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«It’s a great huge game of chess that’s being played

– all over the world –

if this is the world at all, you know.»

Through the Looking-Glass, Lewis Carroll

Mein Sohn, ich sehe im Traum,

dass ich dich schlachten soll.

Siebenunddreißigste Sure

Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz

und wie ein Siegel auf deinen Arm.

Denn Liebe ist stark wie der Tod.

Hoheslied 8,6

Wie ein schwarzes Messer glitt die Limousine durch den Verkehr. Die Insassen, geborgen in ihrer voll klimatisierten Welt, achteten kaum auf das Leben, das sich schwitzend durch die Straßen schob. Sie hatten andere Dinge im Kopf. Heute war ein freudiger Tag. Abraham Babel, der Patriarch, war gerade aus dem Krankenhaus entlassen werden. Er musste es ruhig angehen lassen, hatte die Herzattacke allerdings insgesamt gut überstanden. Seine Frau war stumm vor Glück. Denn sie hatte nicht nur ihren Mann wieder, sondern auch ihren verlorenen Sohn, ihren Joseph, der nach jahrelanger Verbannung wieder daheim war und jetzt neben ihr saß. Der kritische Zustand seines Vaters hatte ihn aus Afrika zurückgeholt, und er war nicht allein gekommen. Zwischen ihrer Schwiegertochter und einem Mann vom Sicherheitsdienst saß Alice, die Enkeltochter, die sie erst letzte Woche zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war dankbar, dass ihr das nach all den Jahren des Hoffens vergönnt war. Der Tod hatte sie schon im Maul gehabt und doch wieder ausgespuckt. Heute war alles ein Wunder.

Als das Auto brüsk stoppte, drehte sich ihr Mann irritiert zu dem Fahrer um. Was war das Hindernis? Ein Unfall, der die ganze Straße blockierte? Er fluchte. Sie legte ihm ihre Hand aufs Knie. Was hatten die Ärzte gesagt? Er durfte sich nicht aufregen. Ihr Sohn lächelte bloß. Ihre Enkelin schaute durch die Panzerglasscheiben auf die für Neuankömmlinge so beeindruckende Stadt.

Eine Frau in einem Regenmantel und mit einem Kind auf dem Arm – eine der vielen hundert Bettelnden, die die Stadt zählte – kam auf sie zu. Breit lächelnd blieb sie neben dem Wagen stehen. Joseph öffnete das Seitenfenster. Sein Vater protestierte, doch es war schon zu spät. Die Frau, noch immer mit ihrem Lächeln auf den Lippen, warf das Kind durchs Fenster zu ihnen herein. Ihr Mantel öffnete sich. Sie sahen jetzt alle die um ihren Leib gebundenen Sprengkörper. Auch das Kind war voll davon.

Die Sicherheitsleute reagierten zu spät.

«Schießt! So schießt doch!», rief ihr Mann.

Das Letzte, was sie sah, war der ungläubige Blick auf dem Gesicht ihres Sohnes.

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Als die Baupläne für den Turm bekannt wurden, brach ein Sturm von Protesten los. Anwohner sahen ihre Häuser schon unter Bulldozern verschwinden oder befürchteten, für immer im Schatten des immensen Monolithen leben zu müssen. Stadtplaner behaupteten, es gebe noch genügend Büroraum im Zentrum und somit keinerlei Grund, genau dort den höchsten Wolkenkratzer der Welt zu errichten. Architekten wiederum störte der Entwurf. In einer Stadt, die bekannt war für ihre strengen architektonischen Linien, fiel dieses gotische Monstrum mit seinen Wasserspeiern, seinen allegorischen Skulpturen und zinkverkleideten Gesimsen völlig aus dem Rahmen. Mittelständler sahen entgangene Chancen, Naturverbände befürchteten, ganze Vogelschwärme könnten sich an den für sie unsichtbaren Fenstern zu Tode fliegen, und religiöse Gruppierungen versicherten jedem, der es hören wollte, das Gebäude sei ein Dorn im Auge Gottes. Wichtiger noch war die Meinung der Investoren, die eventuelle Terroristen nicht auf katastrophale Gedanken bringen wollten und sich für unauffälligere Projekte entschieden. Bei so viel Gegenwehr schien das Gebäude nicht mehr als eine Fantasie auf Papier oder eine Welle aus Größenwahn zu sein, die an den Klippen des gesunden Menschenverstandes zerschellen musste.

Man vergaß dabei allerdings: Der Auftraggeber war Abraham Babel. Und Babels Wille war Gesetz. Seine Gegner hatten zwar recht und zudem die öffentliche Meinung auf ihrer Seite, aber Babel besaß die Mittel. Bevor sich die Stadt von dem Schock erholt hatte, dass die Baupläne genehmigt worden waren, hatten die Arbeiten bereits begonnen. Im ersten Jahr war es noch ein gigantisches Loch im Erdboden, als ob sich die Arbeiter einen Weg in die Hölle gruben; ein Jahr später bauten sie schon am dreißigsten Stockwerk. Ein derartiges Tempo konnte in dieser Stadt nur eines bedeuten: Geld. Geld, das für die nötigen Genehmigungen sorgte und die Proteststimmen zum Verstummen brachte, Geld, das ganze Busse voll illegaler Arbeitnehmer herbeischaffte, die zwischen den Rippen aus Stahlbeton und unter riesigen Kränen ihr Leben aufs Spiel setzten – unter den Dinosauriern des einundzwanzigsten Jahrhunderts, die triumphierend ihre Herrschaft über die Stadt hinausschrien. Drei Jahre, nachdem der erste Protestmarsch vor das Rathaus gezogen war, um dieser Gotteslästerung Einhalt zu gebieten, war der Turm eine Tatsache. Dreihundertdreißig Stockwerke zählte dieser Gräuel offiziell, aber die Religiösen waren sich sicher, dass es dreihundertdreiunddreißig waren, hinauf und wieder herunter ergab das sechshundertsechsundsechzig Stopps, die Zahl des Tieres. Dies sei überdeutlich das Werk des Teufels, der hier dem Allerhöchsten einen arroganten Finger entgegenstreckte. Zum Glück werde Gott schnell reagieren. Katastrophen würden sich über der Stadt zusammenbrauen, und dann werde man ja sehen. Der Fall des Turms sei eine Frage von Monaten.

Zu ihrem Bedauern war das Gebäude, das offiziell Global Business Building hieß, im Volksmund aber unvermeidlich der Turm von Babel genannt wurde, nach fünf Jahren noch immer nicht vom Erdboden verschluckt. Im Gegenteil, es war zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Der Schatten, den es an sonnigen Tagen über die Stadt warf, wurde zur Sehenswürdigkeit; zu etwas, das die wachsenden Touristenströme zum Staunen brachte und den Städtern, die es bereits gewohnt waren, von dieser riesigen Sonnenuhr zu profitieren, nur mehr ein Achselzucken entlockte. Alle großen Organisationen hatten dort ihren Sitz und die meisten Länder ihre Botschaften. Man fand dort die exklusivsten Geschäfte. Die Leute gönnten sich einen Film in einem der fünf Kinokomplexe des Turms, und zu besonderen Gelegenheiten dinierten sie im City View Restaurant mit der Stadt zu ihren Füßen. Der Handel nahm zu, die Mittelständler in der Umgebung machten goldene Geschäfte, zu vorsichtige Investoren fluchten, Vögel passten ihre Routen an, und die Rache des Allerhöchsten blieb aus. Gott hat alle Zeit der Welt, aber als nach fünf Jahren noch immer keine Risse in der Fassade auftauchten, als keiner der potthässlichen Wasserspeier sich löste, um einen Bus mit Schulkindern unter sich zu zermalmen, und auch nicht ein sich selbst respektierender Geschäftsmann schreiend aus dem Fenster gesprungen war, da wurden die Gegner des Turms ungeduldig.

Aus: Babel, ein Traum von Macht, Thomas Rosen & Aziz al-Kashani

Naomi starrte auf den Turm auf der anderen Straßenseite, der sie erwartete. Vielleicht war es ein Scherz, aber die Baumeister hatten die Fassade des Turms so entworfen, dass sie dem riesigen Kopf eines mythologischen Tieres glich. Die grün getönten Fenster im ersten Stock ergaben die Augen des Monsters, und die vergoldete Drehtür auf Straßenebene war das Maul, in dem die eine Beute nach der anderen verschwand. Manchmal spie das Monster eine verschmähte Beute wieder aus, die dann verstört hinaus ins Freie gewankt kam.

Sie durfte nicht länger zögern. Das Gebäude beobachtete sie. Wie ein Taucher, der sich zum Sprung bereitmacht, atmete sie tief ein, huschte zwischen Autos und Taxis hindurch und zwang sich hinein in das Maul.

Drinnen war alles gigantisch. Die Eingangshalle, gepflastert mit weißem Marmor, war größer als ein Fußballfeld. Eine Reihe identischer Frauen in identischen weißen Blusen mit identischen Mini-Headsets und Augen, die im Licht ihrer Laptops glänzten, gönnte ihr einen gelangweilten Blick, als sie zum Schalter ging. Gewohnt, die Berühmten und Mächtigen der Erde an ihrem Desk vorbeiflanieren zu sehen, zeigten sie sich von einem Mädchen mit einem billigen kleinen Koffer in der Hand nicht beeindruckt. Herrenloser Müll.

Naomi holte einen dünnen Papierstapel aus dem Koffer und legte ihn auf den Schalter. Eine der Frauen warf einen Blick auf die Dokumente.

«Personalangelegenheiten werden zwei Blocks weiter behandelt. Hast du das nicht gewusst?»

Naomi schüttelte den Kopf.

«Du kannst froh sein, dass ich heute so gut drauf bin.»

Die Frau tippte mehrere Nummern ein.

«Keine Ahnung. Knapp fünfzehn, vermute ich», redete sie in ihr Headset. «Das Übliche. Waisenhauspapiere. Nein, sauber ist sie.»

Die Frau schob die Papiere zurück.

«Warte hier. Jemand kommt dich holen.»

Zehn Minuten später kam eine andere Frau auf Naomi zu. Alles an ihr war streng und gestrafft, angefangen vom weißen Hosenanzug, der ihren mageren Leib umschloss, bis hin zu ihrer Gesichtshaut – was ihren Augen etwas Orientalisches verlieh. Ihr Mund war ein giftiger roter Strich. «Papiere.» Sie spie das Wort förmlich aus.

Naomi überreichte ihr das Bündel.

Die Frau schaute von den Papieren zu Naomi und zurück.

«Komm mit», sagte sie und verschwand durch eine Tür hinter dem Schalter.

Naomi folgte ihr in einen dämmrigen Flur. Eine zweite Tür führte zu einer Treppe. In dem kahlen Neonlicht stiegen sie hinab. Es folgten weitere Flure und Treppen, tiefer und tiefer, weiter weg von dem Sonnenlicht und dem Leben, bis sie zuletzt in den Kellern des Turms ein fensterloses Büro betraten.

«Setzen!», sagte die Frau und glitt hinter ihren Schreibtisch. Das Zimmer sah genauso streng und beherrscht wie sie selbst aus.

«Woher kommst du?»

«Aus dem Waisenhaus.»

«Hat man dir da keine Manieren beigebracht? Man antwortet niemals ohne Anrede.»

«Ja, Frau … »

«Mein Name ist Prynne. Merk dir das. Was waren deine Eltern?»

«Meine Eltern sind tot, Frau Prynne.»

«Das ist mir klar, Kind, sonst kämst du nicht aus dem Waisenhaus. Ich will wissen, was sie waren, als sie noch lebten.»

«Mein Vater hat bei der Metro gearbeitet. Meine Mutter war Hausfrau.»

«Geschwister?»

Naomi zögerte etwas.

«Weißt du es nicht sicher?»

«Ich hatte eine kleine Schwester», sagte Naomi. «Aber sie ist auch tot.»

«Großeltern?»

Naomi schüttelte den Kopf.

«Ich hoffe, du gehst etwas weniger leichtsinnig mit deinem Leben um als der Rest deiner Familie. Immer wieder neues Personal abzurichten passt mir nicht.»

Sie besah die Papiere. «Du liebe Güte, derartige Banalitäten kann man sich nicht ausdenken. Ein Spüllappen hat ein spannenderes Leben.» Sie hob den Kopf. «Zum Glück für dich hat diese Alltäglichkeit jetzt ein Ende. Ab heute arbeitest du für einen ganz besonderen Arbeitgeber.»

«Sie, Frau Prynne?», fragte Naomi.

Einen Moment lang schien sich der rote Strich zu einem Lächeln verziehen zu wollen, aber Prynnes Augen blieben kalt.

«Ich spreche von Abraham Babel, Kind! Dem Finanzgenie, das diese Stadt vor dem Untergang gerettet hat, dem Mann, der dem erschöpften Kapital neues Leben eingehaucht und ganz allein die bereits in ihren Grundfesten erschütterten Banken gestützt hat.» Sie nagelte Naomi mit ihrem Blick fest. «Gestern warst du ein Niemand. Heute erhältst du Zutritt zu dem exklusivsten Ort des Landes. Ist dir eigentlich klar, welche Ehre das ist? Wenn du hart arbeitest, kannst du es weit bringen. Nicht sofort natürlich. Man steigt nicht mühelos die Leiter hinauf, und nicht jeder schafft es, denn viele sind berufen … Aber wenn du nicht aufgibst, hast du eine Chance. Ich hoffe, du bist dankbar für das, was das Schicksal dir zugedacht hat.»

Naomi nickte.

«Hier gilt lediglich eine Regel: Man macht keine Fehler. Niemals. Ich toleriere keine Entschuldigungen, verstanden? Es stehen genug Mädchen bereit, deinen Platz einzunehmen. Du bekommst zwei Nachmittage im Monat frei. Ansonsten ist es dir zu keinem Zeitpunkt gestattet, das Gebäude ohne Erlaubnis zu verlassen. Manche deiner Kolleginnen dachten, sie bräuchten sich um diese Regel nicht zu scheren. Sie haben falsch gedacht. Du erhältst keinen Besuch. Solange du unter mir arbeitest, sind Handys oder Laptops verboten. Freundschaften kannst du besser drangeben, solange du hier tätig bist.»

«Ich habe keine Freunde, Frau Prynne.»

«Sehr gut», sagte diese und schaute auf ihre Armbanduhr. «Dann bring ich dich jetzt zur Garderobe.»

Naomi folgte ihr abermals durch ein Gewirr von Fluren.

Die Garderobe erwies sich als riesige Lagerhalle, vollgestopft mit Kleiderregalen.

«Frau Hu!», rief Frau Prynne. «Haben Sie einen Moment für uns?»

Eine kleine Frau mit hervorstehenden Augen hinter dicken Brillengläsern tauchte zwischen den Regalen auf.

«Ein Neuzugang, Frau Prynne?»

«Eine Sub. Medium, schätze ich. Sie braucht die gesamte Ausstattung: Schuhe, Socken, Unterwäsche und natürlich Hosen und Hemden.»

Frau Hu griff nach dem Bandmaß, das sie um den Hals trug, und schlang es um Naomis Taille.

«Einatmen. Ja, so. Jetzt ausatmen. Sehr gut.»

Sie nahm Maß an Naomis Brust und Schultern und kniete sich anschließend hin, um Naomis Beine zu messen.

«Perfekte Figur. Sie könnte direkt auf den Laufsteg.»

Frau Prynne schnaubte.

«Dafür ist sie zu dick.»

«Zu dick?»

«Schauen Sie sich die Brüste an. So etwas sieht man auf keinem Catwalk.»

Frau Hu verschwand in der Dunkelheit der Regale.

«In diesem Gebäude herrscht eine strikte Ordnung», sagte Frau Prynne. «Du gehorchst Arbeitnehmern mit einem höheren Rang. In deinem Fall sind das alle.»

Frau Hu kam mit einem ganzen Kleiderstapel zurück. Alles war dunkelgrau, bis auf die weiße Unterwäsche. Frau Prynne nahm ein Shirt vom Stapel.

«Siehst du das hier?»

Auf dem Shirt war oben links die Abbildung eines schwarzen Turms zu sehen. Unter dem Turm waren mit rotem Garn die Buchstaben «Sub» in das graue Material gestickt.

«Das ist dein Rang. Du bist eine Sub. Direkt über dir sind die F5-er. Die putzen die Gemeinschaftsräume der unteren dreißig Etagen. Über ihnen stehen die F4-er. Was sind die noch mal, Hu? Die Fahrer?»

«Die Laufburschen, glaube ich.»

«Egal. F3 steht über F4, E5 über F1 und so weiter. Je höher der Rang, desto besser ausgebildet, desto mehr Erfahrung beziehungsweise Verantwortung.»

Sie knöpfte ihre Jacke auf.

«Ich selbst bin C1, und Frau Hu» – sie zeigte auf das dunkelgrüne Shirt von Frau Hu – «ist eine E2.»

«Wer sind die A-s?», fragte Naomi.

«Die Kleine ist ehrgeizig», sagte Frau Hu.

«Unwissend, wollten Sie sagen. Die A-s arbeiten oben im Turm, in den Räumlichkeiten von Abraham Babel oder besser in denen seiner Enkelin. Mach dir keine Sorgen, mit ihnen wirst du nichts zu tun haben.» Frau Prynne fischte einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche. «Das hier ist der Schlüssel zu deinem Spind. Da hinein legst du deine restliche Kleidung. Frau Hu zeigt dir, wo es ist und wohin du mit deiner schmutzigen Wäsche musst. Keine Ahnung, was du aus dem Heim gewohnt bist, aber hier erscheinst du jeden Tag in frischen Sachen.»

Naomi nickte.

«Ab heute fängt dein neues Leben an. Es ist dir vielleicht nicht bewusst, aber falls du dir Mühe gibst, sind deine Nöte vorbei. Hier bei Babel kümmern wir uns um alles. Du bekommst eine Gratis-Zahnversorgung und einen zweimonatigen Gesundheitscheck bei den besten Ärzten. Kost, Logis und Kleidung hast du frei, und dein Lohn wird am ersten Tag des Monats auf dein Konto überwiesen.»

«Ich habe kein Konto, Frau Prynne», sagte Naomi.

«Dann bekommst du das Geld in einem Umschlag, bis du eins eröffnet hast. Wichtig ist, dir darüber klar zu sein, dass du in eine neue Familie aufgenommen bist, die für dich sorgt und die darauf achten wird, dass dir nichts zustößt. Im Tausch für diese Fürsorge erwartet Babel Loyalität.»

«Loyalität?»

«Treue, wenn du das Wort besser verstehst! Babel kommt an allererster Stelle. Er kommt vor deiner Mutter, vor deinem Gott und vor deinen Träumen. Wenn Babel etwas von dir will, dann gibst du ihm das. Verlangt er von dir zu springen, dann springst du, selbst wenn es vom Dach des Turms wäre. Und mit Babel meine ich nicht nur den Mann ganz oben an der Spitze. Wir alle sind Babel.» Sie zeigte auf den roten Buchstaben auf ihrer Bluse. «Ich bin Babel. Frau Hu ist Babel. Mach uns glücklich und du machst Abraham Babel glücklich. Aber wenn du uns unglücklich machst …»

«Machen Sie der Kleinen keine Angst», sagte Frau Hu.

«Sie soll wissen, woran sie hier ist. Sie ist kein Model auf einem Catwalk, sondern eine Putzhilfe.»

Sie wandte sich wieder zu Naomi.

«Du arbeitest schnell. Du stellst keine Fragen. Du schaust niemandem in die Augen. Du redest nicht. Du atmest nicht. Du bist unsichtbar, verstanden?»

«Ja, Frau Prynne.»

«Enttäusche mich nicht. Nicht wie deine Vorgängerin.»

Naomi verkniff sich die Frage, was mit ihr geschehen war.

Frau Hu zeigte ihr die Duschen und die Spinde. Naomis Spindnummer war 1014.

«Arbeiten hier mehr als tausend Leute?»

«Kind! Hier arbeiten Tau-sen-de von Menschen! Natürlich übernachtet das Personal aus den Büros und Geschäften nicht im Turm. Diese Ehre ist nur Babels direkten Arbeitnehmern vorbehalten.»

Und sie musste diese Ehre mit jeder Menge anderer Menschen teilen, begriff Naomi, als sie ihren Schlafplatz sah. Dutzende von Betten waren in Reihen in einem großen unterirdischen Saal aufgestellt.

«Schlafe ich hier?»

«Du schläfst hinten, bei den anderen Subs», sagte Frau Hu. Sie gingen durch den Schlafsaal. Hier und da lagen Mädchen und Frauen auf ihren Betten. Manche schliefen oder lasen, andere schienen zu beten, starrten die Decke oder auch Naomi und Frau Hu an. Am Ende des Raums, abgesondert von den übrigen, standen zwölf Betten. Auf zwei davon lagen Mädchen. Frau Hu nickte ihnen zu, und beide nickten kurz zurück. Vor dem letzten Bett an der Wand blieben sie stehen.

«1014», sagte Frau Hu. «Hier schlief deine Vorgängerin.»

In einer Schublade unter ihrem Bett konnte Naomi ihren Koffer verstauen. Sie legte die Kleidung, die sie auf Anraten von Frau Hu mit hierher genommen hatte, auf das Bett.

«Sonst musst du wieder den ganzen Weg zu den Spinden zurückgehen, um dich umzuziehen», sagte Frau Hu. «Hier hast du auch etwas mehr Privatsphäre.»

Sie deutete auf einen Vorhang, der um das Bett gezogen werden konnte.

«Frau Prynne kommt gleich, um dir deine ersten Aufgaben zu erläutern. Besser, du bist dann schon in Uniform.»

Naomi nickte.

«Neue Menschen, neue Regeln und neue Kleider. So ein erster Tag ist immer schwierig, aber das gibt sich. Am Anfang hast du vielleicht noch etwas Heimweh nach Hause …»

«Ich habe kein Zuhause», sagte Naomi.

Frau Hu sagte nicht «sehr gut». Sie lächelte betrübt und ließ Naomi hinten im Saal zurück.

Kaum war Frau Hu fort, da wurde Naomi schon von dem Mädchen im Bett neben ihr angesprochen.

«Du musst die Neue sein! Ich bin Lisbeth.»

Mit ihren kurzen braunen Haaren wirkte sie zunächst wie sechzehn, aber der Blick in ihren kleinen Augen war älter. Wenn sie sprach, sah man eine Reihe kleiner, scharfer Zähne.

«Das ging schnell. Issa ist noch keine Woche verschwunden, und schon hat man sie wieder ersetzt.»

«Verschwunden?»

«Ui, habe ich das gesagt?»

Sie schaute zu dem Mädchen in dem anderen Bett, das sich schulterzuckend umdrehte und tat, als ob das Gespräch sie nicht interessierte.

«Achte nicht auf Deborah. Sie ist müde.»

«Müde von deinem Gelaber», maulte das Mädchen.

«Kann ich dir helfen?», fragte Lisbeth und hob Naomis Koffer vom Bett. «Du hast nicht viel mitgebracht von zu Hause. Ach ja, stimmt auch, du kommst sicher aus dem Heim wie deine Vorgängerin. Das tut mir so furchtbar leid für dich.»

«Nicht nötig», sagte Naomi. Sie nahm Lisbeth den Koffer aus der Hand und verstaute ihn in der Schublade unter dem Bett.

«Ich darf gar nicht daran denken», sagte Lisbeth. «Natürlich hoffst du manchmal heimlich, deine Eltern wären nicht deine wirklichen Eltern, sondern eines Tages würde ein schickes Auto in deiner Straße halten, aus dem deine richtige Mutter gerannt kommt, um dich mitzunehmen in dein neues Leben. Sie war früher arm, aber jetzt ist sie reich und mächtig und bereut es, dass sie dich jemals weggegeben hat. Und du weißt endlich, wer deine Eltern sind.»

«Ich kenne meine Eltern», sagte Naomi.

«Ach», sagte Lisbeth. «Und wie bist du dann im Waisenhaus gelandet?»

«Sie sind tot», sagte Naomi.

«Lisbeth», rief das Mädchen in dem anderen Bett, «halt endlich den Schnabel!»

Lisbeth redete auch dann noch weiter, als Naomi den Vorhang zuzog und in ihre neue Kleidung schlüpfte. Sie erzählte, wie sie spekuliert habe, wer wohl die Neue sei, aber dass sie nie so jemand Hübsches erwartet hätte. Fand Deborah nicht auch, dass die Neue hübsch sei? Natürlich sei Schönheit nicht immer ein Vorteil, erst recht nicht hier, in den Abgründen von Babel. Denn wenn die Männer einen einmal im Visier hätten … Tiere seien sie, die immer nur an das Eine dachten. Selbst sie, Lisbeth, habe Mühe, sie sich vom Leib zu halten, und sie sei ein anständiges Mädchen, das ihre Ware nicht so sehr feilbot, falls Naomi verstand, was sie meinte.

Naomi kam hinter dem Vorhang hervor. Ihre Brüste passten perfekt in das graue Shirt. Der erste Anblick machte, dass Lisbeth ihr Lächeln entglitt.

Ja, zu hübsch zu sein sei gefährlich. Die Mädchen seien nicht mehr an einer Hand abzuzählen, die, von ihrer Schönheit verraten, die Aufmerksamkeit eines der C-s oder B-s erregt und geglaubt hätten, auf diese Weise würden sie rasch befördert. Damit gewännen sie aber keinen Respekt. Sie würden benutzt und weggeworfen wie ein billiger Putzlappen. Das werde ihr nicht passieren. Sie riet Naomi, diesen Weg nicht einzuschlagen. Denn eine Frau, die gewarnt sei …

Lisbeths Redefluss endete erst, als die Tür am anderen Ende des Saals aufging und Frau Prynne eintrat. Lisbeth war nicht die Einzige, die verstummte. Die meisten Frauen zogen rasch ein Bettlaken glatt, wischten sich die Krümel vom Shirt oder ordneten ihr Haar, als Prynne durch den Saal schritt. Bei Naomi, die neben dem Bett bereitstand, blieb sie stehen. «Ich habe mir den Stundenplan angeschaut», sagte sie, «und halte es für das Beste, wenn du vorläufig die Aufgaben deiner Vorgängerin übernimmst.»

Sie zählte die Aufgaben auf. Naomi war zusammen mit einem Teil der anderen Subs für die Sauberkeit in den Schlafsälen, den Duschen und Toiletten sowie den Freizeiträumen und Dienstaufzügen zuständig. Gearbeitet wurde im Turnus. «Deine Kolleginnen werden dir erklären, wie das funktioniert.»

«Ich helfe ihr gern», sagte Lisbeth.

«Warum wundert mich das jetzt nicht?», sagte Frau Prynne. «Einen Tag in der Woche arbeitest du in der Wäscherei. Wie ich schon sagte, hast du zwei Nachmittage im Monat frei. Es wäre praktisch, wenn du mir möglichst schnell die gewünschten Tage durchgibst. Wann willst du nach draußen?»

Naomi schüttelte den Kopf.

«Ich brauche keine freien Tage.»

Lisbeth fiel der Unterkiefer herab. Selbst Deborah drehte sich um.

«Überleg dir, was du sagst», antwortete Frau Prynne.

Lisbeth packte Naomi am Arm.

«Das kann unmöglich dein Ernst sein. Wenn du die Tage nicht nimmst, dann …»

Sie warf einen kurzen Blick zu Frau Prynne.

«Natürlich ist es eine Riesen-Ehre, hier zu arbeiten, aber manchmal muss man mal raus, und wäre es nur, um frische Luft zu schnappen oder seine Freunde zu sehen.»

«Das ist nicht nötig», sagte Naomi.

«Wenn du deine freien Tage hergibst, sitzt du ununterbrochen in den Kellern, ohne jemals die Sonne zu sehen.»

«Ich brauche keine Sonne.»

«Du nimmst deine freien Tage, genau wie alle anderen», sagte Frau Prynne. «Ich will nicht, dass jemand behauptet, wir würden unser Personal ausbeuten. Wenn du keine Nachmittage wählst, Naomi, dann wähle ich sie für dich.»

«Vielen Dank», sagte Naomi.

«Komm mit, dann zeige ich dir, wo das Material liegt und wie du mit den Putzmaschinen umgehen musst.»

An diesem Nachmittag putzte sie zusammen mit Lisbeth und Maria und Rosario, zwei weiteren Subs, die zwölf Dienstaufzüge. Im Gegensatz zu den Fahrstühlen, die die Besucher und die Bewohner benutzten, fuhren diese Aufzüge bis in die Keller des Turms hinab. Sie mussten sich beeilen, denn jeder Lift stand nur zehn Minuten still.

«Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir plötzlich nach oben rauschen», sagte Lisbeth, als sie sah, dass Naomi, den Lappen in der Hand, bei einer Tastatur zögerte. «Alles wird von der Überwachung kontrolliert. Es ist egal, worauf wir drücken. Die Dinger fahren erst wieder, wenn die da oben es wollen.» Sie zeigte auf eine Kamera in der Ecke des Aufzugs. «Glaubst du mir nicht? In welches Stockwerk würdest du wollen?»

«Keine Ahnung.»

«Nein? Immer, wenn ich die Aufzüge putze, frage ich mich, wo ich wohl herauskommen würde, falls ich zufällig doch nach oben fahren würde. Ob ich wohl in einer Botschaft oder im Palast von einem dieser Ölscheichs lande? Oder vielleicht im Stadtmuseum?»

«Ein Museum? Hier im Turm?»

«Das hier ist nicht einfach irgendein Gebäude, Naomi! Es ist eine vertikale Stadt. Eine, aus der jeglicher Unrat ferngehalten wird. Hier findest du keine Besoffenen, die dich belästigen oder bespucken. Hier gibt es keine Staus oder Streitigkeiten oder offenen Geschwüre, sondern nur hübsche Menschen. Alle riechen hier nach Parfüm und Aftershave und Geld.» Lisbeth seufzte. «Am liebsten würde ich in den dreihundertfünfundfünfzigsten wollen.»

«Was gibt es da zu sehen?»

«Das City View Restaurant! Das höchste Restaurant der Welt. Es hat eine unvergessliche Aussicht, heißt es.»

«Du bist noch nie dagewesen?»

«Bei unserem Lohn?»

Lisbeth tippte drei Zahlen ein.

«Hier hat nicht jedes Stockwerk eine eigene Taste. Dreihundertdreißig Tasten, das wäre wohl etwas zu viel des Guten.»

Auf dem Bildschirm neben der Tastatur erschien in großen, grünen Ziffern 325, doch der Aufzug blieb brav stehen.

«Höher kann man nicht.»

«Ich dachte, es gäbe dreihundertdreißig Stockwerke?»

«Ja, aber dieser Aufzug geht nur bis zum dreihundertfünfundzwanzigsten. Wenn du noch höher willst, musst du in einen anderen Fahrstuhl umsteigen, der bis zu Babel hinaufführt, bis in den Himmel sozusagen. Aber in den steigt man nicht einfach so. Das geht nur mit Genehmigung.»

«Wenn man eine A ist?»

«Genau.»

«Babel wohnt im höchsten Stockwerk?»

«Ja, das weiß doch jeder.»

«Und wer wohnt in den vier Stockwerken darunter?»

«Seine Enkelin hat ihre eigenen Räumlichkeiten direkt unter seinen.»

«Und der Rest? Wer wohnt da?»

«Niemand.»

«Bekommen sie die Apartments nicht vermietet?»

«Bist du verrückt? Für die Apartments in Babel gibt es eine Warteliste von anderthalb Jahren. Du hast keine Ahnung, was die Leute dafür übrighaben, hier zu wohnen.»

«Warum steht dann so viel leer?», fragte Naomi.

«Herr Babel hat gern etwas Platz zwischen sich und den übrigen Bewohnern des Turms. Es ist eine Frage der Sicherheit. – Reine Wichtigtuerei, wenn du mich fragst», flüsterte Lisbeth. «Um zu zeigen, wie reich er ist.»

«Als ob jemand das bezweifeln würde», sagte Naomi.

«Du müsstest mal seine Räume sehen», sagte Lisbeth. «Überall Gold und Marmorbrunnen und Möbel, die aus alten Palästen zusammengeraubt sind, und die Flure vollgestopft mit teurer Kunst.»

«Hast du das selbst gesehen?»

«Pah!», kam es aus dem anderen Aufzug. «Lisbeth in Babels Räumlichkeiten? Glaub bloß nicht alles, was sie dir sagt, Neue. Sie redet einfach irgendwas daher. Nicht ein Sub kommt jemals da hinauf.»

«Ach wirklich, Rosario?», rief Lisbeth zurück. «Und was ist mit Betty?» Sie wandte sich zu Naomi. «Betty ist eine Freundin von mir. Sie ist eine A.»

«Wenn Betty wirklich eine A wäre, wie sie behauptet, warum isst sie dann noch unten im Speisesaal?», rief Rosario.

«Weil sie noch in der Probezeit ist.»

«Probezeit? Weißt du, was ich von deiner Probezeit und deiner Freundin denke?»

Durch den Aufzug ging ein Ruck. Die Mädchen verstummten.

«Die Überwachung wird ungeduldig», sagte Lisbeth. «Wir sollten uns beeilen.»

Als sie mit den Aufzügen fertig waren, nahm Lisbeth Naomi mit zum Speisesaal. Naomi zögerte an der Tür, aber Lisbeth zog sie weiter.

«Es sieht kompliziert aus, aber ich zeige dir, wie es geht.»

Wie viele Menschen saßen hier an den niedrigen Tischen? Tausende? Die Stimmen, das Geschirr und scharrende Stühle machten einen solchen Lärm, dass Lisbeth Naomi anschreien musste.

«Hast du besondere Essgewohnheiten?»

«Was?», rief Naomi.

«Gibt es Dinge, die du nicht essen magst oder darfst? Die Reihe da ist halal und dort in der anderen Ecke ist es koscher. Vernünftig, die beiden nicht zu nahe beieinander zu platzieren. Vegetarier und Veganer können links ihr Essen finden, und wenn du Laktose-, Gluten- oder Zuckerfreies suchst, musst du in die Allergiker-Ecke. Bist du gegen irgendwas allergisch?»

«Nein.»

«Keine religiösen Essenseinschränkungen?»

Naomi schüttelte den Kopf.

«Perfekt. Dann können wir uns bei der leckeren Reihe anstellen.»

Alle Kontinente waren hier vertreten und sämtliche Hautschattierungen, von Honiggelb bis hin zu einem so tiefen Schwarz, dass das Licht sich darin spiegelte. Naomi sah Reihen glänzender Zähne, Berge von eingeöltem Haar, Wälder von Henna und Meere von Schleiern. An Halsketten baumelten Kruzifixe, Sicheln, Sterne, goldene Hände, steinerne Augen, Haifischzähne und astrologische Symbole. Tätowierungen schlängelten sich in Nacken und verschwanden unter Ärmeln. Sie schritt durch eine Wolke blumig duftender Französinnen und zwängte sich an Deutschen mit kräftigen Masseurarmen vorbei. Thailändische Mädchen, zerbrechlich wie Lilien, aber mit stählernen Augen, schirmten sie gegen einen von Männern besetzten Tisch ab, die ihr mit zugekniffenen Augen folgten. Mit ihren breiten Kiefern, kohlschwarzen Augen und dicken Schnurrbärten ähnelten die Männer einer Räuberbande aus dem Märchen.

Als sie an der Reihe war, wusste Naomi kaum, was sie wollte. Lisbeth bemerkte ihre Verwirrung und übernahm die Regie. Sie wählte für sie beide Suppe, Püree und Huhn.

«Den Nachtisch und den Kaffee holen wir uns später», sagte sie.

Naomi steuerte einen freien Platz an einem Tisch an, aber Lisbeth hielt sie zurück.

«Nicht zu nah bei den Männern. Es ist nicht unwichtig, wohin und zu wem du dich hier setzt. Du musst die Augen offenhalten.»

Lisbeth drehte sich um und stieß mit ihrem Tablett gegen eine hinter ihr stehende Frau. Die Suppe spritzte in alle Richtungen.

«Dumme Kuh! Gib Acht, wohin du trittst!»

Naomi spürte Hunderte von brennenden Blicken auf sich.

«Meine Bluse! Meine Schuhe!», rief die Frau.

«Entschuldige, Betty, ich hatte dich nicht gesehen.»

«Was? Was nimmst du dir da heraus?»

«Entschuldigung, Frau Tarris.»

«Ich brauche deine Entschuldigung nicht, dumme Sub! Du hättest mich verbrennen können mit dieser heißen Suppe!»

«Es tut mir leid, Frau Tarris.»

«Und was ist mit den Flecken auf meinen Schuhen?»

Lisbeth ging in die Hocke, knöpfte ihre Bluse los und tupfte damit die Schuhe ab.

«Betty, lass gut sein!», rief jemand.

Die Frau drehte sich wütend um.

«Habt ihr keine Augen im Kopf? Oder könnt ihr es durch die Flecken vielleicht nicht mehr lesen?» Sie deutete auf ihre Brust. «Das hier ist ein A. Ein A!»

Lisbeths Tränen tropften auf die Schuhe.

«Genug, Sub! Du machst alles nur noch schlimmer.»

Die Frau zog ihren Fuß weg, sodass Lisbeth das Gleichgewicht verlor und in die verschüttete Suppe fiel.

«Es kostet mich zehn Minuten, mich umzuziehen. Wenn ich dadurch in Schwierigkeiten gerate, dann werde ich es dir heimzahlen!» Sie stieg über Lisbeth hinweg und verließ den Saal.

Naomi stellte ihr Tablett auf den Boden und half Lisbeth auf.

«Setz dich. Ich bringe dir einen neuen Teller.»

«Ich habe keinen rechten Appetit», sagte Lisbeth. «Ich denke, ich lasse das Essen ausfallen.» Sie rannte aus dem Saal.

Naomi nahm ihr Tablett. Die Köpfe wandten sich wieder ihren eigenen Tellern zu, und die Ränge schlossen sich, als sie an den Tischen entlangging. Schließlich fand sie am äußeren Ende eines Tischs noch einen leeren Platz.

Zwei Mädchen, das F3 deutlich lesbar auf ihren Shirts, wischten das verkleckerte Essen fachgerecht und schnell auf.

«Was habe ich gehört, Lisbeth?», fragte Deborah abends im Schlafsaal. «Du bist heute deiner guten Freundin Betty in die Arme gelaufen?»

Die anderen Mädchen kicherten in ihr Bettzeug.

«Hat sie dir schon Bescheid gegeben, wann du nach oben darfst? Sie wollte doch ein gutes Wort für dich einlegen, als beste Freundin?», setzte Glenda in dem Bett neben Deborah noch eins drauf.

«Wie schön, dass man auch befördert werden kann, ohne gleich auf die Knie zu sinken», sagte Deborah. «Ohne sich dafür erniedrigen zu müssen.»

So ging es noch eine Weile weiter.

Lisbeth biss in ihr Kissen, bis die Mädchen allmählich genug hatten.

«Naomi?», flüsterte sie, als leises Schnarchen ihren Teil des Saals erfüllte. «Bist du wach? Was heute im Speisesaal passiert ist …»

«Ich habe es schon vergessen», sagte Naomi. «Das solltest du besser auch tun und jetzt schlafen.»

«Aber ich kann nicht schlafen, bevor ich dir erklärt habe, wie es zwischen Betty und mir ist.»

«Ich kenne Betty nicht», sagte Naomi.

«Du kennst mich», sagte Lisbeth.

«Ja», seufzte Naomi, «ich kenne dich.»

«Du musst wissen, dass Betty eine von uns war. Keine dumme Sub wie Deborah, die stolz ist, dass sie hier die Drecksarbeit tun darf, solange sie nur draußen erzählen kann, dass sie für Babel arbeitet. Betty hatte Ehrgeiz. Sie wollte aufsteigen. Wenn man sie sah, wusste man, sie würde es schaffen. Sie war passioniert. Sie konnte selbst Frau Prynne um den Finger wickeln. Die hat sogar einmal fallenlassen, Betty könnte irgendwann einmal vielleicht ihren Platz einnehmen, wenn sie sich weiter so ins Zeug legte. Und Frau Prynne ist ein C1! Betty hatte Frau Prynne gegenüber genickt und getan, als wäre es zu viel der Ehre, aber hinter ihrem Rücken war sie wütend. Dachte diese Prynne, sie, Betty, würde sich mit einem C zufriedengeben? Sie würde es noch sehr viel weiterbringen. Betty hat sich getraut, solche Sachen zu sagen, weil wir Freundinnen waren, verstehst du? Ich habe sie unter meine Fittiche genommen, als sie ganz neu war. Wir waren ein Team. Ich habe manchmal ihre Arbeit gemacht, damit sie versuchen konnte, eine obere Arbeit zu bekommen.»

«Eine obere Arbeit?»

«Eine Arbeit über der Erde. Ihrer Meinung nach war das die einzige Möglichkeit, befördert zu werden. Sie würde sich nicht in den Kellern von Babel begraben, bis sie alt und hässlich war, also verbarg sie ihr Sub-Shirt unter einer Jacke und nahm die Touristenaufzüge. Ich weiß nicht, wie sie sich das vorstellte, von jemandem bemerkt zu werden, aber ich wusste auch, dass sie recht hatte und dass Putzen und Bettenmachen nicht die beste Art war, etwas zu erreichen. In den fünf Jahren, die ich hier arbeite, habe ich es noch keinen Schritt weiter geschafft. Betty war meine Chance, höher hinaus zu kommen.»

«Ihr ist es gelungen. Sie ist jetzt eine A.»

«Ja, sie ist eine A. Sie selbst hätte nie anzunehmen gewagt, dass es so schnell gehen würde.»

«Ist sie irgendwem aufgefallen?»

«Nicht einfach irgendwem!»

«Babel etwa?»

«Babel?»

Lisbeth kicherte.

«Was soll ein Mann wie Herr Babel mit einer wie Betty? Er kann durchaus etwas Besseres kriegen. Übrigens, Herr Babel trauert noch um seine Frau. Und er ist alt.»

«Alte Männer haben auch Augen im Kopf.»

«Herr Babel würde nie etwas mit seinem Personal anfangen.»

«Du kennst ihn gut.»

«In diesem Gebäude geschieht nichts, was die Subs nicht wissen. Falls jemals etwas Derartiges passiert wäre, dann hätte ich es gehört.»

«Wem ist Betty denn aufgefallen?», fragte Naomi.

«Lichtenstern natürlich.»

«Wer ist das?»

«Was? Du hast noch nie von Lichtenstern gehört?»

Dass sie von Lichtenstern erzählen konnte, ließ Lisbeth die Demütigung des Nachmittags vergessen. Es war klar, dass sie viele Nächte dagelegen und an Lichtenstern gedacht hatte. Er war Babels Vertrauter, obwohl er noch nicht so lange in dessen Diensten stand. Das an sich war schon ein Wunder, wenn man wusste, wie misstrauisch der alte Mann war. Aber Lichtenstern hatte ihn verzaubert. Wo Babel ging und stand, sah man Lichtenstern. Sie nannten ihn Babels Schatten. Oder auch «den Vampir».

«Warum?»

«Warte, bis du ihn irgendwann einmal siehst. Dann wirst du es verstehen.»

«Ich brauche ihn nicht zu sehen», sagte Naomi.

«Auch nicht, wenn er aus dir vom einen auf den anderen Tag eine A machen kann? Glaube mir, seit Betty das hinbekommen hat, erliegen ihm die Frauen noch schneller.»

«Dass er aussieht wie ein Vampir, schreckt sie nicht ab?»

«Er sieht nicht aus wie ein Vampir. Er hat keine scharfen Eckzähne oder so, aber er ist sehr blass, und seine traurigen schwarzen Augen scheinen dich geradewegs zu durchleuchten.»

«Das klingt nicht so schlimm.»

«Lass dich durch sein Äußeres nicht irreführen. Er ist ein berechnender und gnadenloser Mann. ‹Der mit den kalten Händen› wird er auch genannt.»

«Solange ich die nicht zu spüren brauche, bin ich zufrieden», sagte Naomi und drehte sich weg von Lisbeth.

«Du weißt nie, ob du sie nicht zu spüren bekommst», beeilte sich Lisbeth zu sagen. «Es heißt, er kommt manchmal hier herunter in die Schlafsäle. Er wartet, bis wir schlafen, und dann schleicht er sich ein. Kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt, plötzlich seine kalten Hände auf deinem Körper zu spüren?»

«Ich versuche mir lediglich vorzustellen, wie es sich anfühlt zu schlafen», sagte Naomi.

Lisbeth schwieg.

«Na ja», sagte sie eine Weile später, «Betty ist ihm einfach im Foyer in die Arme gelaufen. Niemand weiß, was sie gesagt hat, aber vom einen auf den anderen Tag war sie eine A. Es ging so schnell, dass sie nicht mal mehr Zeit hatte, sich von mir zu verabschieden. Das ist jetzt zwei Monate her. Ich war nicht beunruhigt, als ich nicht sofort etwas von ihr hörte. Sie braucht Zeit, um sich einzuarbeiten. Sie würde mich nicht vergessen. Nach heute bin ich mir da nicht mehr sicher. Was meinst du, wie lange muss ich noch warten?»

Naomi antwortete nicht.

Am nächsten Morgen erkämpfte sich Naomi im Dampfnebel einen Weg zwischen den halbnackten Frauen hindurch zu den Spiegeln in den Waschräumen. Sie sah die verschlafenen Gesichter, die wieder mühsam in Fasson gebracht wurden; Knitterleinwände, die als Untergrund für neue Gesichter mit volleren Lippen, einer glatteren Haut und dichteren Wimpern herhalten mussten. Haare in allen möglichen Farben, Längen und Formen fanden ihren Weg in die Abflusslöcher der Duschen, aus denen Naomi sie später herauszupfen durfte, um sie anschließend noch nass und klebrig in Plastiksäcke zu werfen, in denen auch Tampon-Verpackungen, leere Tuben, Kaugummi, Zahnseide, Deo-Sticks und Wattestäbchen landeten; die Überbleibsel der täglichen Schlacht gegen die Zeit.

Auch im Speisesaal herrschte Betrieb. Die Männer waren mit dem Trimmen und Rasieren schneller fertig als die Frauen und saßen schon beim Kaffee. Manche hoben die Köpfe, als sie hereinkamen, anderen beugten sich über ihre Zeitungen, ihre Karten, ihre Gebetbücher oder ihren letzten Toast. An den Frauen, die trotz der Vorbereitungen in der Dusche den Schlendrian der Nacht noch nicht ganz von sich abgestreift hatten, schienen sie morgens weniger interessiert zu sein.

Hier und da hatten sich Pärchen abgesondert. Manche passten vom Alter und der Hautfarbe gut zusammen, aber es gab auch weniger naheliegende Kombinationen. An dem Tisch, zu dem Lisbeth Naomi lotste, saß ein Mann mit einem riesigen gelben Turban und einem noch riesigeren schwarzen Bart. Seine Nachbarin war eine zierliche Asiatin. Die beiden schienen die Sprache des jeweils anderen kaum zu verstehen, doch das war nicht nötig; das Paar orientierte sich offensichtlich am Klang der Worte. Der Mann klang brüsk. Er schlug mit der Hand auf den Tisch. Die Frau nahm die Hand, drehte sie um und zeichnete etwas mit dem Finger auf seine Handfläche. War es eine Wegbeschreibung? Sie tippte auf ihre Armbanduhr und zeigte neun Finger. Er nickte und drückte ihre Hand an seine Lippen. Die weiße Hand verschwand fast in seinem schwarzen Barthaar.

«Sie starren dich an.»

«Wer?»

«Wer?», wiederholte Lisbeth. «Die Männer im Saal, merkst du das denn nicht?»

Naomi beugte sich über ihr Frühstück. Lisbeth besaß weniger Scheu und blickte schamlos um sich.

«Diese ersten Tage sind wichtig, Naomi. Sie haben Frischfleisch gerochen. Erscheinst du jetzt zu entgegenkommend, werden sie dich fortwährend belästigen. Schau sie nicht an.»

«Das tue ich nicht», sagte Naomi, «aber du.»

«Ach, mich kennen sie, ich laufe keine Gefahr. Solange ich in deiner Nähe bin, werden sie dich in Ruhe lassen. Jedenfalls, solange du sie nicht irgendwie ermunterst.»

«Ich ermuntere niemanden», sagte Naomi, «aber manche Leute drängen sich einem auf.»

Lisbeth schien sich nicht an Naomis wortkargen Antworten zu stören. Sie hatte immer etwas zu erzählen. Es gab Lieblingsthemen wie ihre Familie in der Stadt und natürlich ihre Meinung über die anderen Mädchen. Oder wie großartig es sei, für Babel zu arbeiten. Das merke sie, wenn sie an ihren freien Tagen durch die Stadt ging. Es war dem Personal verboten, in Arbeitskleidung nach draußen zu gehen, aber manchmal vergesse sie das, besonders an heißen Tagen, wenn man in seinem Dienstshirt auf einer Bank sitzen und die Reaktionen der Passanten beobachten konnte, sobald deren Auge auf den gestickten Turm fiel. Man sehe zuerst das Erstaunen, dann die Erkenntnis, dass sie es mit einer von Babels Arbeitnehmerinnen zu tun hatten. Naomi habe ja keine Ahnung, wie viele Männer sich ihr, Lisbeth, schon aufdrängen wollten, nachdem sie den magischen Turm gesehen hätten. Nicht dass sie auf diese Avancen eingegangen wäre. Sie sei doch nicht verrückt. Sie würde sich nicht an Männer verschwenden, die genug Zeit hatten, ihre Nachmittage im Park zu verbringen.

«Ich verstehe es nicht. Es ist doch nur ein Gebäude», sagte Naomi.

Lisbeth erschrak und schaute in die Luft, als könnten sie jeden Moment vom Blitz getroffen werden.

«Es ist nicht einfach nur ein Gebäude! Es ist eine Energie. Hast du das denn nicht gespürt, als du zum ersten Mal hier hereingekommen bist? Ich war so nervös, dass ich dachte, ich würde ohnmächtig werden.»

Babel sei das Zentrum der Welt. Hier passiere es. Hier drängten sich die Filmstars, die Medaillengewinner und die Banker, um dazuzugehören. Hier werde über das Leben von Millionen Menschen entschieden. Jedes Wort, das ein Minister oder auch nur eine Sekretärin womöglich fallen ließ, könne das Ende einer Regierung oder das Aufblühen einer Volkswirtschaft bedeuten. Eine sich öffnende Tür, ein herumliegender Brief oder eine Begegnung in einem der Aufzüge könne die Weltkarte neu zeichnen. Lieber werde sie ihr Leben feudelnd und schrubbend in den Kellern von Babel verbringen, als irgendwo anders einen gut bezahlten Bürojob anzunehmen. Manchmal lege sie ihre Hand an die Wände, und dann fühle sie es durch das Gebäude rasen.

«Was?»

«Elektrizität. Die Fäden des Lebens, die flimmern, die singen, die nach oben fliegen und wie Schnüre in den Händen von Abraham Babel zusammenkommen.»

«Du tust so, als wäre er ein Gott.»

«Ja, aber das ist er auch.»

«Ich habe einmal ein Foto von ihm gesehen», sagte Naomi. «Er ist nur ein alter Mann.»

«Genau», sagte Lisbeth. «Ein alter Mann, der trotz der ganzen harten Arbeit, trotz der vielen Entscheidungen und Sitzungen und Attentate weiterlebt und weiterarbeitet. Was denkst du: Wie alt ist er?»

«Siebzig?»

«Pah! Eher hundert. Oder zweihundert. Niemand kennt sein wahres Alter. Niemand weiß, woher er kommt. Er ist ein Mysterium, ein Unsterblicher. Es ist nicht normal, dass ein Mann so viel Geld und Macht hat. Das bekommt man nicht einfach so. Er muss einen Pakt geschlossen haben mit …» Sie zeigte auf den Boden.

«Was meinst du?»

«… dem Teufel. Nein, Naomi, lach jetzt nicht. Es ist mein Ernst. Denk mal darüber nach. Wie sonst wird man so reich? Und jetzt läuft sein Vertrag bald aus. Darum ist Lichtenstern hier. Um ein Auge darauf zu haben, dass er nicht entwischt.»

«Lichtenstern ist der Teufel? Und der läuft hier herum?»

«Warte nur, bis du ihn siehst.»

«Prynne ist mir schon Teufel genug. Wir sollten besser weiterarbeiten, wenn wir nicht wollen, dass sie uns demnächst im Nacken sitzt.»

Neben dem Tratsch über Babel und die anderen Mädchen hatte Lisbeth ein unerschöpfliches Thema, und zwar, wie reich und erfolgreich sie später sein würde. Ihr jetziges Leben sei lediglich eine Probezeit. Irgendwann werde sie irgendwer aus diesem abstumpfenden Dasein pflücken. Einen Grund dafür, warum ausgerechnet sie und nicht eine der anderen Subs das verdient haben sollte, nannte sie nie. Nein, sie zweifle nicht daran, dass es so kommen werde. Sie kenne das Muster: Erst musste man wie ein modernes Aschenputtel in den Kellern arbeiten und die Demütigungen ertragen. Das Wichtigste sei, nicht in Zweifel zu verfallen, denn wenn man nicht fest genug daran glaube, dann konnte das Glück einem am Ende doch noch entwischen.

Lisbeth zweifelte nicht, das konnte sie sich nicht erlauben. Wie sollte sie ohne Hoffnung in den dunklen Tiefen überleben? Wenn man genug Entbehrungen ertragen hatte und nicht mehr tiefer sinken konnte, dann würde das Wunder geschehen. Meistens war es ein Mann, der ihr frisches kleines Gesicht unter den Rußflecken aufschimmern sähe. Manchmal war dieser Mann Lichtenstern, und dann vergaß sie einstweilen, dass sie ihn gerade noch als fleischgeworden Teufel abgestempelt hatte. Es gab Tage, an denen sie ihre Fantasien in eine praktischere Richtung dirigierte. Dann träumte sie, beim Putzen einmal ein Diamantarmband oder wichtige Papiere zu finden. Als ehrliche Finderin würde sie daraufhin nicht nur mit genügend Geld, sondern auch mit einer Stelle in einem der oberirdischen Büros belohnt. Einer Stelle, die sich zuletzt auch nur als eine Gelegenheit herausstellen würde, einen erfolgreichen Mann kennenzulernen. Darauf zu bauen, dass harte Arbeit ihr den Weg nach oben ebnen würde, hätte Verrat an ihren Träumen bedeutet. Lisbeths Haltung war «Alles oder nichts», und weil es jetzt schon fünf Jahre lang «nichts» gewesen war, bestärkte sie das nur noch in der Überzeugung, das «Alles» noch vor sich zu haben. Dass sie von Hunderten anderer Frauen umgeben war, die es auch nirgendwohin schafften, schien sie nicht zu entmutigen.

In der Zwischenzeit machten die anderen Subs ihr das Leben sauer. Deren Kommentare konnte sie ignorieren, aber die Schikanen nicht. Oft war abends ihr Kopfkissen oder ihre Bettdecke verschwunden. Sie wurde in den Duschen eingesperrt oder nachts unsanft geweckt, und auch Naomi als Lisbeths «Busenfreundin» wurde schon bald drangsaliert.

Es begann mit einer Haarbürste, die von ihrem Nachtschrank verschwand. Naomi fragte am nächsten Morgen, ob jemand wisse, wohin sie verschwunden sei, aber die Mädchen mimten die Ahnungslosen. Sie bekam von Frau Prynne eine neue Bürste und eine negative Beurteilung.

Seitdem packte sie ihre Sachen in ihren Spind, aber es gab andere Möglichkeiten der Schikane.

Als sie von einer Abendschicht zurückkehrten, waren ihr Bett und das von Lisbeth klatschnass. Jemand hatte einen Eimer Wasser über Bettzeug und Matratzen ausgekippt. Lisbeth versuchte zu tun, als ob nichts wäre, aber Naomi sah die Tränen in ihren Augen.

«Du!», rief Naomi Rosario zu. «Wer war das?»

Rosario saß auf ihrem Bett und kämmte sich die Haare.

«Wovon sprichst du?», sagte sie.

Zu diesem Zeitpunkt waren noch vier andere Mädchen im Saal: Maria, Deborah, Christel und Tu. Keine von ihnen hob den Kopf. Ihre Gleichgültigkeit verriet ihre Mitwisserschaft.

«Davon», sagte Naomi. Sie fasste Rosario am Arm und schleifte sie zu dem nassen Bett.

«Bist du verrückt geworden? Lass mich los!»

Sie warf Rosario auf das Bett und setzte sich auf sie.

«Was soll das, Neue? Lass sie los!»

Die anderen Mädchen sprangen von ihren Betten.

«Noch einen Schritt näher, und ich breche ihr den Arm», sagte Naomi.

Sie verdrehte Rosario den Arm, bis diese aufschrie.

«Was fühlst du?»

«Lass mich los!»

«Was fühlst du?»

«Es ist nass.»

«Wie kommt das?»

«Ich weiß es nicht.»

«Wenn du mir sagst, wer es war, lasse ich dich los. Sonst …»

«Au! Das ist unfair! Ich war es nicht. Ich habe nichts damit zu tun!»

«So einfach kommst du nicht davon. Du kannst nicht die Augen schließen und sagen, du wüsstest von nichts. Wenn du weißt, wer es war, und schweigst, dann bist du mitschuldig.»

«Es langt jetzt, Neue», sagte Deborah. «Lass sie los.» Sie kam auf Naomi zu.

«Wenn ich dir den Arm breche, Rosario, dann deshalb, weil Deborah es so will. Das verstehst du doch?»

Naomi drehte Rosarios Arm noch mehr zu ihrem Nacken hin. Rosario schrie aus Leibeskräften.

«Es war Deborah! Es war Deborah!»

Naomi ließ Rosario los und ging zu Deborahs Bett.

«Was hast du vor?»

«Na, was wohl? Ich gehe schlafen. Es war ein langer Tag.»

Naomi knotete ruhig die Ärmel ihrer Bluse auf.

«Geh von meinem Bett, bevor ein Unglück geschieht, Neue.»

«Wenn du Probleme mit meiner Bettwahl hast, kannst du das ja sofort Frau Prynne erzählen.» Naomi deutete mit einem Kopfnicken auf einen Schatten hinter Deborah.

Deborah war erstaunt, dass Frau Prynne zu dieser Zeit im Schlafsaal sein sollte, und drehte sich um.

Naomi fasste sie an den Haaren und knallte sie dreimal fest mit dem Kopf auf das Fußende des Betts. Als sie Deborah losließ, fiel diese stöhnend zu Boden. Maria und Tu rannten zu ihrer Freundin und versuchten, sie hochzuziehen.