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HANK ZERBOLESCH: „Verhaltet euch unauffällig“
1. Auflage, Oktober 2016, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2016 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Sarah Strehle
Covermotiv: Marion Alexa Müller
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-020-5
epub ISBN: 978-3-95996-021-2

Hank Zerbolesch

Verhaltet euch unauffällig


Roman


periplaneta


„Ich gab dir meine Liebe

Ich gab dir mein Geld

Und wo bist du jetzt, Marie?

Ich gab dir die Schlüssel

Zu meiner Riesenwelt

Und wo bist du jetzt, Marie?“

Marie (Tom Novy Remix)




Für Feivel und Vonny

Nach mir die größten Ficker.


Prolog

Es gibt Menschen, die sich so tief in dein Leben einbrennen, dass sie dessen Verlauf auch dann mitbestimmen, wenn sie schon längst kein Teil mehr davon sind.

Das ist meine feste Überzeugung.

Dies ist meine Geschichte. Und die Geschichte derer, die mein Leben beeinflusst haben. Was nicht bedeutet, dass sie für meine momentane Lage haftbar zu machen wären. Denn letztendlich ist jeder Mensch für sich selbst verantwortlich. Auch davon bin ich überzeugt.

Diese Art des Selbstbildnisses ist noch recht jung. Und bedurfte einer Menge Zeit und Selbstreflexion. Zeit habe ich hier drin genug. Und Selbstreflexion ist etwas, das die Zeit mit sich bringt. Aus ihr erwächst Abstand. Und den brauchte es.

Es gab eine Epoche in meinem Leben, in der habe ich immer das getan, was von mir erwartet wurde. Was nicht heißen soll, dass ich es nicht gerne getan habe. Das habe ich. Meistens.

Ich ging zur Schule. Mal mehr, mal weniger regelmäßig. Und als ich alt genug war, eine Ausbildung zu machen, tat ich auch das. Ich hatte lange Zeit dieselbe Freundin. Ein Auto. Und einen mehr oder weniger geregelten Job. All das war zwar durchzogen von den Problemen, die das Leben mit sich bringt, dennoch war es ein schöneres Exemplar, als es die meisten haben. Und trotzdem wohnte in mir ein Gefühl, das ich lange Zeit nicht einzuordnen wusste.

Dann traf ich Marie. Sie hob mein Leben aus den Angeln und gab mir eine völlig neue Sicht auf die Dinge. Ich tauschte mein bisheriges Leben gegen ein neues. Eines, von dem ich meinte, erkannt zu haben, wie es gemeint war. Aus Arbeit wurde Techno. Aus der Wohnung ein Club. Aus dem Alltag eine nie endende Party. Und aus meinem bisherigen Bild der Liebe wurde bedingungslose Hingabe.

Als ich ein paar Jahre später zu mir kam, war von alldem nicht mehr übrig als ein riesiger Haufen Schulden, ein verprelltes Elternhaus und jede Menge verbrannter Erde.

Genau hier beginnt meine Geschichte. Nicht, weil sie ab hier spannender ist. Es geht um das, was passiert, wenn plötzlich das Putzlicht angeht. Wenn sich der Kater in das Fleisch frisst und jeden Muskel brennen lässt, als stünde dein Körper in Flammen. Es geht um Menschen, die immer wieder Hoffnung in eine ausweglose Situation pflanzen, als seien es Setzlinge. Und darum, wie mühselig es ist, diese Saat sprießen zu lassen.

Teil 1

‚Das ist das Problem am Trinken‘, dachte ich mir, während ich mir einen Drink einschüttete. ‚Wenn etwas Schlechtes passiert, trinkt man, um zu vergessen; wenn etwas Gutes passiert, trinkt man, um zu feiern; und wenn gar nichts passiert, trinkt man, damit etwas passiert.‘

Charles Bukowski

1

Sommer 2003

„Die Schicht, in der Sie eingesetzt werden würden, geht von Montag bis Freitag von 17:00 bis 21:00 Uhr. Es kann auch mal früher oder später werden, je nach Volumen. Stoßzeiten sind Weihnachten und nach den Ferien. Das ist eine körperlich sehr anspruchsvolle Arbeit“, sagte er und sah mich genau so an, wie das Sicherheitspersonal am Kennedy Airport Männer mit Gebetsmützen und Bärten ansieht.

Dieser Blick schien hier zum guten Ton zu gehören. Schon am Eingang wurde ich damit empfangen. Meine Taschen wurden durchsucht und ich wurde gründlicher abgetastet, als beim Fußballderby Düsseldorf gegen Köln.

Das Büro als schlicht zu bezeichnen, würde dem hier vorherrschenden Spartanismus in keiner Weise gerecht werden. Der Raum war so klein, dass mein Gegenüber es nur unter Anstrengung um seinen Schreibtisch geschafft hätte. Es gab keine Bilder. Keine Blumen. Der einzige Bonus waren die dunkelbraunen Jalousien, die zur Hälfte heruntergelassen waren. Und das Namensschild auf dem alten Holztisch. Herr Kling stand da aus einzelnen Buchstaben zusammengescrabbelt. Seiner Hautfarbe nach schien er viel Zeit in diesem Zimmer zu verbringen. Das unterschrieb auch sein Moschusduft.

„Im Schnitt verladen wir 17.000 Pakete pro Schicht und knapp 50.000 Pakete am Tag.“

‚Dein arielweißes Hemd sieht mir nicht danach aus, dass du dich in das wir mit einbeziehst‘, dachte ich.

„Sie sind gelernter Altenpfleger?“ Er machte sich erst gar nicht die Mühe, für diese Frage von meinem Lebenslauf aufzublicken.

„Jawohl“, sagte ich.

‚Jawohl. Wer sagt denn bei einem Vorstellungsgespräch jawohl?‘

„Und warum arbeiten Sie nicht mehr als Pfleger?“

„Das Problem ist doch Folgendes“, begann ich. Überlegte kurz und fuhr fort. „Jede Arbeit beruht auf Erfolgserlebnissen. Das ist genau das, was Sie weitermachen lässt. Was Sie auch durch die schlechtesten Tage zieht. Aber genau diese Erfolgserlebnisse bleiben in der Altenpflege völlig auf der Strecke, denn am Ende sterben sie alle. Und glauben Sie mir: Das ist nicht nur ziemlich frustrierend, das geht auch ganz schön an die Substanz.“

Eine mindestens genau so billige Ausrede wie der erfundene Job an sich. Doch so schnell fiel mir halt nichts Besseres ein. Wer macht sich schon für ein Vorstellungsgespräch Gedanken über seine ehemaligen Arbeitgeber?

„Wie sind Sie denn überhaupt auf uns aufmerksam geworden, Herr Zerbolesch?“, fragte er. Faltete seine Hände wie zum Sonntagsgebet und wuchtete die Ellbogen auf den Tisch.

„Ein Freund von mir arbeitet schon sehr lange hier. Und ich höre immer nur Gutes über Sie. Der PAKETDIENST hier, der PAKETDIENST da, Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, nette Kollegen, nette Vorgesetzte“, log ich.

„Wie heißt denn Ihr Freund?“, fragte Kling.

Mein Blick flackerte über seinen Schreibtisch und blieb an einem Kaffeebecher hängen, der mit einer Landschaft bedruckt war, wie man sie aus alten Karl May Filmen kennt.

„Michael Herbig“, fiel es mir aus dem Mund.

„Der Name sagt mir etwas.“ Er fuhr sich mit der Hand über sein aalglattes Kinn.

„So’n kleiner, schlaksiger Kerl. Immer gute Laune. Immer einen witzigen Spruch auf den Lippen. Ein richtiges Arbeitstier“, sagte ich.

„Ach ja. Richtig. Der Michael. Netter Kerl. Aber lassen Sie sich gesagt sein, dass wir dafür auch einiges erwarten. Es gibt hier klare Vorgaben, die Sie erfüllen müssen. Unser Soll liegt momentan bei 500 Paketen in der Stunde.“

Mein rechter Fuß begann zu zucken.

„Aber Sie sehen recht sportlich aus. Ich denke nicht, dass das für Sie ein Problem wird. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“

„Wie sind denn die Verdienstmöglichkeiten?“, fragte ich.

„Das kommt ganz darauf an, wie viel Sie arbeiten wollen.“

„Ich hab nichts weiter vor“, sagte ich.

„Na das klingt doch schon mal ganz gut. Voraussichtlich werden Sie von 17:00 bis 21:00 Uhr arbeiten. Sie verdienen anfangs 12,63 Euro die Stunde und nach Ablauf der Probezeit 13,50 Euro. Was die Arbeitszeiten angeht, haben wir des Öfteren Sonderaktionen. Wenn zum Beispiel Kemmer und Kreuz neue Kataloge verschicken, dann brauchen wir ein paar Leute schon ab 14:00 oder 15:00 Uhr.“

Ich überschlug die Information grob im Kopf und landete bei knappen 1.000 Euro im Monat. ‚Müsste zu schaffen sein‘, dachte ich.

„Ist super. Nehm’ ich“, sagte ich.

Kling lehnte sich in seinen Stuhl. Ließ die Hände gefaltet und sah mich an, als hätte ich keinen blassen Schimmer, worauf ich mich hier einlassen würde. „Vertun Sie sich da nicht, Herr Zerbolesch. Das ist eine körperlich sehr anstrengende Arbeit. 50 Prozent geben in den ersten zwei Wochen wieder auf.“

‚50 Prozent haben wahrscheinlich auch eine andere Wahl‘, dachte ich. „Ich bin einiges gewohnt. Ich kann das ab“, sagte ich.

„Das glaube ich Ihnen gerne.“ Der Anflug eines Lächelns deponierte sich auf seine Lippen und Wangen. „Wer alte Leute aus dem Bett heben kann, der sollte bei ein paar Paketen keine Probleme haben.“

„Wann fang ich an?“

„Ich würde sagen, Sie gucken sich erst mal alles an, arbeiten ein paar Stunden mit und dann sehen wir weiter.“

„Super. Wo muss ich hin?“

Er stempelte meinen Lebenslauf. Griff einen Ausweis mit Kette aus seiner Schublade und reichte mir beides. „Aus der Tür raus und die zweite wieder rechts. Die Treppe runter und dann wieder rechts zum ersten Container. Da fragen Sie nach Olli. Der wird Ihnen alles Weitere zeigen. Viel Glück“, sagte er und reichte mir die Hand.

‚Ein bisschen wie auf’m Amt‘, dachte ich. Schlug ein. Und ging.

2

Als ich die zweite Tür rechts aufzog, stand ich in einem Hexenkessel aus blauschwarzem Lärm, Schmutz und getriebenem Kapitalismus. Meine Nase erahnte etwas, das dem Geruch von Metall, Schmierfett und Abgasen nahekam. Ich sah in ein monumentales Wellblechkonstrukt, bei dessen Anblick mir kurz der Atem stockte. Wie damals. Als ich mit meinen Eltern zum ersten Mal in den Urlaub gefahren war und sich dieses gigantische Alpenpanorama vor mir ausgebreitet hatte.

Die Halle war durchzogen von Stahlrahmen und sich bewegenden Bändern, die aussahen, als stecke Leben in ihnen. Beeindruckt von dieser Konstruktion, stieg ich Stufe um Stufe die Treppen hinab. Unten angekommen hatte ich das Gefühl, als wäre ich kopfüber in ein anarchisches Chaos eingetaucht. Hubwagen, mannshoch beladen mit Päckchen, steuerten aus allen Richtungen auf mich zu. Die ersten Minuten verbrachte ich damit, ihnen im letzten Augenblick aus dem Weg zu springen. Ich fühlte mich wie ein Gefangener in einer Slapstick-Nummer. Was mir ein Grinsen entlockte. Bis ich jemanden hinter den Paketgebirgen zu packen bekam.

„Tschuldigung? Ich such den Olli.“ Ich schrie, so laut ich konnte. Und verstand mich selbst kaum.

Der Kerl zeigte mit dem Finger auf einen kahlgeschorenen Hinterkopf. Und gerade als ich die Hand zum Dank heben wollte, war er schon wieder weg. ‚Der arbeitet wohl schon länger hier‘, dachte ich. ‚Versucht gar nicht erst zu reden. Hat eh keinen Sinn.‘

Ich schlängelte mich um die Hubwagen herum auf Olli zu und tippte ihm von hinten auf die Schulter.

„Hi. Henry. Herr Kling schickt mich. Ich soll Probe arbeiten.“

Olli hielt mir seine Hand hin. Ich schlug in die mit aufgerissener Haut überzogene Pranke und schüttelte sie. Er sah mich irritiert an. Riss mir mit der anderen den Lebenslauf aus den Fingern. Warf einen Blick darüber und bedeutete mir, ihm zu folgen. Wir stiegen ein paar Stahltreppen hoch, und schon stand ich in einem Container, der zu Dreiviertel gefüllt war mit Paketen. Es gab kleine, große, dicke, dünne, runde, eckige; und trotzdem war nicht ein Zentimeter Platz verschwendet. Wie Tetris. Nur in echt.

Olli brüllte dem Entlader etwas ins Ohr, während der sich selbiges zuhielt. Dann drehte er sich um, gab mir den Lebenslauf zurück und ging.

Ich trat zu dem jungen Kerl in den Anhänger. Sein Kopf war gekrönt von einer Haarpracht, die ich einmal in der Cinema gesehen hatte. Da hatten sie einen Flyer abgedruckt, der unter den Walt Disney Mitarbeitern verteilt worden war und genau zeigte, welche Art von Frisur geduldet wurde und welche nicht. Der Typ hier ging mit den kalifornischen Ansprüchen ganz klar konform. Er zog seinen rechten Handschuh aus und hielt mir die Hand hin.

Ich drückte meinen Lebenslauf hinein. Er lachte und zog sich seinen schwarzen Gewichthebergürtel zurecht. Dann deutete er an, dass ich mir die Ohren zuhalten solle. Ich tat es und er lehnte sich zu mir.

„Hi. Sebastian“, rief er.

Ich verstand. Und schlug ein. „Hi. Hank. Was muss ich tun?“ Meine Stimme klang fahl und stumpf. Als stünde ich in einem schallabsorbierenden Raum.

„Alle Pakete von hier drin auf das Band legen“, rief Sebastian.

„Das ist alles?“, fragte ich.

Er lachte wieder. „Das ist alles.“

Getrieben von einer Mischung aus Angst und Eifer griff ich das erste Paket und wurde gleich mal ausgebremst. Dieses kleine Scheißding mit seinen geschätzten 30 mal 20 mal 20 Zentimetern wog mindestens 40 Kilo! Sebastians Perlweiß-Lächeln überstrahlte die Ränder seiner Lippen. Er nahm mir das Paket ab und schmiss es auf das Band, als wäre es ein leerer Pizzakarton. Dann drehte er sich wieder um. Schnappte sich das nächste, schmiss es auf das Band. Drehte sich um, schnappte sich das nächste, schmiss es auf das Band. Drehte sich um …

Als ich noch klein war, gab es in der Fabrik meines Vaters einen Tag der offenen Tür. Ich weiß noch genau, wie abschreckend das alles für mich war. Überall Lärm. Schmutz. Und diese unzähligen Fließbänder. Alle 2 Minuten bremste eine Lenkung vor seiner Nase. Er nahm sie vom Band und spannte sie an seinen Arbeitsplatz. Zog ein paar Schrauben an. Kontrollierte etwas auf einer Tafel und löste die Verankerung. Die Lenkung rutschte weiter und machte Platz für eine neue. ‚Was für eine langweilige Arbeit‘, hatte ich damals gedacht. Und jetzt?

Sebastian drehte sich um, schnappte sich das nächste, schmiss es auf das Band. Drehte sich um …

‚1.000 Euro‘, dachte ich. Und griff zu.

Wenn du jahrelang nichts anderes getan hast, als Bierflaschen mit den Zähnen zu öffnen oder Amphetaminautobahnen zu bauen, kann es mitunter etwas Zeit in Anspruch nehmen, bis auch der letzte Knochen auf Arbeit eingestellt ist. Doch als die Maschine dann einmal lief, war es gar nicht mehr so schlimm.

Nach einer halben Stunde war der Container leer und meine Stimme wieder klangvoll. Sebastian schob die Bandanlage hinaus, und ich wollte mich gerade setzen, um auf einen neuen Wagen zu warten, als er mich am Ärmel zog. Links neben unserem Arbeitsplatz wartete bereits der nächste LKW.

‚Die verschwenden keine Zeit‘, dachte ich. Ging hinein. Schnappte mir ein Paket. Schmiss es auf das Band. Drehte mich um, schnappte mir das nächste, schmiss es auf das Band. Drehte mich um …

Drei Stunden später. Kein Olli in Sicht. Dafür jede Menge Anhänger. Alle beladen nach dem gleichen Mauerbau-Prinzip. Jeder Schritt in meinen Schuhen fühlte sich an, als liefe ich barfuß durch ein Sumpfgebiet, während der Rest des Körpers schrie, als wäre ich gerade von der Streckbank gestiegen.

Und trotzdem fühlte es sich gut an. Ich schmiss ein Päckchen nach dem anderen aufs Band und hatte bei jedem einzelnen das Gefühl, als würde ich ein Stück Ballast von mir werfen.

Der Gedanke an Marie: Zack, weg.

Das Bild von ihr und Ben: Zack, weg.

Die Erwartungen meiner Eltern: Zack, weg.

Die Stapel Briefe. Weiße. Gelbe. Rote: Zack, weg.

Der Gerichtsvollzieher: Zack, weg.

Langsam verstand ich, wie mein Vater so lange so ruhig bleiben konnte.

Nachdem wir eine weitere Stunde zwischen drei Ausladebuchten hin und her gesprungen waren, blieb der Nachschub aus.

„Nicht schlecht“, sagte Sebastian.

Der Lärmpegel hatte sich in einem Bereich eingependelt, der Unterhaltungen in normaler Lautstärke zuließ. Er nahm einen großen Schluck aus seiner Wasserflasche und reichte sie mir. „Was hast du vorher gemacht?“

„Omas durchs Altenheim geschoben.“ Ich setzte mich zu ihm an die Ausladebucht. Der Wind kühlte den salzigen Schweißfilm auf meinem Gesicht. Und obwohl mir nicht kalt war, zog sich ein Zittern durch meinen Körper.

„Du haust die weg, als hättest du nie was anderes gemacht.“

„Ich hatte auch so einiges zum Wegwerfen“, sagte ich.

Sebastian lachte.

„Und? Wie sieht’s aus.“ Keine fünf Sekunden, nachdem wir uns hingesetzt hatten, hatte sich Olli neben mir materialisiert. So unauffällig, als ob Scotty persönlich ihn hergebeamt hätte.

„Super“, sagte ich. Und was soll ich lügen. Ich fühlte mich großartig! Befreit. Leichter. Was auch daran liegen konnte, dass ich meinen Körper nicht mehr spürte.

„Der hat beinahe alle Wagen alleine ausgeräumt“, sagte Sebastian.

Ich sah zu Olli. Ein Lächeln entglitt mir. Es kam zurück, und ich fand Gefallen an diesem Augenblick.

„Wann kann ich anfangen?“, fragte ich.

„Komm morgen wieder. Bring ein paar Klamotten und eine Flasche Wasser mit. Die kannst du auf dem Klo wieder auffüllen. Und einen Sozialversicherungsausweis und einen Kugelschreiber für den Arbeitsvertrag.“ Er klopfte mir auf die Schulter. Drehte sich um. Und verschwand in den Eingeweiden der gewaltigen Industrieanlage.

„Dann bis morgen“, sagte Sebastian. Winkte mir zu. Und ging.

Ich blieb auf dem Betonpfeiler sitzen. Griff eine fertig gestopfte Kippe aus meinem Metall-Etui. Steckte sie an. Inhalierte den ersten Zug bis tief in die kleinen Lungenbläschen. Genoss den leicht betäubenden Geschmack von Tabak auf meiner Zunge. Und legte den Kopf in den Nacken.

3

‚Hammer. Was für ein bescheuerter Name für ’nen Gerichtsvollzieher‘, dachte ich und klopfte an die Tür.

„Herein“, hallte es dumpf durch Pressspan.

Ich drückte die Klinke und trat ein. „Hallo. Zerbolesch. Ich hab einen Termin.“

„Bitte. Nehmen Sie Platz“, sagte er. Seine Arme steckten in einem babelesken Turm aus Akten.

Ich setzte mich und sah mich um. Die Wände waren kahl. Nur die unzähligen Löcher und die darum gezogenen, farblich leicht unterschiedlichen Rechtecke zeugten davon, dass dieser Raum einmal mit Leben gefüllt gewesen war. Oder zumindest mit Bildern.

Ein Aroma, irgendwo zwischen Moder, altem Kaffee und kalter Asche glitt über meine Nasenhärchen. Auf der Fensterbank stand eine Tonschale, über deren Ränder jetzt Blätter hingen, die für die Photosynthese genau so nützlich waren wie ein Braunkohlekraftwerk für den Klimaschutz. ‚Manchmal muss man Prioritäten setzen‘, dachte ich.

„Ah. Da haben wir Sie ja.“ Hammer zog eine Mappe aus dem Berg hervor, die auch ein Brockhaus hätte sein können. Mit einem Wisch über den Tisch machte er sich etwas Platz. Als er meine Mappe öffnete, setzte er eine Staubwolke in Bewegung, die jedem Allergiker die Bronchien unwiderruflich zugeschnürt hätte. Er zog seine Lesebrille von der Stirn auf den Nasenrücken und blätterte mit dem Daumen durch Anschreiben, deren Briefköpfe mir allesamt nicht fremd waren. Als er beim letzten ankam, hob er den Blick.

Ich sah in ein Gesicht, das so zerfurcht war wie ein syrischer Wüstenboden, der das letzte Mal Wasser gesehen hatte, als er noch zum Römischen Reich gehörte. Die Pigmente in seinen Locken schienen schon vor langer Zeit ausgeflogen und auch der in alle Richtungen abstehende Bart strahlte in hellem Silber.

„Herr Zerbolesch. Was haben Sie denn für mich?“

„Einen Arbeitsvertrag.“ Mit einer nicht zu übersehenden Portion Stolz reichte ich ihm das Original über den Schreibtisch.

Er nahm es. Blätterte zu der für ihn interessanten Stelle. Überflog die Zahlen. Und gab ihn mir zurück.

„Ich verdiene knapp 1.000 Euro im Monat. Damit kann ich Ihnen auf jeden Fall die Raten zahlen.“

„Das mag sein. Aber wir haben hier ein kleines Problem.“ Sein Daumen grub sich wieder durch meine Akte.

„Und das wäre?“

Er blickte zu mir auf. Stemmte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub seine Faust in der linken Hand. Wieder sah er mich ein paar Sekunden stumm an. Dann holte er tief Luft und sagte: „Die Kanzlei Müller und Kuhl will gar kein Geld mehr.“

„Wie jetzt. Nicht mehr?“

„Nein.“

„Das ist doch gut.“

„Das kommt auf die Perspektive an.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte ich.

„Müller und Kuhl wollen, dass Sie in die Beugehaft gehen.“

„Wie bitte?“ Der faustgroße Muskel in meiner Brust stellte das Arbeiten ein. Mein Atem kam, ganz ohne Stauballergie, zum Stocken, und jegliches Blut rutschte der Schwerkraft folgend in Bauch und Beine.

Das blieb meinem Gegenüber nicht verborgen. Sein Tonfall wurde weicher. „Sie haben zwei Jahre auf kein einziges Schreiben der Kanzlei geantwortet.“

„Aber ich hab doch jetzt einen festen Job. Ich kann das alles zahlen.“ Ich hatte Mühe, das Zittern in meiner Stimme unter Kontrolle zu halten.

„Herr Zerbolesch. Woher sollen Müller und Kuhl das wissen, wenn Sie ihnen nicht antworten?“

‚Recht hat er‘, dachte ich.

„Außerdem ist diese Kanzlei nicht Ihr einziges Problem.“

„Das weiß ich. Aber ich verdiene jetzt 1.000 Euro im Monat“, wiederholte ich mein neues Mantra. „Damit sollte ich doch alles bezahlt kriegen.“

Sein Mund verzog sich zu einer ‚Tja hätten Sie mal‘-Miene, während seine Augen leicht aus ihren Höhlen hervortraten. Dann atmete er tief ein und vergrub Blick und Hände wieder in meiner Akte. „Wie schon gesagt. Die meisten wollen gar kein Geld mehr. Die Meisten wollen Sie einfach nur noch bluten sehen.“

„Wie viel genau sind denn die meisten?“, fragte ich.

„Zwölf.“

„Zwölf?“

„Zwölf. Zwölf Haftbefehle.“

„Zwölf Ha …“ Affektiert drehte es meinen Kopf in Richtung Tür.

Hammers Tonfall wurde wieder härter. „Die meisten haben Sie über Monate hinweg angeschrieben. Und Sie haben nicht auf ein einziges Schreiben reagiert!“ Er sah mich an. Seufzte tief. „Stellen Sie sich doch mal vor, jemand würde Ihnen Geld schulden. Und egal, wie viele Briefe Sie auch schreiben, wie oft Sie auch den Gerichtsvollzieher schicken, niemand würde sich bei Ihnen melden. Was würden Sie in so einer Situation tun?“

Komischer Gedanke. Dass mir jemand Geld schulden könnte. „Naja. Ich hab gedacht … Ich weiß auch nicht, was ich gedacht hab.“ Meine Körperspannung nahm ab und ich sank in den Stuhl, als könne ich mich darin verstecken.

„Haben Sie gedacht, dass Sie das aussitzen können?“, fragte er.

Meine Schultern erhoben sich zu einem Verlegenheitszucken.

„Haben Sie ernsthaft geglaubt, die würden das irgendwann vergessen? Oder sich denken ‚Ach, der Herr Zerbolesch. Der hat bestimmt noch ganz andere Sorgen. Erlassen wir ihm doch die 4.000 Euro‘? Haben Sie gedacht, Sie müssen nur lange genug von der Bildfläche verschwinden, und alles ist gut?“

„Jetzt wo Sie das so sagen, klingt es ziemlich dumm.“ Meine Füße begannen zu wippen. Ich rieb den Schweißfilm, der sich auf meine Hände gelegt hatte, in die Jeans ein.

„Keine Angst. Ich werde Sie jetzt nicht einsperren. Aber Sie müssen sich bei Ihren Gläubigern melden! Sagen Sie Ihnen, was Sie mir gesagt haben. Dass Sie eine neue Arbeit haben und Ihre Schulden gerne bezahlen würden. Machen Sie konkrete Zahlungsvorschläge. Und bleiben Sie ehrlich! Rechnen Sie denen vor, an wen Sie wie viel zu zahlen haben. Es nützt Ihnen überhaupt nichts, wenn Sie die Raten zu hoch ansetzen und die dann nicht bedienen können. Ich nehme mal an, dass die Gläubiger, die ich hier vorliegen habe, nicht die einzigen sind?“

„Sind Sie nicht“, sagte ich.

„Wie viele sind es denn insgesamt?“

„Keine Ahnung.“

„Bringen Sie das in Erfahrung.“

„Ja“, sagte ich mit Blick auf den Schreibtisch. Dann sah ich Hammer direkt an. „Und was mach ich jetzt?“

„Ich brauche auf jeden Fall eine Anzahlung von Ihnen. Irgendetwas, damit ich die 12 hier ruhigstellen kann.“

„Aber ich arbeite gerade mal ne Woche bei dem PAKETDIENST. Ich muss noch drei Wochen warten, bis das erste Geld kommt.“

Wieder drapierte er seinen Oberkörper auf dem Tisch. Vergrub das Gesicht tief in den Händen. Dann sah er auf und mich erheblich länger an als zuvor. Seine Finger drehten leise knisternd kleine Zöpfe in seinen Bart. „Sind Sie zurzeit irgendwo gemeldet?“, fragte er.

„Nein.“

„Dann belassen Sie es in den nächsten drei Wochen dabei.“ Er schloss meine Akte. Zog eine Schublade auf und warf sie hinein. „Sie waren heute nicht hier. Wenn Sie Ihren Lohn haben, kommen Sie wieder.“

Der Tremor wich aus meinen Füßen, als hätte jemand den Schalter gefunden und auf Off gestellt.

„Danke“, sagte ich. Stand auf.

„Und, Herr Zerbolesch?“

„Ja?“

„Halten Sie sich von Personenkontrollen fern.“

„Danke“, wiederholte ich. Und ging.