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© Jennifer Knappheide / JUMBO Verlag

Sarah Theel hat Germanistik, Geschichte und Europäische Literaturen in Düsseldorf, Dänemark und Berlin studiert. Seitdem arbeitet sie als Lektorin in Hamburg. Nun hat sie Lessings Klassiker für die ganze Familie neu erzählt.

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© Franziska Harvey

Franziska Harvey wurde 1968 in Frankfurt am Main geboren und verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit in Buenos Aires/Argentinien. Sie studierte Grafikdesign mit den Schwerpunkten Illustration und Kalligraphie an der Fachhochschule Wiesbaden. Heute arbeitet sie als freie Illustratorin und hat bereits weit über hundert Bücher bebildert.

eISBN 978-3-8337-4036-7 © 2019 JUMBO Neue Medien & Verlag GmbH, Henriettenstraße 42a, 20259 Hamburg

Alle Rechte vorbehalten

Text: Sarah Theel: »Nathan der Weise«, angelehnt an die Textfassung von Gotthold Ephraim Lessing, Universal-Bibliothek Nr. 3, © 1964, 2000 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart. Durchgesehene Ausgabe 2000 auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreiberegeln. Außerdem verwendet: http://gutenberg.spiegel.de/buch/nathan-der-weise-1179/1

Illustrationen: Franziska Harvey

Lektorat: Lisa Schachtschneider, Corinna Windeck

Grafik: Fabia Schubert

Das gleichnamige Buch (ISBN 978-3-8337-3998-9), sowie das gleichnamige Hörbuch, gesprochen von Stefan Kaminski, sind im JUMBO Verlag erschienen.

(ISBN 978-3-8337-3780-0)

(eISBN 978-3-8337-4036-7)

www.jumboverlag.de

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Personen

Nathan, ein jüdischer Kaufmann in Jerusalem

Recha, seine Tochter

Daja, Rechas christliches Kindermädchen

Saladin, der Sultan von Jerusalem

Sittah, seine Schwester

Al-Hafi, Derwisch und Schatzmeister des Sultans

Ein junger Tempelritter
Der Patriarch von Jerusalem
Ein Klosterbruder

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In einer Zeit, die wir heute nur aus Geschichten kennen, kam der reiche Nathan von einer langen Reise zurück. Der jüdische Kaufmann war mit seinen Kamelen durch Persien, Indien und vielleicht sogar China gereist. Die Tiere waren mit vielen feinen Stoffen, edlen Gewürzen und kostbaren Steinen beladen. Die Last schwankte gefährlich auf ihren Rücken. Alle waren froh, als Jerusalem am Horizont erschien. Als die Karawane an den ersten Häusern der Stadt vorbeikam, entdeckte Nathan eine Frau, die aufgeregt auf ihn zugelaufen kam. Es war Daja, das alte Kindermädchen seiner Tochter Recha. Die Christin war vor vielen Jahren ihrem Mann von Europa nach Jerusalem gefolgt. Doch dann war dieser gestorben. Da hatte Nathan sie in sein Haus geholt.

Als die alte Frau atemlos vor Nathans Kamel zum Halten kam, stieg er ab, um sie zu begrüßen.

»Nathan, Gott sei ewig Dank!«, rief sie ihm aufgeregt entgegen. »Was für ein Glück, dass du endlich wiederkommst! Dein Haus …«

Der Kaufmann legte Daja seine Hände auf die Schultern und lächelte: »Das brannte. Ich hörte davon, Daja. Beruhige dich bitte und hole erst mal Luft. Wäre es abgebrannt, hätten wir ein neues gebaut, ein bequemeres.«

Daja schüttelte aufgeregt den Kopf. »Nathan, hör doch! Recha wär’ um ein Haar mitverbrannt.«

Entsetzt sah Nathan sie an. »Geht es ihr gut?«

Daja erzählte, dass das Haus lichterloh in Flammen gestanden hatte. Warum, hatte man noch nicht herausgefunden. Alle Diener waren bereits aus dem Gebäude gelaufen, nur Recha war nirgends zu finden. Da hatte man ihre Hilferufe aus dem Haus gehört. Niemand hatte sich getraut, dem Mädchen zu Hilfe zu kommen. Doch plötzlich war ein junger Tempelritter an Daja vorbeigerannt. Der weiße Umhang mit dem roten Kreuz darauf hatte hinter ihm im Wind geweht. Wie ein Engel hatte er ausgesehen.

Ohne zu zögern war er in das brennende Haus gestürmt. Daja war angst und bange geworden, als er nicht sofort zurückkam. Doch dann war er mit Recha auf den Armen aus der Tür getreten und hatte sie in sicherer Entfernung auf der kühlen Erde abgelegt. Daja war neben ihr auf die Knie gefallen. Als sie sich überzeugt hatte, dass es Recha gut ging, hatte sie dem Retter danken wollen. Doch der war bereits in der herbeigeeilten Menschenmenge verschwunden.

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Erschrocken folgte Nathan dem Bericht und murmelte: »Meine Recha …«

»Deine Recha?«, erwiderte Daja.

Da blickte Nathan sie einen kurzen Moment scharf an. Doch sofort wurden seine Züge wieder milde. »Ich habe dir wunderschönen Stoff aus Babylon mitgebracht. Nimm du so gern, als ich dir geb – und schweig!«

Einen Moment schwiegen beide. Dann lächelte Daja wieder. »Hör, was ich dir noch von Rechas Retter zu berichten habe. Man erzählt sich, dass er von Sultan Saladin kurz vor seiner Hinrichtung begnadigt wurde.«

Überrascht horchte der Kaufmann auf. Noch nie hatte man gehört, dass der Sultan einen Tempelritter verschont hätte. Seit Saladin die Kreuzfahrer aus dem Heiligen Land vertrieben hatte, kannte er keine Gnade.

»Durch ein geringeres Wunder war Recha nicht zu retten? Ich muss diesen edlen Mann kennenlernen und ihm danken!«

Doch Daja sah traurig zu Boden. Nachdem der Ritter in der Menge verschwunden war, hatten die beiden Frauen ihn erst Tage später wiedergesehen. Und zwar vor der Kirche, in der das Grab Jesu zu finden ist. Sie lag unweit des Kaufmannshauses und war von dessen Fenstern aus gut zu sehen. Der Tempelherr lief unter den Palmen dort auf und ab. Sofort war Daja zu ihm geeilt. Sie wollte ihn in Nathans Haus einladen. Doch der Ritter schickte sie weg und wollte nichts von ihr oder gar Recha wissen. Kurz darauf war er verschwunden.

»Arme Recha«, sagte Nathan. »Es muss ihr das Herz brechen.«

Daja nickte zustimmend. »Recha glaubt, der Ritter sei ein Engel. Seit sie auf der Welt ist, beschütze er sie. Erst jetzt sei er sichtbar geworden.«

»So eine Schwärmerei.« Der Kaufmann schüttelte den Kopf.

»Ach, lass sie doch. Sie war schon immer eine große Träumerin.« Die Kinderfrau sah ihn mit einem bittenden Lächeln an. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Immerhin glaubt sie ja auch, dass Juden, Christen und Muslime eines Tages in Frieden miteinander gehen.«

»Diesen süßen Wahn behalte ich mir auch. Aber den Engel werde ich ihr nehmen.« Nathan schickte Daja voraus und folgte ihr nachdenklich mit der Karawane.

Als die Reisenden endlich den Hof des Kaufmannes erreichten, lief Recha ihnen schon entgegen. Sie hatte ihren Vater sehr vermisst.

»Mein liebes Kind!«, rief der Kaufmann und erwiderte die Umarmung seiner Tochter. Er war so glücklich, sie gesund wiederzusehen.

Nachdem alle Waren abgeladen und sicher weggepackt worden waren, führte Recha ihren Vater in das kühle Haus und berichtete dabei unablässig von ihrem Engel, der sie aus dem brennenden Haus gerettet hatte.

Zum Glück hatte Daja die Schäden des Feuers bereits beseitigen lassen. So konnte der alte Kaufmann sich erschöpft auf ein paar weichen Kissen niederlassen. Nathan hörte Rechas Erzählungen aufmerksam zu, doch seine Miene verfinsterte sich immer mehr.

»Ich habe einen Engel von Angesicht zu Angesicht gesehen«, schwärmte sie. Dabei schweifte ihr Blick immer wieder aus dem Fenster, durch das man die Palmen vor der Grabeskirche sehen konnte.