Buchcover

Nataly von Eschstruth

In Ungnade

I.

Roman

Mit Illustrationen von C. H. Küchler

Saga

I.

Und tief an der Verzweiflung letztem Strande,

Führt er dem Herzen das Verwandte zu

Und trägt die Liebe siegend in das Leben!

Körner.

Wusste der Novembersturm, wie es in dem Herzen des Mannes aussah, der auf den Knien neben der Bahre des Bruders lag, — stumm und regungslos, selber einem Toten gleich? — Er musste es wissen, warum hätte er sonst mit gellendem Schmerzensschrei an dem morschen Balkenwerk des alten Kasernenfensters gerüttelt, gleichsam, als wolle er sagen: „Ich weiss, was du verlorst, ich weiss, was diese Stunde dir kostet, und darum graust es mich, wenn ich in dein starres Antlitz sehe, das nicht weinen und klagen kann, das bei dem Anblick des Dahingeschiedenen selber in dem Todeskampf eines tausendfachen Sterbens ringt! — Lass mich schluchzen und aufschreien für dich! — Lass mich weinen und seufzen, lass mich voll wilden Trotzes die Erde und alles, was darauf ist, packen und schütteln mit knirschendem Rachefluch, denn du selber kannst es nicht, — das Schicksal hat dich hernieder geschmettert, dass du betäubt und kraftlos an dieser Bahre liegst, — gleich einem Sterbenden neben dem Toten!“

Huh, wie es sauste und in den Lüften tobte! Und dann ein leises Wimmern vor den kleinen gebrechlichen Fensterscheiben, ein Tropfen und Rieseln, als ob bleiche Geister ihr Angesicht dagegen pressten, zu weinen um das junge Menschenbild, welches da drinnen so bleich und kühl auf den Kissen lag, als sei all sein jahrelang glückstrahlend und sorgenlos Leben nur ein Traum gewesen. Auf der hölzernen Bahre, so, wie man ihn aus dem nahen Garten hinter dem grauen Palais hierher getragen, lag der jüngste Offizier des Garde-Grenadier-Regimentes — Ortwin von Dahlen. Der Waffenrock war über der Brust geöffnet, die wachsbleichen Hände lagen gefaltet auf der wollenen Decke, welche man bei dem Transport über den Toten gebreitet. Ernst, still und farblos ruhte das sonst so frische, rosige Gesicht, dessen lachende Kinderaugen sich nun für ewig geschlossen; wie ein letzter Seufzer trotzigen Herzeleids schwebte es um die vollen Lippen unter dem blonden Schnurrbartflaum. — Ein liebes, junges, so gar junges Angesicht, hinter dessen Stirn noch ein ganzes Paradies voll seliger Hoffnung und Lebensfreude schlummern musste, und doch hatte die mörderische Kugel den Weg zu ihr gefunden, allem — allem ein Ende zu machen.

Das war eine einzige grauenvolle, blutrote Rose, welche dieser junge Lebensbaum getragen.

Reich, hübsch, vornehm, gesund, — ein Liebling aller, die ihn kannten, ein Schosskind des Glückes, und doch hob sich die Hand des Jünglings, all diese köstlichen Erdengüter von sich zu werfen, in einer Anwandlung unbegreiflicher Schwäche sich selber auf dem Opferstein der Verblendung hinzumorden!

Was konnte diese unselige That veranlasst haben? Hatte er Schulden? Nein! Davon hätte der Bruder, vor welchem der Erschossene nie ein Geheimnis gehabt, gewusst, und ausserdem war Ortwin ein reicher, unabhängiger Mensch, jeden Augenblick in der Lage, selbst sehr hohen Anforderungen gerecht zu werden. Waren ihm in dienstlicher Beziehung Unannehmlichkeiten bereitet? Nein! Die Bestürzung im Regiment war zu gross, die Trauer um den allgemein beliebten Kameraden zu ehrlich und aufrichtig, als dass sie einem Mann gelten konnte, welcher genötigt war, seine befleckte Ehre mit Blut rein zu waschen. Der Bruder des Verewigten presste das Antlitz laut aufstöhnend in die Hände. Die letzten Zeilen, welche ihm des Lieblings Lebewohl gebracht, lauteten: „Ich sterbe freiwillig, Aurel, weil ich das Leben, das grausam vergiftete, nicht mehr ertragen kann!“ Die letzten Worte eines Sterbenden lügen nicht; Ortwin hat dem Bruder nie im Leben eine Unwahrheit gesagt, wie sollte er es angesichts des Todes? Nein, er belog ihn nicht, aber er sagte ihm auch nicht die Wahrheit, er ging den letzten, schweren Gang mit herb geschlossenen Lippen, er riss nicht voll leidenschaftlichen Zornes die Schleier entzwei, welche sich ewig verhüllend vor das so blutig endende Drama seines Lebens senkten. — Er schwieg! Aber gerade dieses Schweigen war dem Bruder gegenüber die furchtbarste Beredsamkeit.

Ortwin würde ihm in jeder Lebenslage rückhaltlos seine Feinde genannt, sie ihm zur Rache überantwortet haben, sein Zorn würde sich in tausend Worten Luft gemacht haben, die Vergifter seines jungen Daseins zu brandmarken, auf ein Weib aber warf er keinen Stein, selbst dann nicht, wenn sie ihn in den Tod getrieben durch ein falsch und grausam Spiel. Der junge Dahlen war der Sprosse eines edlen, ritterlichen Geschlechtes, welches im Dienst der Frauen Schild und Schwert zu stolzem Sieg getragen, welches im Dienst der Frauen ohne Klage oder Rachegelüst manch bitteren Becher bis zur Hefe geleert. — War es ein Märchen, welches die alte Familiengeschichte der Dahlens wie in schlichter Selbstverständlichkeit vom Ahnherrn zum Enkel weiter erzählte? Jene Geschichte des Junker Kunibert von Dahlen, welcher des Kaisers Karl Tochter Emma voll treuer Ritterlichkeit liebte. Er war es, welcher der Geliebten die Flucht mit Eginhardt ermöglichte; er presste die Hand auf sein blutend Herz und griff zum Schwert, den Fliehenden ein Schutz und Wehr zu sein. Ihn hatte Emma geliebt, bevor sie den andern kannte, wandte sich treulos ab von ihm und gab ihn der Verzweiflung preis; der Junker Kunibert aber warf sich aufs Ross und folgte dem geliebten Weib durch Nacht und Wind, bereit zu sein, falls sie Hilfe brauche. Im Tann klirrte es von Schild und Speer; des Kaisers Mannen erreichten den Edeln, überwältigten ihn und verlangten von ihm zu wissen, wohin sich der Entführer und sein Lieb gewandt. Der Ritter kannte die Köhlerklause, welche die Liebenden barg, aber er hob nur voll stolzer Furchtlosigkeit das Haupt und antwortete angesichts des sicheren Todes: „Bin ich ein Schandbub, der ein Weib verrät?!“

Da wurden seine Lippen für ewig stumm.

„Bin ich ein Schandbub, der ein Weib verrät?“ schwebte dieser Hauch nicht auch um die trotzig geschweiften Lippen des späten Nachkommen, welcher um eines Weibes willen mit durchschossenem Haupt hier auf der Bahre lag? Um eines Weibes willen! Aurel hob jählings das Angesicht, seine schlaff niederhängenden Hände ballten sich, und ein Laut, rauh und heiser, wie zischendes Aufstöhnen entrang sich seiner Brust. Nein, Ortwin hatte die Verruchte, welche sein Leben vergiftet, nicht wie ein Schandbub verraten, aber sein Bruder verstand auch ohne Laut und Zeichen, welch eine qualvolle Anklage auf dem blassen, herbgeschlossenen Munde schwebte! Kein Wort, kein Buchstabe hat ihm den Namen der Unseligen genannt, aber Aurel wird sie suchen und finden, er wird mit ihr abrechnen über diese Stunde, er wird rächen, was sie an dem Toten und an ihm verschuldet hat!

An ihm! Ja, auch an ihm! Die Kugel, welche dieses jugendfrohe Haupt zum Staub hernieder gerissen, hat den Stiefbruder Aurel reich gemacht an Hab und Gut, aber an allem Glück, an aller Lebensfreude ist er durch sie zum Bettler geworden. Was ist ihm auf der Welt geblieben, seit sich diese lachenden Augen für ewig geschlossen, was mag ihm, dem ernsten, einsamen Mann noch sein freudlos Dasein erhellen, seit der Sonnenschein seines Lebens, seit Ortwin von ihm gegangen ist, um nie mehr wiederzukehren?

Wie ein Krampf schüttelt es die Glieder des Offiziers, welcher einsam an der Bahre des Bruders die Totenwacht hält. Als ihn die furchtbare Nachricht an das Lager des „Schwererkrankten“ gerufen, da war es ihm wie ein eisiges Grauen durch Mark und Bein gegangen, da hatte der Gedanke „nicht zu einem Schwerkranken, sondern zu einem Toten ruft man mich“ ihm wie ein zweischneidig Schwert ins Herz geschnitten!

Er hatte nicht sprechen, nicht vermuten, nicht in Worten seinem gepressten Herzen Luft machen können, er war wie ein Mondsüchtiger, blass und starr, dahin gewankt, seinen Urlaub zu erbitten. Und während ihn der Schnellzug von seiner Garnison zur Residenz trug, sass er stumm und regungslos, das fahle Angesicht tief geneigt, die Hände ineinander geschlungen, den glanzlosen Blick geradeaus gerichtet. Wie Feuergarben entsprühte es der Lokomotive, ein rotes Rauchgewölk stieg auf und ging auf Sturmesschwingen über dem nächtlichen Zuge her, wie einst Gott in der Feuersäule vor seinem Volk durch die Wüste ging. Durch eine Wüste! Ja, auch vor Aurels geistigem Blick dehnte sich das Leben nunmehr als ein trostloses Wüstenland, bar jeder Blüte, jeder Frucht, denn den Zweig, welchen es einzig getragen, hatte ein Wetterstrahl geknickt! Führte Gott auch ihn in solch ödes Sandfeld des Elends? Gott, derselbe Gott, der es doch wusste, dass er ihm mit dem Bruder alles nahm?!

Aurels Zähne knirschen zusammen; es überkommt ihn wie dumpfe Verzweiflung.

Nicht der Herrgott, der gütige, allbarmherzige geht vor ihm her in der Feuersäule, das ist Höllenlicht, welches seine glühenden Flocken im nächtigen Dunkel vorüber wirbelt, das ist ein grelles, verfluchtes Blendwerk des Satans, denn es geleitet ihn nicht zu einem Schwerkranken, bald wieder Genesenden, sondern zu einem Toten, der da Hand an sich selbst gelegt hatte.

Und in diesem Feuerreigen tanzen etliche Stellen aus Ortwins letzten Briefen durch die Gedanken des jungen Offiziers. Sie schildern ein Paradies voll Blütenduft und zauberischer Schöne, ein Leben voll Wonne, Reiz und Entzücken, aber mitten durch die Rosen und Saitenklänge zischt und ringelt sich schillernd ein Schlangenleib. Wo wäre auch ein Paradies, daraus nicht das Weib den Menschen vertreibt, jetzt wie ehedem! Ein Aufglühen geht durch das düstere Auge Aurels, da er jenes Weibes gedenkt! Wer mag sie sein? Wo wird er sie suchen müssen? Hoch droben unter den Sternen der Gesellschaft, oder tief drunten in Nacht und Sumpf, wo die Luft für jeden verpestet ist, der so streng, so unerbittlich hart über die Weiber urteilt, wie Aurel.

Ach, dass er seine Hände über den Liebling hätte halten können, wie die vielen, langen Jahre, da er ihm Bruder, Vater und Mutter zugleich sein musste! Sie haben ihn losgerissen von ihm wie das Blatt vom festen Stamm, — da fasste es ein Sturmwind und trieb’s zum Abgrund.

Aurel Heusch von Buchfeld hat nicht die Hände gerungen, als ihm die Nachricht über den schwer erkrankten Stiefbruder geworden, er hat auch keine Worte und Thränen gehabt, als ihn Ärzte und Kameraden mit umflortem Blick zu der Totenbahre geführt. Er hat nur leise vor sich hingenickt mit fahlem Angesicht und hat die Hände gegen die Schläfen gepresst, als träfe auch ihn in diesem Augenblick die mörderische Kugel. Und dann ist er langsam neben der letzten Lagerstatt des Lieblings in die Knie gesunken und hat die geschlossenen Augen und die Stirn auf des Entschlafenen kalte Hände gepresst.

Man hat ihn allein gelassen.

Die Uhr singt ihr einförmig, melancholisches Lied. — Vor kurzer Zeit noch ist jede Pendelschwingung ein Atemzug gewesen, des Lebens seligste Psalmen zu jubeln, oft mit den erwartungsvollen, sehnsüchtigen Kinderaugen Ortwins angeschaut. „Flieg’ schneller, o Zeit, und lass mich nicht so lang auf mein Glück warten!“

Da schlug sie ihm manch frohe Stunde mit ihrem silberhellen Klang — und heute ist ihre Stimme leise und verschleiert, als sänge sie durch Thränen ein todestraurig Schlummerlied.

Der einsame Mann an der Totenbahre aber hat die Gegenwart vergessen, seine Gedanken irren weit zurück, hin zu der fernen Jugendzeit, da er zum erstenmal diese kühlen, starren Hände lebenswarm in den seinen fühlte, herzliebe, unbegreiflich kleine Kinderhändchen, die sich um seinen Finger klammerten, als empfänden sie es instinktiv, dass des Bruders kraftvolle Rechte einst ihre Stütze und ihr Halt für’s Leben sein würde!

Die Fenster des alten Kasernenbaues schliessen schlecht. Eiskörner schlagen prickelnd gegen die Scheiben, und der Wind, welcher sie treibt, lässt die Kerzenflammen zu Häupten des Verblichenen flackern. Sie beleuchten das Angesicht Aurels, welcher sich langsam aufgerichtet und auf die Bahre gesetzt hat, mechanisch die Hand des Lieblings zu fassen, wie so oft im Leben, wenn er am Bettchen des Kindes oder später am Lager des erkrankten Jünglings gesessen, seinen Traum zu behüten.

Er sieht den Toten nicht an — sein Blick ist starr auf das Kruzifix zwischen den beiden Leuchtern gerichtet. Wundersam, wie verschiedenartig sind diese beiden Stiefbrüder, und dennoch — wie erschreckend fast ist ihre Ähnlichkeit. Wenn man an Spukgestalten glaubt, so möchte man wohl denken: des Selbstmörders Geist fand keine Ruhe, er ist zurückgekehrt und an seinen Leichnam gebannt!

Dieselben Gesichtszüge wie Ortwin trug auch Aurel. Was aber bei dem jungen Bruder rosig, kindlich weich und blühend erschien, das war in des Älteren Angesicht bleich und hager, schärfer und schattenreicher. Seine Augen waren nicht blau, sondern dunkel und tiefliegend, ihr Blick ernst, beinahe düster, nicht strahlend und lachend, sondern voll leidenschaftlicher Glut. Auch seine Haare erschienen dunkel gegen Ortwins goldblonden Scheitel, und so verschiedenartig die beiden Männerköpfe an und für sich waren, so frappierend wirkte dennoch ihre Ähnlichkeit auf den ersten Blick.

Ortwin besass ein liebes, treuherziges Knabengesicht, das Antlitz des Bruders aber schmückte einen fesselnd geistvollen Männerkopf und repräsentierte einen Typus, dessen bleiches Aussehen im Verein mit sprühendem Blick unbeschreiblich interessant macht und nie seine Wirkung auf sensible Frauengemüter verfehlt.

Aurel hatte niemals die Rolle eines solch gefährlichen Salonhelden gespielt oder spielen wollen. Sein Aussehen war ihm so gleichgültig wie all die Frauen und Mädchen, welche darüber urteilten. Er besuchte keine Gesellschaften, er war ein stiller, in sich gekehrter Charakter, welchem das moderne Leben auf Parkett und Turf zuwider war, ein Streber, welcher Tag und Nacht über seinen Büchern sass und um einer klassischen Vergangenheit willen die amüsanteste und pikanteste Gegenwart vergass.

Er hatte niemals Eroberungen machen wollen, er hatte niemals mit Bewusstsein einer Dame eine Artigkeit gesagt; sein Wesen war so schroff und unzugänglich im geselligen Verkehr, wie er im Dienst und im Kreise der Kameraden liebenswürdig und geistvoll anregend war. Dennoch nannten ihn auch seine Regimentsgenossen einen wunderlichen Heiligen, dessen gleichgültig kühles Wesen nur die Lavakruste über glühendem, wühlendem Kraterfeuer sei. Oft brach eine ungezügelte Rücksichtslosigkeit, eine Hartnäckigkeit im Verfolgen seiner Ziele, über Leichen gehend, durch die Glasur seiner äusseren gesellschaftlichen Formen, dass sie dem Beobachter wie die Blitze des Wetterleuchtens dünken mussten, welches drohenden Sturm und Donnerschlag verkündet.

Aurel Heusch von Buchfeld galt für einen Pessimisten, für einen Greis mit braunem Haar, welchem die Welt zuwider geworden war, ehe er sie kennen gelernt.

Wie aber soll ein Baum Blüte und Frucht tragen, wenn von seinem ersten Ersprossen und Aufkeimen an nur Rauhreif, Frost und sonnenloser Winterhimmel seine Ammen gewesen? Da war unaufhörlich Gift in das junge Menschenherz geträufelt, und es hatte sich in bitterer Qual dagegen gewehrt wie gegen sein Verderben! Aber es fielen stets neue Tropfen Wermut auf die frischen Wunden, die ätzten und frassen das Gold des Glaubens und des Vertrauens an, wie Rost. — Da blieb nichts als erloschener Glanz.

Eine freudlose, liebearme und öde Kindheit und Jugend lagen hinter dem jungen Offizier. Wie graue Schattenbilder ziehen die fernen, längst vergangenen Tage in der Erinnerung an ihm vorüber, als er auf der Totenbahre neben seinem Liebling sitzt, dessen schauerlich kalte Hand nicht wieder erwarmen will. Die Frauengestalten, welche bisher seinen Lebensweg gekreuzt, sind die Schatten, welche düster und unheilvoll darauf gefallen. Seine erste Erinnerung ist eine mürrische alte Frau, welche ihn schlug und schalt, gleichviel ob er artig gewesen oder sie erzürnt hatte. Sie war immer erzürnt und zankte sich mit den andern Mägden, dass dem lauschenden Kind das Herz erzitterte vor Furcht und Entsetzen. Diese Frau mit der mitleidslos harten, stets strafenden und niemals liebkosenden Hand hatte er lange Zeit für seine Mutter gehalten, und er that es darum, weil in den gräulichen Märchen, welche ihm die rothaarige Kammerjungfer erzählte, um ihn in fieberhafte Träume zu ängstigen, die Stiefmütter ihre Kinder hungern und frieren liessen, sie prügelten und schlachteten. — Er hungerte und fror oft, wenn er ungeschickt war und seine Milchtasse umwarf, oder wenn seine verwahrloste Kleidung ihm von dem Körperchen fiel, aber er fürchtete sich vor den zornigen Augen der alten Mutter und schwieg.

Sie war aber nicht seine Mutter. Eines Tages sagte man ihm: „Heute kommt die Mama von den Reisen zurück, sie war weit, weit fort, zwei Jahre lang in einem Land, wo es keinen Winter giebt.“

„Warum war sie fort?“ flüsterte er mit hochklopfendem kleinen Herzen, und die Freude, dass die garstige, böse Christiane nicht seine Mutter war, trieb ihm alles Blut in die hageren, blassen Wänglein.

„Weil sie sich in Italien als Witwe besser amüsieren konnte!“ brummte die Wärterin mit hässlichem Grinsen, und dann zog sie ihm sehr schöne Kleidchen an und sagte: „Wenn dich die Mama fragt, ob wir alle gut zu dir waren, dir immer schönes Essen und Spielzeug gaben, dann sagst du: ja! Hörst du? Sonst schlage ich dich in der Nacht, wenn wir allein sind!“

Eisiger Schauder ging durch des Kindes Körperchen, aber er vergass seine Angst in der freudigen Erwartung seiner Mama. Gehorchen aber wollte er der Christiane — sonst hätte sie ihn ja umgebracht wie die böse Hexe das arme Hänsel und Gretel! — Ach, was hätte er darum gegeben, wenn er diese beiden aus dem Zauberhäuschen hätte erretten können, aber Christiane erzählte gar schauerlich von ihrem Tod.

Seine Mutter kam. — Wie war sie so schön, als sie sich über ihn neigte und ihn küsste! Sein Herzchen zitterte vor Entzücken, und er breitete ihr mit lautem Jubel die Arme entgegen und jauchzte: „Mama!“

„Pfui, was hast du für schmutzige Hände!“ Und die schöne Mama mit den langen Lockenhaaren und dem rosigen Gesicht stiess ihn voll Entrüstung zurück. „Nicht einmal gewaschen ist das Kind, Frau Roland! Das ist ja empörend — ich werde Sie aus meinem Dienst entlassen! Gehen Sie und kommen Sie mir mit Aurel nicht eher wieder unter die Augen, als bis der kleine Schelm salonfähig ist!“

Wie böse und schrill ihre Stimme klang! Aber Christiane machte wunderbarerweise ein sehr gutes Gesicht und bat um Vergebung: „Das Kind sei so schrecklich wild und ungezogen, kaum frisch angekleidet, beschmutze es sich sofort.“ — Und dann ging sie mit ihm.

Als sie allein waren, schlug sie ihn. Und er weinte bittere, bittere Thränen.

„Sie ist genau noch derselbe bitterböse Teufel, wie vormals!“ tobte die Kammerjungfer, als sie nach kurzer Zeit mit dunkelrotem Kopf hereingestampft kam, und dann sagten die beiden Frauen viel böse Dinge über seine schöne Mama. — Er ballte trotzig die kleinen Hände und nahm sich vor, ihr alles wiederzusagen, sowie er sie wiedersehen würde. Aber er sah sie lange nicht, und als er zu ihr geführt wurde, stand sie vor dem Spiegel und hatte ein goldenes Kleid an wie die Fee im Märchenbuch. Sie nickte ihm zu und strich flüchtig mit der Hand über sein Köpfchen; sie wollte auch zu ihm sprechen, der Diener aber brachte gerade einen grossen Blumenstrauss und einen Brief. Da musste die Mama lesen und viel lachen, und Aurel stand vergessen in der Ecke und wagte kaum zu atmen. Aber er wartete voll Sehnsucht, dass sie ihn küssen möchte — er hätte gar zu gern einmal das wunderschöne Kleid gestreichelt — aber die Mama liess sich schnell den Mantel umgeben, schalt die Jungfer über dies und jenes und rauschte durch die Thür. Ihren kleinen Knaben hatte sie ganz und gar vergessen. Thränen traten in die Kinderaugen, und das strahlende Bild seiner Mutter erblich unter ihrem bitteren Tau.

Seine Mama! War sie es wirklich?

Es giebt wohl keinen grösseren Philosophen, als wie ein Kindesherz, keinen Philosophen der Gelehrsamkeit, sondern einen des Gefühls. Aurel war noch ein Kind, aber er fühlte und empfand es, dass seine Mutter unrecht gegen ihn handelte, er wusste, dass er grausam von ihr vernachlässigt wurde, und dass dies eine Schuld war. Sein junges, weiches Herzchen sehnte sich so instinktiv nach mütterlicher Liebe, wie eine zarte Schlingpflanze sich anklammert an den Stamm, welchen die Natur zur Stütze neben ihr erwachsen liess — sie schmiegt sich an ihn, unbewusst solchen Thuns, und sie verkümmert, wenn rauhe Stürme sie abreissen und zu Boden werfen.

Den ganzen Tag über freute sich Aurel auf den Augenblick, wo er seine schöne, strahlend gekleidete Mama sehen durfte, und wenn er ihr schüchtern entgegentrat, wehte es ihm wie Schneeluft aus den glänzenden Atlasfalten entgegen, zog ein Frösteln durch Mark und Bein, wenn sie ihn mit den meist sehr ärgerlich blickenden Augen einen Moment ansah, als wolle sie sagen: „Mon dieu, auch das noch! Ich bin eilig genug!“ Und sie griff hastig in eine Bonbonniere und warf ihm eine Hand voll Konfekt auf den nächsten Sessel. „Komm und iss, Baby, aber sei artig und störe mich nicht!“

Seine Kehle war wie zugeschnürt, er konnte nicht essen, er stand und sah auf seine Mutter, seine oft so böse, masslos heftige Mutter.

Er war so allein, immer so allein, und sein Herz krampfte sich zusammen und ward hart und erbittert.

Immer älter ward er, und je sehender seine Augen wurden, desto finsterer blickten sie darein. Da lernte er den Leichtsinn der schönen, modernen Weiber kennen, und wenn er eine Zeitlang an den Portieren der strahlend erleuchteten Salons gestanden, die frivolen Worte gehört hatte, mit welchen seine Mutter sich selber die Achtung ihres Sohnes nahm, dann biss er die Zähne zusammen und schritt in sein stilles Stübchen zurück, bei den Lehrbüchern zu vergessen, dass Lieb und Treue nur uraltmodische Märchen seien! Und dann kam eine Zeit, wo es die schöne Witwe amüsierte, sich ihren heranwachsenden Sohn zum ersten Verehrer heranzubilden. Sie sprach mit ihm über ihre Verlobung, ihre Ehe mit seinem Vater und lehnte sich lachend in den Sessel zurück, zerpflückte die Rose mit graziösen Händchen und versicherte ihm in einer Weise, in welcher man wohl sonst über das Wetter spricht, dass sie den Verstorbenen nie geliebt!

Da knirschten des Knaben Zähne, und er liebte seinen armen, betrogenen Vater, von welchem er nie zuvor gehört; zwischen ihn und die Sprecherin aber riss sich eine Kluft, welche breiter und breiter ward, so breit, dass sie nichts auf der Welt überbrücken konnte! Ja, sein Vater war gestorben, während sein schönes Weib auf dem Maskenball als Odaliske Triumphe feierte, und doch hatten ihr die Ärzte gesagt, es gehe in dieser Nacht zu Ende.

Und als Aurel zwischen Tod und Leben im Fieber lag, liess ihn die Mutter in ein Krankenhaus bringen und reiste der eignen Erholung wegen nach Ostende. Ihr mürrischer, pedantischer und unliebenswürdiger Sohn war ihr von Tag zu Tag unsympathischer geworden. Allein und verlassen in den Händen liebloser Pflegerinnen lag er, und die Thränen bitterer, herber Resignation rollten über seine bleichen Wangen. Er liebte niemand und ward von niemand geliebt. „Und wenn die Welt voll Teufel wär’!“

Ja, sie war voll Teufel, und diese Teufel waren die Weiber!