frau Geburtstag. Davor war Silvester. Und davor war Weihnachten. Und davor war irgendwas mit seiner Arbeit.«

»Er ist einfach zu gut für diese Welt.«

»Jetzt hör endlich auf!«, rief Marie, nicht ohne ein Schmunzeln.

»Psst«, machte Fin. »Du weckst sonst … Dingsda.«

»Oh!« Marie berührte ihre Lippen mit den Fingern. »Sorry.«

Erst jetzt bemerkte Fin Maries schimmernden Nagellack. Und ihren Lippenstift, farblich abgestimmt. Auch ihre Augen waren stark geschminkt, stärker als sonst zumindest. Und ihre Haare waren aufwendig hochgezwirbelt, so wie sie es sonst nie trug. Jemand anderes hätte das alles vielleicht nicht bemerkt, aber Fin kannte sie besser. Plötzlich hatte er große Lust, zu Robert zu gehen und ihn zu erwürgen. Marie bemerkte Fins Blicke nicht. Sie streckte die Beine aus und musterte ihre blauen Seidenpumps. Ihre Füße sahen darin schmal und elegant aus, weil die Ausmaße keinerlei Platz für irgendetwas ließen, was nicht schmal oder elegant gewesen wäre. Fin fragte sich, wie sie ihre Zehen da reingekriegt hatte.

»Willst du bleiben?«, fragte er sie. »Auf der Couch pennen?« Er wusste, dass Marie jetzt nicht allein in ihr leeres Ein-Zimmer-Apartment zurückkehren wollte, wo sie jedes Detail daran erinnerte, dass ihr Leben nicht so war, wie sie es sich immer vorgestellt und gewünscht hatte. Marie sah ihn auch erst dankbar an, lehnte dann aber mit einem Blick zur Schlafzimmertür ab.

»Celine wäre sicher nicht begeistert«, sagte sie. Sie sprach aus Erfahrung. Auch wenn Fin und Marie vollkommen entspannt miteinander umgingen: Anderen ging diese Lockerheit meistens ab und Marie nahm darauf immer Rücksicht. Fin nicht so sehr. Ihm war wichtig, vollkommen ehrlich mit den Frauen zu sein, die er kennenlernte. Er spielte ihnen nichts vor, er fragte nie nach ihren Nummern. Oder ihren Nachnamen. Und er sah keinen Grund, zu verstecken, mit wem er befreundet war. Auch jetzt sah er nicht ein, warum Marie in der Nacht allein sein sollte, nur weil ein Mädchen ohne Nachnamen mit ihm nach Hause gegangen war.

»Ich glaube nicht, dass sie die Frau meines Lebens sein wird«, sagte er, um Marie zu beruhigen.

»Das kannst du doch noch gar nicht wissen«, sagte sie.

Fin schüttelte den Kopf und machte ein abfälliges Gesicht: »Sie hat keinen Sinn für Humor.«

»Warum hast du dann mit ihr geschlafen?«

Die Frage war so abwegig, dass Fin nichts Schlagfertiges einfiel. Er starrte Marie nur an, als käme sie vom Mond.

»Vergiss es«, sagte sie augenrollend.

Sie leerte ihr Glas und schenkte sich einen kleinen Schluck nach. In neuem, frischem Ton sagte sie: »Dann bin ich jetzt also einunddreißig und Single.«

»Es gibt Schlimmeres«, sagte Fin ehrlich.

»Klar, dass du das sagst. Du denkst ja noch nicht an Kinder …«

»Doch«, sagte Fin.

Marie stockte, fing an zu lachen und hörte dann schnell wieder auf, als sie Fins ernstes Gesicht sah.

»Ich will auch mal Kinder haben«, sagte Fin.

»Ja: mal. Aber nicht jetzt. Musst du ja auch nicht. Du kannst sie ja auch noch mit vierzig oder fünfzig bekommen. Jetzt bald willst du sicher noch keine.«

»Sagt wer?«

»Sagst du.«

»Gar nicht.«

»Wie heißt das Mädel noch gleich?«, sie zeigte auf die Tür, und Fin musste wieder kurz nachdenken.

»Celine!«, rief er, als es ihm einfiel. Marie hob die Hände, als hätte sie etwas bewiesen.

»Du meinst, wenn ich Kinder haben wollte, würde ich keine bedeutungslosen Affären haben?«

»Jetzt sei doch nicht so. Willst du ehrlich leugnen, dass du gerade ein Leben führst, in dem Kinder überhaupt keinen Platz haben? Und du magst dein Leben doch so, wie es ist.«

Fin hielt inne, räusperte sich und verlagerte sein Gewicht im Sessel. Verdammt. Er sah, dass Marie sein Unbehagen registrierte, sie runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. Verdammt, verdammt.

»Magst du dein Leben nicht mehr so, wie es ist?«, fragte sie vorsichtig.

Fin lachte, aber es klang selbst in seinen eigenen Ohren nicht ganz überzeugend. »Doch, doch. Schon.«

»Aber?« Jetzt war sie ganz offensichtlich besorgt und Fin ärgerte sich. Das hatte er ja großartig angestellt! Jetzt konnte er das Thema nicht mehr fallenlassen. Sollte er ablenken? Einen Witz reißen? Aber Marie würde sich dann Sorgen machen und sich irgendwas einreden. Lieber sagte er die Wahrheit.

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern wird – wie ich mein Leben so lebe«, sagte er. »Ich will auf keinen Fall so werden wie Bruno, Henri oder die beiden Peters …«

»Verheiratet, meinst du?«

»Nein, ich meine … du weißt doch, wie die sind – was Bruno zum Beispiel letzten Sommer gemacht hat, als er auf Geschäftsreise war.«

»Oh. Ja.« Marie sah auf ihre Hände, als würde sie sich fremdschämen. Bruno hatte vor einem Jahr seine schwangere Frau betrogen, das hatte Fin ihr damals vor lauter Fassungslosigkeit erzählt. Eigentlich kannte er viele Männer, die es mit der Treue nicht so genau nahmen, aber Brunos Geschichte hatte ihn anders berührt als sonst. Er war sprachlos gewesen. Oder eigentlich eher das Gegenteil: Er hatte unbedingt mit jemandem darüber sprechen müssen. Und natürlich war dieser Jemand Marie gewesen.

»So etwas würde ich nie machen«, sagte er jetzt.

»Aber das ist doch gut!« Marie guckte verwirrt.

»Ja, das finde ich auch. Deswegen will ich mich selbst gar nicht erst in Brunos Lage bringen. Wieso hat er sich gebunden, wenn er es doch offensichtlich nicht sein will? Da bin ich lieber ehrlich und bleibe allein. Zumal ich sowieso noch nie eine Frau kennengelernt habe, mit der ich mir etwas anderes hätte vorstellen können … insofern passt ja auch alles.«

»Was ist also das Problem?«

Fin beugte sich vor.

»Ich hätte trotzdem auch gerne Kinder«, sagte er, »ohne mein Leben ändern zu müssen.« Er beobachtete sie genau, um ihre Reaktion nicht zu verpassen, und sah vor allem: Skepsis. Sie hatte den Kopf leicht von ihm abgewandt und sah ihn nur noch aus den Augenwinkeln an.

»Das ist halt ein Widerspruch«, sagte sie langsam. »Das Leben eines Junggesellen und das eines Familienvaters.«

»Findest du?«, fragte er möglichst neutral.

Marie dachte nicht groß darüber nach. Sie antwortete sofort: »Ja, klar. Was wünschst du dir denn genau? Eine Familie zu haben und trotzdem ständig auf irgendwelchen Partys zu tanzen? Dauernd irgendwelche Frauen abzuschleppen? Wie stellst du dir das vor?«

So eine Reaktion hatte Fin schon erwartet. Er hätte sogar eine Antwort parat gehabt, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt. Zum Glück fiel ihm etwas anderes ein. »Du willst doch auch Widersprüchliches«, sagte er.

Marie blinzelte überrascht. »Ich?«

»Finde ich schon. Du sagst, du willst Familie, du sagst, du suchst einen Familienmenschen, einen, der nichts über dich und eure Kinder stellen wird …«

»Ja …?«

»… aber du magst Männer, die intellektuell sind, beruflich erfolgreich, engagiert und interessant …«

»Na und?«

»Wie passt das zusammen? Du magst Männer, die eine Karriere vorzuweisen haben, aber sobald du auf der Bildfläche erscheinst, soll die Karriere plötzlich unwichtig werden. Sekundär – höchstens. Du suchst also jemanden, der im Moment alles für den Job gibt, aber die Bereitschaft mitbringt, den Job hintanzustellen.«

Er konnte an Maries Gesichtsausdruck sehen, dass er einen Nerv getroffen hatte. Er redete weiter: »Genauso wünschst du dir einen Mann, der später nicht im Fitnessstudio rumhängt oder sonst wo, sondern seine Freizeit natürlich mit dir und der Familie verbringt. Aber«, er hob eine Augenbraue, »im Moment magst du vor allem die, die trainiert daherkommen. Die Gutaussehenden.« Marie biss sich auf den Daumennagel.

»Ah-ja … logisch«, murmelte sie.

Doch Fin war noch nicht fertig: »Du willst einen Typen, der selbstbewusste, erfolgreiche Frauen mag, einen dieser neuen Männer, einen Softie, aber natürlich soll er trotzdem auch ganz Mann sein, Stärke zeigen, Respekt einflößen und großes – aktives – Interesse an Sex haben. Aber selbstverständlich nur dir gegenüber. Andere Frauen sind ihm vollkommen egal. Er hat kein Geltungsbewusstsein, zeigt nie Machogehabe, aber er hat auch keine Scheu. Kann auch mal aus sich raus. Er tanzt, er kann großartig feiern, hat viele Freunde … vermisst aber später ganz sicher die Feierei nicht, wenn er stattdessen bei den Kindern sein kann. Vermisst auch seine Freunde nicht – die übrigens alle total nett sind und sich gut mit dir verstehen.« An der Stelle entschlüpfte Marie ein lautes Lachen, Fin redete ungestört weiter:

»Er ist ein Gutmensch, doch im richtigen Moment würde er auch jemandem auf die Fresse hauen, um dich zu schützen. Dabei gar nicht antiquiert. Gar nicht in alten Rollenbildern festgefahren. Träumt schon von der Elternzeit. Hat aber natürlich jetzt noch allerhand Interessantes von der Arbeit zu erzählen. Und von all seinen anderen Leidenschaften, die ihm auch alle nie so wichtig sein werden wie du und eure Familie.«

Dann fiel ihm nichts mehr ein. Marie sah ihn stirnrunzelnd an. Um ihre Lippen spielte ein leichtes Lächeln. Es war das Lächeln einer Person, die zu dem Fehler steht, wegen dem sie gerade aufgezogen wird.

»Aber Robert …«, fing sie an und Fin winkte direkt ab.

»Ach Robert! Klar hat der jetzt perfekt auf dich gewirkt. Konnte er ja auch ganz leicht, in dem Rahmen … ihr habt ja immer nur Spaß gehabt. Da war doch null Alltag. Euer gemeinsames Leben wäre nicht annähernd so, wie eure Beziehung jetzt war.«

»Sondern?«

»Sondern … keine Ahnung. Guck, wie er seine Frau behandelt. Das ist sein wahres Gesicht.«

Marie starrte in ihr Glas, ohne etwas zu sagen, und Fin biss sich auf die Lippe, als er sie so sah.

Nach einer Weile hob sie den Kopf. »Du glaubst also, ich werde immer unglücklich sein? Immer etwas an dem Mann auszusetzen haben, in den ich mich verliebe?«

So herum hatte Fin noch nicht darüber nachgedacht. Er schüttelte leicht den Kopf. »Ich meinte nur: Der Mann deiner Träume – der läuft da draußen nicht herum.« Er wollte noch hinzufügen, dass das nicht bedeuten musste, dass sie immer unglücklich sein würde, aber sie ließ ihn nicht ausreden. Sie stöhnte und fasste sich mit der Hand an den Kopf.

»Oh mein Gott! Ich bin Ally McBeal!«

»Aus der Serie? Die magersüchtige Anwaltstussi aus den Neunzigern?« Fin war verwirrt.

»Die ist auch immer unglücklich. Nein – Moment –, sie ist nicht immer unglücklich, aber immer unzufrieden. Weil sie immer will, will, will …«

»Na ja …«, Fin wollte einwerfen, dass er die Serie ziemlich absurd fand. Oder zumindest die paar Folgen, die er gesehen hatte. Da hörte er Marie sagen:

»Am Ende haben sie das sogar so gedreht, dass sie einfach aufhört, ihr Glück in einer Zweierbeziehung zu suchen. Stattdessen hat sie dann eine Tochter und sagt, die Leere, die sie immer gefühlt hat, ist dadurch jetzt weg. Also braucht sie keinen Mann mehr.«

Fin stockte. »Wirklich?«

»Ja. Irgendwann steht einfach dieses Mädchen vor der Tür. Resultat ihrer Eizellen-Spende von vor was weiß ich wie vielen Jahren. Fernsehen halt.«

Fin konnte es nicht fassen: So eine perfekte Vorlage! Sollte er sie nutzen? Jetzt doch von seinem Plan erzählen? Er fing wieder an, seine Uhr zu drehen. Erst von sich weg, dann zurück, immer hin und her, als könne er sich nicht entscheiden, wie sie nun sitzen soll. Das Armband machte dabei ein sanftes Ratschen, das er gar nicht wahrnahm.

Fin hätte Marie gern alles erzählt – schon längst. Allerdings es war wichtig, den richtigen Moment abzupassen, und der war die letzten Monate nie da gewesen, nicht solange sie geglaubt hatte, dass Robert – Robert! – der Vater ihrer Kinder sein könnte.

Doch das dachte sie ja nun wohl nicht mehr. Sollte er ihr also jetzt von seiner Idee erzählen? Der Satz ging ihm schon durch den Kopf wie ein Heiratsantrag: Könntest du dir vorstellen, mit mir ein Kind zu bekommen? Okay, klang nicht ganz wie ein Heiratsantrag. Aber umso besser: Es sollte ja auch keiner sein.

Marie zeigte auf Fins Hände: »Du machst es wieder.«

Fin hörte augenblicklich auf und ließ die Hände sinken.

Bevor er noch etwas sagen konnte, war Marie aufgestanden, gähnte und streckte sich und sammelte schließlich ihren Trenchcoat auf.

Besser so. Es war noch zu früh. Sie hatte sich gerade erst von Robert getrennt. Vor ein paar Stunden erst! Fin war überrascht, dass sie nicht viel emotionaler war, dass sie nicht weinte, rumschrie oder sonst wie am Rad drehte. Das hatte sie bei anderen Trennungen alles getan. Er betrachtete ihre hohen Schuhe. »Bist du mit dem Fahrrad da?«

»Nee …«

»Komm … dann bringe ich dich nach Hause.« Er nahm seinen Mantel von der Kommode vor seiner Wohnungstür.

»Quatsch. Du kannst doch Celine hier nicht allein lassen. Was, wenn sie aufwacht?«

»Stimmt«, sagte Fin, zog aber trotzdem den Mantel über und öffnete dann die oberste Schublade derselben Kommode. »Ich werde ihr einen Zettel schreiben.«

»Ach was«, sagte Marie und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich komm schon allein heim.«

Fin richtete sich zögerlich auf. »Dann nimm wenigstens ein Taxi.«

»Genau. Und morgen gehe ich dann mit Samantha und Miranda Cocktails schlürfen, in meinem neuen Halston-Kleid.«

Fin runzelte überfordert die Stirn.

»Ich komme klar«, sagte Marie und drückte ihn dann kurz. »Danke«, murmelte sie in der Umarmung, bevor sie ihn wieder losließ.

»Wofür denn?«, fragte Fin. »Fürs Partnerwahl-Bashing?« Er sah zerknirscht auf den Boden. »Ich hätte, glaube ich, lieber so was sagen sollen wie … keine Ahnung … ›du Arme‹ und ›du wirst auf jeden Fall jemanden finden, der so gut zu dir ist, wie du es verdienst‹ … oder so.«

Marie lächelte. »Ist schon gut. Jetzt habe ich was zum Drübernachdenken. Das ist viel besser.«

Sie winkte noch einmal müde und lief dann den Hausflur zum Treppenhaus runter. Fin sah ihr noch kurz nach – es sah ein bisschen so aus, als würde sie humpeln –, dann ließ er widerwillig die Tür ins Schloss fallen.

Marie lief die Treppe herunter, setzte sich vor Fins Wohnhaus auf den Bordstein, holte ihr Handy hervor und rief sich ein Taxi. Dabei hatte sie es vorhin ernst gemeint: Ihr Leben war nicht wie Sex and the City. Ein Taxi zu nehmen kam ihr normalerweise überhaupt nicht in den Sinn. Aber sie konnte sich einfach nicht vorstellen, noch einen einzigen Schritt in diesen Pumps zu laufen.

Langsam und vorsichtig zog sie die Schuhe aus. Ihre Füße schmerzten an jeder erdenklichen Stelle. Sie rieb sich den Knöchel, den Ballen, die Zehen und atmete erleichtert auf. Sie musste wieder an Robert denken, an das Essen, das Gespräch. An ihre eigenen Worte, die sie so nicht geplant hatte. Aber sie fühlte sich jetzt ganz anders als noch vor ein paar Stunden. Nicht mehr so allein. Nicht mehr so hilflos. Sie sah hoch zu dem erhellten Fenster von Fins Wohnung. Sie fühlte sich wieder ein bisschen mehr wie sie selbst.

Während unten in der Straße ein Taxi hielt, saß Fin immer noch in seinem alten Ledersessel. Er konnte sich nicht so recht dazu bewegen, schlafen zu gehen. Er war aufgekratzt, als hätte er gerade kurz vor einer Prüfung gestanden, die dann doch noch einmal auf unbestimmte Zeit verschoben worden war. Ein merkwürdiges Gefühl.

Fast hätte er etwas gesagt – und dann? Er hatte keine Ahnung, wie Marie auf seinen Vorschlag reagieren würde. Normalerweise konnte er ihre Reaktionen gut vorhersehen, aber dieses Mal war sein Vorschlag zu außergewöhnlich, zu weit weg von all dem, was sie jemals besprochen hatten. Oder? Stimmte das überhaupt? Hatten sie nicht schon oft über Kinder gesprochen? Das erste Mal vor über zehn Jahren …

Fin wusste noch, wie ihn das damals überrascht hatte. Marie, die plötzlich davon gesprochen hatte, dass sie sich im Leben zuallererst und vor allem eine eigene Familie wünschte. Er hatte etwas anderes erwartet, vielleicht dass sie davon schwärmen würde, die Wale zu retten oder alle Städte autofrei zu machen.

Diese Annahme kam damals nicht von ungefähr. Marie hatte sich während der Schulzeit, von der siebten Klasse aufwärts, als rastloses Bündel hervorgetan und sich für alles engagiert, wofür man sie begeistern konnte. Sie schrieb für die Schülerzeitung, war Klassen- und später Schulsprecherin, spielte in Theaterstücken mit und organisierte Projektwochen – nicht einmal den Schulsanitätsdienst ließ sie aus. Überall war sie dabei. Mit dreizehn ging sie ständig auf Demos, protestierte gegen die Kompetenzerweiterung der Bundeswehr genauso wie gegen Atomkraft, sie klebte sich WWF-Sticker auf den Ranzen und wäre bestimmt auch auf den nächsten Kraftwerk-Schornstein geklettert, hätte es in der Umgebung Anlass dazu gegeben.

Fin musste lächeln, als er sie jetzt vor sich sah, die kleine Marie mit ihrem Pferdeschwanz, die immer gerade irgendetwas notierte, verteilte, beredete oder irgendwohin trappelte, um etwas zu erledigen. Kein Wunder, dass Fin damals einen anderen Lebenswunsch von ihr erwartet hatte als »Kinder«.

Er selber hatte sich nie für irgendetwas engagiert. Deswegen hatten Marie und er auch die ersten drei Jahre an der Schule kaum ein Wort miteinander gewechselt. Bis zu diesem einen Tag, an dem sie plötzlich – aus dem Blauen heraus – an seiner Seite gestanden hatte. Oder eigentlich: sich vor ihn gestellt hatte, um die Schuld an einem schlimmen Streich von ihm abzuwenden. Dabei war er tatsächlich der Schuldige gewesen. Er hatte Bienen in den Spind eines fiesen Mitschülers geschmuggelt und wäre mit Sicherheit von der Schule geflogen, wäre da nicht Marie gewesen, die Vorzeigeschülerin, die plötzlich alles auf ihre Kappe nahm – und damit seine Haut rettete. An diesem Tag hatte er nach der Schule auf sie gewartet, um sich zu bedanken. Sie waren zusammen zu ihrer Oma gelaufen, bei der sie lebte, und sie hatte ihm erzählt, warum sie überhaupt nach Fechendorf gekommen war. Danach war alles anders gewesen.

Während Fin so dasaß und in Erinnerungen schwelgte, legte sich langsam seine Aufregung. Müde stieß er sich schließlich aus dem Sessel hoch und schlich zurück ins Bett. Celine schien ihn gar nicht zu bemerken.

Doch der Schlaf wollte nicht so recht kommen. Bald würde er mit Marie reden. Und er hatte keine Ahnung, wie sie seine Idee finden würde.

Zwei

Marie stieg aus der Bayerischen Oberlandbahn und verharrte erst einmal einen Moment, als würde sie den Blick genießen. Vom Bahngleis konnte man die dicht-bewaldeten Berge sehen und die weißen Häuschen mit ihren orangefarbenen Ziegeldächern, die aussahen, als hätte man sie wahllos über den Hügel gestreut. Sicher hielten Touristen, Wochenendurlauber und Ausflügler an dieser Stelle genauso inne wie sie gerade, beeindruckt von der Aussicht.

Aber Marie war von etwas anderem gefangen genommen, wie jedes Mal, wenn sie hier ausstieg. Es dauerte immer nur einen winzigen Moment, nur den Bruchteil einer Sekunde, meistens bemerkte sie es selbst nicht einmal, aber sie brauchte auf jeden Fall immer diesen Moment, diesen kurzen Augenblick, um anzukommen. Sie hätte nie aussteigen und einfach direkt loslaufen können. Dann war es aber auch schon wieder vorbei, genauso schnell, wie es gekommen war. Marie schluckte unbewusst, schulterte ihre Tasche und machte sich auf den Weg.

Auf der Hauptstraße überholte sie eine Handvoll Touristen, die heute wohl keine Wandertour geplant hatten und auch nicht an den See gefahren waren. Marie stellte sich bei diesen Leuten immer vor, dass etwas passiert sein musste und sie außerplanmäßig hier gestrandet waren. Aber wie viele Auto-, Rad- oder sonstige Pannen konnte es geben?

Am Zeitungsladen Pfitzer erspähte Marie den Besitzer durch das Fenster und trat, ohne zu zögern, ein. Die Ladentür stieß an ein Glöckchen und verursachte ein vertrautes, helles Klingeln.

»Marie!«, rief Herr Pfitzer sofort, noch bevor Marie richtig hereingekommen war. Und dann: »Mathilde! Marie ist da!« Freudig kam der alte Herr auf Marie zu. »Ich habe deinen Artikel am Donnerstag gelesen«, sagte er und hob die Hände in die Luft, als gäbe es keine Frage bezüglich seines Urteils: »Großartig!«

Marie lächelte verlegen. Tatsächlich war ihr Artikel alles andere als großartig gewesen. Überhaupt hatte sie schon lange nichts Gutes mehr geschrieben. Nichts Weltbewegendes. Nicht einmal etwas Frisches. Dafür hatte Robert gesorgt. Er hatte Maries komplette Aufmerksamkeit für sich beansprucht, auch in seiner Abwesenheit. Vor allem dann.

Aber Herr Pfitzer war Maries größter Fan, und sie ließ ihn gern reden. Während er aus dem Artikel Sätze zitierte, die ihm besonders gefallen hatten, kam aus einem Hinterzimmer seine Frau Mathilde hervor. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie Marie sah, und ohne den Redeschwall ihres Mannes zu beachten, trällerte sie fröhlich: »Grüß Gott, Marie! Sind schon wieder zwei Wochen rum?«

Marie antwortete mit einem leisen Gruß, während Herr Pfitzer weiter schwelgte. Offensichtlich konnte er den halben Artikel auswendig. Frau Pfitzer stieß ihn an. »Jetzt sei doch mal ruhig, Bernhard. Marie weiß doch, was sie selbst geschrieben hat!«

»Das Ende war perfekt, mit diesem kleinen Seitenhieb Richtung Bürgermeister«, Herr Pfitzer zwinkerte unbeirrt. Das war tatsächlich ein kleines Highlight gewesen und Marie erlaubte sich ein verhaltenes, stolzes Grinsen.

»Danke schön. Freut mich, dass es Ihnen gefallen hat«, sagte sie.

»Geh du doch mal in die Politik«, sagte Herr Pfitzer daraufhin plötzlich.

»Ah, geh!«, sagte seine Frau und winkte ab. »Die Marie hat doch ganz andere Dinge im Kopf, gell, Marie?«

Marie machte den Mund auf, doch Herr Pfitzer kam ihr zuvor: »Wieso? Die Marie hat doch schon immer Politik gemacht. Inoffiziell halt, stimmt’s? In der Siriusstraße steht noch immer dein Schild: ›Freiwillig dreißig‹! Und da halten sich auch alle dran. Ich auf jeden Fall.«

»Du fährst ja auch auf der Autobahn fünfundzwanzig«, sagte Frau Pfitzer trocken und kicherte dann.

»Hast du das gehört?«, fragte Herr Pfitzer gespielt empört. »Damit muss ich leben! Den ganzen Tag geht das so. Zum Glück kommt ab und zu nette Kundschaft rein …« Wieder zwinkerte er ihr zu.

Als würde sie das an ihre eigentliche Aufgabe erinnern, trat Frau Pfitzer hinter die Theke. »Möchtest du wieder das Übliche mitnehmen?«

Marie wollte bereits nicken, aber Herr Pfitzer schüttelte den Kopf. An Marie gewandt erklärte er: »Deine Oma war gestern schon hier.«

Also nahm Marie nur die Süddeutsche mit, obwohl sie die aktuelle Ausgabe schon auf dem iPad gelesen hatte. Sie verabschiedete sich höflich, versprach, am übernächsten Samstag wieder vorbeizukommen, und lief dann die Straße runter zum Blumenladen.

»Das passt schon«, sagte Maries Oma, während Marie zum vierten Mal mit dem Schwamm durch die Auflaufform fuhr. Ihre Finger waren knallrot vom heißen Spülwasser.

»Aber da ist doch noch was«, protestierte Marie.

»Das kriegen wir beim Abtrocknen sauber«, sagte ihre Oma. Sie wischte mit ihrem Geschirrtuch halbherzig über einen nassen Teller und stellte ihn feucht glänzend in den Schrank. Sie war noch nie eine penible Hausfrau gewesen und das Alter hatte sie diesbezüglich nicht gerade gewissenhafter gemacht. Marie fühlte sich deswegen sehr mit ihr verbunden, vermutlich hatte sie ihre eigene Unordentlichkeit von ihr geerbt. Sie musste schmunzeln. »Oh. Na sieh einer an. Du kannst ja noch lächeln«, sagte ihre Oma.

»Wieso sagst du das denn?«, fragte Marie.

»Weil du nicht besonders gut drauf bist. Sonst singst du immer beim Staubsaugen. Heute bist du die ganze Zeit still. Und gelächelt hast du noch gar nicht.«

»Echt?«

»Ja.«

»Hm.« Marie fuhr noch einmal durch die Auflaufform, hob sie dann aus dem Spülwasser und stellte sie auf das Abtropfgestell. »Robert und ich – wir treffen uns nicht mehr«, sagte sie und sah ihre Oma an.

»Ach, Liebes …«, murmelte ihre Oma. Sie ging einen Schritt auf Marie zu und umarmte sie fest. Überraschend fest. Marie schloss unwillkürlich die Augen. Ihre nassen Hände hielt sie links und rechts in die Luft, um ihre Oma damit nicht zu berühren, und so standen sie eine Weile regungslos da. Marie atmete den vertrauten Duft ihrer Oma ein, ihr Haarspray und ihr Parfum, gemischt mit etwas ganz Eigenem. Dann lösten sie sich voneinander und Marie ging schnell dazu über, sich wieder zu beschäftigen, nahm die Auflaufform hoch und trocknete sie ab.

»Was war denn diesmal das Problem?«, fragte ihre Oma. Marie sah ihren Gesichtsausdruck nicht, aber allein der Ton bewirkte, dass sich etwas in ihr zusammenzog. Sie stellte die Auflaufform in den Ofen, wo sie aus Mangel an anderem Stauraum ihren festen Platz hatte.

»Es gab kein Problem«, sagte Marie spontan, wunderte sich dann aber direkt über ihre eigenen Worte. Natürlich gab es ein Problem. Doch erklären wollte sie es ihrer Oma nicht. Sie hatte ihr bisher nicht anvertraut, in welcher Situation sie sich mit Robert befand, und sie wollte ihr auch jetzt nichts davon erzählen. Vage sagte sie also: »Er war einfach nicht der Richtige. Das ist alles.«

Ihre Oma seufzte.

»Warum seufzt du denn jetzt?« Sofort wünschte Marie sich die Worte zurück. Oder wenigstens den schneidenden Ton. Aber ihre Oma zuckte nur mit den Achseln. »Es ist nicht das erste Mal, dass jemand nicht für gut genug befunden wird, oder? Ich hoffe nur, du bereust es nicht irgendwann.«

Marie zwang sich, ruhig zu bleiben. »Glaub mir. Es ist die richtige Entscheidung.«

»Wenn du das sagst.«

»Ja, das sage ich. Er war … nicht hundertprozentig für mich da.« Schon wieder hatte sie das Gefühl, zu viel gesagt zu haben. Sie wandte sich ab und beschäftigte sich noch einmal mit dem Spülbecken, löste den Abflussstopfen, räumte ein paar Kleinigkeiten zur Seite und wischte nach dem letzten gluckernden Geräusch des abfließenden Wassers über die gesamte Fläche. Dann trocknete sie sich erneut die Hände ab und ging zu den Getränkekästen neben dem Kühlschrank. Prüfend hob sie einzelne Flaschen hoch und stellte sie zurück. Die ganze Zeit spürte sie den Blick ihrer Oma auf sich. Und schließlich hörte sie sie fragen: »Womit hat er dich denn alleingelassen?«

»Was?«

»Ist etwas passiert? Etwas, wo er für dich hätte da sein müssen?«

Ihre Stimme war plötzlich voller Sorge. Marie drehte sich zu ihr um und sagte sanft: »Nein, es ist nichts passiert.« Ihre Oma zupfte an den frischen Nelken, die Marie mitgebracht und in einer Vase auf den Küchentisch gestellt hatte.

»Es hat einfach nicht gepasst«, sagte Marie schließlich. »Das war mir eigentlich schon eine Weile klar, aber …« Sie fing an, die Getränkekästen zu sortieren.

»Aber?«

»Hm? Ach … na ja. Ich mochte ihn halt. Deswegen wollte ich es lange nicht wahrhaben.« Sie stellte die Kästen aufeinander und trug sie zur Wohnungstür. Ihre Oma folgte ihr langsam. Marie hörte das schlurfende Geräusch von Filz auf Teppich hinter sich. Dann das Knarzen von alten Dielen, als ihre Oma ins Wohnzimmer ging, wo sie jetzt pro forma den Fernseher anmachen und dann ein Mittagsschläfchen halten würde. Marie stellte die Getränkekästen ab und hielt kurz inne. Dann holte sie das alte Radio aus ihrer Tasche und brachte es ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief schon, war aber noch leise gestellt. Ihre Oma machte es sich im Ohrensessel bequem.

»Guck mal«, sagte Marie und hielt ihr das Radio hin.

Ihre Oma zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Hast du es repariert?«

»Nein«, sagte Marie. »Ich hab’s leider nicht hingekriegt. Ich habe es Fin gegeben.«

Ein warmes Lächeln machte sich auf dem Gesicht ihrer Oma breit. »Und er hat’s geschafft?«

»Nein, auch nicht. Aber er hat es dann seinem Papa gegeben und der hat es repariert. Irgendetwas war mit den Kabeln. Er hat alles ganz neu gemacht.«

Ihre Oma guckte gerührt. Aber auch ein bisschen so, als wäre es ihr unangenehm. »Das wäre aber nicht nötig gewesen«, sagte sie.

»Keine Sorge. So etwas macht Fins Papa doch Spaß.«

»Hast du dich trotzdem erkenntlich gezeigt?«

»Oma, mach dir keinen Kopf. Wir haben ihm einen Triumph geschenkt! Er hat etwas repariert, was sein Sohn nicht hinbekommen hat, das hat ihm mordsmäßig gefallen. Fin hat mir erzählt, wie sie zusammen in der Werkstatt gestanden haben … glaub mir: Wir haben dem Mann einen wunderbaren Vater-Sohn-Moment verschafft, der ist mehr wert als alles, was ich ihm hätte kaufen können.«

Maries Oma lächelte. Aber dann wanderten ihre Augen ins Leere und ihr Lächeln verblasste.

»Was ist denn?«, fragte Marie.

Ihre Oma schaute zu ihr hoch. »Ich finde … solche Momente im Leben …« Sie suchte nach den richtigen Worten und fand sie offensichtlich nicht.

Marie dachte an ihre eigenen Eltern, mit denen sie schon lange keine gemeinsamen Erlebnisse mehr haben konnte. Aber darauf wollte ihre Oma nicht hinaus. Sie räusperte sich. »Wenn du jetzt nicht mehr mit Robert zusammen bist …«, fing sie an. Ach, das meinte sie. Marie lächelte.

»Das wird schon, Oma. Ich bin noch nicht so alt.«

»Du bist zweiunddreißig.«

»Einunddreißig.«

»Aber bald wirst du zweiunddreißig.«

»In acht Monaten!«

»Eben.«

»Also echt. Genauso gut könntest du sagen, dass ich ja bald vierzig werde!«

»Falsch wäre es nicht.«

»Oma!« Marie musste lachen.

»Was denn? Stimmt doch, du wirst schon sehen. Das geht schneller, als du denkst.«

»Noch funktioniere ich aber«, sagte sie. »Glaube ich.«

»Das meinte ich auch nicht.«

»Sondern?«

»Ich frage mich einfach, wer da noch kommen soll.«

»Ach, Oma …«

»Ja, ja, ich weiß: Das ist heute alles anders. Trotzdem: Irgendjemand muss da erst mal sein. Langsam ist nicht nur die Frage, ob jemals irgendjemand deine romantischen Vorstellungen von hundert Prozent erfüllen wird – sondern auch, was du selbst noch erfüllen kannst.«

»Wenn du meinst, ich sei für die Herren nicht mehr frisch genug …«

»Na ja … das vielleicht auch. Aber vor allem werden sie sich fragen, was mit dir nicht stimmt! Wer ist denn in dem Alter noch nicht verheiratet?«

»Sehr viele tolle Frauen.« Marie zupfte sich ihre Bluse zurecht. Der Stoff war steif und zu dick für das warme Wetter und sie wünschte sich, sie hätte nur ein leichtes T-Shirt angezogen. Ihre Oma hatte den Blick abgewandt und strich über das Radio in ihrem Schoß.

»Also …«, sagte Marie, »ich gehe dann mal einkaufen. Wo ist die Liste?«

»Ich brauche nichts«, sagte ihre Oma. »Nur die Getränke.«

»Was ist mit Waschmittel? War das nicht letztens fast leer?«

»Habe ich gestern gekauft.«

»Oma. Mach doch so was nicht.«

»So schwer war das nicht, das kriege ich schon noch hin.«

»Okay. Dann gucke ich mal. Ich bin gleich wieder da.«

Maries Oma nickte und drehte dann ihr Radio auf. Sofort erklang Musik. Marie blieb kurz im Türrahmen stehen, um den Moment zu genießen. Direkt hinter dem Ohrensessel lag völlig verstaubt ein perfektes, nagelneues Digitalradio, das Marie vor Monaten gekauft hatte. Aber damit hatte ihre Oma sich einfach nicht anfreunden können. Jetzt saß sie in ihrem Sessel, die Augen schon halb geschlossen, und lauschte mit einem kleinen Lächeln irgendeinem Schlager aus ihrem geliebten, alten Apparat.

Marie holte ihr Jugendfahrrad aus dem Innenhof, montierte den Fahrradanhänger hinten dran und fuhr mit den Getränkekästen los, in den Ort.

Drei Stunden später saß Marie wieder in der Bahn, auf dem Weg zurück nach München. Sie hatte Ohrstöpsel im Ohr und laute Musik im Kopf. Gedankenverloren streckte sie ihre Beine aus und sah sich ihre Birkenstockschuhe an. Die gelben Lackschnallen leuchteten schön sommerlich und Marie musste lächeln. »Die sind auch eher bequem als alles andere«, hatte ihre Oma beim Abschied gesagt. Langsam ließ Marie die Füße wieder sinken, immer noch lächelnd. Ihre Oma kam halt aus einer anderen Zeit, sie fand es schon schwierig zu verstehen, warum Marie und ihre Freunde ständig Sportschuhe trugen, auch wenn sie gerade gar keinen Sport trieben. Nicht dass Marie der typische Sneaker-Typ gewesen wäre. Überhaupt: Würde sie in jeder Hinsicht nur Wert auf Komfort legen, sähe sie ganz anders aus. Vielleicht sollte sie das ihrer Oma mal vorführen …

In dem Moment vibrierte ihr Handy. Marie nahm ihre Ohrstöpsel raus und ging dran. »Hallo?«

»Hey du.« Es war Fin. »Was machst du gerade?«

»Ich sitze in der Bahn und denke darüber nach, mich nicht mehr zu rasieren.« Marie sprach zwar leise, warf aber trotzdem noch einen verstohlenen Blick durch den Waggon, um sicherzugehen, dass niemand sie hörte.

»Wieso willst du dich denn nicht mehr rasieren? Wegen Robert?« Das fand Marie so absurd, dass sie laut lachen musste, Rücksicht auf Mitreisende hin oder her.

»Ich dachte nur«, wehrte sich Fin. »Frauen ändern doch ganz oft ihre Haare, wenn sie sich gerade von jemandem getrennt haben.«

»Ja, auf dem Kopf vielleicht! Sie ändern ihre Frisur, so wie ich nach Ramon. Oh Gott … weißt du noch …?« Fin antwortete nicht sofort, also fügte Marie hinzu: »Da habe ich mir doch diese Kurzhaarfrisur zugelegt …«

»Ja, ich weiß«, sagte Fin. »Das war süß.«

»Das war nicht süß! Ich sah aus wie ein GI

Fin lachte. »Stimmt. Ich vergaß. Die Leute haben gezittert vor Angst!«

»So war das.« Marie sah aus dem Fenster. An Ramon hatte sie schon lange nicht mehr gedacht. Er war ihre erste große Liebe gewesen. Eine Beziehung, die genau sechs Monate gehalten hatte, so lange wie ihr Auslandssemester in Paris. Ramon war im selben Erasmus-Programm gewesen wie sie und nach einem halben Jahr waren sie ganz vorhersehbar auseinandergegangen: sie zurück nach München und er zurück nach Madrid. Und Marie hatte sich tatsächlich die Haare abgeschnitten.

»Gleich bin ich am Hauptbahnhof«, sagte sie beiläufig, als sie die Gebäude, die am Fenster vorbeiflogen, registrierte.

»Was machst du denn heute Abend?«, fragte Fin, und Marie wandte den Blick wieder zurück in das Innere der Bahn.

»Ich wollte ein Paket für Verena fertig machen. Sie hat Ende August Geburtstag, und die Post braucht drei Wochen nach Guatemala.«

»Puh.«

»Ja. Schwarzbrot kommt jedenfalls nicht in Frage.«

»Allerdings.«

»Und was machst du heute Abend?«

»Deswegen rufe ich eigentlich an«, sagte Fin. »Heute Abend steigt ’ne Party im alten Gaswerk. Ich dachte, vielleicht könnte das ein interessanter Artikel werden. Du hast doch erzählt, dass du mal wieder punkten musst …«

»Ich schreibe nicht über Lifestyle, ich schreibe über Kultur.«

»Ich dachte, du schreibst über Gesellschaft. Wie auch immer: Das ist die erste Veranstaltung in dem stillgelegten Werk, nur für Insider, alles inoffiziell. Ich werde mir das auf jeden Fall mal ansehen.«

Marie überlegte. Die Bahn fuhr in den Bahnhof ein, und die Leute um sie herum standen schon auf. Sie gab sich einen Ruck.

»Vielleicht hast du recht. Schaden kann es nicht. Ich komme auf einen Sprung vorbei.«