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LARI DON

MIND
BLIND

Aus dem Englischen
von Anne Brauner

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Für Mirren
– dir war es schon immer zugedacht –
und für Gowan –
meine Lektorin mit dem größten Einfluss

Inhalt

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 1

Ciaran Bain, 30. Oktober

Ich zitterte vor Angst, obwohl ich mich nicht fürchtete. Als ich die Sicherheitssperre der Polizei vor dem Haus des Mädchens umging, hatte ich keine Angst, ebenso wenig, als ich einbrach. Doch sobald ich tiefer in die Erinnerungen an ihre Angst eindrang, begann ich zu zittern.

Wieso hatte Vivien sich zu Hause so gefürchtet? Wenn ich dieses Rätsel löste, würde ich möglicherweise finden, was ich suchte.

Ich schloss die Tür des Einbauschranks unter der Treppe und ging zwischen grünen Gummistiefeln und Stapeln von Brettspielen auf die Knie.

Im Dunkeln glitt ich tiefer in Viviens Gedächtnis.

Ich spürte dieselben gewellten Bodendielen wie sie, denn ich hockte an genau derselben Stelle. Sie hatte sich zweifelsfrei hier versteckt, in diesem Schrank hatte sich körnige Asche unter ihren Fingernägeln gesammelt.

Wieso hatte sie sich in ihrem eigenen Haus versteckt?

Wahrscheinlich wollte sie nicht mit der Hand in der Urne erwischt werden. Niemand sollte sehen, dass sie in der Asche ihrer Urgroßmutter wühlte. Es sah ganz so aus, als wäre ich ihr auf der Spur.

Ich war in ihr Elternhaus eingebrochen, um die Stelle zu ermitteln, an die sie gedacht hatte, als wir im Wagen miteinander gekämpft hatten. Ich hoffte zu finden, was sie versteckt hatte.

Da Vivien das Licht eingeschaltet hatte, streckte ich den Arm aus und drückte den Schalter. Dann zog ich die Handschuhe aus, weil das, was sie unter ihren Fingerkuppen gespürt hatte, vielleicht die Lösung des Ganzen war. Wenn ich irgendetwas berühren musste, worauf sich ein Fingerabdruck hielt, konnte ich die Handschuhe ja wieder anziehen.

Mir war bewusst, dass ein Lichtstreifen unter der Tür hervorschien, doch ich war auch sicher, dass es nicht auffallen würde. Zwar hätte ich nicht genau sagen können, wie viele Menschen sich im Haus der Shaws aufhielten. Denn wenn ihr Verstand schläft, sind sie verschwommen und ich kann sie nicht richtig fassen. Jedenfalls hatten alle geschlafen, als ich eingestiegen war.

Jetzt konnte ich nur noch meine volle Konzentration in Viviens Erinnerungen einbringen und hoffen, dass in dieser Zeit niemand aufwachte.

Ich schloss die Augen.

Der Fetzen, den ich Viviens Gedächtnis entnommen hatte, war so kurz. Sie hatte sich nicht daran erinnert, die Kiste aufgemacht, die Urne geöffnet oder etwas hineingetan zu haben. Ich hatte nur das hier:

Aschekörner an den Fingern und den Kontrast zu dem glatten, leichten Gegenstand, den sie eben noch in der Hand gehalten hatte. Asche unter ihren Nägeln, als sie den Deckel wieder schloss. Wie sie die Urne in der einen und die Kiste in der anderen Hand hielt und wie schwer die Kiste auf ihrem Oberschenkel lastete, als sie die Urne hineinstellte. Wie sie sich an die Tür lehnte, um genug Platz zu haben, damit sie den Deckel über die Kiste ziehen konnte. Ich lehnte mich ebenfalls an.

Sie hatte nicht nur ein schlechtes Gewissen gehabt, sie war auch aufgeregt gewesen. Diese Erinnerung bestand aus Geheimnissen und Verschleierung. Und aus Angst. Wovor fürchtete sie sich?

Dann schloss sie die Kiste.

Wo hatte sie sie hingetan? Aufzuräumen war nicht so spannend wie etwas zu verstecken, und deshalb hatte sie darüber nicht nachgedacht, als wir uns angeschrien hatten.

In der Hoffnung, einen Blick darauf zu erhaschen, wo sie die Kiste verstecken wollte, versenkte ich mich tiefer in ihr Gedächtnis.

Knie auf dem Boden.

Asche unter den Fingerspitzen.

Die Kiste, die immer schwerer wurde.

Die Tür ging auf …

War sie beobachtet worden?

SCHEISSE!

Ich fiel aus Viviens Gedächtnis und aus dem Schrank.

Die Tür hatte sich gar nicht in ihrer Erinnerung geöffnet, sondern hinter mir!

Ich fiel rückwärts, wälzte mich herum und rammte die Wand. Dann rollte ich schnell in die andere Richtung, ohne in meiner Panik das Training abrufen zu können.

Wer hatte sich da angeschlichen? Jemand aus Viviens Familie? Ein Polizist von der Straße? Wessen Angst wurde mir hier bewusst?

Geblendet von der Helligkeit im Schrank, konnte ich in dem schlecht beleuchteten Flur so gut wie nichts sehen.

Dann stellte sich jemand auf mich. Mit einem nackten Fuß auf meine Brust.

Und jetzt spürte ich nicht nur Angst, ich las auch Gedanken und Fragen und hätte beinahe geschrien. Doch die Polizisten vor dem Haus durften mich nicht hören. Ich biss die Zähne zusammen, schluckte die Panik und die Übelkeit herunter und versuchte mich unter dem Fuß hervorzuwinden.

Ich konnte mich nicht befreien.

Es war nicht das Gewicht, das mich niederdrückte, es waren die Gefühle und die Fragen.

Ich wurde auf den Teppichboden gepresst, von …

Von einem Mädchen!

Ich bin so schlecht.

Nachdem sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, konnte ich sie sehen. Das Mädchen hatte Viviens dunkle Haut und braune Augen, doch sie war kleiner, ihr Haarschopf war wilder und sie trug keinen blauen Mantel, sondern einen roten Schlafanzug.

Sie sah mich wütend an. Durch den Fuß auf meiner Brust prasselten ihre Fragen alle auf einmal auf mich ein.

Wer ist das?

Was macht er hier?

Wieso wehrt er sich nicht und steht auf?

Wie lange ist er schon da?

War er auch in meinem Zimmer?

Oh Gott, ich hätte die Polizei rufen sollen, statt einfach nach unten zu gehen.

Ich sollte weglaufen.

Wieso läuft er nicht weg?

Ich konnte nicht. Es kostete mich alles, nicht zu schreien, sodass ich kaum noch Luft bekam.

Ich bin so schlecht.

Sie starrte mich an und schlug mir ihre Fragen um die Ohren.

Er sieht aus, als hätte er noch mehr Angst als ich.

Wieso steht er nicht auf?

Warum ist er so ein Weichei?

Gute Frage. Warum war ich so ein Weichei?

Endlich konnte ich einatmen, den Arm nach oben stoßen und ihren Fuß wegschieben.

Die plötzliche Bewegung erschreckte sie so, dass sie das Gleichgewicht verlor und schwer gegen die Wand fiel.

Ich sprang auf.

Wir standen uns in dem schmalen Flur gegenüber.

Und außer uns war niemand im Haus.

Jetzt, da das Mädchen wach war, konnte ich feststellen, dass oben niemand schlief.

Jetzt, da das Mädchen mich nicht mehr berührte, setzte sie mich mit ihren rasenden Gedanken auch nicht mehr außer Gefecht.

Jetzt, im Stehen, war ich größer, stärker und schrecklicher als sie.

Und sie war allein.

Ich grinste sie an.

Sie riss den Kopf zurück.

Je mehr Selbstbewusstsein ich ausstrahlte, umso mehr Angst bekam sie.

Doch selbst wenn ich das Mädchen davon überzeugen könnte, alles unter Kontrolle zu haben, hätte ich die Sache trotzdem total vermasselt.

KAPITEL 2

Ciaran Bain, 30. Oktober

Jemand hatte mich gesehen, und das bedeutete, dass man mich identifizieren konnte.

Viviens kleine Schwester hatte mich gesehen, ihren Namen kannte ich aus den Akten: Lucy Kingston Shaw.

Ich atmete aus, lange und entspannt, bevor ich meine schwarzen Lederhandschuhe herausholte und anzog.

Jetzt hatte sie richtig Angst. Vielleicht sah es aus, als hätte ich vor, sie zu erwürgen. Ich musste sie beruhigen, denn wenn sie anfing zu schreien, würde die Polizei auf uns aufmerksam.

Ich wackelte mit den Fingern. «Fingerabdrücke», flüsterte ich. «Ich Dummie. Hätte ich vorher dran denken sollen.»

«Du bist ein Dieb?», wisperte sie zurück.

Ich zuckte die Achseln.

«Ein ganz schön schlechter Dieb.»

Super. Sie kannte mich nicht mal eine Minute und hatte direkt kapiert, wie mies ich war. Aber das passte schon. Sie regte sich ab und hatte weniger Angst, weil sie mich für unfähig hielt.

«Habe ich dir wehgetan?», fragte sie. «Als ich dich aus dem Schrank gerissen habe? Du hast ausgesehen, als würde ich dich umbringen oder …»

Das Wort ‹umbringen› stürzte sie von jetzt auf gleich in tiefe Trauer. Sie schlief eigentlich noch halb und hatte ihre Schwester vielleicht nicht mehr ganz vorn im Bewusstsein. Doch das wollte sie für sich behalten.

«Wer bist du? Was machst du in unserem Haus? Was wolltest du unter der Treppe mitgehen lassen?»

«Gummistiefel», antwortete ich ernst. «Ihr habt wirklich wunderschöne Gummistiefel.»

Beinahe hätte sie gelächelt, doch dann runzelte sie die Stirn. Ich spürte ihre Verwirrung, Angst war auch noch dabei, aber nur noch leichte Panik.

Sie war nur ein Mindblind. Ich besaß viel mehr Informationen über dieses Gespräch als sie und sollte eigentlich in der Lage sein, es zu steuern.

Zunächst einmal wollte ich nicht, dass sie irgendwie die Polizisten alarmierte, und musste sie entsprechend ruhig halten. Und dann, wenn ich schon jemanden aus der Familie Shaw ganz für mich hatte, konnte ich ihr Fragen stellen und herausfinden, wo die Urne geblieben war. Schließlich würde ich bekommen, was ich wollte, und wieder gehen.

Da dieses Mädchen bereits zu viel gesehen hatte, musste sie wahrscheinlich zum Schweigen gebracht werden. Insofern sollte ich ihr die Informationen entlocken, solange ich die Gelegenheit hatte.

Sie sah mich eindringlich an. Mittlerweile war sie hellwach und würde sehr bald vom Verstand her darauf reagieren, dass ein Fremder in ihrem Haus war. Das hieß, gleich würde sie um Hilfe rufen. Selbst wenn sie von den Polizisten nichts wusste, würde sie ihre Nachbarn herbeischreien, wenn ihre Angst zu groß wurde.

Nachdem ich einen Schritt zurückgewichen war, schlich ich an der Wand entlang zur Küche mit der Hintertür.

Ich lächelte sie noch einmal an. Es half nichts. Vielleicht ist mein Lächeln nicht sonderlich beruhigend. Vielleicht bin ich besser darin, die Leute in Schrecken zu versetzen. Oder, wie es aussah, sie zu töten.

«Ich tu dir nichts», sagte ich deshalb.

Das stimmte wahrscheinlich sogar. Mein Onkel Malcolm würde sie umbringen, doch ich würde ihr nichts tun. Es sei denn, sie zwang mich dazu.

Ich behielt meine sanfte, gleichmäßige Stimme bei und glättete den harten schottischen Akzent, den so viele Londoner mit den Gangstern aus dem Fernsehen verbinden. «Entweder gehe ich jetzt oder ich erkläre dir, warum ich hier bin.»

«Es geht dir nicht wirklich um die Gummistiefel, was?»

Ich lachte verhalten, weil sie so tapfer war, sich an einem Witz zu versuchen. «Soll ich dir nun sagen, was ich hier will?»

Sie nickte.

«Ich suche etwas ganz Kleines. Wenn du es mir gibst, verschwinde ich. Und wenn du keinem erzählst, dass ich hier war, siehst du mich nie wieder.»

«Ich denke nicht daran, dir etwas zu geben! Was fällt dir überhaupt ein, bei uns einzubrechen und von mir zu verlangen, dass ich zusehe, wie du etwas stiehlst? Und dann soll ich dein kleines Einbrechergeheimnis auch noch für mich behalten!»

Sie wurde wütend. Dafür musste ich nicht ihre Gedanken lesen, das hätte auch jeder Mindblind gemerkt. Ihre Stimme war schrill, und sie kam mit geballten Fäusten auf mich zu.

Ihre Wut gab ihr Selbstvertrauen. Ich musste sie wieder runterholen . «Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee oder so?»

«Was?»

«Setzen wir uns doch. Ich tu dir wirklich nichts. Versprochen.»

Ich kehrte ihr den Rücken zu und ging in die Küche. Das war ein kalkuliertes Risiko. Falls sie zur Haustür rennen, sich ihr Handy schnappen oder schreien würde, war ich schätzungsweise zur Hintertür raus und über den Zaun, bevor die Polizei reagierte.

Doch wenn sie mitkam, hieß das, sie wollte mit mir reden. Und dann würde ich meine Antworten bekommen.

Als sie mir folgte, in die Küche tappte und das Licht anschaltete, kämpften Angst, Neugier und Verwirrung um die Oberhand. Ich setzte mich an den Tisch, doch das Mädchen blieb am Lichtschalter stehen.

«Willst du wirklich einen Tee?», fragte sie.

«Ja.» Das stimmte nicht, doch es würde sie beruhigen, welchen zu kochen.

«Normal mit Milch und Zucker oder Kräutertee? Ich hätte Schierling, Teufelskirsche oder Arsen da.»

Ich lächelte über ihren giftigen Witz. «Haha. Ich nehme, was du hast. Mit einem Keks, wenn es geht.»

«Ich glaube nicht, dass wir irgendwas dahaben. Ich konnte nichts mehr runterbringen, seit … äh …»

Sie setzte sich und vergrub das Gesicht in den Händen, von Kummer überwältigt. Sie weinte nicht, sie verlor sich in Trauer und Fassungslosigkeit.

Ich stand auf und suchte im Kühlschrank nach etwas Süßem. Doch es gab nur gesundes Zeug, keine richtige Cola, Limo oder andere nützliche Lebensmittel. Schließlich fand ich ein Tetrapack mit Orangenmangosaft und schenkte ihr ein sauberes Glas aus der Spülmaschine ein.

«Trink. Zucker hilft.»

Sie nippte, trank einen großen Schluck und dann das ganze Glas aus. Ich schenkte nach.

Nachdem ich mich wieder hingesetzt hatte, starrten wir einander an. Sie war völlig fertig. Je wacher sie wurde, umso schlechter kam sie mit der Situation klar. Sie war todtraurig, ängstlich, verwirrt und sauer. Immerhin war sie nicht dehydriert.

Und was machte ich hier? Ich redete mit Viviens Schwester. Sie hatte mein Gesicht gesehen, meine Stimme gehört. Was zum Teufel fiel mir ein?

Doch da es nun mal so war, konnte ich genauso gut weitermachen. Wenn ich die Codenamen erfuhr, war es das wahrscheinlich wert.

Ich musste wissen, wie viel Zeit mir mit dem Mädchen blieb und wann ihre Eltern nach Hause kamen.

«Wieso bist du allein zu Hause? Wo sind die anderen?»

Sofort war ihr Misstrauen geweckt. «Woher weißt du, dass ich allein bin?»

«Wenn deine Mum oder dein Dad oder sonst wer hier wäre, hättest du sie sofort gerufen, als du mich erwischt hast. Wieso haben sie dich allein gelassen?»

«Weil ich es so wollte. Ich hatte keine Lust, schon wieder in einem deprimierenden Zimmer zu sitzen und den Leuten beim Weinen zuzuhören. Ich wollte auch nicht umarmt werden und mir anhören, dass sie die Zukunft jetzt in mir sehen, weil ich das alles so satt habe, und deshalb habe ich gesagt, sie sollen ruhig gehen, wenn sie mit Opa sprechen müssen, aber ich würde hierbleiben und ein bisschen Frieden und Ruhe haben, und sie könnten so lange bleiben, wie sie wollten, das wäre mir ganz egal. Und Mum wollte mich nicht allein lassen, aber da habe ich gesagt, wenn noch eine Minute länger alle auf mich aufpassten, würde ich rausgehen und mir einen eigenen Mörder suchen!»

Sie sah mich böse an.

Wow. Es war überhaupt nicht nötig, die Gedanken dieses Mädchens zu lesen. Sie erzählte mir alles freiwillig.

«Und, ist das so?»

«Und ist was wie?»

«Habe ich meinen Mörder gefunden?»

Ich erstarrte.

«Hast du meine Schwester umgebracht?»

Sie konnte meine Gedanken nicht lesen. Also müsste ich fragen: Was? Jemand hat deine Schwester umgebracht? Ich sollte so tun, als wäre ich überrascht.

Doch ich antwortete nicht. Ich reagierte nicht. Ich sah sie nur an.

«Hast du meine Schwester getötet? Hast du Viv umgebracht?»

Ich senkte den Blick auf meine Hände in den schwarzen Handschuhen.

«Und?»

«Ja.»

KAPITEL 3

Lucy Shaw, 30. Oktober

Er hat meine Schwester getötet.

Als er aus dem Schrank fiel, war ich zu geschockt, um den Einbruch mit dem Mord an Viv in Verbindung zu bringen. Ich weiß gar nicht, ob mir das mit Viv in dem Moment überhaupt bewusst war. Ich hatte genug damit zu tun, um mich selbst Angst zu haben und seinetwegen verwirrt zu sein, als dass ich mich daran erinnert hätte, dass in dieser Woche das Schlimmste in meinem ganzen Leben geschehen war.

Doch als mir klar geworden war, dass zwei Verbrechen so rasch hintereinander kein Zufall sein konnten, erwartete ich, dass er es abstritt. Und was sollte ich jetzt tun, nachdem er es zugegeben hatte?

Ich konnte ihn schlecht an unserem Tisch sitzen lassen, wo er meine nervösen Witze mit einem Grinsen quittierte und in aller Ruhe zugab, dass er meine Schwester getötet hat. Ich musste dafür sorgen, dass er dafür büßte.

Ich stand bereits neben der Spülmaschine und holte das Messer raus, bevor ich auch nur darüber nachgedacht hatte, wie er dafür büßen sollte.

Er seufzte. «Sei doch nicht blöd, runter damit.»

«Ich bin nicht blöd. Du hast Viv umgebracht. Dafür bring ich dich gleich selbst um, du mörderischer Arsch.»

Er lachte mich doch tatsächlich aus. «Du kannst mich nicht umbringen.»

«Doch.»

Er stand auf und wich vom Tisch zurück. «Nein, kannst du nicht. Echt. Mit dem Ding kommst du gar nicht nah genug an mich ran. Kann sein, dass ich ein mieser Einbrecher bin, aber ich bin ziemlich gut … in anderen Sachen. Leg das Messer hin, oder es wird wehtun. Ich will dir nicht wehtun.»

«Warum nicht?»

«Was meinst du, warum nicht?»

«Warum willst du mir nicht wehtun? Meine Schwester hast du umgebracht.»

Er betrachtete schon wieder seine Hände. «Eigentlich habe ich sie nicht umgebracht. Ich war nicht dabei, als sie starb.»

«Du hast gesagt, du hättest sie getötet.»

«Stimmt auch, irgendwie. Es war meine Schuld. Ich habe sie dem Mann in die Arme geführt, der sie getötet hat. Sie musste sterben, weil ich einen Fehler gemacht habe. Aber ich habe ihr nicht eigenhändig das Genick gebrochen. Und ich will dir nicht wehtun.»

Ich glaubte ihm nicht. Ich glaubte ihm nicht, dass er Viv nicht getötet hatte, und auch nicht, dass er mir nicht wehtun wollte.

Dann hob ich den Arm, ohne zu wissen, wie man mit einem Messer umging, wenn man keine Zwiebeln oder Paprika schnitt. Immerhin konnte ich ihn damit so lange auf Abstand halten, bis ich wusste, was ich als Nächstes tun wollte.

Ich kam nicht dazu.

Er war so schnell.

Er machte einen Schritt auf mich zu, trat gegen mein Handgelenk, fing das Messer auf, stellte es in die Spülmaschine zurück und setzte sich wieder.

Ich lehnte mich an die Arbeitsplatte und rieb mein Handgelenk. Außerdem zitterte ich ein bisschen. «Du Arsch.»

«Setz dich. Mit Messern kommen wir beide nicht weiter. Setz dich hin und beruhige dich.»

Ich wollte nichts tun, was er von mir verlangte. Ich setzte mich nicht hin und beruhigen konnte ich mich nicht.

Mittlerweile war ich hellwach und fürchtete mich zu Tode.

Ich war mit dem Menschen allein, der meine Schwester getötet hatte.

Kurz erwog ich, zum Telefon oder zur Tür zu rennen, doch dann fiel mir wieder ein, wie schnell er eben erst reagiert hatte. Schreien konnte ich natürlich auch, doch wer würde mich hören?

Und dann dachte ich, wenn er mich ohnehin auch umbringen würde, könnte ich wenigstens herausbekommen, wieso Viv hatte sterben müssen. Die Erklärung der Polizei – ‹ein unmotivierter Überfall› –, die sie Mum und Dad verkauft hatten, überzeugte mich nicht. Wenn der Junge mir wirklich nicht wehtun wollte, konnte ich auf diese Weise Beweismaterial sammeln, damit meiner Schwester Gerechtigkeit widerfahren würde.

Daraufhin sah ich ihn zum ersten Mal richtig an – nicht nur sein selbstbewusstes Lächeln und seine Lederhandschuhe –, damit ich ihn der Polizei gut beschreiben konnte, falls sich die Gelegenheit bot.

Er wirkte jünger als Viv und älter als ich, also war er vielleicht vierzehn oder fünfzehn. So wie er ständig das R rollte, kam er eindeutig aus Schottland, doch er hatte kein blasses, sommersprossiges Gesicht wie die MacDonald-Zwillinge in meiner Stufe. Er war braun gebrannt, als wäre er oft im Freien, hatte hellblaue Augen und glattes blondes Haar. Damit sah er wie der Böse in einem alten Film über den Zweiten Weltkrieg oder wie ein wildgewordener Wikinger aus. Aus dem Norden, kaltblütig und ein bisschen neben der Spur.

Er schüttelte den Kopf, als wüsste er, dass ich mir sein Gesicht einprägte.

Als ich den Mund öffnete, hoffte ich, dass meine Stimme nicht bebte. «Sag mir, warum du sie zu einem Mann gebracht hast, der sie getötet hat. Erzähle mir von dem Fehler, den du gemacht hast. Sag, was du in unserem Haus zu suchen hast, sag mir einfach alles.»

«Aber erst mal sagst du mir, wann deine Eltern zurückkommen.»

Ich sah auf die Uhr, es war nach eins. «Sie sind bei meinem Opa. Eigentlich können sie jeden Moment hier sein.» Wenn er damit rechnete, dass meine Eltern gleich zur Tür hereinkamen, würde er vielleicht gehen.

Doch statt derartige Anstalten zu machen, runzelte er die Stirn und schaute aus dem Fenster. «Nein, so schnell kommen sie nicht zurück. Du hast genug Zeit, mir zu verraten, was ich wissen will.»

«Ich verrate dir gar nichts.»

«Wie du willst, ich werde dich nicht zwingen.» Er zuckte die Achseln. «Deine Schwester besaß etwas, von dem sie versprochen hatte, es zu vernichten. Stattdessen hat sie es versteckt. Wenn ich es finde und verschwinden lasse, dann kommen die Leute, die sie auf dem Gewissen haben, nicht hierher. Dafür brauche ich aber deine Hilfe.»

«Ich helfe dir aber nicht!»

«Gut, dann gehe ich jetzt.» Er stand auf. «Irgendwann steht dann morgen der Mann, der deine Schwester getötet hat, vor eurer Tür. Viel Glück, Lucy.»

Das überraschte mich fast so sehr wie der Tritt. «Du weißt, wie ich heiße?»

«Ich weiß alles, außer, wo die Asche deiner Uroma ist.»

«Was?»

«Vivien hat das, was ich suche, in der Urne deiner Uroma versteckt, und zwar in dem Schrank unter der Treppe.»

«Sie hat etwas in der Asche versteckt? Wie eklig!»

«Jep. Aber schlau.»

Ich nickte. «Viv ist immer … war immer … Aber warum sollte sie etwas in der Asche verstecken? Wieso nicht einfach in der Sockenschublade? Wieso sollte sie so etwas tun, das so … widerlich und respektlos ist?»

«Wahrscheinlich hatte sie Angst vor den Leuten, die danach suchen könnten.»

Mir lief ein Schauer über den Rücken. «Vor wem hat sie es denn nun versteckt?»

«Vor mir, würde ich mal sagen. Vor mir und meinen … vor den Leuten, für die ich arbeite.»

«Wer bist du denn? Wieso sollte sie etwas vor dir verstecken? Was denn überhaupt?»

Der Junge schüttelte den Kopf. «Ich habe deine Fragen beantwortet, jetzt bist du dran. Die Urne war nicht unter der Treppe. Wo ist sie?»

Obwohl ich ihm mit meiner Antwort nicht helfen wollte, würde ich ihn so vielleicht aus dem Haus bekommen. «Die Urne ist nicht hier. Mum wollte sie nicht im Haus haben, das fand sie total unheimlich. Deshalb hat Dad gesagt, jemand anders sollte sie bis nächstes Jahr aufbewahren.»

«Bis nächstes Jahr?»

«Wir verstreuen Uroma im Meer, da, wo auch die Asche meines Urgroßvaters verstreut wurde, und zwar im Frühling, an ihrem Hochzeitstag.»

«Und wer hat sie nun?»

«Weiß ich nicht.»

«Wie, du weißt es nicht?»

Ich sagte die Wahrheit, doch das konnte ich nicht beweisen. Und jetzt war er zum ersten Mal an diesem Abend sauer.

KAPITEL 4

Ciaran Bain, 30. Oktober

Sagte sie die Wahrheit? Wusste sie wirklich nicht, wo die Asche ihrer eigenen Urgroßmutter war? Ohne sie zu berühren, konnte ich das nicht mit Sicherheit feststellen, doch das wollte ich lieber vermeiden. Andererseits legte sie sich nicht die Worte zurecht wie eine Lügnerin.

«Ich weiß es wirklich nicht», sagte sie noch einmal. Ich hörte leichte Panik heraus, aber keine Täuschung.

«Wer könnte die Urne denn haben?»

«Dad hat sie vielleicht Opa gegeben, weil er in der Nähe wohnt. Oder Onkel Vince hat sie mitgenommen, weil er mehr Platz hat.»

«Wenn dein Opa in der Nähe wohnt, gehe ich erst mal da hin. Aber gib mir trotzdem die Adressen von beiden.»

«Ich sag dir doch nicht, wo sie wohnen! Du und deine Mörderbande, ihr sollt meiner Familie nicht zu nahe kommen!»

«Lucy, der Mann, der bereits Vivien getötet hat, kann die Adressen ganz leicht in seiner Datei nachschlagen. Daher habe ich deinen Namen und diese Adresse. Wenn ich da jetzt nicht hingehe, und zwar allein, dann tut er es, mit all meinen … mit vielen anderen, sobald er geklärt hat, was deine Schwester wo versteckt hat.»

«Und wieso soll das schlimmer sein, als wenn du heute Nacht hingehst? Soll ich etwa denken, du wärst gut und die wären böse?»

Ich lächelte besänftigend.

Sie war nicht besänftigt.

«Was soll ich denn groß anrichten? Ganz allein?»

Sie rieb ihr Handgelenk.

Ups. Ich hätte nicht mit meiner blitzschnellen Tritttechnik angeben dürfen. Sie wusste ganz genau, was ich allein anrichten konnte.

«Echt jetzt, Lucy, ich habe dich nicht angegriffen, sondern du mich! Ich tu niemandem etwas zuleide. Ich durchsuche nur ihre Schränke und gehe wieder. Vertrau mir.»

Sie vertraute mir nicht. Verständlich. Ich vertraute mir selbst nicht.

Ich spürte, dass sie eine impulsive Entscheidung traf.

«Ich gehe.»

«Was?»

«Ich gehe zu Opa. Ich suche die Urne und gebe sie dir. Lasst ihr uns dann in Ruhe?»

«Ja. Nein. Nein!» Damit hatte ich nicht gerechnet. «Ich meine, ja, wenn ich das bekomme, was in der Urne liegt, lasse ich euch in Ruhe. Aber nein! Du darfst nicht gehen, sei doch nicht albern.»

Plötzlich hatte ich ein sehr klares Bild vor Augen, wie dieses magere Mädchen, das kleiner und, wie es aussah, auch jünger war als ich, in einem dunklen Haus unter der Treppe herumkramte. Und wie Malcolm sie rauszerrte und Daniel ihr den Fuß auf den Bauch stellte.

Ich bin kein Wahrsager. Ich lese Gedanken, nicht die Zukunft, doch ich wusste, dass Malcolm oder Mum nach meiner Rückkehr alles aus mir rausholen würden. Dann würde sich auch meine Familie auf die Suche nach den Codenamen machen. Falls Lucy sich ihnen in den Weg stellen würde, erginge es ihr schlecht.

Nur wenn ich noch in dieser Nacht die Codenamen herausbekam, konnte ich verhindern, dass die Famiie Shaw ausgelöscht wurde. Nur so konnte ich ihre und meine Familie retten – vielleicht sogar meine eigene Zukunft.

Um Lucy zu beschützen, war es jedoch wahrscheinlich schon zu spät.

Sie hatte mein Gesicht gesehen. Schon ihre Schwester war gestorben, weil sie mein Gesicht gesehen hatte.

Also war es voraussichtlich zu spät für Lucy, aber ich konnte mein Möglichstes tun.

«Denkst du nach?», fragte sie. «Sieht nach harter Arbeit aus.»

«Du darfst nicht gehen», sagte ich noch mal. «Das ist zu gefährlich.»

«Du bist zu gefährlich. Wenn wir zusammen gingen, könnte ich verhindern, dass du etwas stiehlst oder kaputtmachst oder jemandem wehtust …»

«Ach ja? Du willst mich an irgendetwas hindern?»

«Warum nicht? Tu doch nicht so, Alter, im Flur bist du erst mal nicht gegen mich angekommen.»

Ich durfte ihr nicht erklären, wie sie das angestellt hatte. «Du hast mich überrumpelt, das ist alles.»

«Dann überrumpele ich dich jetzt noch mal. Wir gehen zusammen. Wir holen uns die Urne, du nimmst dein geheimnisvolles Ding mit und verschwindest.» Sie sah mich böse und zum Letzten entschlossen an.

Ich brauchte die Adressen. Welche Methode versprach den größten Erfolg?

Wenn ich die Handschuhe auszog, konnte ich mir Lucy schnappen und sie nach den Adressen ihres Opas und Onkels fragen. Vermutlich wäre sie zu stur, sie freiwillig herauszurücken, doch ich konnte bestimmt etwas Nützliches in ihren Gedanken lesen, während sie sich darauf konzentrierte, mir nichts zu verraten. Die genauen Postadressen würde ich so nicht finden – an die würde sie nur denken, wenn sie sie aufschriebe –, doch sie würde sich voraussichtlich die Straßen und Häuser bildlich vorstellen.

Allerdings sollen wir den jeweiligen Zielpersonen nicht verraten, dass wir ihre Gedanken lesen. Insofern müsste ich ihr als Ausrede dafür, sie zu berühren, wehtun und zum Beispiel das wunde Handgelenk verdrehen. Doch dann würde sie schreien und die Polizei auf den Plan rufen.

Außerdem stünde zu befürchten, dass ich die Gedanken jenseits ihrer Trauer und Angst zu lesen bekäme und möglicherweise noch lauter schrie als Lucy. Sie würde genau sehen, was für ein Schlappschwanz ich war.

Es war also eine vernünftige Entscheidung, wenn ich mich von ihr zu dem richtigen Haus führen ließ.

Falls wir dann die Codenamen fanden und ich Malcolm und Mum überreden konnte, sie ihnen verbal zu übermitteln, würden sie vielleicht nicht merken, dass Lucy mich gesehen hatte. Groß war diese Chance nicht, doch etwas Besseres hatte ich nicht zu bieten.

Also nickte ich.

«Dann gehen wir jetzt», sagte sie. «Bevor meine Eltern zurückkommen.»

«Unsinn! Was glaubst du, wie deine Eltern reagieren, wenn du bei ihrer Rückkehr nicht brav im Bett liegst?»

Sie wollte mir nicht zustimmen, doch sie zuckte die Achseln.

Ich schaute aus dem Fenster. «Abgesehen davon wird es nicht leicht, hier rauszukommen. Euer Haus wird von zwei Polizisten bewacht.»

«Wir stehen unter Beobachtung? Wieso?»

«Ich schätze, sie hoffen auf Beweise dafür, dass einer von euch Vivien umgebracht hat. Die Familie zu verdächtigen ist einfacher als richtig zu ermitteln.»

Sie war entsetzt. «Aber du warst das! Das werde ich denen jetzt sofort erzählen.»

Sie ging zur Haustür.

«Lucy, Stopp! Wenn du mich jetzt auslieferst, schweben all deine Verwandten in Gefahr!»

Sie blieb stehen. Direkt an dem Schrank unter der Treppe.

Ich fuhr leise fort. «Es ist klar, dass du jemanden für Viviens Tod verantwortlich machen willst, und meinetwegen kannst du der Polizei später alles über mich erzählen. Aber warte, bis ich den geheimen Gegenstand mitgenommen habe. Wenn du jetzt die Polizei rufst, werde ich zu deiner großen Freude in Handschellen abgeführt, aber dann kommt meine Familie und macht sich hier auf die Suche.»

Sie zog die Augenbrauen hoch, als ich ‹meine Familie› sagte. Ich erzählte ihr vermutlich zu viel, doch die Wahrheit würde ihr vielleicht genug Angst einjagen, um auf mich zu hören. «Genau, meine Familie. Das sind richtig viele, alle größer als ich, und sie wären mächtig sauer, wenn du mich der Polizei auslieferst.» Denke ich doch. Oder sie wären froh, mich los zu sein.

Sie schwankte zwischen Rache und Vorsicht und versuchte zu entscheiden, was wichtiger war.

Doch diesen Beschluss konnte ich nicht abwarten, denn auf einmal spürte ich …

Trauer. Erschöpfung.

Die Sehnsucht, getröstet zu werden.

Sorgen.

Ihre Eltern kamen in Fahrgeschwindigkeit die Straße hoch.

Doch es kam noch schlimmer, denn ein wenig weiter entfernt fühlte ich erhöhte Wachsamkeit. Noch mehr Polizisten auf der Spur der Shaws.

«Deine Eltern! Sie sind gleich da!»

«Woher weißt du das?»

Mist, ich hatte eine Grundregel gebrochen und ihr gezeigt, dass ich Dinge wusste, die ich nicht wissen sollte. «Äh … ich glaube, ich habe ein Auto gehört. Geh ins Bett. Ich … wo kann ich mich verstecken?»

«Nicht in meinem Zimmer!»

«Als ob!»

Sie sah sich hektisch um. «Im Arbeitszimmer!» Sie zeigte auf die Tür gegenüber dem Treppenschrank. Dann sagte sie ruhiger: «Ich hole dich, wenn sie im Bett sind.» Hinter ihren Worten bemerkte ich etwas, das in Richtung Täuschung ging. Sie dachte bereits darüber nach, wie sie meine Nacht noch schwieriger gestalten konnte.

«Warte, bis sie eingeschlafen sind», sagte ich. «Hab Geduld.»

Wir nickten uns zu, waren uns einig und doch bereits wieder gegeneinander verschworen.

Als die Tür aufgeschlossen wurde, lief Lucy schon nach oben und ich zog die Tür des Arbeitszimmers zu.

Ich kroch unter den Schreibtisch und wartete.

Von dort spürte ich die Erschöpfung der Shaws und ihre Sorge um Lucy. Einer von beiden schleppte sich hoch, um nach ihr zu sehen. Ich hielt den Atem an. Hoffentlich würde sie nichts von unserer Begegnung erzählen. Offenbar war sie im Bett und tat so, als schliefe sie, denn der Erwachsene fühlte Erleichterung und Liebe.

Ihre Eltern waren todmüde. Sie liefen noch ein wenig herum, zogen Jacken und Schuhe aus, doch nach einigen Minuten, in denen sie Türen öffneten und schlossen, die Toilettenspülung betätigten und das Licht ausschalteten, wurde es still im Haus.

Obwohl noch niemand eingeschlafen war, konnte ich nicht länger warten.

KAPITEL 5

Ciaran Bain, 30. Oktober

Jetzt, da alle in den Betten lagen, konnte ich mich wieder auf die Suche machen. Die Urne war hier nicht, doch vielleicht die Adressen, an denen ich weitersuchen musste.

Nachdem ich meine Taschenlampe angeknipst hatte, zog ich die oberste Schublade des Schreibtischs auf. Sie enthielt Notizbücher und einen Stapel Druckerpapier.

In der nächsten Schublade lagen Stifte, Kompasse und Lineale und in der untersten alte CD-Roms, verstaubte Kabel und eine Mehrfachpackung mit schmalen silbernen USB-Sticks. Sie war aufgerissen und enthielt nur noch einen Stick.

Ich drückte ihn aus der Packung und wog ihn in der Hand. Fühlte er sich vertraut an? Um sicherzugehen, musste ich noch einmal in Viviens Gedächtnis eintauchen.

Allmählich verbrachte ich sehr viel Zeit im Kopf des toten Mädchens, viel mehr, als wir miteinander gehabt hatten, während sie noch lebte.

Da hatte unsere Begegnung wahrhaftig nicht lange gedauert, denn der Zugriff hatte nur wenige Minuten in Anspruch genommen und die Flucht war auch rasend schnell gegangen.

Ciaran Bain, 28. Oktober

Der Auftrag hatte sich von Anfang an merkwürdig und verstörend angefühlt.

Bei der Einsatzbesprechung hatte ich hinten gesessen, möglichst weit weg von allen anderen. Ich sitze nicht gern dicht neben jemandem, selbst wenn ich sie oder ihn mein Leben lang gekannt habe. Ich möchte mich ihrer Gefühle erwehren, selbst wenn sie das Gleiche fühlen wie ich.

Deshalb hasse ich diese Besprechungen, genau wie Partys und Autofahrten. Ich schlafe nur sehr ungern mit einer anderen Person in einem Zimmer und berühre meine Mitmenschen grundsätzlich nur freiwillig, wenn ich gegen sie kämpfen muss.

Ich saß also ganz hinten, wirklich in der letzten Ecke, während meine Mutter Informationen auf den großen Bildschirm klickte und Onkel Malcolm den Einsatz in allen Einzelheiten beschrieb.

Ich blickte nach vorn, behielt aber auch meine Cousins im Auge, die vor mir saßen und eifrig nickten. Ich spürte ihren dringenden Wunsch, die Chef-Gedankenleser zu beeindrucken. Alle außer Roy, der sich um irgendetwas sorgte (wahrscheinlich um das Wohlergehen des Opfers), und seinem jüngeren Bruder Josh, der nervös war (schätzungsweise weil es sein erster Einsatz außerhalb von Schottland war), und Daniel, der glaubte niemanden mehr beeindrucken zu müssen, weil sein Vater ihn ohnehin fantastisch fand.

So weit, so normal. Verstörend waren die Informationen, die sie uns vorenthielten.

Onkel Malcolm schilderte im Detail die Zeiten, Orte und Fluchtwege und händigte stapelweise Stadtpläne aus, doch er lieferte weder den Hintergrund noch das angestrebte Ziel dieses Einsatzes. Zwar zeigte er uns Fotos von der Zielperson, erklärte aber nicht, warum der Kunde wollte, dass wir sie uns schnappten.

Dieser fehlende Hintergrund wies auf einen Eilauftrag hin. Das war mir bereits durch den Kopf geschossen, als die gesamte jüngere Generation kurzfristig aus Schottland hierher beordert worden war.

Anfang des Monats war ein Team älterer Gedankenleser nach Süden gefahren. Mum und die meisten Tanten und Onkel waren vor vierzehn Tagen mitten in der Nacht verschwunden und zu unserem Lager in Surrey geeilt, das als Basis für Einsätze in London dient.

Sie hatten alle Jugendlichen zu Hause gelassen und Tante Rose und Onkel Greg die Verantwortung für unser Training übertragen. Nach stundenlangem Kampfsportunterricht bei Tante Rose lehrte uns Onkel Greg, in Kontakt zu unseren Gefühlen zu treten. Doch es blieb auch viel Zeit, in der wir uns verdrücken und tagsüber fischen gehen und Fußball spielen konnten. Abends gab es Pizza und Actionfilme.

In diesen zwei Wochen hatten wir wenig geschlafen und mit Sicherheit kein Obst und Gemüse zu uns genommen.

Und jetzt waren wir hier, nachdem man uns in drei ungemütlich vollen Großraumlimousinen nachts herangekarrt hatte, und sollten bei einem Zugriff mitwirken, der nicht gründlich durchdacht war.

Doch es stand mir nicht zu, das zu sagen. Ich war nur ein einfacher Soldat, der die Entscheidungen der Bosse besser nicht hinterfragte. Sie ließen mich nicht einmal etwas Spannendes machen. Ich kam nur in ihrem Rücken zum Einsatz und durfte hinter den anderen aufräumen. Für mehr fehlte allen das Vertrauen.

Obwohl der Auftrag in der Besprechung nur grob umrissen wurde, verstanden wir jetzt, warum die vierte Generation von Lesern in London gebraucht wurde. Für diesen Einsatz stellten wir das beste Team.

Denn wir sollten eine jugendliche Zielperson identifizieren, wenn sie aus der Schule kam, sie verfolgen und schließlich zugreifen. Es hätte Verdacht erregt, wenn sechs Erwachsene sich am Schultor herumgedrückt hätten, während ein halbes Dutzend Teenager überhaupt nicht auffiele. Sie zeigten uns also Fotos von dem Mädchen und einen Plan ihres gewohnten Weges zum Flamenco-Unterricht mit einem ‹X› an der Stelle, wo Daniel und Martha das Opfer packen und in den Lieferwagen verfrachten sollten. Außerdem wurden wir darüber informiert, wo der Van mit Verstärkung und die Autos mit den Cheflesern parkten und wie wir am sichersten zur Basis zurückfahren konnten.

Das war alles.

Meine Mutter stand auf. «Dann mal los. Wir müssen da sein, bevor es klingelt.» Wir nahmen unsere Ausrüstung und trödelten aus dem Besprechungsraum, der im Grunde genommen nur aus einem Schuppen in der Mitte des Lagers bestand. Unsere Zimmer und Büros waren in kastenförmigen Mietcontainern über die kalte graue Halle verteilt.

Wir stiegen in zwei blaue Limousinen und zwei weiße Minivans, die vor dem verriegelten Eingang parkten, und fuhren los.

Ich war in der zweiten Limousine. Laura saß vorne neben ihrer Mutter. Becky, Roy und Josh saßen in der Mitte und ich wie üblich alleine hinten. Wie gewohnt, trug ich eine Jacke und Handschuhe aus schwarzem Leder.

Mit Mode hat das nichts zu tun. Leder verleiht mir einen gewissen Schutz. Zwar nicht gegen Gefühle, dagegen ist man machtlos, aber gegen Gedanken, falls ich jemanden berühre. Leder ist viel besser als jeder andere Stoff. Wenn die Haut eines anderen Lebewesens zwischen mir und dem Rest der Welt steht, prasselt nicht alles so furchtbar auf mich ein. Vielleicht bekomme ich ein Motorrad, wenn ich alt genug bin – dann kann ich für den Rest meines Lebens vom Scheitel bis zur Sohle Leder tragen.

So allein, sah ich mir den Stadtplan an. Nach ungefähr zwanzig Minuten drehte Roy sich um und schnipste gegen die Ecke des Plans. «Gleich sind wir da, Mann. Bist du bereit?»

Wir prüften noch einmal nach, ob wir das Nötigste dabeihatten. Bargeld, für den Fall, dass wir nicht weiterkamen. Gefälschte Ausweise, falls wir festgenommen würden. Masken, Handys und Mikrofone. Dann zogen wir grün-blau gestreifte Schulkrawatten an, schlecht gebunden und extra schief.

Vor dem letzten Klingeln konnten wir nicht am Schultor rumhängen, weil man uns dann für Schwänzer hielte. Außerdem hatte Malcolm gesagt, die Zielperson würde nie vorneweg stürmen. Deshalb blieben wir in den Fahrzeugen, bis wir das schrille Klingeln hörten, und begaben uns dann zügig auf unsere Position.

Als die Schüler aus dem breiten, grün gestrichenen Tor der Winslow Academy und über die kleine Treppe auf die Straße strömten, waren alle vier Teams vor Ort.

Team 1 war das Zugriff-Team - Daniel und Martha, Malcolms Kinder und die erfolgreichsten Leser in unserer Generation. Sie saßen außer Sichtweite in dem Van, den Onkel Paul, der wie immer das Fluchtauto steuerte, in der Gasse geparkt hatte. Sie hatten die Masken bereits übergezogen und warteten darauf, aus dem Auto zu springen und das Opfer zu packen, sobald es vorbeikam.

Team 2 war das Verfolger-Team – Becky und Laura, Roys große Schwestern. Sie standen unten an der Treppe. Da Mädchen nicht damit rechnen, von anderen Mädchen verfolgt zu werden, würde die Zielperson keinen Verdacht schöpfen, wenn Becky und Laura hinter ihr hergingen. Sie waren beide keine guten Leserinnen, doch sie mussten dem Opfer ja auch nur für alle sichtbar folgen.

Team 3 bildete die Vorhut, bestehend aus zwei Lesern, die an einer Mauer weiter vorne lehnten. Niemand erwartet, von Leuten verfolgt zu werden, die vor ihm gehen, doch wenn man vorhersehen kann, wohin die Zielperson läuft, kann man ihr zuvorkommen und sicherstellen, dass der Einsatz nicht gefährdet wird. An diesem Tag bildete Roy, der zwar als Leser der reinste Loser, aber ansonsten schlauer als wir alle ist, die Vorhut mit Sam, der ganz gut Gedanken lesen, an Roys Intelligenz jedoch nicht kratzen kann.

Team 4 war das Versager-Team, das gegebenenfalls hinter den anderen aufräumte.

Ich war in Team 4. Klar. Ich und Roys kleiner Bruder Josh, der wie alle Kinder von Tante Susan ein recht schwacher Leser ist, abgesehen davon, dass er gerade erst zwölf geworden ist. Also der Anfänger und der Schlappschwanz: Team 4. Das Versager-Team.

Josh und ich hatten uns gegenüber der Schule postiert, um zuzusehen, wie die Schüler herauskamen. Darüber hinaus bildeten wir das Bindeglied zu den Cheflesern, damit die aktiven Teams nicht gleichzeitig laufen und reden mussten. Sobald die Zielperson unterwegs war, sollten wir uns zum anderen Ende der Gasse bewegen, um nach dem Zugriff eventuelle Beweismittel zu vernichten.

Wir waren die Müllmänner, aber immerhin waren wir diesmal am Einsatz beteiligt, statt in der Basis zu hocken und Hausaufgaben zu machen.

Normalerweise würden sich Jungs, die vor einer Schule abhingen, wahrscheinlich über ihre Eltern beschweren oder bewundernde Kommentare über die vorbeigehenden Mädchen absondern. Wir dagegen trugen Kehlkopfmikros und Hörmuscheln, damit unsere Verwandten jedes Wort verstanden. Wir würden nur etwas sagen, wenn es dem Einsatz diente.

«Startklar?», fragte ich.

«Jep», antwortete Josh.

Das war alles, männlicher Zusammenhalt im Job.

Josh fummelte neben mir an seinem Mikrofon, während ich auf einem Mäuerchen hockte und mich an einen Laternenpfahl lehnte. Damit wollte ich nicht nur lässig rüberkommen, sondern ich wusste auch, dass es in den nächsten Minuten ein bisschen mühsam werden würde, aufrecht stehen zu bleiben. Denn jetzt hatten wir jede Menge Schüler vor Augen, die aus der Winslow Academy kamen.

Nach kleinen Trüppchen kamen sie zu Hunderten aus den Ausgängen, rannten umeinander herum und blieben dann unten an der Treppe stehen. Die meisten Schüler trugen Krawatten, doch da Blazer an dieser Schule nicht Pflicht waren, trugen sie einen bunten Mix aus Jeans-, Strick- und Kapuzenjacken, Dufflecoats und sogar einigen peinlichen Anoraks.

Ich sah sie, hörte sie schreien und quatschen.

Außerdem konnte ich sie spüren.

Ich bekam jedes einzelne Gefühl zu spüren, und zwar von jedem einzelnen Menschen in diesem Gewühl.

Gefühlswogen schlugen über mir zusammen und brachten mich aus dem Gleichgewicht.

Während weitere Schüler aus dem Gebäude kamen, schwappte die Menge über die Straße auf uns zu. Ich bekam kaum noch Luft, so erdrückend wirkten die heranbrandenden Gefühle.

Ich hasste Menschenmengen. Es war keine Freude, meinen Verwandten nah zu sein, doch immerhin waren mir ihre Empfindungen vertraut. Dies hier war wie der Angriff einer fremden Armee. All diese neuen Gefühle bedrängten mich, schwirrten durch meinen Kopf und drückten mich rückwärts …

«Geht’s?», fragte Josh.

Ich klammerte mich an den Laternenpfahl und schlang die Arme darum.

Dann hatte ich die Stimme meiner Mutter im Ohr, die von Joshs Frage alarmiert worden war. «Geht’s dir gut, Junge? Kommst du klar oder soll ich dich nach Hause bringen?»

Wie demütigend! Alle hörten zu.

«Ist gut, ich schaffe das.»

Ich lockerte meinen Klammergriff und vertraute der Mauer und dem Laternenpfahl, dass sie mich stützen würden. Ich ließ es zu, dass die Wogen der menschlichen Gefühle über mich herfielen, und wurde damit fertig. Aber es war sehr knapp.

Dann konzentrierte ich mich darauf, Ausschau nach dem Opfer zu halten. Da viele Schülerinnen auf der Treppe dem Mädchen auf den Fotos ähnlich sahen, warf ich auch einen Blick auf die Taschen und Rucksäcke, weil alle Mädchen unabhängig vom Modebewusstsein vermutlich nur eine Schultasche dabeihatten.

Dennoch kam ich wieder aus dem Gleichgewicht, weil immer noch mehr Kinder aus der Schule kamen und ihre Gefühle in meine Richtung ausstrahlten.

Wenigstens waren die meisten Empfindungen, die auf mich einprasselten, positiv. Erleichterung, weil der Unterricht vorbei war. Freude über das Wiedersehen mit den Freunden. Aufgeregte Erwartung angesichts der vor ihnen liegenden Stunden. Einsame Schüler sandten kleine Wellen der Traurigkeit aus, während Jungs, die aufeinander losgingen, hohe Aggressivität zeigten. Insgesamt drangen größtenteils Glücksgefühle auf mich ein, und das war bestimmt besser als ein wütender Mob oder eine Trauergemeinde.

Dann sah ich sie im gleichen Moment wie Josh, der mit dem Finger auf sie zeigte.

Ich trat zu. Treten fand ich besser als schlagen. Mit festen Stiefeln und dicken Sohlen drangen nicht so viele Gedanken durch.

Deshalb schlug ich seine Hand mit einem Tritt herunter und murmelte: «Nicht mit dem Finger zeigen, du Idiot.»

Dann sagte ich förmlicher: «Team 4, Zielperson gesichtet.»

Denn da war sie, in dem blauen Mantel, den sie schon auf zwei Fotos der Observationskamera getragen hatte, und mit der gestreiften Tasche über der Schulter. Als sie die Treppe hinunterging, neben einer Freundin, lachte sie.

Die Zielperson.

«Seid ihr sicher?», fragte Malcolm.

«Ja», sagte ich.

«Bestätigt», sagte Josh.

«Team 2 bestätigt Sichtung», sagte Becky.

«Dann macht euren Job», sagte Malcolm.

Genau.

Becky und Laura warteten, bis die Zielperson auf der untersten Stufe war und nach links ging, und liefen dann locker hinter ihr her.

«Team 2 nimmt Verfolgung auf», sagte ich leise.

Ein Blick ans Ende der Straße bewies, dass Roy das Opfer gesichtet hatte.

«Team 3 bleibt vorn», sagte Roy und ging mit Sam ein wenig weiter, wobei sie mit einer leeren Dose kickten.

«Zielperson nimmt erwarteten Weg», sagte ich. «Team 3 vorneweg und Team 2 hinterher. Die Zielperson strahlt für mich weder Misstrauen noch Angst aus. Sie ist ruhig und fröhlich.»

Sie war wirklich fröhlich, wie sie mit ihrer Freundin auf dem Heimweg von der Schule quatschte.

Ich nickte Josh zu. «Team 4 geht in die Gasse.»

«Gut, mein Sohn. Prima», sagte meine Mutter, peinlich darauf bedacht, keine Namen zu nennen.

«Er macht da nichts Besonderes, er hält sich nur an meinen Plan», schnaubte Malcolm.

Ich grinste. Meine Mutter war ein leitendes und treu ergebenes Familienmitglied, doch wenn sie mich lobte, flippte Malcolm regelmäßig aus. Ihre aufmunternden und Malcolms gereizte Worte spornten mich an, von dem Mäuerchen zu springen.

Während die überwältigende Schülermenge sich zerstreute, ging ich mit Josh in die entgegengesetzte Richtung der anderen Teams.

Wir hatten vor, um einen großen Siedlungsblock zu rennen und am anderen Ende der Gasse an einer Stelle wieder herauszukommen, die das Opfer gern als Schleichweg zum Tanzstudio nutzte. Allerdings wollten wir nicht, dass irgendwelche Zeugen später sagten: «Oh ja, da sind zwei Jungs gerannt, als hätten sie eine Bank ausgeraubt.» Deshalb hielt Josh seine Jacke nur locker in der Hand und ich drehte mich blitzschnell um, schnappte sie mir und lief weg.

«Hey! Gib sie zurück!» Dann rannte er hinter mir her.

Die Leute sahen also nur zwei Jungs, die Quatsch machten.