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Allison Rushby

Der
Maulbeerbaum

Aus dem Englischen von Dieter Fuchs

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Am Maulbeerbaum geh nur behutsam vorbei,

sonst holt er die Töchter sich,

eins,

zwei,

drei,

im Dunkeln und heimlich – spurlos sogar,

erleben sie nie ihr zwölftes Jahr.

Inhalt

Auf dem Land

Das Lavendel-Cottage

Der Maulbeerbaum

Eine Entscheidung

Nächtliches Geflüster

Ein neues Zuhause

Im Garten

Die Dorfwiese

Jean schaut vorbei

Jeans Warnung

In der Schule

Der Nächste in der Schlange

Warten

In der Schule

Im Schwimmbad

Die Schrebergarten-AG

Unter der Hecke

Kochende Wut

In der Stille

In der Bibliothek

Und immer weiter so

Das Beste draus machen

Besucher und Besuche

Ein echter Neuanfang

Die Schulbücherei

Tief in der Nacht

Ein guter Tag

Besuch am Abend

Veränderungen

Immy sieht etwas

Elizabeth

Alles Gute zum Geburtstag

Draußen vor dem Fenster

Ein anderer Baum

Eins, zwei, drei …

Ein Plan

Neue Freunde

Die Autorin

Die Illustratorin

Auf dem Land

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Immy saß zwischen ihren Eltern und betrachtete die Frau im blauen Businessanzug, die auf dem Tisch vor sich ein paar Ordner übereinanderstapelte.

»Hemingford d’Arcy wird Ihnen gefallen«, sagte die Frau. »Sie tun gut daran, sich für das Landleben zu entscheiden. Na ja, hier in Cambridge wäre es sicher auch schön für Sie, aber draußen auf dem Dorf ist es einfach herrlich. Dort gibt es viel Platz, strohgedeckte Cottages und ein entzückendes kleines Schulhaus … Wie Sie vielleicht wissen, übersiedeln ganz viele Leute aus London hierher und pendeln zur Arbeit in die Stadt.«

Immy, ihre Mutter und ihr Vater zuckten gerade mal mit den Wimpern und sagten kein Wort. In Wahrheit wussten sie es nämlich nicht. Sie waren aus dem weit entfernten Sydney nach England gekommen, damit Immys Mutter in einer Spezialklinik am Rand von Cambridge arbeiten konnte. Keiner von ihnen war je zuvor hier gewesen. Deshalb hatten ihre Eltern ja diese Immobilienmaklerin angeheuert – um ihnen bei der Suche nach einer Wohnung und Dingen wie einer geeigneten Schule behilflich zu sein. Alle drei Familienmitglieder waren übernächtigt und etwas von der Rolle. Sie dachten an nichts anderes, als dass es daheim in Australien jetzt Mitternacht war und sie viel lieber im Bett liegen würden. Immy wusste nicht einmal, welcher Tag heute war. Mittwoch? Nein, eher Donnerstag.

»Also dann.« Die Frau stand auf und klemmte sich ihre Ordner unter den Arm. Einer davon trug die Aufschrift »Helen«, und Immy erinnerte sich daran, dass die Frau so hieß. Helen schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln. »Ich weiß, dass Sie sehr müde sind. Also, was sagen Sie: Machen wir uns auf die Suche nach einem Plätzchen für Sie? Ich habe hier vier Objekte, und eines davon wird sicher Ihren Vorstellungen entsprechen.« Sie warf einen Blick auf den Ordner, der als einziger noch immer auf dem Schreibtisch lag. »Ach, das wollte ich ja auch noch überprüfen. Wie alt bist du jetzt, Imogen?«

»Fast elf«, antwortete Immy.

»Aber du bist es noch nicht?«

»Nicht ganz. In einem Monat.«

»Verstehe.« Erneut trat ein Lächeln in ihr Gesicht, nur dass es Immy jetzt etwas bemüht vorkam. Helen tätschelte kurz den Ordner und ließ ihn auf dem Tisch liegen. »Dann gehen wir mal, oder?«

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Helens schwarzer Mercedes tuckerte durch die herrlich grüne Landschaft und brachte Immys Familie von einem Mietobjekt zum nächsten. Nachdem sie zwei Häuser angesehen hatten, kam es Immy vor, als befänden sie sich mitten in Goldlöckchen und die drei Bären. Genau wie im Märchen wirkte alles irgendwie zu groß, zu klein, zu warm oder zu kalt, nur dass sie sich leider für keines richtig begeistern konnten. Das erste Haus war nicht nur dunkel und winzig, es roch auch total modrig. Das zweite, eine ausgebaute Scheune, sah von außen toll aus, aber beim Hineingehen merkten sie schnell, dass die Inneneinrichtung nicht dazu passte. Alles war viel zu modern, vom blauen Licht über die knallweißen Fliesen bis hin zu einer komplett in Chrom gehaltenen Küche.

»Das sieht ja aus wie im OP!« Immys Mutter, von Beruf Herzchirurgin, hatte ganz entsetzt umhergeblickt.

»Mich erinnert es eher an Star Trek«, hatte Immys Vater gemeint. Er war zur Anrichte gegangen, hatte sich mit ausgebreiteten Armen aufgestützt und eine ernste Miene aufgesetzt. »Bordtagebuch, Sternzeit 2386.82. Wir konnten das gesuchte Haus noch nicht entdecken. Deshalb setzen wir die Reise in die unbekannte Landschaft um Cambridge fort.«

Immy hatte gelacht, ohne recht zu wissen warum – wegen des Witzes oder weil ihr Vater so tat, als sei er der Kapitän dieser Reise. Tatsächlich war es aber nicht er, der sie nach all den furchtbaren Dingen, die passiert waren, auf die andere Seite der Erdkugel befördert hatte.

Direkt angrenzend stand ein sauberes, kleines Backsteinhäuschen, das wiederum zu einer ganzen Reihe sauberer, kleiner Backsteinhäuschen gehörte. Immys Mutter hatte dementsprechend gefunden, dem Haus fehle so etwas wie Ausstrahlung. »Denkst du, die Dursleys wohnen mehr links oder eher rechts?«, hatte sie Immy zugeflüstert, als Helen außer Hörweite war.

Das war also auch nichts. Aber Helen schien es mit Fassung zu tragen. Sie brachte die Familie Watts wieder nach draußen, wo am Himmel graue Wolken aufzogen. Als sie dann den Motor gestartet hatte, drehte sie sich kurz zu Immy und ihrem Vater um, die auf der Rückbank saßen.

»Das Beste habe ich bis zum Schluss aufgespart. Sie werden begeistert sein. Eine sehr schöne Vierzimmerwohnung in einer ehemaligen Mühle. In unmittelbarer Nähe ist eine Schleuse, Sie können also im Sommer die Boote auf dem Kanal betrachten. Es gibt dort einen Schwan mit acht flauschig-grauen Küken. Und zur Schule geht man nur eineinhalb Kilometer durch den Wald. Ein richtiges Idyll, sozusagen.«

»Das klingt ja herrlich«, hatte Immys Mutter voller Hoffnung gemeint.

Und das war es tatsächlich. Die alte Mühle war fantastisch – ein großes sandfarbenes Backsteingebäude, das direkt an einer alten Steinbrücke mit nur einer Fahrspur stand. Unten plätscherte munter der Fluss, und wie versprochen schwamm der Schwan mit seinen Jungen auf und ab – alles wie im Bilderbuch.

Trotzdem war auch die Mühle nicht das Richtige. Schon sehr schön, aber eben nicht das Richtige.

»Ich weiß nicht recht«, sagte Immys Mutter, als sie über den knirschenden Kies zurück zum Auto gingen. »Wir haben noch nie in einer Wohnung gelebt. Ich hatte gehofft, es gibt einen Garten.«

»Zu dem Haus gehört eine eigene Blumenwiese.« Helen zeigte auf eine Holzgatter, hinter dem sich offenes Gelände erstreckte.

»Also, ich habe noch nie eine eigene Blumenwiese gehabt«, meinte Immys Vater.

»Na ja, mitten in Sydney gibt es die ja auch eher selten«, erwiderte Immys Mutter. Seufzend drehte sie sich zu Helen um. »Wenn wir jetzt alle Objekte gesehen haben, würden wir heute Abend über dieses hier beratschlagen. Wäre das in Ordnung? Wir wussten, dass wir vermutlich nicht alles Gewünschte bekommen würden. Und vielleicht ist es ja der Garten.«

Eine Windböe fuhr in ihre Haare und Jacken, und alle begaben sich rasch zum Auto.

Helen steuerte den Wagen über die schmale Steinbrücke, die von der Mühle ins Dorf führte, dann bogen sie rechts ab und befanden sich auf der langen Hauptstraße mit ihren strohgedeckten Häusern. Sie waren rosa, gelb, weiß oder terrakottafarben gestrichen und insgesamt derart schnuckelig, dass sie gar nicht real, sondern eher wie eine altmodische Postkartenansicht wirkten. Von der Rückbank aus beobachtete Immy ihre Mutter, die sehnsüchtig aus dem Seitenfenster schaute.

Im Grunde ihres Herzens wollte sie genau so etwas. Immy wusste nur allzu gut, welche Art von Immobilien ihre Mutter Abend für Abend auf den entsprechenden Internetseiten angesehen hatte. Sie wollte ein perfektes Haus mit Strohdach und ebenso perfektem Garten, in dem sie ein perfektes Leben führen konnten – wo alles wieder gut werden würde. Immy sah zu ihrem Vater, der ihren Blick bemerkte und seine Miene schnell in eine Art Lächeln umwandelte. Das machte er ständig. Immy fand es furchtbar. Stirnrunzelnd wandte sie sich wieder ihrem Seitenfenster zu.

Und genau da erblickte sie es.

»Halt!«, sagte sie und schlug fest auf Helens Rückenlehne.

»Sofort anhalten!«

Das Lavendel-Cottage

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Helen fuhr sofort rechts ran und schrammte mit dem Rad gegen den Bordstein. »Was ist denn los?«, fragte sie. »Ist dir schlecht?«

Aber Immy antwortete nicht. Sie hatte bereits den Sicherheitsgurt gelöst und die Autotür geöffnet und war dabei auszusteigen. Ihr Blick war starr auf das Haus vor ihr gerichtet, das in cremigem Weiß gestrichen war und eine entzückende, kanariengelbe Tür hatte. Das Stroh auf dem Dach wirkte wie eine Zuckerglasur, und als Dekorationskirsche gab es eine Taube, die da oben herumspazierte, als sei sie die Besitzerin des Hauses. Der Vorgarten war voller Lavendel, der sogar noch über den weißen Holzzaun hinausragte. Immy strich mit der Hand über die Blüten, roch dann daran und sog den erfrischenden Duft ein. Noch interessanter fand sie aber das Schild neben dem Gartentor – das gelb-blaue Schild mit der Aufschrift »Zu vermieten«. So eines hatte an jeder der besichtigten Immobilien gehangen.

Mittlerweile war auch Immys Mutter aus dem Auto gestiegen und stand jetzt neben ihr. Ihr Vater kam nur wenige Sekunden später an ihre andere Seite.

Helen brauchte etwas länger, aber als sie dann da war, stand sie nur mit zusammengebissenen Zähnen da.

»Das sieht ja perfekt aus«, sagte Immys Mutter. »Können wir einen Blick reinwerfen?«

»Ähm …«, war alles, was Helen dazu meinte.

Immy sah zu ihrer Mutter, der die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand. »Oh je, es ist doch nicht etwa schon vermietet?«

»Ich …«

Jetzt waren alle Blicke auf Helen gerichtet.

Diese schüttelte aber den Kopf. »Es tut mir leid, aber das ist nicht das Richtige für Sie.«

Immys Mutter legte die Stirn in Falten. »Aber warum denn nicht?«, fragte sie. »Es erfüllt viele unserer Erwartungen. Es hat Charme. Es liegt nah bei der Schule. Es hat einen herrlichen Garten. Übersteigt es vielleicht unsere Möglichkeiten?« »Nein.« Helen blickte nervös nach links und rechts, als wollte sie sichergehen, dass ihnen hier niemand zusah. »Geld hat damit nichts zu tun.«

»Dann würden wir es gerne besichtigen«, sagte Immys Mutter mit fester Stimme. Man merkte, dass ihre Stimmung mit jeder Minute schlechter wurde. Wenn Helen wusste, was gut für sie war, würde sie das Haus sofort aufschließen.

Gut möglich, dass Helen das spürte, denn sie lief zurück zum Auto. »Ich habe den Ordner mit sämtlichen Unterlagen im Büro gelassen.« Dann schwieg sie, wohl in der Hoffnung, Immys Mutter würde das einsehen. Immy musste an den Ordner denken, den Helen auf dem Tisch gelassen hatte.

»Das macht nichts«, sagte Immys Mutter entschlossen. »Wir würden es trotzdem gern sehen. Den Schlüssel haben Sie doch, oder?«

Helen ließ die Schultern sinken. »Ja«, sagte sie und ging das letzte Stück zum Auto, wo sie den Kofferraum öffnete. Sie griff nach einer großen Metallkiste und holte einen Schlüsselbund heraus.

Gemeinsam gingen sie auf das Gartentor zu, das sich mit einem freundlichen Knarren öffnete und wieder schloss, und stiegen durch eine Wolke aus Lavendelduft die Stufen zur Eingangstür hinauf. In den Lavendelbüschen schwirrten dicke Hummeln umher, und dazwischen standen immer wieder Wildblumen, die sich im Wind bewegten, als würden sie zu einer unhörbaren Musik tanzen. An der Tür hing eine Keramiktafel mit dem Schriftzug »Lavendel-Cottage«. Helen schloss die Eingangstür auf und öffnete sie.

»Oh!«, sagte Immys Mutter, die als Erste hineinging. »Alles voller Möbel. Hier wohnt ja jemand.«

»Nein«, erwiderte Helen. »Die Familie vermietet es möbliert.« Immy folgte ihrem Vater ins Haus und riss gleich die Augen auf. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie fühlte sich wie in einem Puppenhaus. Der winzige, mit Fliesen ausgelegte Eingangsbereich führte direkt ins Wohnzimmer. Dieses war so klein, dass es gerade mal ein dunkelgelbes Sofa und zwei Lehnsessel gleicher Machart fasste, die vor einem großzügig gemauerten Kamin standen. Die Wände hatten die gleiche Farbe wie die Außenfassade, während die massiven Holzbalken an der Decke wirkten, als würden sie das Zimmer umarmen.

Immys Vater betrat den Wohnbereich. »Hmm«, brummte er mit Blick auf die niedrige Decke, bevor er wieder zu Immy sah. »Werde ich das schaffen?«

Immy verfolgte, wie er mit dem Kopf einem Balken auswich.

»Gerade so!«

»Ist das vielleicht ein Omen?« Er verzog bedeutungsvoll die Augenbrauen.

Immys Mutter ging auf all das nicht ein, sondern sah Helen scharf an. »Die Familie vermietet es möbliert? Aber wir haben doch ausdrücklich nach möblierten Objekten gefragt. Ich kann nicht verstehen, warum Sie uns dieses Haus nicht gleich zu Anfang gezeigt haben.«

»Ich … weil …«, stammelte Helen.

Immy wartete nicht auf Helens Erklärung. Ihre Aufmerksamkeit galt dem seitlich gelegenen Raum. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl. Es war, als müsste sie da sofort hinein. Sie ging an den drei Erwachsenen vorbei, durchquerte den Vorraum und betrat das kleine Esszimmer. Es bestand hauptsächlich aus einer Anrichte und einem kleinen, runden Holztisch mit vier Stühlen. Das Gefühl, weitergehen zu müssen, wurde noch stärker. So stark, dass sie sich ganz benommen fühlte.

Sie durchquerte die Küche mit Schränken aus hellem, auf Hochglanz poliertem Holz. Die Wände waren in einem gemütlichen Grün gehalten, während die Deckenbalken auch hier für ein Gefühl der Schwere sorgten.

Nach draußen.

Immy wurde von einer weiteren Welle erfasst und drehte sich auf dem Absatz um. Genau das wollte sie – hinausgehen.

Ihr Blick fiel auf eine Flügeltür am anderen Ende des Esszimmers, die vermutlich in den Garten führte. Wie in Trance ging Immy darauf zu. Die Hand bereits auf der Klinke, hörte sie Absätze über die Bodenfliesen klappern.

»Nein!«, erklang Helens Stimme. »Imogen! Halt!«

Immy zuckte zusammen und drehte sich zu Helen um, hinter der ihre Eltern ankamen und ganz verstört dreinblickten.

Sie merkte, dass ihr Gefühl nicht mehr da war. Sie fühlte sich wieder ganz normal.

Helen schlug sich die Hand auf die Brust, als sei sie ganz erleichtert, dass Immy noch im Haus war. »Geh da bloß nicht raus. Du bist ein Mädchen und wirst bald elf. Das ist einfach nicht sicher.«

Der Maulbeerbaum

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Es wurde still im Esszimmer.

»Verzeihung, aber habe ich da richtig gehört?«, fragte Immys Vater schließlich. Er und Immys Mutter betraten den Raum und stellten sich links und rechts neben ihre Tochter.

Helen lehnte sich an den Türrahmen. »Ja, Sie haben richtig gehört.« Verzweifelt hob sie die Hand. »Sie werden sagen, das ist lächerlich. Und ich schwöre, dass ich normalerweise auch nicht an so etwas glaube. Ganz sicher nicht. Aber es ist so, dass die Leute … na ja, sie würden es nicht gut finden, dass ich Ihre Tochter hierhergebracht habe. Die Besitzer wohnen immer noch im Dorf, aber selbst wollten sie nicht hier wohnen, weil sie eben auch eine elfjährige Tochter haben. Sie haben ein paar Straßen weiter ein möbliertes Haus gemietet. Ich zeige Ihnen mal, wovon ich spreche, aber bitte gehen Sie nicht nach draußen.«

Helen durchquerte das Zimmer und quetschte sich an Immy und ihren Eltern vorbei.

Sie machte die Flügeltür auf.

Immy und ihre Eltern drängten sich in die geöffnete Tür, um zu sehen, was denn um Gottes willen da draußen sein könnte. Immy hatte keinerlei Idee. Eine Art Erdtrichter? Oder gar ein Schwarzes Loch, so wie Helen sich aufführte.

Sie erblickten einen großen Garten, aber im Gegensatz zu der einladenden Vorderseite des Gebäudes gab es hier keinerlei Blumen oder Hummeln. Alles war düster und von Schatten überzogen, weil auf der linken Seite ein Baum stand – ein unglaublich großer Baum, der sich wie ein Dach über den gesamten Garten und sogar noch das Cottage selbst ausbreitete. Immy stockte der Atem, und mit pochendem Herzen glitt ihr Blick den mächtigen und vollkommen knorrigen Stamm hinauf. Etwa auf halber Höhe fingen dicke Äste an, sich wie Arme auszubreiten und nach außen hin zu kräftigen schwarzen Fingern zu verjüngen, die unbarmherzig und drohend nach dem Cottage griffen. Obwohl Sommer war, gab es keinerlei Laub. Nicht ein einziges Blatt. Nur tintenartige Dunkelheit, die den Himmel darüber komplett verbarg. Es sah aus, als wolle der Baum das Cottage am Stück verschlingen.

Er war widerwärtig. Der widerwärtigste, hässlichste, gemein aussehendste, übellaunigste Baum, den Immy je gesehen hatte.

Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden.

»Gott, was für ein Maulbeerbaum«, sagte Immys Vater. »Der muss ja steinalt sein.«

»Das ist er auch«, sagte Helen. »Mindestens fünfhundert Jahre, wobei das Cottage selbst aus dem siebzehnten Jahrhundert stammt.«

»Erstaunlich, dass er es so lange gemacht hat«, sagte Immys Mutter. »So hässlich, wie er ist.«

Vielleicht lag es an Immys Einbildung, aber kaum hatten diese Worte den Mund ihrer Mutter verlassen, war ihr, als würden sich die Finger des Baums noch weiter ausstrecken. Nach dem Haus. Nachihr. Sie trat einen Schritt zurück und rumste in ihren Vater.

»So etwas sollten Sie nicht sagen«, sagte Helen scharf.

»Na ja, er wird mich ja wohl kaum hören.« Immys Mutter blickte zu Helen.

»Und wenn doch?«, fragte Immy, ohne groß nachzudenken. Bislang hätte sie nicht gedacht, dass Bäume hören können, aber bei diesem hier … sie war sich nicht so sicher.

Helen sah sie an. »Im Dorf gibt es viele Leute, die das glauben – die den Baum für verhext halten. Tatsache ist, dass im Lauf der Jahre zwei Mädchen … na ja … aus diesem Haus verschwunden sind. Beide am Vorabend ihres elften Geburtstags, deshalb habe ich auch gleich nach deinem Alter gefragt.«

Immy und ihre Eltern starrten Helen mit offenem Mund an.

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Immys Vater.

Aber sie konnten auch so sehen, dass Helen keine Witze machte.

»Wenn das wirklich stimmt, dann gibt es hier wohl eher eine Person mit zweifelhaftem Charakter. Ich nehme an, das wurde alles von der Polizei untersucht?«, meinte Immys Mutter.

»Eine richtige Polizei gab es hier erst so ab 1850, und das erste Mädchen ist davor verschwunden – wenn ich mich recht erinnere, so gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Der zweite Fall wurde definitiv untersucht, denn das Mädchen verschwand 1945, aber soweit ich weiß, blieben alle Nachforschungen ergebnislos. Sehen Sie die beiden Astknoten da am Stamm?«

Immy und ihre Eltern suchten den Baum ab, so gut sie das von ihrer Position aus konnten. Aber genau wie Helen gesagt hatte, waren zwei große Knoten erkennbar – einer weiter oben, der andere mehr Richtung Wurzel. Immy konnte sehen, dass im unteren eine weiße Rose steckte, was merkwürdig war, schließlich gab es hier hinten ja keine einzige Blume.

»Es heißt, dass am Tag nach dem Verschwinden der Mädchen jeweils ein neuer Knoten entstand – dass der Baum sich irgendwie ihrer Seelen bemächtigte.«

Im Schatten des Baumes begann Immy zu frösteln.

»Deshalb sind die Besitzer für einen gewissen Zeitraum ausgezogen. Ihre Tochter wird bald elf und soll ihr zwölftes Lebensjahr auch tatsächlich beginnen.«

»Das ist ja wohl die albernste Geschichte, die ich je gehört habe. Was für ein abergläubischer Unsinn!«, sagte Immys Mutter und zerstörte damit die unheimliche Stimmung. »Knoten können durch alle möglichen Dinge entstehen – durch abgestorbene Äste, durch Beschneiden, durch Krankheiten. Sie haben nichts damit zu tun, dass kleine Mädchen verschwinden.«

Immy musste ihrer Mutter beipflichten – es war tatsächlich die albernste, abergläubischste Geschichte, die man je gehört hatte. Und dennoch, wenn sie hier so neben diesem Maulbeerbaum stand …

Sie glaubte jedes einzelne Wort.

Helen zuckte nur mit den Schultern.

»Wenn alle diesen Baum hassen, warum hat ihn dann noch keiner entsorgt?«, fragte Immys Vater.

»Er ist so alt, das er unter Naturschutz steht«, erklärte Helen.

»Es ist verboten.«

»Trägt er Früchte?«, wollte er wissen.

Helen sah ihn verstört an. »Wie es heißt, konnte man hier eimerweise ernten, aber das hat aufgehört, als das erste Mädchen verschwand.«

Immys Mutter machte ein Geräusch, das irgendwo zwischen Lachen und Schnauben lag. »Na, dann sehe ich mir mal den Rest des Hauses an«, sagte sie. »Kommst du, Immy?«

Immy warf einen letzten Blick in Richtung Baum. »Ja, in Ordnung, Mum«, sagte sie nach einem kurzen Moment. Sie folgte ihrer Mutter in die Küche, wo diese sich über Einbauherde im Allgemeinen und Speziellen ausließ. Von dort aus gingen sie durch den Eingangsbereich und stiegen dann die schmale Treppe hinauf, wobei Immy ihre Hand über die Fachwerkkonstruktion in der Wand gleiten ließ. Oben angekommen, bemerkte sie, dass das ganze Cottage im Grunde nur aus vier Räumen bestand. Unten gab es Wohnzimmer und Esszimmer sowie die Küche, oben ein großes und ein kleineres Schlafzimmer, dazwischen ein winziges Bad. Immy bog nach rechts in das kleine, das Kinderzimmer. Der Verputz zwischen dem Fachwerk war zitronengelb gestrichen, und ein Spiegel am Wandschrank verstärkte nicht nur die Farbe, sondern machte das Zimmer auch größer. Es gab einen alten, aber neu lackierten weißen Tisch samt Stuhl sowie eine weiße Kommode. Rechts an der Wand stand noch ein Einzelbett mit weißem Metallrahmen.

Immy ging durchs Zimmer auf das Fenster zu, zögerte aber vor dem letzten Schritt. Wie vermutet, war vor ihr der Maulbeerbaum, der mit den Fingern eines alten Weibes rhythmisch ans Fenster klopfte. Sie zuckte zusammen, als hinter ihr ein Knarren ertönte.

»Hoffentlich habe ich dir unten keine Angst eingejagt«, sagte Helen ganz besorgt auf der Türschwelle.

»Nein«, erwiderte Immy, obwohl ihr in Wahrheit das Herz bis zum Hals schlug. »Alles in Ordnung.«

Immys Eltern tauchten hinter Helen auf, und alle drei quetschten sich zu ihr ins Zimmer. Genau wie sie selbst es getan hatte, ging auch ihr Vater auf das Fenster zu und sah sich den Baum an.

»Natürlich hat das Cottage jede Menge Charme, aber um ganz ehrlich zu sein: Die Besitzer werden Ihre Bewerbung kaum in Betracht ziehen«, erklärte Helen.

Immy sah zu ihrer Mutter. Oh-oh. Ihr zu sagen, etwas sei unmöglich, war nicht besonders klug. Aber zu Immys Überraschung sah ihre Mutter nicht so aus, als sei sie restlos überzeugt von dem Cottage. Sie kam zu Immy und legte den Arm um sie.

»Fahren wir zurück nach Cambridge«, sagte sie zu Helen.

»Wir rufen Sie an, wenn wir wissen, was wir wollen.«

Eine Entscheidung

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Nach einer kurzen, ungeplant eingeschobenen Mittagspause im Hotel ging Immys Mutter ins Krankenhaus, um die Sache mit ihrem Dienstausweis zu regeln. Immy und ihr Vater zogen hingegen los und machten eine Stocherkahnfahrt – ein Student manövrierte sie mit einer langen Stange über den Fluss Cam. Sie saßen auf weichen Kissen, fuhren geräuschlos unter den niedrigen Bögen der Steinbrücken hindurch und sahen die grasbewachsenen Flächen auf der Rückseite der College-Gebäude. Wenn ihr Vater nicht herblickte, streckte Immy die Hand ins kalte Wasser.

Zum Abendessen traf sich die Familie in einer Pizzeria. Immys Vater schrieb die zur Auswahl stehenden Objekte auf eine Papierserviette.

»Also.« Sein Stift schwebte über der Liste. »Was streichen wir zuerst?«

»Das muffige«, sagten Immy und ihre Mutter gleichzeitig.

Er strich den Namen durch.

Als Nächstes kam das Dursley-Haus dran. Dann das Star-Trek-Haus.

Damit waren nur noch die Wohnung in der umgebauten Mühle und das Lavendel-Cottage übrig.

Immys Vater betrachtete stirnrunzelnd die Serviette. »Nicht zu glauben, dass sie es so genannt haben«, sagte er. »Da gäbe es doch sicher bessere Namen. Zum Beispiel Mörderbaum-Cottage. Oder sie hätten es gar nicht groß benennen und lieber ein Schild mit der Aufschrift Warnung vor dem Baum anbringen sollen.«

Immy und ihre Mutter mussten lachen.

»Also«, fuhr er fort. »Welches davon nehmen wir?«

Alle drei sahen sich erwartungsvoll an.

Immy dachte an die Wohnung. Wirklich schön, und die jungen Schwäne waren so süß. Es würde Spaß machen, sie zu füttern, jeden Tag durch den Wald zur Schule zu gehen und dabei den Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten. Aber das Lavendel-Cottage … das Lavendel-Cottage war aufregend. Sie musste an den Baum denken, an seine knorrigen Finger, die von außen ans Fenster des Kinderzimmers klopften. Es lief ihr kalt den Rücken hinunter.

»Das Lavendel-Cottage«, sagte sie schnell, bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte.

»Im Ernst?«, fragten ihre Eltern gleichzeitig und sahen sie überrascht an.

»Hast du keine Angst vor diesem Maulbeerbaum?«, schob ihre Mutter nach.

Natürlich hatte sie Angst. Aber sosehr sie den Baum meiden wollte, sosehr fühlte sie sich von ihm angezogen und wollte mehr über ihn wissen.

»Ihr habt doch gesagt, das Ganze wird ein Abenteuer, Mum«, sagte Immy. »Also bitte, hier haben wir eines.«

»Mit Abenteuer war aber nicht Lebensgefahr für unser Kind gemeint.«

Immy merkte, dass ihre Eltern sie in Richtung der leichteren Variante – der Wohnung – drängen wollten. Sie würde sie also überzeugen müssen. Sie betrachtete den Tisch vor sich und überlegte kurz, bevor sie wieder zu ihrer Mutter sah. »Ein Baum kann keine Mädchen entführen«, sagte sie. »Das wissen wir doch alle.«

»Ja, aber vielleicht etwas anderes«, sagte ihr Vater schnell. »Zum Beispiel ein Mensch.«

Erneut dachte Immy kurz nach und rief sich die Daten ins Gedächtnis. »Über das erste Mädchen wissen wir nichts, aber wenn jemand das zweite im Jahr 1945 entführt hat, dann ist diese Person mittlerweile tot oder doch zumindest sehr, sehr alt. Aber auch so kenne ich die Regeln. Nicht mit Fremden reden. Nicht in fremde Autos steigen, außer ihr sagt, das geht in Ordnung. Und Dad wird vor und nach der Schule zu Hause sein. Wenn er mag, kann er mich sogar hinbegleiten und auch wieder abholen. Außerdem ist mein Geburtstag an einem Wochenende. Wir könnten die Nacht woanders verbringen, um auch wirklich ganz sicher zu gehen.«

Ihre Eltern sahen sich an, und an ihren Mienen konnte Immy ablesen, dass sie gewonnen hatte. Beide waren Ärzte und dachten gern logisch. Nichts hörten sie lieber von ihr als ein schlagendes Argument.

»Also, was denkst du?«, fragte Immys Vater ihre Mutter. »Sollen wir uns bewerben?«

Während ihre Eltern noch einmal die Vor- und Nachteile des Cottage zusammenfassten, betrachtete Immy ihren Vater. Er war vollkommen bei der Sache, und für diesen kurzen Moment sahen seine Augen aus wie früher – ganz klar, und nicht von Gedanken an die Vergangenheit getrübt.

Schlussendlich bestand Immys Mutter darauf, dass sie die Sache überschlafen und erst am nächsten Morgen eine Entscheidung treffen sollten. Nur für den Fall, dass einer seine Meinung ändern würde.

Nächtliches Geflüster

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In der Nacht gab es Geflüster. Immy träumte, die Worte seien um die Äste des Baumes geschlungen, der im Dunkeln nach ihr tastete. Um den Stamm herum tanzten Mädchen und sangen dabei ein merkwürdiges Lied, das sie nicht kannte. Sie wachte abrupt auf, merkte, dass andere Stimmen – echte Stimmen – sich gegenseitig flüsternd zur Ruhe mahnten, und schlief gleich wieder ein.

Als das Schlagen der Zimmertür sie erneut weckte, hob sie den Kopf und sah, dass es bereits hell war. Ihr Vater hatte ein Tablett mit Heißgetränken in der Hand und eine Papiertüte zwischen den Zähnen. Der Geruch von Zimt und Butter drang zu ihr.

»Tut mir leid, mein Schatz«, sagte er, nachdem er die Papiertüte auf dem einzigen Tischchen im Zimmer abgelegt hatte. »Ich wollte dich nicht wecken. Ein Rosinenbrötchen? Und Kakao?«

Immy gähnte und nickte gleichzeitig. Sie wollte schon fragen, wo ihre Mutter war, hörte dann aber das Wasser in der Dusche rauschen. Sie verließ ihr Ausziehbett und setzte sich zu ihrem Vater an den Tisch. Er stellte den Kakao vor sie hin, nahm vorsichtig den Deckel ab und riss dann die fettige Tüte mit den Rosinenbrötchen auf. Immy nahm sich eines und versuchte nicht hinzusehen, als ihr Vater zwei Tabletten aus ihrer silbrigen Verpackung drückte. Er schluckte beide mit etwas Wasser hinunter und ließ den glänzenden Packungsstreifen auf dem sonnenbeschienenen Tisch liegen. Als Immy ihn jetzt beobachtete, fiel ihr das nächtliche Geflüster wieder ein. Es war dabei auch um diese Tabletten gegangen, wie schon seit rund einem Monat. Ihr Vater hatte sie nicht nehmen wollen. Für ihn sei seine Traurigkeit kein Problem, hatte er Immys Mutter erklärt.

Die war aber anderer Meinung. Deshalb nahm er die Tabletten jetzt einmal pro Tag.