periplaneta

Vielleicht sind wir im Laufe der Zeit, wie die Pantheisten glauben, alle Mineralien, alle Pflanzen, alle Tiere, alle Menschen. Aber zum Glück wissen wir es nicht. Zum Glück glauben wir an Individuen. Denn wenn wir nicht schwerfällig und begrenzt wären, würde uns diese Fülle vernichten.


Jorge Luis Borges - Die Zeit

Martin Riemer: Post mortem
1. Auflage, September 2018, Periplaneta Berlin

© 2018 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung,
Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung
des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher
Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit realen Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat & Projektleitung: Swantje Niemann
Coverfotografie: Titania Fotos (www.titania-foto.com)
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-113-4
epub ISBN: 978-3-95996-114-1

Martin Riemer


Post

Mortem


Roman


periplaneta

1. Simone, Max, Zoe

Mitten in der Dunkelheit, im Nichts, war plötzlich ein Gedanke:

Etwas ist mir passiert!

Simone öffnete langsam die Augen. Es war wie das Erwachen aus einem langen Schlummer, wie sie es während einer Zugfahrt nach Lausanne erlebt hatte, gedankenlos aus dem Fenster starrend. Ein Erwachen, das sich schwer einordnen ließ. Man ist sich nicht sicher, wie lange und wie fest, ja nicht einmal, ob man überhaupt geschlafen hat oder ob man nur tief in Gedanken versunken war. Manche Gedanken reißen einen aus der Zeit heraus wie der Schlaf. Es können einige Sekunden oder mehrere Stunden vergangen sein, seit man sich das letzte Mal seiner selbst bewusst war. Und die Zeit dazwischen verschwindet. Es ist erstaunlich, wie lange ein Gedanke einen in seinen Bann ziehen kann, und noch erstaunlicher ist es, wie wenig komplex er dazu sein muss. Ein einfacher Gedanke kann eine Ewigkeit ausfüllen, ohne vom Bewusstsein dabei erwischt zu werden.

Von allen Seiten her glänzte gespiegeltes Sonnenlicht in den Schaufenstern von Geschäften und Hotels. Helligkeit und Lärm. Und überall waren Menschen. Sie kamen ihr auf dem Bürgersteig entgegen, überholten sie mit hastigen Schritten. Manche lungerten einfach nur herum, lasen Zeitungen oder spähten in Abfalleimer. Livrierte Bedienstete standen bedrohlich vor den gläsernen Hotelfronten und warteten auf die Ankunft von Gästen.

Obwohl die meisten Häuser, insbesondere die Wolkenkratzer, noch nicht gestanden hatten, als sie das letzte Mal hier gewesen war, wusste Simone sofort, wo sie sich befand. Aus Tausenden von Orten hätte sie diesen problemlos wiedererkannt. Die 44th Street, dachte sie benommen. Sie lief die 44th Street in New York entlang!

Aber sie verstand nicht, wie sie hierhergekommen war. Ihr Geist war gelähmt von dem plötzlichen Erwachen. Nur ihre Beine bewegten sich, als hätten sie nie etwas anderes getan. Simone lief und konnte sich nicht daran erinnern, losgelaufen zu sein. Es gab keinen Anfang in ihren Gedanken.

Zu ihrer Rechten erspähte sie eine goldene Drehtür, die in das ausgeleuchtete Foyer eines Hotels führte. Bei dem Gedanken, der aufmerksame Blick des davor postierten Bediensteten könnte sich plötzlich mit ihrem kreuzen, sah sie rasch auf den gepflasterten Bürgersteig. Sie ahnte, dass sie nicht hier sein durfte.

Wie bei ihrer ersten Ankunft in New York fühlte sie sich, als wäre sie unvermutet in eine Traumwelt geraten. Aber diesmal war New York nicht der lange ersehnte Traum, diesmal gehörte es zu der Welt, der sie sich auf so seltsame Weise entrückt fühlte. Simone war nun eine andere.

Diesmal sagte sie: „Das bin ich!“, glaubte aber nicht so recht daran. Sie spürte ihr Anderssein so deutlich, dass sie sich all die Menschen in Erinnerung rief, die sie gewesen war, all die Mädchen und Frauen in unterschiedlichstem Alter, die einmal „Ich“ gesagt hatten und die doch nicht mehr „Ich“ waren. Sie erinnerte sich an all diese Personen in so vielen Einzelheiten. Sie wusste, was sie gedacht und gefühlt hatten, jede ihrer Handlungen konnte sie nachvollziehen.

Sie erinnerte sich an das kleine Mädchen, das einmal gesagt hatte: „Ich bin Simone!“ Aber sie konnte sich ebenso gut in die Gedanken- und Gefühlswelten anderer Menschen hineinversetzen, die ihr in ihrem Leben begegnet waren. Da waren so viele Personen, die gesagt hatten: „Ich bin Zaza!“ und „Ich bin Marco!“ und „Ich bin Olga!“, und in der Erinnerung verstand sie deren Sehnsüchte und Launen genauso wie ihre eigenen.

Sie erinnerte sich an eine Freundin aus Kindertagen, die sich nach einer Aufführung des Schultheaters dem Publikum präsentierte und ihrer applaudierenden Mutter schelmisch die Zunge herausstreckte. Noch immer konnte Simone ihre Ausgelassenheit und Erleichterung nachempfinden, wenn sie an diesen Augenblick zurückdachte. Und sie erinnerte sich auch an sich selbst, wie sie sich von unerträglichem Zorn gequält auf den Zementboden einer Hotelterrasse warf und schrie, weil ein von ihrer Mutter beiläufig dahergesagtes „Nein“ ihre kindlichen Freuden zu vernichten drohte. Auch diese Empörung über die mütterliche Willkür konnte sie ohne Weiteres wieder lebendig werden lassen. Wo war der Unterschied zwischen der Erinnerung an ihre Freundin und der Erinnerung an das Kind, das sie selbst gewesen war? Die Unterschiede erschienen vage und synthetisch, die Gemeinsamkeiten dagegen klar und greifbar und mündeten in dieses ewige, dieses unvergängliche Ich.

Simone atmete tief die beißend kalte Luft ein und lief ziellos weiter. Sie sollte nicht hier sein. Alles war zu grell, zu bunt, als hätte sie nach langer Zeit zum ersten Mal die Augen geöffnet.

Sie lief die 7th Avenue entlang und fürchtete halb, an einer der vielbefahrenen Kreuzungen zum Stehenbleiben gezwungen zu werden. Sie wollte nur einen Fuß vor den anderen setzen, eine Maschine sein, die nicht in der Lage war, an ihr unerhörtes Dasein zu denken. Es war, als würde der Stillstand in ihren Gedanken durch die Bewegung ihres Körpers gerechtfertigt.

Später – sie hatte bereits Soho erreicht – bemerkte Simone, dass die Sonne hinter der dichten Wolkendecke schwächer wurde. Es musste später Nachmittag sein, wahrscheinlich Ende Herbst. Sie ergriff die Aufschläge ihres Mantels und zog ihn enger um ihren Körper. Die Geste erinnerte sie an das Gefühl der Kälte und sie begann zu zittern.

Es fiel ihr jetzt etwas leichter, sich ihrer Umwelt zuzuwenden. Der Weg durch Manhattan hatte ihr eine unmittelbare Vergangenheit gegeben. Sie war nicht mehr plötzlich da. Nein, sie war von der 44th Street hierher gelaufen. Ihre Gedanken hatten nun eine Berechtigung, waren notwendige Folge in einer Reihe vorangegangener Gedanken. Es war beruhigend, dieses Gefühl, eine Ursache zu haben. Die Folge von etwas anderem zu sein, das vergangen war und deshalb unabänderlich und fest dastand.

Im Gehen beobachtete sie die Menschen, die mit ihr auf den Straßen New Yorks unterwegs waren. Sie bewunderte die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich fortbewegten. Wie sie mal schneller und mal langsamer liefen, wie sie einander auswichen, fast ohne einander dabei wahrzunehmen. Sie schienen zu wissen, wer und wo sie waren, und sie schienen sich auch nicht über Simones Anwesenheit zu wundern. Sie hatten eine gewisse Vergangenheit und eine ungewisse Zukunft. Nie hatte Simone sich sehnlicher gewünscht, ihren Platz unter diesen Menschen wiederzufinden, in dieser Welt, auf die sie so oft mit Verachtung herniedergeblickt hatte.

„Ich bin Simone“, murmelte sie ungläubig, und: „Ich bin da“, und zog ihren Kopf dabei noch tiefer in den Kragen ihres Mantels, als schämte sie sich für die Anmaßung in dieser einfachen Feststellung.

Im Dämmerlicht – die Straßenlaternen waren noch aus – tauchte vor ihr die Fassade einer Bar auf. Dano‘s stand in geschwungener, altmodischer Schrift auf einem lackierten Holzbrett über der Eingangstür. Ohne zu zögern, ging Simone darauf zu. Sie brauchte dringend etwas zu trinken. Sie stemmte sich gegen die massive Tür und wunderte sich über die Kraft, die sie aufbringen musste, um sie zu öffnen.

An die Stelle des kühlen Herbstwindes traten heimelige Wärme und der Geruch nach Kerzen und Alkohol. Die Geräusche, die nun zu ihr drangen, waren so anders als die Klangkulisse der Straße, dass sie meinte, in eine andere Welt hinübergewechselt zu sein.

Das Innere der Bar war eine sonderbare Mischung aus Restaurant und Kneipe. Sofort fühlte sie sich wohler.

Sie steuerte den Tresen an, der sich über die gesamte Länge des Raumes erstreckte. Dahinter unterhielten sich ein Mann und eine Frau. Bis auf zwei weitere Menschen, die an einem Tisch weiter hinten saßen, war die Bar leer.

Simone ließ sich auf einem Barhocker nieder und legte die Arme auf den Tresen. Noch immer wagte sie nicht, durch unnötige Geräusche die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen, als beruhte ihre Anwesenheit hier auf einem peinlichen Fehler, für den sie unweigerlich zur Rechenschaft gezogen würde, sobald man sie bemerkte.

Sie blickte auf die Wand hinter dem Tresen, die vollständig mit Spiegeln ausgekleidet war, und durch eine Glaswand aus halbleeren Flaschen sah sie eine Fremde. Und dennoch erkannte sie sich selbst in diesem vergangenen Gesicht, das an ihr haftete und das sie vage mit „Ich“ assoziierte. Das dunkle Haar war hochgesteckt, so wie sie es früher einmal getragen hatte. Es waren noch keine grauen Strähnen zu sehen, aber um Augen und Lippen zeichneten sich die ersten Fältchen ab. Die Haut spannte sich am Hals, und es schien, als könnte sie bei einer unachtsamen Bewegung reißen wie Papier. Sie schätzte sich auf Mitte vierzig.

Simone starrte ihr Spiegelbild an. Es war abscheulich, diesen Körper zu sehen – ihren Körper. Draußen hatte sie diese Masse von Muskeln und Sehnen, die sie durch die Stadt trug, nur am Rande ihres Bewusstseins wahrgenommen. Erst die plötzliche Konfrontation mit ihrem Spiegelbild machte ihr unmissverständlich klar, dass sie einen Körper hatte. Und das Bewusstsein dieser physischen Existenz war grauenhaft. Sie gehörte nicht hierher.

Sie blickte auf ihre Hände herab und betrachtete sie ratlos, spreizte ihre Finger und erschrak beinahe, als sie sich tatsächlich bewegten. Was geschieht mit mir? Sie stellte sich vor, wie sie einen Barhocker packte und ihn mit aller Kraft über den Tresen schleuderte und die Glaswand zwischen sich und der Frau im Spiegel zertrümmerte.

„Alles in Ordnung?“, fragte eine Stimme neben ihr.

Simone blickte auf und bemerkte den Mann, den sie vorher im Gespräch mit der Frau gesehen hatte. Er hatte sich leicht über den Tresen gebeugt und sah sie fragend an.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er noch einmal.

Erst nach einer langen Sekunde erkannte sie die englische Sprache und rief sich erneut ins Bewusstsein, dass sie in New York war. Sie hob abwehrend die Hand und haspelte in gebrochenem Englisch: „Oh nein ... ja, entschuldigen Sie!“

Sie wollte noch weiter reden, wollte sich erklären, wollte den unbestimmten Verdacht ablenken, den sie auf sich lasten fühlte, aber ihr fehlten die Worte.

„Also Touristin, ja?“, sagte der Mann freundlich und lächelte sie an.

Erleichtert atmete sie aus. Es hatte sie so oft frustriert, die Sprache dieses Landes nicht flüssig sprechen zu können und dadurch bei jeder Diskussion von vornherein im Nachteil zu sein. So oft hatte man ihre sprachliche Unterlegenheit ausgenutzt, um ihre eigentlichen Argumente überhören zu können. Jetzt kam ihr diese Unterlegenheit wie ein Schutzwall vor, der sie von einer unerfüllbaren Pflicht entband.

Sie lächelte den Mann dankbar an und nickte. Er hatte kurzes, braunes Haar und vertrauenerweckende Gesichtszüge. Ein dichter Bart ließ sein Kinn breiter wirken und sein Blick schien sie zu durchschauen, ohne dass seine Augen ihren wohlwollenden Ausdruck verloren.

„Ja“, sagte sie.

„Französin, nehme ich an.“

Er sah sie unverwandt an, aber Simone fühlte sich mit jedem Moment sicherer. Es war absurd, hier zu sitzen und eine belanglose Unterhaltung mit einem Fremden zu führen, und doch genoss sie es wie eine Szene in einem surrealistischen Film. Die Banalität entschärfte die Situation, machte sie unwirklich und damit erträglicher.

„Den Akzent werde ich wohl nie los.“ Sie lachte spitzbübisch, suchte nach weiteren Phrasen, je leerer, desto besser: „Und Sie? Sind Sie ein echter New Yorker?“

Er lächelte bescheiden, als hätte sie ihm ein Kompliment gemacht.

„Kaum jemand in New York ist ein echter New Yorker. Jedenfalls keiner von denen, die man auf der Straße trifft.“

Er sprach ohne erkennbaren Akzent, aber Simone hatte weniger Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, als sie es von anderen Amerikanern gewohnt war.

„Ich lebe seit einem Jahr hier“, erklärte er. „Eigentlich komme ich aus Deutschland.“

Er schien aufgrund dieser Aussage weitere Fragen zu erwarten. „Aber so richtig angekommen bin ich auch noch nicht“, fügte er hinzu. „Manchmal fühle ich mich immer noch wie ein Tourist.“

„Ich glaube“, sagte Simone, „New York ist zu groß, um jemals darin ankommen zu können. Wenn man glaubt, angekommen zu sein, hat es sich schon wieder verändert und ist längst ein anderes.“

„Schlechte Aussichten für mich!“, scherzte er. „Dann werde ich es wohl nie schaffen, hier Fuß zu fassen. Und ich wollte die Stadt so gern kennenlernen.“

„Ach, Sie werden die Stadt bestimmt kennenlernen.“

Simone wandte sich ab und ließ ihren Blick wieder über die Wand aus Glasflaschen gleiten. Erinnerungen tauchten auf, trieben sie von der Gegenwart fort.

„Sie wird Ihnen gehören“, fuhr sie geistesabwesend fort. „Gewissermaßen. Bevor man einen Ort besucht, von dem man oft gehört oder gelesen hat, gibt es ihn auch nicht. Er existiert nur in der Vorstellung.“

Ihre Stimme wurde leiser, während sie redete, aber der Gedankengang riss nicht ab, und sie sprach weiter. Es war angenehm, den eigenen Worten willenlos zuzuhören.

„Und auch danach ist er nicht viel wirklicher. Wenn Sie jemanden, der noch nie hier war, davon überzeugen wollen, dass New York wirklich existiert, dann hat das sehr viel damit gemeinsam, ihn davon überzeugen zu wollen, dass Sie ein Bewusstsein haben. Man wird Ihnen zweifellos glauben, aber beweisen können Sie es trotzdem nicht. Nur Sie selbst können wissen, dass New York mehr ist als ein abstrakter Begriff. New York, das sind jetzt Sie.“

In dem folgenden Schweigen kehrte die Gegenwart in Simones Gedanken zurück. Beinahe hatte sie vergessen, dass sie nicht zu sich selbst gesprochen hatte. Ein anderer war da, der zugehört hatte und sie nun interessiert anblickte. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck. Als hätte man ein Kind bei der Lösung eines komplizierten Rätsels beobachtet, das man ihm in der festen Überzeugung gestellt hatte, es werde es nicht lösen können.

Sie hatte diesen Ausdruck schon oft gesehen, meistens bei Männern, die viel von sich hielten. Er war ebenso anerkennend wie anmaßend. Er sollte ausdrücken, wie erstaunt und erfreut man über die ach so tiefgreifenden Gedanken seines Gesprächspartners war, aber er verriet gleichzeitig, wie überlegen man sich ihm fühlte. Der erkannte Genius wird nur durch den erkennenden übertroffen.

„Ich bin New York!“, wiederholte er gespielt nachdenklich. „Die Vorstellung gefällt mir! – Ich habe ganz vergessen, zu fragen, was Sie trinken möchten. Eigentlich arbeite ich gar nicht hier, aber ich besuche gerade eine Freundin und helfe ein bisschen aus.“

Bei der Erwähnung der Freundin nickte er in die Richtung der Frau, mit der er sich kurz zuvor unterhalten hatte. Sie war gerade dabei, Einmachgläser abzutrocknen. Sie trug eine Wollmütze, einen dunklen Kapuzenpullover und helle Shorts – eine Mischung, die ihr wegen ihrer Widersprüchlichkeit ein rebellisches Aussehen verlieh. Der Saum ihrer Shorts verdeckte den oberen Teil einer verschlungenen Tätowierung auf ihrem linken Oberschenkel. Simone machte schmale, schuppige Leiber aus. Schlangen? Die junge Frau schien vollständig in ihre Arbeit vertieft zu sein. Simone sah fasziniert zu, wie kurze, schwarzglänzende Strähnen vor ihrem Gesicht tanzten. Man brauchte ihre Züge nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie schön war.

„... was bringen?“

Simone hatte nur die letzten Worte gehört. Sie musste sich jetzt zusammenreißen.

„Ja ... Ich hätte gern einen Whisky, bitte“, antwortete sie.

Sie wusste nicht, was sie wollte. Aber der Whisky würde vielleicht helfen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie Whisky nicht sonderlich gemocht hatte, aber jetzt überkam sie eine Ahnung, dass sein Geschmack sie in die gewohnte Welt zurückbringen könnte. Würde er ihr helfen, sich zu erinnern? Sie hatte nicht das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Sie konnte sich an ihr ganzes Leben erinnern, nur nicht daran, wie sie hierher gekommen war, wie es möglich war, dass sie hier sitzen und Whisky bestellen konnte. Plötzlich kam ihr eine Idee.

„Haben Sie hier eine Zeitung?“, fragte sie angespannt.

Der Mann ließ seinen Blick über den Bereich für Angestellte hinter dem Tresen gleiten, dann zu einem niedrigen Regal neben dem Eingang.

„Nur die Kostenlosen“, sagte er mit bedauernder Stimme. „Die Village Voice haben wir bestimmt, wenn Sie die wollen ...“

„Ja, die ist gut“, antwortete sie hastig.

Ihre Augen verfolgten ungeduldig die Bewegungen des Mannes, während er zu dem Regal hinüberging, etwas herausnahm und wieder zurückkam.

„Bitteschön!“, sagte er und hielt die zusammengerollte Zeitung über den Tresen. „Was für einen Whisky möchten Sie denn?“

Simone ergriff die Zeitung und sagte wie betäubt: „Oh ... ich kenne mich da nicht aus. Können Sie mir bitte einfach irgendeinen geben?“

Der Mann grinste komplizenhaft, nickte und wandte sich um. Simone hielt die Zeitung noch immer weit von sich gestreckt, als vermutete sie zwischen den dünnen Blättern eine unbestimmte Gefahr. Vorsichtig legte sie sie vor sich auf den Tresen und stützte die Arme darauf. Sie versuchte, gleichmäßig zu atmen, ihren Herzschlag unter Kontrolle zu halten – ihren Herzschlag, der einfach nicht sein konnte!

Die Information, die sie wollte, war ihr sofort von der oberen Ecke der Zeitung ins Auge gesprungen: November 2 – November 8, 2016. Simone wagte nicht, sich zu bewegen. Vor dreißig Jahren war sie gestorben. Hatte in einem Bett gelegen und die Augen geschlossen und sie nie wieder geöffnet. Bis heute.

Sie erinnerte sich deutlich an ihre letzten Tage als alte Frau, in denen sie genau gewusst hatte, dass sie sterben würde.

Was geschieht hier? Wieder blickte sie zu der gläsernen Flaschenwand, hinter der sie eine verstörte Vierzigjährige ansah, deren Mund zögernd aufging und die „Ich“ sagen würde. Ich! Erinnerungen kamen und machten sie schwindlig. Die Welt wurde rissig und trübe.

Dann verschwand sie, und es herrschte Dunkelheit.

2. Bill, Mia

Was geht hier vor?, fragte sich Bill immer wieder. Der Gedanke hatte längst seine verbale Form verloren und war nun als nebelhaftes Gefühl gegenwärtig, das den ganzen Raum ausfüllte. Bill stand vor dem großen Einbauschrank im Schlafzimmer seiner Wohnung und betrachtete ungläubig seine rechte Hand, wie man ein fremdartiges, möglicherweise gefährliches Tier beobachtet. Die Hand war gerade bewegt worden, wie um die Schranktür zu öffnen, aber nicht von ihm. Es war kein primitiver Reflex, sondern eine komplexe Bewegung, eine zielgerichtete Handlung, die Bill selbst hatte durchführen wollen – nur eben nicht in diesem Moment.

Stimmte etwa die Behauptung des Alten, dass nicht Bill selbst, sondern ein großes Geheimnis seinen Körper kontrollierte? Dass ein höherer Wille seinen Körper zum Handeln und sein Gehirn zum Denken benutzte, ohne dass Bill sich dagegen zur Wehr setzen konnte? Der Alte redete häufig rätselhaftes Zeug. Er hatte etwas von einem alten Indianerhäuptling, der seine Weisheiten nur in metaphorischer Form zum Ausdruck brachte, und oft hatte Bill lange über seine Worte nachdenken müssen, bis er verstand, was der andere ihm mitteilen wollte. Aber was er gerade erlebt hatte, entsprach wortwörtlich dem, was der Alte beschrieben hatte. Jemand hatte Bills Hand bewegt. Er starrte sie immer noch an und versuchte, sie ganz stillzuhalten.

„Bill?“

Er fuhr aufgeschreckt herum. Es war Mia. Auf dem Flur konnte er ihre Schritte hören, die sich langsam der Schlafzimmertür näherten.

„Hast du die große Tasche gesehen?“

Glücklicherweise war Bill von der angelehnten Tür verdeckt. Es wäre ihm unangenehm gewesen, wenn sie ihn gesehen hätte, wie er bewegungslos auf seine Hand starrte. Er wollte nicht, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Er sah sich hastig im Zimmer um, hoffte, die große Tasche zu finden, wollte behilflich sein, sie von seiner Geistesgegenwart überzeugen.

„Bill? Ist die hier?“

Mia hatte die Tür geöffnet und lehnte den Oberkörper ins Zimmer.

„Nein“, antwortete Bill langsam, „ich hab schon nachgesehen. Vielleicht in der Küche?“

„Da ist nur die kleine“, sagte Mia, während sie sich umdrehte und wieder zurück in die Küche lief.

Die kleine und die große Tasche. Für Einkäufe hatten sie seit Ewigkeiten eine kleine und eine große Tasche, die fester Bestandteil ihres Haushalts waren. Wenn eine der beiden ausgewechselt werden musste, war dafür eine gemeinsame Absprache notwendig, als handelte es sich um ein geliebtes Möbelstück. Bill liebte die spielerischen Diskussionen über die Taschen, die nur Mia und er verstehen konnten. Sie machten sie zu Eingeweihten, Bewohnern einer Welt, die für jeden anderen unzugänglich war.

„Hab sie“, rief Mia aus dem Flur. „Bis gleich!“

Was wollte sie jetzt noch mit der Tasche? War es nicht schon lange dunkel? Müssten die Läden nicht schon längst geschlossen sein? Sie verließ die Wohnung, und Bills Gedanken folgten ihr. Ob sie seine Nervosität bemerkt hatte? Sie hatte zwar nicht sehen können, wie er auf seine Hand starrte, aber möglicherweise hatte sie sich vorher schon gefragt, was er so lange im Schlafzimmer machte. Und hatte er ihr nicht auch etwas zu schnell, etwas zu überzeugt geantwortet, als sie nach der Tasche fragte?

Mia hatte einen ausgeprägten Sinn für die kleinsten Stimmungsschwankungen bei ihm entwickelt. Er hatte sich oft gefragt, ob das bei Paaren, die schon lange zusammen waren, normal war, oder ob nur Mia über diese besondere Fähigkeit verfügte. Jedenfalls neigte sie durch diese Sensibilität dazu, sich schnell Sorgen um ihn zu machen, und Bill wusste, wie sehr sie das quälte. Gern hätte er ihr gesagt: Ich fühle mich nicht wohl und Ich verstehe nicht, was hier passiert, aber sie könnte nicht damit umgehen. Er liebte Mia über alles und gerade deshalb wollte er jetzt lieber allein sein.

Es fiel ihm ohnehin schon schwer genug, sich zu konzentrieren. Die unheimliche Erfahrung saß ihm immer noch in den Knochen. Ein höherer Wille könne seinen Körper lenken, hatte der Alte gesagt. Die meisten Menschen bemerkten nichts von alldem und verharrten starr in der Illusion, Kontrolle zu haben. War Bill einer der wenigen Auserwählten, denen ein Blick auf das große Geheimnis vergönnt war? Verdammt, was zur Hölle ist hier los?, dachte er wieder, setzte sich auf das Bett und barg das Gesicht in den Händen. Er würde noch einmal mit dem Alten sprechen müssen.

Zum ersten Mal war er ihm im Grunewald begegnet. Das war vor etwa drei Wochen gewesen. Bill hatte auf einmal genug von der Wohnung gehabt, hatte einige Gedanken sortieren müssen, die ihm durch den Kopf geisterten. Mia war auf der Arbeit gewesen, was gut war, denn sonst hätte sie wohl mitkommen wollen. Sie mochte es nicht besonders, wenn er allein sein wollte. Sie machte sich dann Sorgen. Sorgen darüber, dass er sich Sorgen machte, dachte Bill lächelnd.

Es war früher Nachmittag und für den ausgehenden Herbst ein schöner Tag, sonnig und mild. Er hatte einfach seine Jacke angezogen und war losgelaufen. Unterwegs musste ihm die Idee gekommen sein, in den Wald zu gehen, jedenfalls war er dorthin gegangen, zum Teufelsberg, und hatte sich ins Gras gesetzt. Es waren nicht viele Leute dort, und er hatte eine ganze Weile nur dagesessen und nachgedacht. Die Stille auf dem Hügel tat ihm gut. Die penetranten Geräusche in der Stadt hätten ihn gestört.

Er musste die Welt um ihn herum völlig vergessen haben, denn er hatte niemanden kommen sehen, und dennoch stand plötzlich nur zwei Meter vor ihm ein Mann und sah in den Himmel. Er hatte Bill den Rücken zugewandt und wirkte, als stünde er schon seit einer Ewigkeit da, und starrte unverwandt in die Sonne. Er trug eine abgenutzte Armeejacke, die ihm zu groß war, und auf seinem Kopf saß ein ausgebleichter Filzhut. Man hätte ihn für einen Obdachlosen halten können, aber die Gelassenheit, die er ausstrahlte, wollte nicht dazu passen. Überhaupt, etwas daran, wie dieser Mann einfach nur dastand, irritierte ihn, ohne dass Bill hätte sagen können, was es war.

Es war offensichtlich, dass der Mann darauf wartete, von Bill angesprochen zu werden. Die Beharrlichkeit, mit der er sich nicht vom Fleck rührte, obwohl er gesehen haben musste, dass jemand direkt hinter ihm saß, war zu auffällig. Eigentlich hatte Bill sich vorgenommen, den Mann einfach zu ignorieren, aber seine Neugier wurde immer größer, und als der Mann auch weiterhin keine Anstalten machte, sich umzudrehen, sagte Bill zu ihm: „Entschuldigung! Suchen Sie etwas?“

Erst da hatte der Mann sich langsam umgedreht und ihn angesehen. Bill hielt instinktiv den Atem an, als er sein Gesicht sah. Der Fremde wirkte uralt und dennoch in keiner Weise gebrechlich. Seine Haut war stark gebräunt, wie gegerbtes Leder, und in dem Netz aus Falten, die sein gesamtes Gesicht überzogen, zeichnete sich sein Mund als harte Linie ab. Sein glattes, schwarzes Haar war nach hinten gebunden und verschwand im Kragen der Armeejacke.

Das Gesicht des Fremden strahlte Würde und Strenge aus, und Bill verspürte sofort den Impuls, sich für die Störung zu entschuldigen. Ein solches Gesicht hatte er noch nie gesehen. Bill bereute schon, den Mann angesprochen zu haben, fürchtete harte Worte und Zorn. Dennoch erwiderte er mutig seinen Blick. Nach einer Weile, die Bill wie eine halbe Ewigkeit erschien, bog sich die strenge Mundlinie des Alten leicht nach oben, und während Bill erleichtert ausatmete, fing er mit einer tiefen, beruhigenden Stimme zu sprechen an: „Ja, ich suche in der Tat etwas. Aber das werde ich wohl nicht finden.“

Er sprach langsam, aber auch sehr leise, und man musste aufmerksam zuhören, um seinen Worten folgen zu können. Offenbar war er es gewohnt, nicht unterbrochen zu werden. Ermutigt stellte Bill weitere Fragen, die auf ähnlich mysteriöse Weise beantwortet wurden.

Von diesem Tag an war Bill dem Alten öfter im Park über den Weg gelaufen. Schon von weitem war er an seinem hinkenden Gang zu erkennen. Im Krieg hatte er sich eine Schussverletzung am linken Fuß zugezogen. Bills Frage danach, welchen Krieg er meinte, wurde nur mit einem prüfenden Blick und einer mehrdeutigen Aussage darüber quittiert, dass es viel zu viele Kriege gegeben habe.

Mit derartigen Bemerkungen wich der Alte vielen seiner Fragen aus, aber dennoch hatte Bill nie das Gefühl, er mache sich über ihn lustig. Sein Verhalten war ebenso ehrfurchtgebietend wie respektvoll. Trotz seiner offensichtlichen Lebenserfahrung hörte er geduldig zu, wenn Bill etwas erzählte, nickte verständnisvoll und schwieg, wo andere belehrende Kommentare abgegeben hätten.

Der Alte hatte eine Vorliebe für mystische Themen, und so wurde aus einer banalen Frage, die Bill zur Begrüßung stellte, oft ein tiefgründiges Gespräch. Bill hatte den Ausführungen des Alten über die Unsterblichkeit der Seele und über andere Welten, die den meisten Menschen verborgen blieben, fasziniert zugehört. Er ließ sich gern auf phantastische Theorien ein und es machte ihm Spaß, jemandem zuzuhören, der unbefangen und aus tiefster Überzeugung über die Existenz einer Weltseele sprach. Irgendwann hatte Bill begonnen, ihn in Gedanken den Zauberer zu nennen.

Während einem dieser Gespräche hatte der Alte von einem großen Geheimnis erzählt. Er hatte gesagt, dass die Handlungen aller Menschen von einem großen Willen gelenkt würden, einem Willen, der über allem Lebenden stehe und dem sich niemand entziehen könne. Bill versuchte, sich an die genauen Worte des Alten zu erinnern, aber es fiel ihm schwer. Doch wenn der Alte Recht gehabt hatte, dann hatte Bills rechte Hand gerade ... dann hatte er vielleicht gerade gesehen, wie ...

„Bin wieder da!“

Der fröhliche Ruf, gefolgt vom Zuschlagen der Wohnungstür, riss ihn aus seinen Gedanken. Mias Stimme und das kratzige Rascheln ihrer Jacke. Bill hob den Kopf und sprang vom Bett auf.

„Hey, weißt du, was wir heute kochen können?“, rief sie aus dem Flur, ungewöhnlich laut.

Es war keine Frage, sondern eine vergnügte Ankündigung der Antwort, die sie schon parat hatte. Plötzlich sah Bill ihren Kopf im Spalt der Schlafzimmertür erscheinen.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie.

„Wollte mich ein bisschen hinlegen“, antwortete er. „Ich bin total müde.“ Er sah, wie sie die Stirn runzelte, und lächelte sie an.

„Ist alles in Ordnung?“

Er lächelte. „Ja. Hab grad eh keinen Hunger, ich will mich erst mal ein bisschen ausruhen.“

„Ok“, sagte sie, „ich mach mir jetzt schon was Kleines. Geht’s dir wirklich gut?“

Er lächelte.

„Ja.“

Ihr Kopf verschwand hinter der Tür, tauchte aber gleich danach wieder auf.

„Hey, ich hab Camembert gekauft“, erklärte sie lockend. Eine Entschuldigung für die unbegründete Sorge. „Den können wir heute Abend aufbacken, wenn du Lust hast.“

„Ja! Schön.“

Lächeln. Dann war sie weg. Er lauschte ihren Schritten und dem Scharren der Küchentür. Ein Stuhl wurde über Linoleum geschoben. Bill legte sich aufs Bett. Sicher hatte sie gemerkt, wie nervös er war. Er malte sich aus, wie sie jetzt in der Küche saß und grübelte. Mitleid überkam ihn, und er fragte sich, ob er nicht doch einfach mit ihr reden sollte. Aber er konnte es nicht, nicht jetzt, nicht bevor er noch einmal mit dem Alten gesprochen hatte. Sie würde es sonst nicht verstehen. Er verstand es ja selbst noch nicht. Er musste den Alten suchen, herausfinden, was er wusste, und dann könnte er Mia alles erklären. Sie sollte sich keine Sorgen machen.

Entschlossen stand er auf und ging zur Schlafzimmertür, die immer noch angelehnt war. Draußen war es bereits dunkel, und nur die Straßenlaternen schimmerten schwach hinter den Gardinen. Vorsichtig zog er die Tür weiter auf, ohne dabei ein Geräusch zu machen, und sah auf den Flur hinaus. Das Licht war aus, die Küchentür geschlossen. Nur die Tür zum Wohnzimmer stand offen, aber auch dort brannte kein Licht. Leise trat er auf den Flur, schob sich Stück für Stück an der Wand entlang zu den Kleiderhaken. Er atmete leise, mit geöffnetem Mund, tastete nach seiner Jacke an der Garderobe, hob sie langsam vom Haken und klemmte sie unter den Arm. Mit beiden Händen umfasste er die Klinke der Wohnungstür und drückte sie vorsichtig, Millimeter für Millimeter nach unten.

Plötzlich bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Er drehte seinen Kopf in die Richtung und sah den schattenhaften Umriss einer Gestalt: Mia, die im Rahmen der Wohnzimmertür stand. Die ihn beobachtete. Wie war das möglich? Sie musste in der Küche sein. Was ging hier vor?

„Oh Mann!“, entwich es ihm mit der angehaltenen Luft. „Erschreck mich nicht!“

Das Licht ging an. Er sah Tränen, die geräuschlos über Mias Gesicht rannen. Ihre Hand zitterte, als sie sie vom Lichtschalter zurückzog. Ohne ein Wort zu sagen, sah sie Bill an. Natürlich dachte sie das Schlimmste. Wie auch nicht, da sie ihn nun gesehen hatte. Genau das hatte er verhindern wollen, aber es war nicht zu spät, er wusste, was nun zu tun war. Es wäre leichter gewesen, wenn er erst mit dem Alten hätte reden können, aber sie würden es auch so schaffen. Sie würden alles schaffen. Es gab keine Zweifel mehr.

„Mia, ich weiß es, ich muss noch mal in den Wald“, sagte er mit sich überschlagender Stimme, drehte sich um, hängte seine Jacke wieder auf. „Ich frage den Alten, wie er es gemacht hat, ich weiß, Mia, es funktioniert mit Haaren.“

Er ging auf sie zu, wollte sie in die Arme nehmen, aber sie sank in die Knie, und er streckte die Hand wieder nach seiner Jacke aus.

„Mach dir keine Sorgen, ich weiß es, ich habe es gesehen an der Hand, er hat es auch gemacht mit seinen Haaren, ich weiß, er ist ein Zauberer, er wird es mir sagen. Etwas hat meine Hand bewegt – das Geheimnis ...“

Mia saß weinend vor ihm auf dem Boden, die Stirn gegen die kalte Wand gelehnt, die Augen geschlossen, und hatte die Finger in den Stoff seiner Hose gekrallt. Ihr krampfartiges Schluchzen schüttelte ihn ein bisschen mit, während er aufgeregt von dem Zauberer und dem großen Geheimnis erzählte.

3. Max, Simone, Zoe, Mia

Als Max die andere Seite des Tresens erreichte, versuchte die Frau bereits, sich wieder aufzurichten. Sie lag noch halb auf den dunklen Holzdielen, die Beine angewinkelt, und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab. Der umgestoßene Barhocker lag still neben ihr. Das Bild rief in Max ein seltsames Gefühl von Alltäglichkeit hervor, als hätte der Hocker schon immer an dieser Stelle gelegen und die Frau sich ganz bewusst auf dem Boden niedergelassen. Wären da nicht die erschrockenen Gesichter der beiden anderen Gäste, die aus dem hinteren Raum herüberblickten, hätte die Szene ruhig und gewöhnlich gewirkt. Der Mann war von seinem Stuhl aufgestanden, um ebenfalls zu Hilfe zu eilen. Max erreichte die am Boden liegende Frau aber zuerst. Er kniete sich vor sie hin und umfasste ihre Schultern.

„Sind Sie in Ordnung? Können Sie aufstehen?“, fragte er aufgeregt, fügte dann aber mit beruhigender Stimme hinzu: „Aber bleiben Sie lieber sitzen. Das wird schon wieder! Tut Ihnen etwas weh?“

Simone schüttelte den Kopf, sah aber nicht auf. Die Welt bestand aus vielen einzelnen Punkten, die sich zum Muster eines Dielenbodens zusammenfügen wollten.

Max hatte sie in der Spiegelwand beobachtet, hatte gesehen, wie ihr Körper erschlaffte und einfach zur Seite kippte. Wie eine Marionette, deren Fäden mitten in der Vorstellung durchtrennt wurden, ohne das geringste Zeichen von Angst in ihrem Blick. Im Fallen musste ihr Körper einen benachbarten Barhocker mitgerissen haben. Der, auf dem sie selbst gesessen hatte, war nicht umgefallen. Er stand immer noch gleichgültig an seinem Platz wie ein Sinnbild für die Belanglosigkeit des Vorfalls.

„Kommen Sie“, sagte Max, als sie Anstalten machte, aufzustehen. „Ich werde Ihnen zu dem Stuhl da drüben helfen. In Ordnung?“

Sie nickte und er legte ihren Arm um seinen Nacken, um sie zu stützen. Langsam gingen sie zu einem der viereckigen Tische, die entlang der Fensterreihe standen. Der Mann aus dem hinteren Raum streckte ihnen unbeholfen die Hände entgegen. „Geht’s?“, fragte er. Nachdem Max ihm zugenickt und „Geht schon, danke!“ gemurmelt hatte, drehte er sich zögernd wieder um und kehrte zu seiner Frau zurück, die ihm fragend entgegenblickte.

Sie erreichten den Tisch und Simone ließ sich auf den Stuhl sinken. Sie war froh, dass die Bar fast leer war. Sie wollte nicht gesehen werden. Sie wollte verschwinden, fühlte sich dazu aber nicht in der Lage. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, noch einmal ohnmächtig zu werden. Sie bereitete sich schon darauf vor, gegen das Rufen eines Arztes zu protestieren, aber niemand schlug es vor. Max hatte sich auf den Stuhl neben ihr gesetzt, und die Frau, die an der Bar gestanden hatte, brachte ihr ein Glas Wasser. Sie beugte sich über Simone, während sie das Glas auf den Tisch stellte, und sah sie an.

Simone hob den Kopf und blickte der Frau direkt in die Augen. Sie war noch schöner, als Simone angenommen hatte. Die Haut seitlich der Augen spannte sich leicht über die Wangenknochen, was ihren Zügen etwas Exotisches verlieh. Die schulterlangen, schwarzen Haare umrahmten ihr Gesicht, und ihr Mund war geschlossen, obwohl es schien, als ob schon ein leichtes Ausatmen die sinnlichen Lippen voneinander lösen würde. Das dämmrige Licht in der Bar legte einen gelblichen Schimmer auf ihre Wangen. Am meisten aber faszinierte Simone die Hoffnungslosigkeit in ihren blassgelben Augen. Eine Mischung aus Melancholie, Resignation und Schuldbewusstsein, als hätte sie etwas verbrochen und wüsste genau, dass sie von niemandem Mitleid erwarten durfte. Simone hatte sich oft Menschen mit diesem Gesichtsausdruck vorgestellt, hatte ihn einige Male auf ihrem eigenen Gesicht vermutet, aber noch nie war er ihr tatsächlich bei jemand anderem begegnet.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte die Frau.

Simone nickte wieder.

„Ist schon in Ordnung, Zoe, ich bleibe ein bisschen bei ihr“, sagte Max. Zoe sah ihn an, lächelte und strich ihm mit der Hand über den Nacken. Als sie ging, blickte er ihr schweigend nach. Simone ließ ihren Kopf wieder sinken.

Natürlich hatte er zuerst an Drogen gedacht, als die Fremde auf dem Barhocker zusammenklappte, denn sie war noch nicht alt und wirkte gesund. Ihre Nervosität und das orientierungslose Auftreten, das sie angestrengt zu verbergen versuchte, sprachen dafür, aber Max glaubte nicht, dass sie unter dem Einfluss irgendeiner Substanz stand. Sie wirkte eher, als hätte sie tatsächlich die Orientierung verloren, was in einer Stadt wie New York für eine französische Touristin nichts Ungewöhnliches war. Sie brauchte nur einen Moment, um sich wieder zu fangen.

Merkwürdig war nur, dass Max das Gefühl hatte, sie wundere sich nicht über die unbekannte Gegend in New York, sondern über New York selbst. Er fragte sich, wie lange sie schon in der Stadt war und ob sie allein reiste. Obwohl sie ein wenig zurückhaltend wirkte, machte sie keinen unselbstständigen Eindruck. Seit ihrer Bemerkung über New York hatte er festgestellt, dass er sie mochte. Sie hatte ihn beeindruckt. New York, das sind jetzt Sie! Immer wieder wiederholte die Geisterstimme der fremden Frau in seinem Kopf diesen Satz. New York, das sind jetzt Sie!

Max war vor einem Jahr nach New York gezogen. Alles war schnell gegangen, seit er die Zusage für die Stelle am medizinischen Zentrum der Columbia University erhalten hatte. Seine Stelle in Deutschland war noch nicht abgelaufen, aber das Angebot war zu gut, um lange zu zögern. So eine Gelegenheit bekam man nicht oft, und eine Position an einem renommierten internationalen Institut war entscheidend, wenn man sich in der Wissenschaft einen Namen machen wollte. Die Gruppe erforschte die neuropsychologischen Grundlagen von psychotischen Störungen. Als er bei seinem ersten Besuch von seinen zukünftigen Kollegen durch das Institut geführt wurde, wusste er bereits, dass er die Stelle annehmen würde. Der Leiter der Gruppe war ein sympathisch wirkender Mann um die fünfzig. Seit mehr als zehn Jahren wurde kaum ein Artikel zu schizophrenen Erkrankungen publiziert, in dem sein Name nicht erwähnt wurde. Für Max stand außer Frage, dass er hierher gehörte.

„Wenn du zurückkommst“, hatte einer seiner deutschen Kollegen beim Abschied gesagt, „kannst du arbeiten, wo du willst. Keine Gedanken mehr um Weiterfinanzierung und den nächsten Zwei-Jahres-Vertrag. Du bekommst einen Ruf. Hast dann ausgesorgt!“

Max hatte verlegen gelacht. Es war ihm nicht unangenehm, wenn jemand seine Motive erkannte, aber es beschämte ihn, wenn ihm eine Motivation unterstellt wurde, die zwar nachvollziehbar, aber trotzdem nicht seine war. Ein Schweigen wurde dann fälschlicherweise als Zustimmung interpretiert, aber wenn er widersprach, fand man seinen Protest übertrieben und selbstherrlich. Als hätte er etwas daran auszusetzen, wenn jemand gut verdienen wollte.

Doch Max wollte gehört werden. Er wollte sich einen Namen machen. Er machte sich nicht viel aus Geld, obwohl er es genoss und wahrscheinlich anders darüber denken würde, wenn er weniger davon hätte. Auch einen späteren Ruf zum Professor strebte er nicht direkt an, obwohl er darauf hinarbeitete. Als Professor könnte er sich eine eigene Gruppe aufbauen. Überall würde man ihn kennen. In Forschungsinstituten auf der ganzen Welt würde er präsent sein, und selbst nach seinem Tod würde sein Beitrag zur Wissenschaft nicht vergessen werden.

Manchmal stellte Max sich vor, wie sein Leben in einer Biographie aussehen würde. Wie würde die Nachwelt, wie würden seine Kollegen von ihm denken? Würde man ihn schätzen, belächeln, verachten? Würde man sich überhaupt erinnern? Er wollte nicht vergessen werden, er wollte die Biographen und gleichzeitig schämte er sich für die Selbstgefälligkeit, die sich hinter diesem Wunsch verbarg.

„Entschuldigen Sie!“, riss die Frau ihn aus seinen Gedanken. „Es tut mir wirklich leid, ich weiß gar nicht ... ach, jedenfalls danke, dass Sie sich um mich kümmern.“

Max lächelte sie an und sagte: „Ich bin Max!“

Sie sah ihn ausdruckslos an.

„Simone ...“, antwortete sie zögernd. „Ich bin Simone.“

„Und keine Sorge, Sie halten mich nicht von der Arbeit ab oder so. Ich besuche nur Zoe. Die Bedienung“, fügte er unnötigerweise hinzu und nickte mit dem Kopf in Richtung Tresen. „Ich wollte sowieso nur ein bisschen Zeit totschlagen. Aber wie ist es mit Ihnen? Haben Sie irgendwo am Kopf Schmerzen? Wissen Sie noch, wie Sie hergekommen sind?“

„Wieso?“, fragte Simone ängstlich. Sie merkte sofort, wie unsinnig die Frage war, aber es kostete sie Mühe, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Was wusste dieser Mann, der sie mit der überheblichen Gutmütigkeit eines Eingeweihten ansah? Andererseits war die Frage nach ihren Erinnerungen, die Simone sofort auf ihren geistigen Zustand bezogen hatte, durchaus nachvollziehbar.

Er musste gespürt haben, dass die Frage sie beunruhigt hatte, denn er schob eilig eine Erklärung nach: „Ich will nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist. Wenn Sie sich irgendwas gebrochen hätten, würden Sie das schon merken. Aber Kopfverletzungen zeigen sich oft durch Erinnerungslücken. Ich kenne mich da ein bisschen aus.“

„Nein, nein“, sagte Simone nun, „mir fehlt nichts. Das war einfach der Kreislauf. Mir ist plötzlich schwarz vor Augen geworden.“

Erst als sie geendet hatte, fiel ihr auf, dass sie die eigentliche Frage gar nicht beantwortet hatte, und vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder das dünne Papier der Zeitung, die sie kurz vor ihrer Ohnmacht in den Händen gehalten hatte. Und das unmögliche Datum, das darauf zu lesen war.

„Erinnerungen sind trügerisch“, sagte sie langsam und bedacht. „Vielleicht noch nicht in Ihrem Alter. Wie alt ... Darf ich fragen, wie alt Sie sind?“

„Ich bin zweiunddreißig“, antwortete Max. Er war es gewohnt, jünger eingeschätzt zu werden, aber Simone schien von der Zahl nicht überrascht zu sein.

„Ja ..., dann sind Sie geboren, warten Sie ... neunzehnhundert ...“

Sie sah ihr Gegenüber hilfesuchend an. Sie hatte das Wort in die Länge ziehen wollen, aber es war doch verstummt und ihr Gesicht zu einer fragenden Maske erstarrt. Für einen Moment glaubte sie, er würde nicht darauf eingehen und überlegte, wie sie ihre Schwierigkeiten rechtfertigen oder das Thema wechseln könnte. Dann aber vervollständigte er: „Dreiundachtzig.“

Simone nickte mechanisch. Und starrte den anderen weiter an, der keine Miene verzog, der sie ansah und etwas zu erwarten schien. Eine Erklärung. Von ihr. Worauf wollte sie hinaus? Warum hatte sie ihn nach seinem Alter gefragt? Sagen Sie mir, wie Sie hergekommen sind!, forderte der verständnisvolle Blick, dem anzusehen war, dass er sie bereits durchschaut zu haben glaubte.

Plötzlich spürte Max eine Vibration an seinem Bein. Sein Handy klingelte.

„Entschuldigung!“, sagte er. Das Display zeigte eine unbekannte Nummer an. Er nahm den Anruf an und meldete sich: „Hallo?“

„Max?“

Es war Mia. Max wusste sofort, dass etwas Schlimmes geschehen war. Bill! Der Gedanke war so plötzlich da, Max hätte nicht sagen können, wie er entstand und woher er kam. In dem Moment, in dem er Mias Stimme erkannte, wusste er, dass es um seinen Bruder ging. Etwas in seinem Kopf zog sich zusammen, die Welt um ihn verblasste. Mit einem Mal war er nicht mehr hier, nicht mehr in seinem Körper, nicht mehr in einer Bar in New York, im Gespräch mit einer geheimnisvollen Französin, sondern an einem unbestimmten Ort in Deutschland, wahrscheinlich in Berlin, und lauschte angespannt dem Nachhall von Mias Stimme.

„Hallo Mia“, sagte er schwerfällig.

Er wollte weitersprechen, wollte sie fragen, was passiert war, aber er brachte kein Wort heraus. Er wusste, dass der Schlag gleich kommen würde. Sein Körper erhob sich und ging mechanisch zur Ausgangstür der Bar, wollte hinaus auf die Straße.

„Max, ich ...“, begann Mia. Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen. „Bill hat einen Rückfall gehabt. Es hat wieder angefangen, heute Nachmittag, er hat wieder diese Gedanken. Und jetzt ist er in der Klinik.“

Jetzt weinte sie.

Was sollte er sagen?

„Scheiße“, sagte er. Was noch? Er musste etwas sagen, musste helfen. Er stellte sich seinen Bruder in der Klinik vor, wie er die Ärzte zu überreden versuchte, ihn nur kurz rauszulassen. Max spürte, wie sein Hals sich verengte, musste schlucken.

„Wie schlimm ist es? Hast du mit den Ärzten geredet?“, fragte er.

„Die haben nicht viel gesagt.“ Sie hatte Mühe, ihr Schluchzen zurückzuhalten. „Sie haben ihm Medikamente gegeben und behalten ihn hier.“

„Wo bist du, Mia? Ach verdammt, wie spät ist es bei euch jetzt? Es muss doch ...“

„Kurz nach zwölf. Ich bin vor der Klinik. Sie haben gesagt, ich soll morgen wiederkommen.“ Sie wurde durch einen neuen Weinkrampf unterbrochen. „Max, kannst du bitte kommen?“

Dano‘sSimone,Dano‘s