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Mika Waltari

Fine van Brooklyn

Die Pariser Krawatte

Zwei Novellen

Kuebler Verlag

DER AUTOR

Mika Waltari (1908–1979) gehörte zu den produktivsten finnischen Autoren des 20. Jahrhunderts. In seiner finnischen Heimat hat den Status eines modernen Klassikers. Sein Werk umfasst rund hundert Titel, darunter Romane, Novellen, Theaterstücke, Reiseberichte, Drehbücher und Hörspiele. Im Ausland wurde er besonders durch seine sorgfältig recherchierten historischen Romane populär (Sinuhe der Ägypter, Michael der Finne, Michael Hakim, Johannes Angelos, Turms der Unsterbliche und andere).

ZUM INHALT

Während der Autor im Ausland fast ausschließlich durch seine umfangreichen historischen Romane bekannt geworden ist, wird er in Finnland auch wegen seiner Novellen sehr geschätzt. Im vorliegenden Band werden zwei dieser Novellen erstmals in deutscher Übersetzung vorgestellt.

In Fine van Brooklyn gerät ein junger finnischer Wissenschaftler, der im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht noch völlig unerfahren ist, in die Fänge einer frühreifen Sechzehnjährigen, Tochter eines wohlhabenden holländischen Kaufmanns und Hobbyarchäologen. Die Geschichte spielt in den späten 1920er Jahren in der Bretagne, wo der Ich-Erzähler seine Ferien verlebt. Dort veranstaltet die Titelfigur Fine eine Art Katz-und-Maus-Spiel mit ihm und lässt ihn ratlos zurück.

Die Pariser Krawatte führt den Leser in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Ich-Erzähler, Geschäftsführer eines Bankhauses im Besitz seines Schwiegervaters, gerät zufällig an eine echte Pariser Krawatte. In den ärmlichen Nachkriegsverhältnissen wird dieses ausländische Stück Stoff für den Protagonisten zum Symbol seiner längst vergangenen Jugend und führt dann zu mancherlei Verwicklungen.

Mika Waltari

Fine van Brooklyn

„Fine van Brooklyn“

und

„Die Pariser Krawatte“

Zwei Novellen

Aus dem Finnischen übersetzt von Andreas Ludden

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Mehr Informationen: www.kueblerverlag.de

Copyright © 2014 by Kuebler Verlag, Lampertheim

Erstveröffentlichung © The Estate of Mika Waltari and WSOY

Originaltitel: Fine van Brooklyn und Pariisilaissolmio.

Übersetzt nach der Ausgabe: Mika Waltari: Pienoisromaanit

(Novellen), Helsinki, WSOY 1995, ISBN 951-0-03805-9,

darin enthalten auf den Seiten 109–187 (Fine van Brooklyn) und 549–596 (Pariisilaissolmio).

Aus dem Finnischen übersetzt von Andreas Ludden

Herausgeber der Reihe Mika Waltari: Andreas Ludden

Umschlaggestaltung: Daniela Hertel, Grafissimo!,

unter Verwendung von Bildern von © Drivepix, © malkani – Fotolia.com

ISBN Buchausgabe: 978-3-86346-081-5

ISBN Digitalbuch: 978-3-86346-223-9

FINE VAN BROOKLYN

1.

Ich war im Oktober 1927 in Paris eingetroffen und hatte mich während der langen Winter- und Frühjahrsmonate eifrig meinen Studien gewidmet. Die Sprache bereitete mir anfangs Schwierigkeiten, obwohl ich mich sorgfältig auf meine Reise vorbereitet hatte. Zwar machte mir die Lektüre auch schwieriger französischer Texte verhältnismäßig wenig Mühe, und auch jetzt noch scheint mir, dass die französische Sprache geeignet ist, selbst schwer nachvollziehbare Gedankengänge mit müheloser Leichtigkeit darzustellen, sogar mit solcher Leichtigkeit, dass dies den ernsthaften Forscher zuweilen stört und irritiert. Ich meine vor allem jene gerade bei Berühmtheiten zu beobachtende ärgerliche Angewohnheit, in ihren literarischen Arbeiten bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit irgendein bon mot oder einen spielerischen Gedankensprung anzubringen, und das selbst inmitten anspruchsvollster Denkgebäude, zu deren Verständnis dem Leser ohnehin völlige Konzentration abverlangt wird. Mir kommt das immer so vor, als würde ein seriöser Professor sich mitten in seiner Vorlesung in einen Handstand aufs Katheder schwingen, um auf diese Weise seine Gelenkigkeit vorzuführen, und dann leicht und behände wieder auf seinen Sitz zurückspringen, um, ohne mit der Wimper zu zucken, in seinem Vortrag genau an der Stelle fortzufahren, wo er ihn unterbrochen hat.

Ich gestehe, dass meine nordische Gemütsart verhältnismäßig langsam und schwerfällig ist, und könnte eine solche, ernsthafter Arbeit ungeziemende Leichtsinnigkeit als Ausdruck fremden Nationalcharakters abtun. Aber da sich bei solchen gedanklichen Spielereien hinter äußerlich täuschendem und sonnigem Lächeln meistens ein überraschend gefühlloser und plumper Zynismus verbirgt, kann ich nicht umhin, eine starke Abneigung dagegen zu empfinden.

Diese Gedanken, die mir ganz von selbst in den Sinn kommen, wenn ich an jenen fernen, dem Studium gewidmeten Winter zurückdenke, überraschen gewiss einen möglichen Leser, jedenfalls in Zusammenhang mit der Geschichte, von der ich mich nun endlich befreien will, indem ich sie niederschreibe, um damit den letzten Rest der Unruhe aus meinem Innern zu verbannen. Denn wenn ich auch einen moralischen Fehltritt darstellen muss, so will ich doch betonen, dass dieser mein Fehltritt keine allzu ernsten Folgen hatte. Und möglich ist auch, dass ich später irgendwann einmal diese Aufzeichnungen mit demselben Gefühl zur Hand nehme, wie eine Frau, die ein wertvolles Buch dadurch verunreinigt hat, dass sie eine Blume zum Trocknen zwischen die Buchseiten gelegt hat und nun Jahre später die vertrocknete, brüchig gewordene und längst nicht mehr duftende Blume betrachtet, ohne sich mehr daran erinnern zu können, wie damals bei ihr der Wunsch entstehen konnte, sie so sorgsam aufzubewahren.

Was mir widerfahren ist, hatte nämlich nichts Umwerfendes an sich, nichts, was für mein weiteres Leben entscheidend gewesen wäre. Jetzt sehe ich dieses Erlebnis als völlig abgeschlossene Episode im zielgerichteten Verlauf meines Lebens und meiner Arbeit. Um es mit einem Bild zu sagen: Der menschliche Organismus sondert eine Kugel ab, die zu entfernen nicht möglich war, indem er um sie herum eine schützende Kalkschicht wachsen lässt, so dass die Kugel nicht mehr länger eine störende Partikel im Körper ist, sondern ganz einfach im Innern der Schutzschicht vergessen wird. Die menschliche Seele funktioniert auf die gleiche Weise: Um unsere Irrtümer, unsere Kümmernisse und Enttäuschungen herum lässt sie allmählich schützende Kalkschichten wachsen und trennt diese so von den Verrichtungen und Gedanken unseres Alltagslebens.

Ich erwähnte die anfänglichen Sprachschwierigkeiten. Meine mangelnde Sprachkenntnis, oder besser gesagt: eine gewisse, mir eigene Langsamkeit sonderte mich von der menschlichen Gesellschaft ab, zumindest während der ersten Monate in Paris. Ich kann nicht sagen, dass ich darunter nennenswert gelitten hätte, denn meine seelische Beschaffenheit, ja mein ganzes Wesen hat mich stets für die Einsamkeit prädestiniert. Ich kann mich nicht erinnern, während meiner Schulzeit einen einzigen wirklich guten Freund gehabt zu haben.

Jene, denen Freundschaft und Gesellschaft viel bedeuten, die nicht zurechtkommen, wenn sie nicht reden und anderen ihre Gedanken und Meinungen offenbaren und erläutern können, werden mich gewiss bedauern und meinen, ich müsse ein unglücklicher Mensch sein. Ich möchte bemerken, dass dies eine ganz und gar unzutreffende Vorstellung ist. Die Einsamkeit hat ihren eigenen Reiz, dem Einsamen entsteht kein Widersacher in Wortgefechten, kein Spott aus fremdem Munde verletzt seine subtilsten Gedanken, noch treffen ihn Blicke des Unverständnisses oder unduldsame Andeutungen. Möglicherweise ist ja bei vielen Menschen der ererbte Herdentrieb auf atavistische Weise zu neuer Kraft gelangt, so dass sie geradezu psychisch leiden, wenn sie ihr Wissen und ihre Meinungen nicht mit anderen teilen können. Mir ist es nie so ergangen. Eine geheime Freude, geheime Entdeckerlust, das hat mir immer mehr Befriedigung verschafft als geteilte Freude. Auch konnte ich meinen Kummer immer verbergen und habe von anderen nie gefordert, sie müssten mir ihr kaltes Mitgefühl zeigen oder mir mit geheuchelter Anteilnahme die Hand drücken.

Das alles hat zur Folge, dass ich als zugeknöpft und unfreundlich gelte. In Gesellschaft sei ich mürrisch und ein Langeweiler, heißt es, aber ich gestehe auch, dass ich unruhig werde, wenn ich die Leute mit munterer Miene von belanglosen Dingen plaudern höre, so als wären diese Dinge für sie von tiefer und beglückender Bedeutung.

In jenem Winter damals in Paris war ich noch nicht so. Ich war zu unselbständig, um andere kritisieren zu können und hatte noch nicht die äußere Anerkennung erfahren, die eine Voraussetzung für unerschütterliche Sicherheit ist. Meine Jugend war spät und gleichsam kühl gekommen, meine Studienzeit war voller wirtschaftlicher Schwierigkeiten samt den daraus entstehenden Widersprüchen, und mehrere Jahre lang hatte ich als Aushilfskraft auf dem Lande verbracht, um dort in aller Stille meine Schulden abzuzahlen und mir das Geld für meine Studienreise und meine Forschungen zusammenzusparen.

Ich war an ein sparsames Leben ohne Komfort gewöhnt, an schlecht zubereitetes Essen und daran, ohne Freunde zurechtzukommen. Deshalb störte mich die zwangsweise Armut, in der ich im Quartier Latin lebte, auch in keiner Weise, sondern im Gegenteil war ich unaufhörlich voller Freude, nachdem ich mich, zunächst scheu und unbeholfen, in meine Umgebung eingelebt hatte. Diese Freude war etwas, was ich bisher, während meiner bedrückenden Studentenzeit und den farblosen Jahren in entlegenen Landstrichen, noch nicht kennengelernt hatte. Das Leben inmitten eines fremden Volkes ließ in mir ein meiner Natur nicht gemäßes Gefühl unbändiger Freiheit entstehen. Die historischen Gebäude und Straßen sowie die zahlreichen vergessenen Denkmäler von Paris, ganz zu schweigen von der Nationalbibliothek mit ihren riesigen Katalogen, all das weckte in mir ein Gefühl der Freude und Kraft, das mir die Arbeit leicht machte und meinen Gedanken überraschende Flinkheit und Schärfe verlieh.

In dem Maße, wie meine Arbeit Fortschritte machte, hatte ich zum ersten Male das Gefühl, intelligent zu sein, und der Genuss, den dieses Gefühl einem beschert, dürfte wohl mit nichts anderem vergleichbar sein. Meine erste Untersuchung, zu der in jenem Winter der Grund gelegt wurde, ist mir immer noch meine liebste Arbeit, trotz einer gewissen Plumpheit, trotz des Wunsches, den Quellen blind zu vertrauen und der Ehrfurcht, die ich meinen Vorgängern zollte. Jetzt wäre ich nicht mehr so zimperlich, aber damals vermochte ich noch nicht zu erkennen, dass in der Welt wissenschaftlicher Arbeit womöglich noch verbissener gekämpft wird und hier die Todesstreiche mit noch mehr Hinterlist versetzt werden als zum Beispiel in der Finanzwelt.

Es ist ein lautloser Abend, da ich dieses schreibe, und ich erhebe mich vom Tisch und trete an meinen Bücherschrank, hinaus aus dem Lichtkegel der Lampe. Meine Augen sind ermüdet, und während ich sie einen Augenblick ausruhen lasse, kommt mir die Erinnerung an jenen Winter mit überraschender Frische wieder in den Sinn. Ich bin ein außerordentlich schlechter Beobachter und kann die Einzelheiten um mich herum oft nur schwer unterscheiden. Wenn ich nun versuche, mir die genauen Züge und die Details, die mich damals umgaben, zu vergegenwärtigen, fühle ich mich deshalb hilflos und gleichsam in einem dunklen Raum umhertappend.

Aber in meinem Munde spüre ich immer noch den Geschmack heißer Milch im Kaffee während der kalten Morgenstunden, als die Bäume in den Parks mit Reif überzogen waren und die Kamine in den Glasterrassen der kleinen Cafés wohlige Wärme ausstrahlten, die man im Hotelzimmer so vermisste. Deshalb hatte ich die Gewohnheit angenommen, meine Aufzeichnungen in dem kleinen Café zu machen, das neben dem Hotel in der schmalen Seitengasse lag, in der man immer achtgeben musste, um nicht in den Gemüseabfällen auszurutschen. Ich erinnere mich lebhaft an den Geruch verdorbenen Salates und den Duft der gebratenen Kastanien, der von den Türen der großen Cafés am Boulevard herüberzog. Ich nahm gewöhnlich nur eine Mahlzeit am Tag ein, denn Brot konnte man dazu umsonst essen, so viel man wollte. Auch kaufte ich mir oft in Fett gebackene Kartoffeln und aß sie aus einer Tüte aus Zeitungspapier.

Dies alles hört sich jetzt im Nachhinein nach einem ärmlichen Leben an, aber ich kann versichern, dass mir dabei nie in den Sinn kam, mir könnte etwas fehlen. Im Gegenteil, ich war glücklich in jenen ersten Monaten und, wie ich schon sagte, mein ganzes Leben war überstrahlt von einem leichten und schönen Gefühl der Freiheit. Niemand wachte über meine Schritte oder meine Essens- und Schlafenszeiten, so wie früher in meinem strengen und engherzigen Elternhaus oder später, als ich in Vollpension logierte. Ich will damit nicht sagen, ich hätte meine geringe Freiheit auf irgendeine Art missbraucht. Aber es war mir angenehm, dass ich essen durfte, wann ich wollte, kommen und gehen konnte, ohne jemandem erklären zu müssen, wo ich denn hineile. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir eine solche Freiheit moralisch gefährlich werden könnte.

Meine Tage waren lang, aber dennoch flogen sie wie mit Flügeln an mir vorbei, bis ich verblüfft und bestürzt feststellte, dass es Frühling geworden war. Ich erschrak, denn die mir noch verbleibende Zeit, für die mir noch die Mittel zur Verfügung standen, schien nun sehr kurz zu sein. Ich wollte meine Forschungen unbedingt abschließen, und deshalb straffte ich mein tägliches Pensum immer mehr. Von außen betrachtet würde es in diesem Frühling für mich jetzt nichts anderes mehr geben als übermenschlich viel Arbeit; allein die Masse des Papiers, das ich für meine Aufzeichnungen brauchte, war enorm, aber jetzt im Nachhinein bemerke ich mit Erstaunen, dass die Arbeitstage in derselben Umgebung, an denselben lautlosen Tischen, völlig gleichförmig verstrichen, ohne irgendeine Erinnerung hinterlassen zu haben, während dagegen ein kurzer Spaziergang oder eine halbe Stunde, die ich spät abends in einem Café verbrachte, in meinem Gedächtnis eine ganze Reihe äußerst lebhafter Erinnerungen zurückgelassen hat.

So werde ich nie einen jener seltenen Morgen vergessen, an dem ich mit flottem Schritt auf einer der Uferstraßen entlang spazierte und plötzlich etwas meinen Blick gefangen hielt, so dass ich stehenbleiben musste. Die Platanen am weißgrauen Ufergeländer hatten ausgeschlagen. Gegen die knorrigen schwarzen Stämme sah das frische Grün im Sonnenlicht fast gelb aus. Und wie wohl tat mir nach dem kalten Winter die Wärme der Sonne, die mir auf den Rücken meines schwarzen Mantels schien!

So hart ich auch arbeitete, trotzdem, es war doch eine sorgenfreie Studienzeit. Der Frühling machte mich leichtsinnig, er entlockte mir unbedachte Worte und brachte mir Zufallsbekanntschaften ein, die ich auch im Café grüßte. Ich machte es mir zur Gewohnheit, jeden Abend in einem Straßencafé am Boulevard ein Glas Bier zu trinken, ohne im geringsten daran zu denken, wie sehr dieses nur scheinbar unschuldige Getränk einer lockeren Moral Vorschub leistet. Wenn ich heimkehrte, waren die Schatten ziemlich dunkel und sanft, der Himmel war oberhalb der Straßenbeleuchtung unnatürlich blau, und einige Male geschah es, dass eine an der Straßenecke wartende Frau mir über den Arm strich, mir zwischen ihren schwarzen Augenbrauen hindurch funkelnde Blicke zuwarf und mich mit betörender Stimme ansprach. Dann klopfte mir das Herz vor Schreck, und nicht immer war ich Herr über meine Stimme, wenn ich erklärte, ich hätte es eilig. Aber sie konnten auch sehr lästig sein, und zu meiner Beschämung musste ich oft zu der Ausrede Zuflucht nehmen: ein andermal. Dann gaben sie freundlich nach.

Ich schäme mich, da ich merke, dass ich mit innerer Belustigung an solche Begegnungen zurückdenke, obwohl man über das Unschickliche daran nur einer Meinung sein kann. Aber sie bedeuten mir Abenteuer, und ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich nie auch nur das geringste Bedürfnis verspürte, den Verlockungen zu folgen. Der Grund dafür liegt zum Teil darin, dass es sich im Allgemeinen nicht um junge, sondern um bereits sehr reife Frauen handelte.

Auf den sandigen Wegen der Parks führte man Kinder aus, man kleidete sich in fröhlichen Farben, die Händler stellten ihre Waren auf der Straße aus, und ganz Paris stöhnte unter der sommerlichen Hitze, so dass ich Tag und Nacht mein Fenster geöffnet hielt und keine Wollsocken mehr trug. Zuweilen spätabends, wenn ich aus der Gasse, in der sich die Hitze staute, die düsteren Treppen in meinem Hotel hinaufschritt, hatte ich das Gefühl, etwas drücke mir auf die Brust, und eine unsichtbare Hand presse mir den Hals zu. So saß ich des Nachts lange Stunden am offenen Fenster und hörte allerlei Stimmen und Geräusche, Gelächter, zischelndes Gewisper und aufdringliche Musik, die von irgendeiner Tanzveranstaltung herüberhallte. Ich fühlte mich schwach in der Brust, und meine Knie zitterten, so dass ich denken musste, ich hätte etwas Verdorbenes gegessen oder verunreinigtes Wasser getrunken.

Die Unruhe, die sich mir aufs Gemüt geschlagen hatte, fand sicher auch in meinen Briefen Widerhall, denn im Juli 1928 erhielt ich ganz überraschend ein Einschreiben von einem Freund meines verstorbenen Vaters, der mir schon oft unter die Arme gegriffen hatte. Ich hatte es für meine Pflicht angesehen, ihn ständig von den Fortschritten meiner Studien und dem Stand meiner Gesundheit auf dem laufenden zu halten. Jetzt schrieb er, ich hätte mich wahrscheinlich überarbeitet und solle mir um Gottes willen einen Urlaub gönnen. Zu diesem Zweck hatte er dem Brief einen Scheck beigefügt mit den Worten, dies sei als ein Geschenk von ihm anzusehen, und ich solle mein allzu empfindsames Gemüt mit dieser Summe nicht belasten. Dann bemerkte er noch, meiner Gesundheit am zuträglichsten wäre wohl ein Feldzug auf den Montparnasse, wo ich mich ordentlich betrinken solle, aber er nehme an, ich würde es wohl für besser halten, für zwei Wochen irgendwohin aufs Land zu fahren und mich dort zu erholen.

Natürlich gab es Bücher, die ich mir unbedingt hätte kaufen wollen, und am verlockendsten war die Versuchung, meinen Studienaufenthalt um einen Monat zu verlängern. Doch ich hielt es für meine Pflicht, das Geld gewissenhaft auf die Art auszugeben, wie es seinem Vorschlag entsprach. Ich meine nicht diesen misslungenen Scherz mit Montparnasse, sondern einen Urlaub und eine Reise aufs Land. So ungeheuer war das Gefühl der Erleichterung, als ich mich zu diesem Entschluss durchgerungen hatte, dass ich innerlich lachen musste und die Bücher und das Heft mit meinen Aufzeichnungen auf dem Schreibtisch demonstrativ zuschlug, und zwar so heftig, dass das Tischbein, das den ganzen Winter über verdächtig gewackelt hatte, nun endlich aus den Fugen geriet und zu Boden polterte.

Es war die heißeste Zeit des Sommers, und die drückende, von keinem Windhauch bewegte Luft in den engen Gassen der Altstadt machte einem das Atmen schwer. Das Quartier Latin lag ausgestorben da. Alle, die es nur konnten, waren aus der Stadt geflohen. Der albanische Medizinstudent, mit dem ich abends im Café für gewöhnlich ein paar Worte gewechselt hatte, war verschwunden, ohne sich von mir verabschiedet zu haben, und der Wirt im Bistro, der mir meinen Morgenkaffee servierte, erzählte, er habe seine Kinder in die Bretagne geschickt. Nach dem, was er erzählte, konnte man in der Bretagne recht sparsam Urlaub machen. Das bestätigte mir auch meine Hotelwirtin, wenngleich sie auch über den beschädigten Tisch in meinem Zimmer jammerte. Der Tisch hatte die ganze Zeit ihrer Hotelführung heil überstanden, und sie erinnerte sich noch, wie sie ihn seinerzeit günstig auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Er war von altertümlicher, stabiler Machart, und sie bezweifelte, ob ein heutiger Tischler noch in der Lage wäre, ihm wieder seine alte Brauchbarkeit zurückzugeben. Ich fühlte mich schuldig, aber ihrem Rat folgend eilte ich zur Gare d’Orsay, kaufte eine Fahrkarte nach Lorient und erkundigte mich nach der Abfahrtszeit des Nachtzuges.

An der hässlichen Wand der Bahnhofshalle hing eine Reihe von Plakaten mit Motiven aus der Bretagne, und erst, nachdem ich mein Billett erstanden hatte, schaute ich mir sie näher an. Unter felsigen Bergen, Meerlandschaften und schönen Sandstränden fiel mein Blick auf ein seltsames Bild, auf dem sich inmitten einer flachen Landschaft Reihen unbehauener Steinpfeiler bis in unendliche Fernen zu erstrecken schienen. Das Bild wies den Namen Carnac auf, der mir sofort im Gedächtnis haften blieb und mich an Ägypten und den ganzen steingewordenen Zauber seiner längst erloschenen Kultur denken ließ.

Zweifellos war es meiner natürlichen Vorliebe für all das zuzuschreiben, was schon vor langer Zeit vergangen ist und worüber sich somit ohne Schwierigkeiten eine objektive Vorstellung bilden lässt, dass mein Blick, als er über die übrigen Plakate streifte, die für harmlose Sommerfrische warben, gerade von diesem Bild gefangen wurde. Damals wusste ich noch nicht, dass Carnac in der Bretagne einige der berühmtesten megalithischen Denkmäler in Europa aufzuweisen hat, die höchstens noch vom englischen Stonehenge übertroffen werden.

Ich hatte etwa zwei Monate lang Konversationsstunden bei einer alten, tauben Dame genommen, die nur ein paar Francs für die Stunden nahm und mich an den ermüdendsten Hitzetagen aus der Zeitung vorlesen ließ, um meine Aussprache zu korrigieren. Sie hörte mir mit geschlossenen Augen zu, machte hier und da eine Bemerkung und ließ mich etwas wiederholen, aber im Nachhinein habe ich den Verdacht, dass sie die Pausen zu willkommenem Schlummer nutzte. Seit achtunddreißig Jahren unterrichtete sie so zwölf Stunden am Tag und verstand zweifellos sogar im Schlaf die richtigen Bemerkungen zu machen. Jedenfalls, als ich zu unserer letzten Stunde erschien, kaufte ich ihr für einen halben Franc eine Tüte Süßigkeiten und bat sie, mir von Carnac zu erzählen, und aus welcher Zeit jene Pfeilerreihen stammen, die ich auf dem Bilde gesehen hatte.

Sie wusste mir viel von den Monolithen zu erzählen, aber die Klarheit dessen, was sie mir berichtete, störten die Süßigkeiten, die sie lutschen musste, hatte sie doch keine Zähne mehr. Das Wissen um meinen baldigen Aufbruch und die Reise ans Meer waren auch meiner Aufmerksamkeit abträglich, so dass ich, während ich ihr zuhörte, vor allem daran dachte, mit wie wenig Ausrüstung ich wohl zwei Wochen lang zurechtkommen könnte. Je weniger Gepäck, desto freier konnte ich mich bewegen, denn ich war entschlossen, mir all die Sehenswürdigkeiten, welche die Umgebung von Lorient aufzuweisen hatte, gründlich vorzunehmen. Mein Interesse war erst geweckt, als die alte Dame eine zerfledderte Frankreichkarte hervorholte und mir zeigte, dass ich von einem Halt auf der Strecke nach Lorient aus einen kurzen Abstecher nach Carnac machen könnte. Ich beschloss, mir diesen Vorschlag zu merken.

Auf diese Weise kam ein Zufall zum andern, und der Beschluss, den ich zu meinem Vergnügen und zur Erweiterung meines Wissens gefasst hatte, ward schicksalhaft für meine Gemütsruhe. Spät am Abend stieg ich auf der Gare d’Orsay in den Zug, nur mit einem kleinen Koffer belastet. Es ist wohl nicht nötig zu erwähnen, dass ich in der dritten Klasse reiste. Auf den Bahnsteigen riefen die Gepäckträger ihre Nummern aus, so wie nur Franzosen rufen können, bis der Zug an den Lichterreihen des Bahnhofs vorbeiglitt und ich mich leichten Sinnes auf meinem Sitz zurücklehnte. Ich hatte eine Pfeife und schwarzen Tabak bei mir, denn diese Gewohnheit hatte ich mir, wie auch andere leichtsinnige Sitten, in Frankreich angeeignet, und die Pfeife hatte ich gewählt, weil sie für mich am billigsten war.

Der Zug fuhr ab, aber Lorient habe ich nie erreicht.

2.

Ich habe das, was ich bisher niedergeschrieben, noch einmal aufmerksam durchgelesen, und dabei ergriff mich eine Art Schauder. Zwischen den obigen Zeilen hervor blickt mich ein Fremder an, jemand mit weißer Studentenmütze auf dem Kopf, mit ernster und gewichtiger Miene und stillen Augen. Ich verspüre Abscheu ihm gegenüber, denn vielleicht ist er ein besserer und glücklicherer Mensch als mein jetziges Ich. Was für ein widerwilliger Neid, was für ein Gefühl der Überlegenheit, in das sich amüsiertes Mitleid mischt, hat mir doch die Feder geführt, als ich diese in so vieler Hinsicht erbärmliche Gestalt schilderte!

Wie kommt wohl diese gewisse Scheinheiligkeit, dieser gezierte Ton in meine Erzählung? Allerdings hat ja auch die Sehnsucht diese Zeilen hervorgebracht, Sehnsucht nach meinem früheren Ich, das auf den Trubel der Straße hinaustrat und jeden seiner Sinne offenhielt, um all das zu bestaunen und sich anzueignen, was es für schön hielt. Jener junge Mensch ist unter Stapeln von Büchern verschwunden, er verschwand, von niemandem beachtet, an dem Tag, an dem ich begann, zu mir selbst freundlicher zu sein als zu anderen und mich dessen nicht mehr schämte. Soll ich wirklich neidisch auf ihn sein?

Nachdem ich dies alles gelesen habe, empfinde ich auch mehr Achtung für die Schriftsteller wegen ihrer fruchtlosen Mühen, und zugleich bewundere ich ihre Kunst, sind sie doch im Allgemeinen mit den Ergebnissen ihrer Arbeit zufrieden. Wenn ich versuche, die damalige Zeit zu schildern, habe ich das Gefühl, als schöpfte ich mit einem Sieb Wasser in ein bodenloses Gefäß. Zwar kann ich zwischen den Zeilen lesen, doch für einen Fremden ist es zweifellos unmöglich, sich ein Bild von jener Wirklichkeit zu machen, die mir beim Schreiben so aufreizend und lockend vorschwebt, sich aber den Worten widersetzt. Für das Selbstgefühl eines einflussreichen Mannes ist es schon ein Schlag, wenn er zugeben muss, etwas so Simples, wie es ein gewöhnliches Leben ist, nicht schildern zu können.

Und wieder halte ich ein. Wieder entferne ich mich aus dem Lichtkreis der Lampe und trete an meinen Bücherschrank. Ich wundere mich, von was für widersprüchlichen Gefühlen mein Inneres aufgewühlt wird.

Denn ich fürchte mich. Es tut ja weh, wenn eine Kugel, die inzwischen ganz mit dem Organismus verwachsen ist, ihm plötzlich wieder entrissen wird. Und trotzdem hat dieser Schmerz etwas erregend Süßes für mich, denn er bringt mir all das zurück, weswegen ich mich geschämt habe, aber ohne das ich vielleicht doch eher ein ausgehöhlter Stamm wäre, ein menschliches Grab mit gelben Knochen. Dieser Schmerz ist süß, denn einst habe auch ich gelebt und eine kurze Jugend durchlebt, obgleich sie kühl und zu spät daherkam. Und ihre unverantwortliche Verblendung hat kein äußerer Erfolg besiegt, auch kein gefestigter Ruhm, dessen ich mich unter den gestandenen Männern meines Faches erfreue, weder die wirtschaftliche Sicherheit noch ein Lebenswandel, der auf unverrückbar gewordenen Gewohnheiten fußt, auch wenn ich mir das in den Augenblicken unerschütterlichster Gemütsruhe einzureden versuche. Trotz allem schaue ich mit Erschütterung in die Vergangenheit wie in einen gefährlichen Abgrund zurück, gequält von dem grauenvollen Gedanken: „was wäre gewesen, wenn?“ und ich verspüre eine besonnene Befriedigung darüber, dass ich es meiner schon fast gebrochenen Willensstärke verdanke, aus alledem davongekommen zu sein, so wie ein Hund einem zufallenden Tor gerade noch entschlüpft. So sehr mangelt es dem Denken eines durchaus als klug geltenden Mannes an Folgerichtigkeit, wenn er nur für einen Augenblick von dem Weg abkommt, den ihm die natürliche Vernunft als sicher vorgezeichnet hat, und in die trüben und unreinen Gefilde der Gefühle gerät.

Ich erinnere mich immer noch gut an jene Nacht, als der Zug unter dem matt glänzenden, spätsommerlichen Sternenhimmel durch die wärmeausdünstenden Landschaften dahinraste. Neben und gegenüber von mir saß eine französische Kleinbürgerfamilie, die sich für die Reise mit Kissen und Proviantkörben ausgerüstet hatte und auch keine Scheu verspürte, sich teilweise der Kleider zu entledigen, als die Hitze im Waggon immer drückender wurde. Besonders erinnere ich mich der Großmutter. Sie trug ein Kleid mit Spitzenrüschen und Kameenadeln und aß gierig die ganze Reise über mit ihren knochigen Fingern, auch während die anderen schliefen. Sie aß, als ich meinen Kopf an den Regenmantel legte, um, begleitet vom einschläfernden Rattern der Waggonräder, erschöpft die Augen zum Schlafe zu schließen. Sie aß, wenn ich, geweckt durch ein heiseres Aufkreischen der Lokomotive, die Augen einen Spaltbreit öffnete. Und sie aß immer noch, als der weiße Morgennebel sich auf die Täler zwischen den flachen Hügeln Frankreichs senkte und der Zug auf einem hohen Damm in immer rasenderer Fahrt dahineilte, als wollte er sich vor dem Sonnenaufgang zum Atlantik flüchten.

Ihre eingefallenen Wangen bewegten sich angestrengt, ihre farblosen Lippen schmatzten, und die Haare hingen ihr in gelbgrauen, ungekämmten Strähnen über die Stirn. Sie aß, und ihr Bauch, den das schwarze Kleid umhüllte, war wie ein unnatürlicher, aufgedunsener Kropf. Der Rotwein, von dem sie in kleinen und vorsichtigen Schlucken nippte, brachte ihr, je weiter der Morgen voranschritt, einen Hauch von Röte auf die Wangen. Aber noch lebendiger als dieses Bild steht in meiner Erinnerung der alles überdeckende Knoblauchdunst, den der rotgesichtige, uhrkettenbehangene Familienvater mir durch sein Geschnarche im Takt seiner Atemzüge unter dem Schnurrbart hervor direkt ins Gesicht blies.

Ich war zu glücklich, da ich diese Reise antrat, als dass irgendeine Unbequemlichkeit oder ein störender Umstand mich ernstlich hätte berühren können. Im Gegenteil, die unbekannte Reisegesellschaft bereitete mir einen besonderen geistigen Genuss, während ich ihre schlafenden Gesichter betrachten konnte, in denen sich materielle Befriedigung widerspiegelte, ohne den kleinsten Zweifel an der Beständigkeit des Seienden und seinem Wert an sich. Der Schlaf legte ihre geistige Unbedarftheit in geradezu mitleiderregender Klarheit bloß, und das einzige, was die milde Überlegenheit meines Intellekts störte, war jene vom Alter gezeichnete, nur noch aus gelber Haut und Knochen bestehende unsterbliche Großmutter, die mit unerschöpflicher Zähigkeit weiterhin die Gaben des Lebens genoss, indem sie den Flügelknochen eines kalten Brathähnchens benagte. Sie brachte mich zum Meditieren über das Verhältnis von Geist und Materie, bis sie am frühen Morgen, als ich wieder in ruhelosen Schlaf gefallen war, in meinen Traumbildern mit dem grauenhaften und großzügigen Verschlinger verschmolz, der sich die verirrten Seelen in der fahlen Düsternis der Unterwelt schmatzend einverleibte. Noch als ich aus dem Zug ausstieg, musste ich an sie denken und empfand dabei mit Grauen gepaarte Ehrfurcht.