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Susanne Kronenberg

Tod am Bauhaus

Norma Tanns achter Fall

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Zum Buch

Bauhaus-Memoiren Die Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann ist urlaubsreif. Sie reist nach Weimar, um sich dort mit ihrem Freund ein paar schöne Tage zu machen. Timon Frywaldt, Spurenspezialist des hessischen LKA, ist bereits vorausgefahren, wenn auch zu keinem schönen Anlass. Sein Großonkel, ein Sohn des Bauhaus-Biografen Albin Frywaldt, ist verstorben. In Weimar angekommen, wartet Norma vergeblich auf Timon. Mit der Suche nach ihm beginnt eine Ermittlung in eigener Sache, die ihr tief unter die Haut geht. Denn vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar wurden ein Politiker und mit derselben Waffe ein weiteres Opfer getötet. Fiel auch Timon dem Serienmörder in die Hände? Norma muss sich immer neuen Fragen stellen, die alle mit Timons Verschwinden in Zusammenhang stehen. Wer hat Recht im Streit um ein Gemälde des Bauhaus-Meisters Wassily Kandinsky? Welches Rätsel verbirgt sich im Glasnegativ der Bauhaus-Fotografin Lucia Moholy, das sich in Timons Erbe wiederfindet? Nach und nach kommt ans Licht: Die dunkelsten Kapitel der Weimarer Vergangenheit sind noch längst nicht abgeschlossen.

Susanne Kronenberg, geboren in Hameln und seit Jahren im Taunus heimisch, entdeckte während des Studiums der Innenarchitektur ihr Faible für das Bauhaus mit all seinen Facetten und seiner Geschichte. Den Wunsch, die Architektur mit dem Schreiben zu verbinden, verwirklichte sie zunächst als Redakteurin für eine Bauzeitschrift. Als Dozentin für Kreatives Schreiben gibt die Autorin Kurse und Workshops. Sie ist Mitglied des »Syndikats« und Mitgründerin der Wiesbadener Autorengruppe »Dostojewskis Erben«. »Tod am Bauhaus« ist der achte Fall für Kronenbergs Wiesbadener Privatdetektivin Norma Tann.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Rosentot (2018)

Hundswut (2017)

Totengruft (2014)

Edelsüß (2012)

Kunstgriff (2010)

Rheingrund (2008)

Weinrache (2007)

Kultopfer (2006)

Flammenpferd (2005)

Pferdemörder (2005)

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © GFreihalter

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Weimar_Bauhaus-Universität_Hauptgebäude_400.jpg

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5962-7

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Weimar
Im August 1933

Lucia wird Deutschland verlassen! In Berlin habe ich sie inmitten gepackter Koffer und Kisten angetroffen. Kaum eine Stunde hatte sie für mich übrig, so hastig bereitet sie ihre Emigration vor. Erst Wien, dann Paris, wie sie hofft. Später London, so Gott will. Sie finde keine Ruhe, seit Theodor aus der Wohnung heraus verhaftet wurde. Lucias große Sorge gilt ihrer Arbeit. Die schweren Kartons mit den Glasnegativen will sie später nachholen. Soll ich sie für dich aufbewahren?, bot ich an. Ihre Antwort? Ein abwehrendes Lächeln. Traute sie mir nicht? Befürchtete sie, ich würde ihre Photographien ungefragt im »Drachenfest« veröffentlichen? Nicht nötig, Albin, alter Freund, erwiderte sie, es ist alles geregelt. Bauhäusler würden die Negative für sie aufbewahren, Gropius wolle einen Wagen schicken. Aus einem Impuls heraus habe ich mich nach der Umarmung zum Abschied umgedreht, blitzschnell den erstbesten Karton vom Stapel gegriffen und die Negative unter meinem Sakko verborgen. Bin überstürzt zum Bahnhof geeilt und haderte auf der Heimreise tief beschämt mit meiner Entscheidung. Nur dir, meinem Tagebuch, darf ich diesen Diebstahl anvertrauen.

1

Weimar
Samstag, der 6. Juli

Philipp Viohl war glücklich. Ungeachtet der Müdigkeit um 2 Uhr in der Nacht fühlte er sich von einem berauschenden Stolz übermannt, als er sich dem Deutschen Nationaltheater näherte. Im Schein des zunehmenden Mondes schlug er einen Bogen um den hohen Sandsteinsockel, auf dem Goethe und Schiller in einträchtiger Pose beisammenstanden und ihn mit gütiger Anerkennung zu mustern schienen. Philipp war stets zur Bescheidenheit erzogen worden. Da die Eltern außerdem absolute Ehrlichkeit erwartet hatten, verfügte er über zwei Eigenschaften, die nach seiner Erfahrung einer Karriere als Politiker eigentlich diametral hätten entgegenstehen müssen. Dass er es mit Fleiß und Ehrgeiz trotzdem zum jüngsten Abgeordneten im Thüringer Landtag gebracht hatte, verdankte er seiner Beharrlichkeit und einer gewissen Unverfrorenheit, die ihn ebenso auszeichneten. Vielleicht hatte auch geholfen, sinnierte er beim Anblick der im Sternenlicht schimmernden Fassade des Nationaltheaters, dass er eine Parteikarriere ursprünglich gar nicht angestrebt hatte. Eher zufällig war er hineingerutscht, nachdem er sich in ehrenamtlicher Arbeit für die Kultur in Weimar eingesetzt und schnell einen Namen gemacht hatte. So war er zum Zugpferd der Initiative »pro-bauhaus-weimar« avanciert, die ihre Aufgabe darin sah, den Ruf des 1919 in Weimar gegründeten Staatlichen Bauhauses weit über die Städte Weimar und Dessau hinauszutragen. Vor 100 Jahren hatte Walter Gropius die Bauschule ins Leben gerufen, und Weimar feierte dieses Jubiläum mit einer Vielzahl von Aktionen und Veranstaltungen. Dass die ganze Stadt vom Bauhausfieber gepackt schien, schrieb sich die Initiative »pro-bauhaus-weimar« auch auf die eigenen Fahnen. Um den Erfolg zu würdigen, hatte Philipp im Namen seiner Mitstreiter am Freitagabend die wichtigsten Vertreter der hiesigen Prominenz zu einem kleinen Festakt geladen und sich als Primus inter pares, dem man unverhohlen eine bundespolitische Zukunft vorhersagte, im Glanz der Stadtgrößen sonnen dürfen.

Als einer der Letzten war Philipp aufgebrochen. Er fühlte sich unsicher auf den Beinen, was ebenso am Rotkäppchen Riesling-Sekt, den es zum Auftakt gegeben hatte, liegen mochte wie am Wodka, der als Absacker geflossen war. Philipp bezweifelte, dass er in seiner Euphorie Schlaf finden könnte, und ging in Gedanken die Alkoholvorräte seines Kühlschranks durch. Keine fünf Minuten waren es bis zu seiner Wohnung am Frauenplan, in der er allein lebte. Auf dem Theaterplatz herrschte nächtliche Ruhe. Mit den Dichterheroen im Rücken hielt er inne. Sein andächtiger Blick streifte die kompakten Säulen, die den Giebel des Nationaltheaters trugen, und blieb an den zierlich vergitterten Fenstern hängen. Hinter diesen Mauern lag sie: die Wiege der deutschen Demokratie! In diesem Haus hatte die Deutsche Nationalversammlung zwischen Februar und August 1919 um die Verabschiedung der Reichsverfassung gerungen und dem »Geist von Weimar« Leben eingehaucht. Vom Volk gewählte Politiker wie er selbst!

Versunken in pathetische Gedanken und bis ins Mark erfüllt von der eigenen Bedeutsamkeit nahm er einen Pistolenschuss wahr, der wenige Meter hinter ihm abgefeuert wurde. Bevor er sich wundern konnte, traf ihn die Kugel wie ein Faustschlag zwischen den Schulterblättern.

2

Sonntag, der 7. Juli

Der Rezeptionist warf einen prüfenden Blick auf den Bildschirm. »Bedauere, wir haben keinen Gast dieses Namens.«

Eine Antwort, die Norma partout nicht mehr hören wollte. Die Mittagszeit war vorüber. In diesem kleinen Hotel in der Weimarer Altstadt hatte sie auf das erfolgreiche Ende ihrer Suche gehofft und aufs Neue alle Überredungskünste aufgeboten, um eine Auskunft zu bekommen. Der junge Mann schien den Datenschutz zum Glück nicht allzu genau zu nehmen.

»Bitte schauen Sie noch mal nach«, bat sie inständig. »Ein Doppelzimmer, gebucht auf Frywaldt mit Ypsilon. Dr. Timon Frywaldt aus Wiesbaden.«

»Bedauere«, wiederholte er nach längerem Scrollen über den Schirm. »Wir sind ausgebucht, aber dieser Herr ist nicht unter unseren Gästen. Haben Sie schon im Russischen Hof nachgefragt? Im Elephant oder Am Goethepark? Es gibt den Amalienhof und den Erbenhof …«

Mit thüringischem Zungenschlag zählte der Rezeptionist beflissen jene Hotels und Pensionen zwischen dem Bauhaus-Museum und Stadtschloss, dem Goethehaus am Frauenplan und dem Theaterplatz auf, die Norma bereits vergeblich abgeklappert hatte.

»Würden Sie mich bitte anrufen, falls Herr Frywaldt bei Ihnen einchecken sollte?« Um nichts unversucht zu lassen, überreichte sie ihm ihre Visitenkarte und schob, während er den Aufdruck studierte, unauffällig zum zweiten Mal einen 20-Euro-Schein über den Tresen. Doch er hielt den Blick beharrlich auf die Karte gerichtet.

»Sie sind Privatdetektivin?«, platzte er heraus und fiel, seine aufgesetzte Professionalität vergessend, in einen vertraulichen Tonfall: »Echt jetzt? Beschatten Sie etwa …?«

»Stopp! Bevor Sie auf falsche Gedanken kommen, Herr …«, leicht vorgebeugt entzifferte sie das Namensschild am Sakko, »Herr Till Giesecke. Herr Frywaldt ist völlig unbescholten. Ich bin heute Vormittag aus Wiesbaden angereist, um in Weimar Urlaub zu machen. Timon ist mein Lebenspartner. Er ist vorausgefahren, und ich habe ihn leider am Bahnhof verpasst. Also, melden Sie sich bei mir?«

»Wäre mir ein Vergnügen, Frau Tann«, erwiderte Till Giesecke und ließ den Schein leichthin in der Hosentasche verschwinden. »Darf ich Sie etwas fragen? Wie wird man Privatdetektiv?«

»Dafür gibt es verschiedene Wege. Ich zum Beispiel war früher bei der Kriminalpolizei.«

»Diebstahl und Einbruch?«, fragte er neugierig.

»Mord und Totschlag«, konterte sie gelassen.

»Echt jetzt?«, wiederholte er beeindruckt und senkte die Stimme zu einem Flüstern herab. »Vorletzte Nacht wurde ein Politiker erschossen! Direkt vor dem Nationaltheater.«

»Ich habe davon gehört. Auf den Stufen liegt ein wahres Blumenmeer.«

Auf ihrem Streifzug durch die Innenstadt waren ihr die bunten Sträuße und Lichter vor dem berühmten Gebäude am Theaterplatz aufgefallen. Als sie sich dort umgeschaut hatte, war ein älteres Paar dazugekommen, um eine Tafel mit dem Porträt eines freundlich dreinblickenden jungen Mannes aufzustellen. »Warum?«, hatte jemand von Hand in dicken roten Lettern quer über das Schwarz-Weiß-Foto gemalt. Ein Abgeordneter des Thüringer Landtags, ein gebürtiger Weimarer, sei in der Nacht von Freitag auf Samstag von einem tödlichen Schuss getroffen worden und auf der Treppe zusammengebrochen, hatte Norma von einer Frau erfahren, die sichtlich bekümmert herangetreten war. Der Politiker sei sehr angesehen und äußerst beliebt gewesen, hatte die Frau erklärt und einen Strauß Rosen abgelegt.

»Ein Radfahrer soll es gewesen sein«, erklärte Till Giesecke aufgeregt. »Ein Radfahrer! Davon gibt’s hier Tausende. Wenn das alles ist, was die Polizei weiß, wie will man den Mörder fassen?« Ratlos schaute er sie an.

»Vertrauen Sie auf die Ermittlungen«, antwortete Norma mit demonstrativ zuversichtlichem Nicken. »Die Polizei wird allen Hinweisen akribisch nachgehen und den Täter überführen, auch wenn es vielleicht dauern kann.«

Wenn das wirklich alles war, was sie bislang wussten, wollte sie nicht in der Haut der Ermittler stecken. Aber zur guten Polizeiarbeit gehörte es auch, Informationen gezielt zurückzuhalten. Womöglich hatten sie schon eine heiße Spur. Sie konnte sich gut vorstellen, was jetzt im zuständigen Kommissariat ablief. Alle irgendwie verfügbaren Kollegen würden für die Mordermittlung abgestellt. Allein schon, um die Öffentlichkeit zu beruhigen, müssten so schnell wie möglich erste Ergebnisse geliefert werden.

Nicht mehr ihr Metier! Sie hatte ihre Position im Wiesbadener Polizeipräsidium aufgegeben, um als unabhängige Privatdetektivin zu arbeiten, wie sie Fremden gegenüber gern behauptete. Bei Licht betrachtet war sie in dieser Entscheidung keinesfalls frei gewesen. Eine Entführung in Kolumbien, Tage der Gefangenschaft im Dschungel, die Pistole an ihrer Schläfe – das Erlebte, das Jahre zurücklag, hatte sie damals so aus der Bahn geworfen, dass ihr die enge Zusammenarbeit mit den Kollegen und die Hierarchien einer Behörde nicht länger erträglich erschienen waren. Auch ihre Ehe mit Arthur war in Kolumbien zerbrochen. Als Arthur kurz nach der Trennung unauffindbar gewesen war und schließlich sein Tod festgestanden hatte, schien sie ins Bodenlose zu stürzen. Es hatte lange gedauert, bis sie sich in ihrem neuen Leben zurechtgefunden hatte. Auch die Beziehung zu Timon war nur langsam vorangegangen. Mit ihrer übersteigerten Eifersucht hatte Norma ihrer Liebe manchen Stein in den Weg gelegt, aber im Lauf der Zeit immer besser gelernt, damit umzugehen.

Die Idee mit dem Kurzurlaub in Weimar war von Timon gewesen – wenn auch aus traurigem Anlass. Sein Großonkel Fritz, der die letzten Lebensjahrzehnte in Weimar verbracht hatte, war gestorben. Am Freitagmorgen war Timon in Wiesbaden in die Bahn gestiegen, um rechtzeitig zur Testamentseröffnung zur Mittagszeit in Weimar zu sein. Für die folgende Woche hatte er sich freigenommen. Norma wollte nachkommen, damit sie vorher einen Auftrag abschließen konnte. Er war zu lukrativ, um ihn sausen zu lassen. Ihr Auftraggeber war ein Wiesbadener Bauherr, dessen Neubau im noblen Viertel Sonnenberg über Wochen demoliert und mit Farbe beschmiert worden war. Norma dokumentierte die Verwüstungen der Villa, um dem Mann genügend Beweismaterial gegen den Täter in die Hand zu geben. Verantwortlich für das Desaster war, wie sie herausgefunden hatte, der pubertierende Sohn des Nachbarn, ein richtiges Früchtchen. Der Bauherr hoffte auf eine außergerichtliche Einigung und rechnete sich eine großzügige Entschädigung aus. Die Eltern des Jungen besaßen zwar Unsummen von Geld, aber nur ein Minimum an Erziehungskompetenz. Ihrem guten Ruf zuliebe würden sie sich freikaufen, spekulierte der Villenbesitzer.

An diesem Sonntagmorgen hatte Norma also die Bahn genommen und die Reise nach Weimar entspannt und ohne Zwischenfälle hinter sich gebracht. Pünktlich um 11:05 Uhr war der Zug in den Weimarer Bahnhof eingefahren, der sich mit dem Zusatznamen »KulturBahnhof« schmückte und die Ankömmlinge mit mannshohen Plakatwänden auf das 100-jährige Jubiläum des Bauhauses einstimmte. Voll Vorfreude auf die kommenden Tage hatte Norma die Empfangshalle durchquert, über die sich eine hohe weiß getünchte Gewölbedecke spannte, und nach der vertrauten Gestalt mit dem dunklen Zopf Ausschau gehalten. Timon hatte ihr versprochen, sie abzuholen. Sicherlich wartete er draußen, war sie überzeugt gewesen, denn er scheute das Gewusel und den Lärm in der Halle. Der Vorplatz des schmucken Gebäudes hatte sich als groß und übersichtlich erwiesen. Und Timon? Er hatte sich nicht blicken lassen und auf keinen Anruf reagiert.

3

Wiesbaden
Drei Tage zuvor, Donnerstag, der 4. Juli

Als Paar verbrachten Norma und Timon so viel Zeit wie möglich miteinander, wohnten aber aus Überzeugung getrennt. Die Unabhängigkeit tat ihrer Liebe gut. Außerdem hing Norma an ihrer Dachwohnung im Wiesbadener Stadtteil Biebrich, die für zwei Personen nicht ausgereicht hätte. Timon wollte seit seiner Scheidung kein festes Zuhause und zog die Freiheiten eines modernen Nomadenlebens vor. Haus- und Wohnungsbesitzer, die für eine Weile ins Ausland gingen, wussten ihn als Bewohner auf Zeit sehr zu schätzen. »Ich liebe die Abwechslung«, gab er gut gelaunt zurück, wenn die Kollegen im Hessischen Landeskriminalamt, seinem Arbeitsplatz als promovierter Biologe und Mediziner, ihn wegen des Hin und Hers neckten. Timon wollte sich nicht mit größeren Besitztümern belasten. Was er hatte, passte in wenige Umzugskartons. Zurzeit bewohnte er in Mainz-Amöneburg die dritte Etage einer ehemaligen Industriehalle, aus deren Fenstern, wie aus Normas Küche, der Rhein zu sehen war.

Am Donnerstag hatte Timon eingekauft und alles, was er zum Kochen brauchte, in einer Kiste die Treppen hinauf in Normas Dachwohnung getragen. Dass sie den Abend gemeinsam in Biebrich verbrachten, war Normas Bauherren-Dokumentation geschuldet, für die sie jede Minute nutzen wollte. So arbeitete sie im Büro im Erdgeschoss, während Timon in der Küche unterm Dach das Essen vorbereitete. Im Loft hätte er es deutlich bequemer gehabt. Der schicke Kochbereich hielt alles bereit, was ein Hobbykoch zu schätzen wusste. Dagegen verfügte Normas Miniküche nur über eine spartanische, wenn auch zweckmäßige Grundausstattung. Aber Timon dachte nicht daran, sich zu beklagen, auch wenn sich unter den Schrägen die Sommerschwüle staute und die aufgerissenen Fenster nur wenig gegen die drückende Gewitterluft ausrichten konnten. Wichtiger als die eigene Bequemlichkeit war ihm, dass Norma den Auftrag rechtzeitig beenden würde, um ihm am Sonntag nach Weimar folgen zu können.

»Wann genau geht dein Zug morgen?«, fragte sie, als sie schließlich gemeinsam am Tisch saßen und Norma sich eine zweite Portion des köstlichen Risottos nahm. Timon hatte einfach ein Händchen für vegetarische Gerichte aller Art.

»Früh um 7 Uhr«, erklärte er und tupfte sich mit einer Serviette Schweißtropfen von der Stirn. »Wenn es mit den Anschlüssen in Frankfurt und Erfurt klappt, komme ich rechtzeitig in Weimar an. Die Testamentseröffnung beginnt um 12 Uhr.«

Norma hatte gespürt, wie verletzt Timon gewesen war, als er durch den Brief eines Anwalts vom Tod seines Großonkels erfahren hatte. Von den zwei Töchtern seines Großonkels war keine Nachricht gekommen. Fritz Frywaldt, ehemaliger Studienrat für Deutsch und Geschichte an einem Wiesbadener Gymnasium, war hochbetagt mit 89 Jahren in Weimar gestorben. Zur Trauerfeier war Timon nicht nach Weimar gereist, weil er schlichtweg nichts davon gewusst hatte.

»Wer wird alles dort sein?«, fragte Norma.

»Neben dem Testamentsvollstrecker nur meine Cousinen, nehme ich an.«

»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Das muss zehn Jahre her sein, bei der Beerdigung meiner Tante Maria«, überlegte er laut. »Maria wurde in Weimar begraben. 1995 sind Maria und Fritz aus Wiesbaden dorthin gezogen. Fritz wollte unbedingt zurück in die Stadt, in der er 1930 geboren wurde. Seine Töchter sind hiergeblieben. Beate wohnt bis heute in Wiesbaden, und Felicitas hat in ein Rüdesheimer Weingut eingeheiratet.«

»So nah beieinander, und trotzdem habt ihr keinerlei Kontakt?«, wunderte sich Norma.

»Mir wäre es anders auch lieber«, räumte er ein. »Ich habe die Stelle des Sohns eingenommen, den Fritz sich immer sehr gewünscht hatte. Eine Art schwesterliche Liebe gönnen seine Töchter mir nicht. Obwohl sie wesentlich älter sind als ich und für Eifersüchteleien kein Grund besteht, scheinen sie mich zu hassen.« Mit Schwung schnippte er seinen dunklen Zopf über die Schulter zurück.

»Hass?«, gab Norma erschrocken zurück. »Das ist ein hartes Wort.«

Er hob resigniert die Schultern. »Mit Felicitas, der Jüngeren, komme ich halbwegs aus. Beate hat von jeher das reinste Gift versprüht. Bestimmt war sie es, die dafür gesorgt hat, dass ich von der Trauerfeier fernbleiben musste.«

Ein forderndes Maunzen lenkte ihre Blicke zum geöffneten Dachfenster. Leopold, der kräftige Kartäuserkater, war von einem Streifzug über die Dächer der Altstadt zurückgekehrt und wartete auf einen dienstwilligen Zweibeiner. Gehorsam stand Timon auf, hob das Tier vom Dach und setzte es behutsam auf der Eckbank ab. Eigentlich gehörte Leopold Eva Vogtländer, Normas Vermieterin, aber der Kater fühlte sich bei Norma ebenso zu Hause.

Norma konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Er hätte einfach hinunterspringen können.«

»Poldi weiß eben, dass ich seinem Charme nicht widerstehen kann«, erwiderte Timon mit einem Lächeln. Die Finger im blaugrauen Fell des schnurrenden Katers vergraben, wurde er wieder ernst. »Bei der Testamentseröffnung müssen die lieben Cousinen meine Gegenwart wohl oder übel ertragen. Um ihr Erbe brauchen sie sich keine Sorgen zu machen. Mehr als eine Kiste voll Bücher werde ich sicher nicht bekommen. Fritz wusste, dass ich mich nicht auf Kosten seiner Töchter und Enkel bereichern möchte.«

»Dich und deinen Großonkel hat sehr viel mehr verbunden als materielle Dinge«, bemerkte Norma tröstend.

»Das ist wahr. Fritz gefiel es sehr, wenn ich ihn Großonkel nannte, obwohl wir verwandtschaftlich ziemlich weit auseinanderliegen. Sein Vater und mein Urgroßvater waren Brüder. Fritz ist der Sohn von Albin Frywaldt.«

»Ach ja, dein berühmter Verwandter, der Wiesbadener Heimatdichter! Wo versteckt sich eigentlich dein literarisches Talent?«, neckte sie ihn.

»Lies meine Obduktionsberichte!«, gab er verschmitzt zurück. »Was Albin Frywaldt betrifft: Er war weit mehr als ein Heimatdichter, er war auch ein sehr politischer Schriftsteller. Er ist in Wiesbaden aufgewachsen und hat als junger Mann eine Weile in Weimar gelebt. Warte mal!« Er stand auf, nahm seinen Rucksack von der Kommode und zog ein in Geschenkpapier eingeschlagenes Päckchen heraus, das er Norma überreichte.

Erfreut betastete sie das Präsent. »Ein Buch?«

»Lesestoff für die Bahnfahrt am Sonntag. Mach es auf!« Erwartungsvoll sah er zu, wie sie das Papier aufriss.

»›Drachenfest oder Meine Memoiren über das Bauhaus in Weimarer Zeit‹ von Albin Frywaldt«, las Norma vor und ergänzte feierlich: »Von deinem Urgroßonkel geschrieben!«

»Das Buch wurde zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum neu aufgelegt. Albin war zwar kein Student am Bauhaus, hatte dort aber viele Freunde und galt als Insider und Experte.«

»Ein seltsamer Titel«, meinte sie. »Was ist ein Drachenfest?«

»Die Bauhäusler haben sehr hart gearbeitet, konnten aber auch ausgiebig feiern. Mit ihren Festen wollten sie mit der Bevölkerung in Kontakt kommen. Du musst bedenken, dass die Weimarer damals die Bauschule wegen ihrer visionären Ideen ziemlich kritisch beobachtet haben. Bei den Drachenfesten im Herbst ließen die Bauhäusler außergewöhnliche Drachen in den Himmel aufsteigen. Wahre Kunstwerke darf man sich darunter vorstellen. Glitzernde Sterne waren dabei, Meeresungeheuer und Seeschlangen, wie Albin in den Erinnerungen schreibt. Es muss ein fantastischer Anblick gewesen sein.«

Norma stand auf und gab ihm einen Kuss. »Danke für das Buch, Timon. Ich freue mich schon auf die Ausstellungen im neuen Bauhaus-Museum und alles andere, was es in Weimar zu sehen gibt. Schillers Wohnhaus, das Goethe-Museum, die Herzogin Anna Amalia Bibliothek und Goethes Gartenhaus!«

Im Gegensatz zu ihr, die die Stadt noch nicht kannte, war Timon mit ihr bestens vertraut, dank der häufigen Besuche bei seinem Großonkel. »Langweilig wird dir in Weimar bestimmt nicht werden«, versprach er und griff zur Weinflasche, um Riesling nachzuschenken.

Wenn sie genügend Kultur aufgesogen hätten, könnten sie zur Abwechslung Radtouren in die Umgebung machen, schlug er wenig später vor, nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten, und faltete eine Radwanderkarte auf. Mit rotem Textmarker hatte er mehrere Rundtouren in Weimars Umgebung nachgezeichnet und die akribische Vorbereitung durch eine Auflistung der Streckenlängen abgerundet, die er auf dem Deckblatt der Karte notiert hatte. Mit skeptischer Miene überflog Norma die ambitionierten Kilometerangaben. Sie hielt sich mit Joggingrunden durch den Biebricher Schlosspark fit, doch auf dem Rad mit Timon mitzuhalten, der fast täglich zum LKA radelte und in der Freizeit so oft wie möglich im Taunus unterwegs war, würde ihr alle Kräfte abverlangen.

Er zerstreute ihre Bedenken. »Wir leihen uns die Räder in Weimar, und du nimmst dir ein E-Bike.«

Gute Idee! Dann konnte er sich richtig auspowern, und sie würde locker hinterherkommen. Sein eigenes Rad wollte er zu Hause lassen, das war unkomplizierter.

Beim Abspülen fragte sie nach der Unterkunft in Weimar. Er habe noch nichts gebucht, bekannte er. »Fritz besitzt … besaß eine wunderschöne Altbauetage in der Nähe der Katholischen Kirche. Wenn ich in Weimar war, habe ich immer bei ihm übernachtet. Vielleicht lassen uns die Cousinen für die paar Tage dort wohnen. Ich möchte Fritz gern noch einmal nahe sein.«

»Du glaubst, sie erlauben dir das?«, fragte Norma skeptisch. »Vielleicht wollen sie die Wohnung selbst nutzen und nach der Testamentseröffnung nicht sofort nach Wiesbaden zurückfahren. Was passiert überhaupt mit der Wohnung?«

»Keine Ahnung«, sagte er achselzuckend. »Sie werden die Wohnung verkaufen oder vermieten, aber das geht nicht so schnell. Man kann doch nicht von heute auf morgen das Zuhause eines geliebten Menschen auflösen.«

»Das ist schwer«, stimmte Norma ihm zu.

»Falls wir dort nicht unterkommen, kümmere ich mich um ein Hotelzimmer«, versprach er.

Am Freitagmorgen begleitete sie ihn zum Hauptbahnhof. Der Abschied war herzlich und liebevoll.

Als der Zug einrollte, nahm sie ein Buch aus der Handtasche. »Zum Einpacken bin ich nicht mehr gekommen. Als Einstimmung für Weimar hier die Biografie eines Meisters vom Bauhaus.«

Überrascht nahm er das Geschenk entgegen und betrachtete den Einband, der das Schwarz-Weiß-Porträt eines elegant gekleideten Mannes mit vollen Lippen und einer runden Nickelbrille unter kräftigen Augenbrauen zeigte. »Die Biografie von Wassily Kandinsky. Danke dir!«

»Du magst doch seine Bilder«, sagte sie und freute sich über seine Begeisterung.

»Ich erwarte dich übermorgen in Weimar«, verlangte er in gespielter Strenge. »Bring deinen Auftrag rechtzeitig zu Ende.«

Kurz vor seiner Ankunft in Weimar rief er Norma aus dem Zug an. Die Anspannung in seiner Stimme führte sie auf das bevorstehende Zusammentreffen mit den Cousinen zurück. Es würde sicherlich keine angenehme Begegnung werden.

Am Nachmittag steckte Norma mitten in der Auflistung der Schäden im Kellergeschoss, das der jugendliche Rabauke mittels eines Gartenschlauchs durch ein gekipptes Fenster geflutet hatte, als eine SMS von Timon eintraf:

Komme gerade vom Notar. Habe die wissenschaftlichen Erstausgaben geerbt, die Fritz mir versprochen hatte. Und dazu den fröhlichen Kinderschrank. Freue mich auf dich. Bis Sonntag.

Ein Kinderschrank? Was sollte Timon, der Nomade, mit einem Möbelstück anfangen? In ihrer Wohnung wäre kein Platz dafür, aber vielleicht im Büro, überlegte sie, auch wenn sich Kindermobiliar im Büro einer Privatdetektivin seltsam machen würde. Aber wenn sein Herz daran hing … Sie beendete die Liste, was einige Zeit brauchte. Als sie Timon anschließend anrufen wollte, bekam sie die Ansage zu hören, dass er nicht erreichbar sei. War sein Mobiltelefon defekt? Timon besaß ein Retrogerät. Es wäre kein Wunder, wenn das Ding sich verabschiedet hätte.

4

Wiesbaden
Montag, der 1. April 1912

Heute hatte ich meinen ersten Tag! Ein kleiner Schritt auf dem weiten Weg zum Journalisten. Zweimal täglich erscheint das Wiesbadener Tagblatt, morgens wie abends. Es gilt viele Artikel zu verfassen, und ich, der frischgebackene Volontär Albin Frywaldt, brenne darauf, meinen Teil dazu beizutragen. Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Mit Vaters Warnung im Ohr bin ich zur Langgasse gegangen. So oft habe ich vor dem Pressehaus gestanden und von einer glorreichen Karriere in diesem Prachtbau geträumt, der vor sechs Jahren das alte Fachwerkhaus und das Druckereigebäude ersetzte. Die schönste architektonische Sehenswürdigkeit Neu-Wiesbadens, sagen die Leute. Heute Morgen ist mir bei dem Anblick das Herz in die Hose gerutscht. Mit weichen Knien durchquerte ich die Schalterhalle, ohne Muße, all die Ornamente und bunten Glasmalereien zu betrachten. Man wies mich umgehend ins Direktionszimmer, wo ich wie ein schüchterner Schulbub inmitten der Eleganz des holzvertäfelten Raums zu warten hatte. Am liebsten wäre ich auf einen der gedrechselten Stühle niedergesunken, was ich selbstredend nicht wagte! In meiner Anspannung heftete ich den Blick fest auf das Porträt Richard Wagners über dem Schreibtisch. Wider Erwarten erwies sich der Chefredakteur, Herr Walther Schulte vom Brühl, bei aller gebotenen Strenge als freundlicher älterer Herr, der mir leutselig von der langen Reihe Bücher erzählte, die er persönlich verfasst habe. Am liebsten wäre er nur Romanautor, vertraute er mir an. Überhaupt, die schönen Künste! Ihnen gehöre sein Herz. Sechs erfüllende Jahre habe er als Maler in Weimar verlebt. Weimar, die Stadt Goethes und Schillers, müssen Sie unbedingt einmal erleben, junger Freund, legte er mir voll Enthusiasmus ans Herz.

5

Weimar
Sonntag, der 7. Juli

Enttäuscht verließ Norma das Hotel. Die naive Zuversicht, mit der sie die Suche am Vormittag begonnen hatte, war einer besorgten Erschöpfung gewichen. Über den in der Sommerhitze schmorenden Marktplatz strich der Geruch von Grillwurst, der für sie als Vegetarierin jedoch keine Verlockung war. Sie hatte ohnehin keinen Appetit, aber eine kleine Stärkung konnte nicht schaden. Also suchte sie sich einen freien Tisch auf der von ausladenden Schirmen beschatteten Terrasse des Schwarzen Bären, der augenscheinlich seit Jahrhunderten unmittelbar neben dem Hotel Elephant, einem weiteren Traditionsgasthaus der Stadt, zu residieren schien. Während Norma auf eine Apfelschorle und ein Gericht mit gegrillten Auberginen wartete, beobachtete sie die Touristen, die über den Marktplatz schlenderten, eifrig Fotos von der neugotisch gestuften Rathausfassade schossen und gegenüber in der Touristen-Information ein und aus gingen. Ein schlanker Mann mit dunklem Zopf war nicht zu entdecken.

Zum Himmel, Timon! Wo steckst du? Wie viele Unterkünfte mochte es in den Außenbereichen Weimars geben, das als selbstbewusste »Kulturstadt Europas« Heerscharen von Besuchern beherbergen konnte? Irgendwo musste Timon eingecheckt haben, wollte er nicht im Ilmpark kampieren. Zum x-ten Mal schaute sie aufs Handy. Immer noch keine SMS, kein Anruf, gar nichts. Auch wenn sie nicht zu den Paaren gehörten, die sich andauernd mit gegenseitigen Nachrichten bombardierten: Nach zwei Tagen hätte sich ein Lebenszeichen gehört!

Ihre Gedanken kehrten zu ihrer Ankunft vor wenigen Stunden zurück. Eine Weile war sie auf dem Bahnhofsvorplatz umherspaziert und hatte inmitten von Buchsbaumbeeten auf einer Bank gewartet, vorerst kaum beunruhigt. Jeden Augenblick könnte er vor ihr stehen – mit einer hoffentlich überzeugenden Entschuldigung. Aber nichts dergleichen geschah. Hatten die Cousinen ihn aufgehalten? Nach einer halben Stunde trug sie die Reisetasche zurück in die Halle und stieg die Treppe zum Bahnsteig hinauf, auf dem ihr eine Reihe von Schließfächern aufgefallen waren. Zum Glück hatte Timon ihr vor der Abreise die Adresse des Großonkels genannt. Norma rief auf dem Smartphone über Maps den Weimarer Stadtplan auf und gab die Abraham-Lincoln-Straße ein. Eine Strecke von zwei Kilometern und ein Fußmarsch, der ihr nach der vierstündigen Bahnfahrt nicht unwillkommen war.

20 Minuten später erreichte sie eine Kirche, deren historistische Fassade sie an italienische Gotteshäuser denken ließ. Der quadratische Turm war mit geringem Abstand seitlich des Kirchenschiffs platziert worden und schmückte sich wie ein mittelalterlicher Bergfried mit einer Reihe kantiger Zinnen rund um das Flachdach. Die italienische Assoziation wiederholte sich gleich darauf beim Anblick ihres Ziels: einer dreigeschossigen, würfelförmigen Villa. Dank des trapezförmigen Dachs und der zierlichen Stuckbänder auf der Fassade hätte das Haus ebenso gut in Florenz stehen können. Ein gepflasterter Weg führte durch den Garten zur Haustür, die weit geöffnet war. Norma warf einen Blick auf das Klingelschild: drei Namen, darunter »Fritz Frywaldt« in der Mitte. Sie wollte nicht warten und betrat, als sich auf ihr Läuten nichts rührte, die Eingangshalle. Eine breite, bequeme Treppe brachte sie hinauf in den ersten Stock. Auch die Wohnungstür stand offen. Norma spähte in den Flur, in dem sich Umzugskartons an- und aufeinanderstapelten. Bevor sie sich bemerkbar machen konnte, tauchte aus einem der Zimmer eine hagere, leger in Jeans und Hemdbluse gekleidete Frau auf. Sie mochte Mitte bis Ende 50 sein. Cousine Felicitas oder Beate?

»Ja, bitte?«, fragte die Frau in schneidendem Ton.

In aller Höflichkeit nannte Norma ihren Namen, erklärte, wer sie war, und fragte nach Timon.

»Das wüsste ich auch gern«, lautete die Antwort der Dame, die sich nicht vorgestellt hatte. »Er hat hier von Freitag auf Samstag geschlafen und wollte sich darum kümmern, dass der Schrank abgeholt wird. Seit gestern Morgen hat Timon nichts von sich hören lassen.«

»Sprechen Sie von dem Kindermöbel, das Fritz Frywaldt ihm vermacht hat?«, fragte Norma und hielt ihre Stimme im Zaum. Von der schlechten Laune wollte sie sich nicht anstecken lassen.

Die Frau schnaufte geringschätzig. »Ein abgeschrammtes Teil, aber mein Vater hing daran. Meine Schwester und ich wollen schnellstmöglich zurück nach Wiesbaden. Vorher muss die Wohnung geräumt sein. Richten Sie Timon aus, wenn er den Schrank heute nicht abholt, kommt das Ding morgen in den Sperrmüll.«

Eine unmissverständliche Ansage, dachte Norma irritiert. »Hat Timon gesagt, in welches Hotel er gehen wollte?«

»Nein, mit keinem Wort! Was kümmert mich das? Wiedersehen!«

Die Wohnungstür flog zu. Verdutzt stieg Norma die Treppe hinunter.

Draußen packte sie die Wut: auf die garstige Frau – und auf Timon. Was erlaubte er sich? Wäre er wie versprochen zum Bahnhof gekommen, hätte sie sich nicht von dieser Xanthippe abfertigen lassen müssen. Doch mit jedem Schritt in Richtung Zentrum verblasste der Groll und machte wachsender Besorgnis Platz. Rasch verwarf sie die Idee, von der nächsten Bank aus die im Internet aufgelisteten Unterkünfte systematisch abzutelefonieren. Für höflich-geduldige Anrufe war sie viel zu angespannt. Vermutlich bekäme sie am Telefon sowieso keine Auskunft über die Gäste. Von Angesicht zu Angesicht könnte sie weit besser überzeugen. Im ersten Hotel, das auf dem Weg zur Innenstadt lag, begann sie die Suche erneut.

6

Wiesbaden
Mittwoch, der 13. Januar 1915

Seit sechs Monaten befindet sich Deutschland im Krieg. Die Listen der Gefallenen, die das Tagblatt tagtäglich aushängt, werden länger und länger. Zu Tausenden wird die Jugend auf den Schlachtfeldern geopfert. Wann hat dieser Wahnsinn ein Ende? Worte, die ich hier in aller Heimlichkeit aufschreibe. Niemand darf die Kladde entdecken. Täglich suche ich für sie ein neues Versteck im Dachgebälk von Vaters Schreinerei. Ein öffentliches Wort der Kritik, und man riskiert das Todesurteil als Volksverräter. Nur Gott allein weiß, warum man mich noch nicht einberufen hat. Ich danke Gott für jeden Tag, der mich davor bewahrt, mir selbst in die Hand zu schießen wie so viele Soldaten, die damit dem Morden dort draußen entgehen wollen. Als einhändiger Schreiber käme ich vielleicht sogar zurecht, aber werde ich den Mut dafür finden? Johann mussten wir bereits ziehen lassen. Er braucht beide Hände, ist Handwerker im wahrsten Sinn des Wortes. Mein geliebter Bruder, wie stolz warst du auf dein Meisterstück, einen eleganten Sekretär, an dessen Geheimfach du lange getüftelt hast. Wie schön war es, wenn ich dir nach Feierabend helfen durfte. Ich wäre ein passabler Schreiner geworden, bin aber ein noch besserer Journalist. Es ist gut, dass du in Vaters Fußstapfen getreten bist. Komm gesund zurück, lieber Bruder!

Genug der schlimmen Gedanken. Lieber will ich etwas Erfreuliches in Erinnerung bringen: Es ist mir gelungen, mit dem Fräulein Lucia Schulz ins Gespräch zu kommen. Es wirkt so unnahbar, das Fräulein Lucia, und immer sehr beschäftigt, wenn es sich im Redaktionssekretariat hinter dem Schreibtisch verschanzt. Lucia Schulz gehört auch zu den Wandervögeln, hat mir ein Kollege gesteckt. Da hatten wir plötzlich eine Menge zu reden über Ausflüge zu Friedenszeiten. Es taut zusehends auf, das hübsche Fräulein aus Prag!

7

Weimar
Sonntag, der 7. Juli

»Hallo? Hallo, meine Dame!«

Der ältere Herr am Nebentisch, der den schlohweiß gelockten, nackenlangen Haarschopf aus der Stirn gekämmt trug wie einst Geheimrat Goethe, entschuldigte sich für die Störung und bat um die Speisekarte, die Norma ihm herüberreichte. Unentschlossen blätterte er darin, bis die junge Bedienung Normas Bestellung auftrug.

Wohlwollend musterte er den Teller und sagte, als Norma die ersten Happen genommen hatte: »Sieht lecker aus. Wissen Sie, ich esse selten auswärts, aber heute möchte ich mir etwas Gutes gönnen. Sind Sie zu Besuch in unserem Städtchen?«

Während sie zurückhaltend nickte, sich das Essen schmecken ließ und dabei weiter ihren Gedanken um Timon nachhing, kam er ins Plaudern und empfahl ihr ungefragt Tipps für eine Stadtbesichtigung. Weil er redegewandt war und nicht mit geschichtlichen Details – angefangen bei Schiller, Goethe und der Herzogin Anna Amalia – sparte, hörte sie ihm bald aufmerksam zu. Ein gemurmeltes »Hm« und »Ach ja?« genügte, um seinen Redefluss nicht abreißen zu lassen. Als sie den leeren Teller beiseite stellte, sprach er über die Weimarer Republik. Ob ihr bekannt sei, warum man im Februar 1919 ausgerechnet Weimar und nicht die Hauptstadt Berlin für die erste Nationalversammlung ausgewählt habe?, fragte er rhetorisch und schickte sich an, eine Erklärung nachzureichen, als Norma schnell das Wort ergriff.

»In Berlin musste man mit Aufständen rechnen. Die Zeiten waren politisch brisant. Weimar war eine ruhige Kleinstadt, bot aber mit dem Nationaltheater ein genügend großes Gebäude für das Parlament«, erklärte sie und gab wieder, was sie in den »Memoiren« von Albin Frywaldt auf der Fahrt gelesen hatte.

»Dazu kam«, pflichtete er ihr bei, sichtlich angetan von ihrer Antwort, »dass Weimar schon damals ein touristisches Ziel war und über genügend Betten für die Politiker und Journalisten aus aller Welt verfügte. Stellen Sie sich das vor! Für neun Monate platzte unser Städtchen aus allen Nähten. Im September siedelte das Parlament nach Berlin um. Der Name ›Weimarer Republik‹ aber blieb bestehen.«

Weil es ihm offensichtlich großes Vergnügen bereitete, sein Wissen weiterzugeben, stellte Norma gezielte Fragen. Sein Benehmen, das man aufdringlich hätte nennen können, nahm sie dem alten Herrn nicht übel. Im Gegenteil, sie empfand den sehr gebildeten Mann als liebenswürdig. Inzwischen war er in der Gegenwart angelangt.

»Haben Sie von dem Mord gehört?«, fragte er und schüttelte den Kopf. »So ein netter junger Mann. Und vom Täter keine Spur, hieß es vorhin im Radio. Der Mörder kam wohl mit dem Fahrrad und hat aus dem Hinterhalt abgedrückt.«

»Kannten Sie das Opfer?«

»Philipp Viohl wohnte am Frauenplan. Fast immer haben wir kurz geredet, wenn wir uns zufällig begegnet sind«, erklärte er bedächtig. »Als Politiker hat er sich für die Kultur und die schönen Dinge, aber ebenso sehr für die kleinen Leute eingesetzt. Für Arme, für Flüchtlinge, für Obdachlose. Philipp hatte keine Berührungsängste.«

»Können Sie sich einen Grund für den Mord vorstellen? Privat oder beruflich?«

»Er war Abgeordneter im Landtag in Erfurt, über sein Privatleben weiß ich nur, dass er allein lebte. Ich hoffe allerdings sehr, dass die Motive nicht im Politischen liegen. Solch schlimme Zeiten hatten wir schon und brauchen sie nicht noch einmal.«

»Was genau meinen Sie damit?«, fragte Norma interessiert.

»Nun, wir sprachen vorhin über die Weimarer Republik, die in unserem Städtchen ihren Anfang nahm. Von wegen Goldene 20er-Jahre! Tatsächlich war es eine Zeit voll Ungewissheit und Verzweiflung, Wirtschaftskrisen und politischer Unruhen. Blutige Aufstände und Attentate gehörten zum Alltag. Aber verzeihen Sie bitte, ich möchte Sie nicht mit dunklen Gedanken belasten.« Der alte Herr fuhr deshalb mit einem anderen Thema fort und schilderte Weimars kulturelle Bedeutung in allen Facetten.

»Ich weiß Ihre Aufmerksamkeit sehr zu schätzen«, bedankte er sich schließlich, als Norma bezahlte und aufbrechen wollte. »Mit unserem Gespräch haben Sie mir ein Geschenk gemacht. Heute bin ich 80 geworden.«

Ob er den Festtag allein verbringen musste? Erleichtert, den alten Herrn nicht abgewiesen zu haben, gratulierte Norma ihm von Herzen. Als sie ihren Tagesrucksack aufnahm, fiel ihr die Reisetasche im Schließfach ein und damit die Tatsache, dass sie sich eine Unterkunft suchen musste.

»Ich brauche ein Zimmer. Sie kennen sich so gut aus. Könnten Sie mir etwas empfehlen?«

Er strahlte aus Dankbarkeit, behilflich sein zu dürfen. »Wie wäre es mit der Pension Elise? Das Haus wird Ihnen gefallen! Es liegt in der Nähe der Herderkirche oder genauer, der Stadtkirche St. Peter und Paul. Das ist ihr offizieller Name. Johann Gottfried Herder war dort vor 249 Jahren als Pastor tätig. Goethe persönlich hat den Theologen und Philosophen in unsere Stadt geholt.«

Keine Antwort ohne einen kleinen geschichtlichen Diskurs! Mit einem Nicken in Richtung einer Gruppe, die einer Stadtführerin auf den Fersen war, sagte Norma: »Weimar hat dem Dichterfürsten bis heute viel zu verdanken. Ist Friedrich Schiller nicht extra seinetwegen hergekommen?«

»Sie interessieren sich für Schiller?«, fragte der alte Herr mit Glanz in den Augen. »Da könnte ich Ihnen eine Stunde und mehr … Aber Sie müssen sich um Ihr Zimmer kümmern.«

»Vielleicht ein andermal.« Mit einem Lächeln wünschte Norma ihm einen schönen Tag.