Nagel & Kimche E-Book

 

 

HERMANN BURGER WERKE IN ACHT BÄNDEN

 

 

Band 1

Gedichte

Verstreute Gedichte (ab 1963)

RAUCHSIGNALE (1967)

KINDERGEDICHTE (um 1975)

KIRCHBERGER IDYLLEN (1980)

Nachwort: Harald Hartung

 

 

Band 2

Erzählungen I

KURZGEFASSTER LEBENSLAUF

und andere frühe Prosa (ab 1963)

BORK (1970)

DIABELLI (1979)

Parerga

Nachwort: Beatrice von Matt

 

 

Band 3

Erzählungen II

BLANKENBURG (1986)

UNGLAUBLICHE GESCHICHTEN

und andere späte Prosa (1987–1988)

DER SCHUSS AUF DIE KANZEL (1988)

Parerga

Nachwort: Ruth Schweikert

 

 

Band 4

Romane I

SCHILTEN: SCHULBERICHT ZUHANDEN DER

INSPEKTORENKONFERENZ (1976)

Parergon

Nachwort: Remo H. Largo

 

 

Band 5

Romane II

DIE KÜNSTLICHE MUTTER (1982)

Parerga

Nachwort: Dieter Bachmann

 

 

Band 6

Romane III

BRENNER 1: BRUNSLEBEN (1989)

BRENNER 2: MENZENMANG (Kapitel 1–7; 1992)

Parerga

Nachwort: Kaspar Villiger

 

 

Band 7

Sammelbände

EIN MANN AUS WÖRTERN (1983)

ALS AUTOR AUF DER STÖR (1987)

Nachwort: Karl Wagner

 

 

Band 8

Poetik & Traktat

Essays und Preis-Reden (ab 1970)

DIE ALLMÄHLICHE VERFERTIGUNG DER IDEE BEIM

SCHREIBEN: FRANKFURTER POETIK-VORLESUNG (1986)

TRACTATUS LOGICO-SUICIDALIS:

ÜBER DIE SELBSTTÖTUNG (1988)

Herausgeberbericht

Zeittafel Hermann Burger

Fragebogen

Nachwort: Ulrich Horstmann

 

Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch

 

den Kanton Aargau

 

 

 

sowie der Unterstützung durch

 

die UBS Kulturstiftung

 

die STEO-Stiftung Zürich

 

die Stadt Zürich Kultur

 

den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs

 

 

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

ISBN Sammelband: 978-3-312-00611-3

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

 

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

 

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

Nagel & Kimche E-Book

 

Hermann Burger

WERKE IN ACHT BÄNDEN

 

Herausgegeben von

Simon Zumsteg

 

 

Erster Band

Gedichte

 

Hermann Burger

 

RAUCHSIGNALE

 

KINDERGEDICHTE

 

KIRCHBERGER IDYLLEN

 

Gedichte

 

Mit einem Nachwort von

Harald Hartung

 

Nagel & Kimche

 

Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch

 

den Kanton Aargau

 

 

 

sowie der Unterstützung durch

 

die UBS Kulturstiftung

 

die STEO-Stiftung Zürich

 

die Stadt Zürich Kultur

 

den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs

 

 

© 2014 Nagel & Kimche

im Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Stefanie Schelleis, München

Porträtfoto Hermann Burger: um 1967, Schweizerisches Literaturarchiv (Bern). Foto: privat

Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann

ISBN Band 1: 978-3-312-00612-0

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

 

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

 

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALTSVERZEICHNIS

FRÜHE GEDICHTE

 

Spät   Geliebtes Land

Früher Sonntagnachmittag   Einkehr

Gong   Erntegewitter

Sanduhr   Das erste Wort

 

 

RAUCHSIGNALE: Gedichte

 

I

Der stumme Bruder   Gefangenschaft

Landschaft bei Aarau   Schwerindustrie

Undine   Spaziergänge   Reigen

Dichterin   Malven   Abend vor dem Dorf

Baum I und II   Scherben und Glück

Herzlose Asse   Eiszeit

 

II

Mit dem Herbst zu Gast   Worte

An einem Streichholz entfacht   Drachen im Herbst   Schlüsselkinder   Erinnerung   Landschaft im Winter   Jahres-Markt   Flamants roses   Sommerengel   Begegnung

Rapunzel   Balance

 

III

Marmorera   Tithonien

Frühling   Runenschrift   Phlox

Landschaft am See   Glück   Venise

Kreuzsonate   Drüben   Spätnovemberliches

Wohnraum   Nebelgeliebte · Schmerz

 

 

KINDERGEDICHTE

 

Beim Betrachten einer ländlichen Idylle aus den Münchener Bilderbogen   Das alte Karussell

Turm-Wilhelm

 

 

KIRCHBERGER IDYLLEN

 

1. DUODEZHEFT

Studierstube   Nüsperli-Linde   Sophoren beim Eingang   Krähen   Erdbestattung

Auf dem Turm   Baumgarten   Gipsreibi

Erster August   Hortensien

 

2. DUODEZHEFT

Pfarrhaus-Estrich   Eidgenössischer Oberst

Chriesbaum beim Friedhof   Brunnen

Totengräber-Werkstatt   Turmhahn   Das Tälchen   Schellenbrücke   Krankheit

Gartenhaus

 

3. DUODEZHEFT

Kohlenkeller   Koryphäen und Koniferen

Clematis   Das Wurfgitter   Leichentor

Nebelkirche   Kranzdeponie   Ruine Horen

Silvesternacht    Waldterrasse

 

4. DUODEZHEFT

Bullaugen-Abort   Heldengräber

Studierzimmer-Birke    Wigger   Friedhof im Winter    Hochzeit   Sandplatz

Papiermühle   Feierabend im Sommer

Diesseits und jenseits der Mauer

 

 

NACHGELASSENE KIRCHBERGER IDYLLEN

 

Archiv   Gartensaal   Kanzelaufstieg

Abendmahls-Diener   Abdankung

 

 

VERSTREUTE GEDICHTE

 

An alle Linksextremisten

Der Wasserfall von Badgastein

 

 

ANHANG

 

Editorische Notizen

Nachwort von Harald Hartung

Alphabetisches Register der Gedichttitel

 

 

 

 

 

FRÜHE GEDICHTE

SPÄT

Spät im Oktober,

Wenn die primären Tage vorbei sind,

Und abends sich die Wälder

In graue Nebelkulissen stufen –

Wenn die leeren Gehäuse der Züge

Ausfahren

Mit frühen Stirnlichtern besteckt –

Wenn die erleuchteten Schaufenster

Wie Silberplomben

Im Weichbild der Stadt sitzen,

Riecht es da nicht schon

Nach Schnee und älteren Gestirnen?

GELIEBTES LAND

Geliebtes Land, deine Burgen altern.

Im Turmsaal über der Stadt

verschwistern die Stunden

zu grauen Gespinsten;

es wimmelt von Asseln und Faltern.

 

Von der Wand

fällt das Lorbeerblatt in den Schrein.

Die Erinnerung verwelkt,

orangensüßer Duft entschwindet

mit dem Rauch in der Dämmerung.

 

Durch die Tore ziehen Sagen ein.

FRÜHER SONNTAGNACHMITTAG

Die Welt ist weiß

und vom Nebel durchbissen.

Die grauen Wälder mit ihren

Reif besetzten Orgelstämmen

bewachen das Schweigen.

Aus entlegenen Dörfern

schicken die Kirchen

den bronzenen Klangfuß übers Land.

Figurengruppen bewegen sich

am Eisweiher vorbei

auf dem gelben Band der Straße.

Friedvoll bäuerliches Spiel

dem Tale zu.

EINKEHR

Kehrt ein in den dürren Zelten,

den Oktoberschenken, die

hoch im Winde schaukeln, kehrt ein!

Da gibt es noch einen feuchten

schwarzen Wein von tödlicher Süße,

ein berauschendes Scherbengelächter.

 

Aber unter uns höhlt das Geschrei

der Raben einen Raum längst vermorschter

Gefühle. Auf den tiefer liegenden

Äckern verherbsten die Brote zu Stein,

und in fernster Tiefe verraucht still

das stürzende Schwarzblut der Wälder.

GONG

Der Himmel aus Bronze und

aus Bronze die See, die Sonne

ein nicht lokalisierbares

Glanzlicht und der Nebel

metallische Ausdünstung.

Alles hart und gehämmert,

dass die Öltanker erträglich

werden mit den schwarzen

Rauchfahnen, die starrhalsigen

Kräne über den Werkhallen,

die Blechzigarren in der Luft.

 

Weckt ja nicht das Lied,

das, nach Eichendorff, in allen

Dingen schläft. Ein Gewitter

grausig golden scherbender

Gongschläge müsste über uns

hereinbrechen.

ERNTEGEWITTER

Burg um Burg hast du erbaut

mit Sommern, Stirnen und Staub,

Stirnenstaub,

vor den Toren spielen Kinder Krieg im Korn,

blutig verrostet der Zinnsoldat.

 

Vergebens spielen die Kinder Krieg,

keine meiner Wunden löscht der Mohn,

schwarzer Mohn,

die Vogelscheuchen lächeln sich Kopfweh zu,

ein grüner Engel wettert am Horizont.

 

Die Vogelscheuchen gehen irr durchs Korn,

lautlos rast im Hof das Karussell,

die Orgel tief im Wahn,

die Kinder reiten wild und schreien

nach dem goldnen Ring in deiner Stirn.

 

Die Kinder schreien nach dem goldnen Ring,

lass die Burgen verrauchen im Herbst,

bitteres Rauchsignal,

in den Wolkenhallen kracht die Erztür zu,

der Engel schmerzt dich, wenn du barfuß sprichst.

 

In gelben Wolkenhallen kracht die Erztür zu,

Konfetti schneit dir vors Herz,

bunte Silben,

die Schwänin sinkt im Scherbenweiher, trink

ihr aus den Federn den blutigen Mond.

SANDUHR

Es rinnt mir aus den Augen

in deine Augen:

Sand, aus dem kein Gold gewaschen wurde.

 

Nahtlos trennt dein Schatten

sich von meinem Schatten.

Unsere Blindheit trägt kein Zeichen,

nur dies: erschlaffte Gewitter

in aufgeworfenen Armen.

 

Unaufhörlich rinnt der Sand

aus deinem Haar

in mein bodenloses Herz.

Roter Sand,

aus dem kein Gold gewaschen wurde.

DAS ERSTE WORT

Zu früh gefallen

der erste Schnee

auf jedes Wort.

Mit hohler Hand

deckst du die Flammen,

bengalischrot,

bengalischgrün.

 

Der eisig behauchte Spiegel

verzerrt den Schimmer,

und dies nur bleibt,

Mehlspeise im Wind:

zu früh gefallen

das erste Wort mit

dem ersten Schnee.

 

 

 

RAUCHSIGNALE

 

Gedichte

I

DER STUMME BRUDER

Noch muss ich einen Bruder haben,

der kommt mir entgegen

auf einer verschatteten Straße,

irgendwo in einem Sommer,

irgendwo in einem grünen Land,

ohne Sprache, nackt,

mit verdunkelten Brillengläsern

und die behaarten Arme

von Zornesgebärden erschlafft.

 

Und er erkennt mich nicht,

weil er den Verstand verlor,

als er von einer Brüstung ins

hüfthohe Gras stürzte.

 

Mein sprachloser Bruder,

du bist nicht tot.

Zieh dir ein grünes Hemd über,

lehr mich deine Sprachlosigkeit,

grins, wenn ich nicht versteh,

wir wollen schweigen zu zwein.

Aber du erkennst mich nicht.

 

Gleich mir hat dich eine fremde Mutter

mit einer Sendung von Wünschen

zur Welt geschickt,

wie einen Ochsen vor ihren Stolz gespannt

und hat dir die steinernen Rosinen

aus ihrer Krone zugeworfen.

Dein Hufschlag zermalmt

die Mühle ihres Gebets.

 

Mein Bruder, mein Gegenblut,

mir ins Fleisch geschrieben,

als wir wie eine Münze hart

in diese Welt geworfen wurden,

lag dein Gesicht unten.

Aber du bist nicht tot.

GEFANGENSCHAFT

Gefangene

sind wir im

knöchernen Verlies,

von Nacht durchtränkt,

von bitterem Vergessen

genährt und gefesselt an unsern

Mörder,

den schwarzen Schlaf.

Auf Zehenspitzen tasten

wir uns ans Gitter der Worte.

 

Draußen fällt

schneeweißes Wissen

und Schweigen über den Hügeln.

LANDSCHAFT BEI AARAU

An festlichen Julitagen

erwacht die Stadt

im leichten Fahnengewand

und spendet Schatten

auf die grünenden Straßen und Plätze.

Kanonenschüsse springen ins Land.

Der schwarze Adler knattert

über dem Blutbann im Wind.

 

Mit dem goldenen Degen,

beflaggte Stadt,

und einer weißen Rose

hast du uns geschmückt,

zu Rittern deines Glücks geschlagen.

Der Tag bekränzt sich,

die Ebenen

werden uns hinter die Flüsse tragen.

 

Später, im Herbst,

wenn alle Türen offenstehn

von den Schwellen am Anfang

bis zu den Schwellen am Ende,

stürzt ein Fahnenträger

durch die entlaubten Alleen

und zerteilt mit dem Schwert

die fallenden Hände.

 

Sein Gefolge: ein Wind

von Trommelwirbeln.

In der Ferne mischt sich

des Abends Dämmerflor

mit dem Geruch von Schwefel und Blut.

Gegen den Himmel treibt Sand.

Im Ansturm schwärzt sich

der Wolkenverband.

SCHWERINDUSTRIE

Zehn Fugen ineinanderspielen,

das Gebilde aus Stahl gießen

und tief in den Kopf hineindenken,

bis es so unverrückbar sitzt,

dass die Zahnwurzeln krachen,

es dann herumsausen lassen

ziel- und endlos in gebogenen Schächten,

selber langsam auf einer Scholle treibend,

mit dem Schädel gegen andere Schädel rennen,

ins Wachs beißen, Glas zwischen den Lippen,

gefrorenes Blaugut unter den Augen,

die Hände im Feuer waschen,

die Schlangenhaut nach außen kehren,

das ist immer der Prozess.

 

Das hauchdünn Herausgestanzte

dann zusammenfalten und dem Tanz

der Winde überlassen.

UNDINE

Undine komm,

komm und wach auf

im weißen Bett meiner Sprache,

tauch auf aus den tödlichen Wassern

und streif die Meerhaut ab.

Geh nicht zugrunde stumm wie ein Fisch,

sink nicht in dich hinein,

in dein Korallenschloss,

sprachlos und versteinert,

ist doch ein Wort noch,

das uns weiterträgt,

wenn auch ein Wort nur

im Schwarm der andern Worte,

aber weißglühender als jedes Wort

stillt’s die blaue Wunde unseres Wesens,

die der Abend aufbricht

und die nahtlose Nacht,

stillt’s den Mund,

die violetten Münder am Vulkan,

löscht’s das Feuer in der Felsburg,

dein Wort, Undine,

Wasser, das dir entströmt,

die Liebe,

komm.

SPAZIERGÄNGE

Auf Spaziergängen im Herbst,

da wird mein Vogel wach

im goldenen Käfig,

die Einsamsel, und singt

aus zerbrochener Kehle.

Ich lass sie flattern und trinken

von der Trauer in den Triften.

Wie ihr Gefieder metallisch

erglänzt und sich steift über

den gescheckten Wäldern,

über dem Lapislazuliauge des Teichs!

Im Flug streift sie kreisend

den Hügel mit trockenem Burgentrost.

In den Weilern wird ein

Knarren laut, als lösten sich

verwrackte Archen vom Tau.

Die Landschaft schifft sich ein

für eine Sturmfahrt übers braune Meer.

Schwarze Segel hissen die Tannenmasten.

 

Da stürzt meine Amsel,

zerschnitten von Horizonten

und von Fernweh getroffen,

ab über der Straße des Erlkönigs.

Stumm zieht der Nebeltross.

Die schwarz befrackten Schergen

zerhacken ihr das Gefieder,

eine Flaumspur führt zur Mördergrube.

 

Folg ihr nicht,

im Käfig wächst bald ein

anderer Vogel nach,

der sich befreit und getötet wird,

und dann ein anderer Vogel,

befreit und getötet,

immerzu dies:

befreit und

getötet.

REIGEN

Nonnen,

leichte Figuren

aus schwarzem Wachs

durchtanzen den düsteren

Hain, in den Reigen welkender

Blätter mischt sich weiches Geriesel,

Regen,

der Regen

wäscht das Wachs

ihrer Gesichter aus den

Schalen der Hauben, die schwarzen

Flammen verzückter Augen löscht der Wind.

Reigen.

Dünne Fäden

schwärzlichen Rauchs

steigen auf ins Gespinst

der Äste. Reigen faulender Blätter

und Nonnen im Regen, im düster welkenden Hain.

DICHTERIN

Das schwere Bündel heilloser Wunden,

das dir die Schulter schnürt

und deine Fersen schändet, wirf

es nicht weg. Es könnte sein, dass tausend

ungerächte Flämmchen dir nachtanzen

und ihr Gelächter alle gangbaren Tunnel

herzwärts zerfrisst.

 

Kein Wassertropfen löscht den Schweiß

auf der Stirn, keine Träne das Salz im Blut,

und die Schleuder der Flüche hängt lahm.

 

Aber noch heute, noch eh diese mit Leitern

verstellte Nacht zu kreisen beginnt,

wird dir das Fahnentuch zugemessen,

und im leichten Faltenüberwurf ersteigst

du dieser Erde Sockelgeschoss.

MALVEN

Weich blüht wieder das Wort

und graurosa in meinem Gehirn,

Schlangen zieht es nach sich,

die aus heißen Gemäuernischen fahren,

staubige Wege

und sterbende Gartenräume.

 

Was soll ich mit Malven?

Auf meinem Schreibtisch häufen sich

herbstliche Aufträge.

In Verse schneiden,

gepuderte Malvenverse?

 

Malvenvers,

ein neues Wort,

herbarisiert schon und

geeignet für ein gebräuntes Albumblatt.

 

Weich, graurosa blüht das Wort Malven

in meinem Gehirn und vergilbt zu Versen.

Auf dem Schreibtisch häufen sich

herbstliche Aufträge.

ABEND VOR DEM DORF

So still. –

 

Das Dorf im Abendsonnenschein,

ländlich, eingefriedet von Baum- und Hügelzügen.

Mais im Vordergrund, Blaukraut,

Schüttergras und Streifen Ackers, Feuernelken.

Etwas tiefer eingesenkt: die Narbe

eines Flussbettes mit Birken,

Weidenwitwen auch. Zwischen

den Stämmen Schatten, und wo

schattenhaft sich Tieferes noch findet,

kühl, gemäuernah,

da stand die Mühle einst

vor einem Wehr …

Nun längst verrottet,

 

so still. –

 

Kirchturm, die Glocke schlägt,

einmal nur. Zimmermannsgerufe.

Auch diese Frage geht verloren.

In tief gezogene Dächer eingezargt

die Pfarrhaus-Stirnwand, weiß,

für Storchenblicke. Dann Reben,

Gelände, einer Fahne müdes Rot,

wie letzte Auszeichnung des Sommers.

 

Aber in der Nähe wird getreckt,

Nationalstraßenbau.

Und hinten auf dem Damm

das hohlhäusig tönende Gerail

eines Eilfernzuges, gedämpft

vom Rhythmus der Schienenstöße,

anschwellend, konstant, bis es

zwei Tunnelwände schlucken

und für kurze Zeit vermauern.

 

Dann still. –

 

Ein Schuss, dumpf. Viele Fenster geöffnet,

aber keins, aus dem sich abends Etüden

oder Sonaten verlieren.

Viele Giebel mit Wespenhöckern oder

Schwalbennestern, Schlafbürgen.

Auch ein Milchhaus, bei der Brücke,

sechs bis sieben offen,

oder bis halb acht. Da werden

die Münzen in Aluminiumeimern

hingetragen und gegen weiß schäumend

Warmes aus der Kanne eingetauscht.

Dann noch, einzelweise, karges Gespräch,

beim Brunnen, aufflammendes Streichholz,

davonschlurfende Schritte

und mampfende Mäuler im Stall.

 

Sonst: Stille. –

BAUM I UND II

Ein Baum steht verirrt im Nebel,

seine Gebärden sind verdorrt,

auch die läublich umarmenden,

im Astwerk hängen Birnen ungereift

und Blüten für den Wind

aus einem lieblosen Frühling.

Der Frost leiht ihm Zepter und Krone,

und die Krähen sitzen zu Gericht

in den dunklen Achselhöhlen.

 

Im Nebel steht irr ein Baum,

die verdorrten Äste starren und

umarmen ein Nichts mit bizarrer Gebärde,

geplatzte Birnen grinsen im Gras,

Windblüten säuseln frühlingslieb.

Vom rissigen Haupt fällt die Krone,

das Zepter steckt zitternd im Mark,

erschrocken kreisen die Krähen

und stürzen zu Tode auf offenem Feld.

SCHERBEN UND GLÜCK

Mit unsern Küssen

haben wir ein Land zertreten,

wo eines das andere nur

sachte bei der Hand nehmen soll,

damit nicht das Korallenleuchten

in den Fingerspitzen zerbricht.

 

Schwäne können untergehn,

und leicht verliert das Glück

seinen Silberschuh.

 

Noch funkelt dein Aug als

Glasrosette in meinem Dom,

rundum aber wächst Dunkelheit

auf schnellen Pfeilern.

HERZLOSE ASSE

Herzlos blättert

der Wind in den Assen,

das Kartenhaus treibt

auf dem zornigen Schlaf.

 

Mit den Marmeln

rollt dein Aug über

den steinernen Tisch,

ausgestochen vom Glück.

 

Die Zeit beißt

ihren Würfel entzwei,

giftig versickern die

Nächte im grünen Filz.

 

Mikado, du lachst

in deinem Wasserschach?

Nasse Asse schlafen

wachsam unterm Gras.

EISZEIT

Die Kälte nehm ich

als bittern Pelz um den Hals

und folge blind der Rentierspur,

die mich durch Eiszeiten führt,

durch Mindel und Riss über

Spalten bösen Gelächters hinweg.

 

Nebelgeweihe leuchten am Weg.

 

Noch funkelt der Goldfisch

in meiner Brust, noch

taucht und wendet er stumm.

Bald, denk ich, bald

wirst auch du erfroren sein, und

Licht trauert auf deinen Schuppen.

Licht, das sich tausendfach bricht

in den Kristallen,

die von meinem Mund fallen.

 

Dann, ihr rosa Flocken,

schneit mir das Gesicht zu

und die Herzmuschel auch.

II

MIT DEM HERBST ZU GAST

An verspäteten Gartentischen,

noch aus dem letzten Sommer,

die das Platzkonzert eines

weitländlichen Regens abnehmen,

sitzt der Herbst, ein letzter Gast,

klimpert ungeduldig mit Springpfützen

auf das rote Blech und wirft

den Rosen trübe sättigende Blicke zu.

 

Trinkt nur, trinkt das feuchte Grau,

es spiegeln sich die Schatten

schwarzer Vögel schon

(und Palmenwedel, unbewegter)

in meinem nassen flächigen Gesicht.

Trinkt! – Und du?

 

Du kannst schon gehn, zieh

deine Hand zurück. Der Sommer

bezahlt nie, der macht nur alles

schwanger und haut ab.

Sein großes Erbe, das herbe Rot,

blas es in die Bäume, misch

den Rost von Abendglocken bei

und treib den Blätterzins noch ein.

WORTE

Worte,

Steine im Brett,

fügbar zu jeder Figur,

schwarz weiß schwarz,

fügbar zu Fuge und Gitter,

zu Muster und Klang.

 

Welches Wort aber beschwört

den Schattentanz an der Wand,

schnürt das Flammenbündel im Aug,

und welches Wort lässt die

Silbertonreihe erklingen

im Unterwassergarten?

 

Worte,

Steine in der Hand,

Wasser zu treffen, Schatten und Flamme.

Graues zuckt auf, lächelnd

weiten sich Ringelblumen und Augen

im Gitter meiner Worte,

schwarz weiß auf Schweigegrund.

AN EINEM STREICHHOLZ ENTFACHT

Die Flammen feiern ein lohes

Fest im Brombeerschloss,

Zischgäste huschen aus und ein,

der Apfelbraten musiziert.

Bös züngelt eine Zipfelmütze,

der Hofnarr lacht, der Fratzenbold,

leert einen Becher Glutenwein

in seinen Feuerrachen.

Zag finden sich die Flammenspitzen

zu Ringeltanz und Kranzballett.

Schwarze Funkenpferde stieben

über Lockentreppen in den Rauch.

Ein Feuerwerk wird abgebrannt.

Raketenräder rasen, Sonnen platzen,

violett kichert der Vulkan,

ein Kratergarten tut sich auf,

Zündschnurschlangen schleichen,

und es schillert giftgrün

wie von Krötenkrallen.

Im Brombeerschloss verloht ein Fest.

Die Nacht schwingt dunkle Fahnen,

Wind wohnt in den Fensterhöhlen,

ein Mond verfault im Aschenfrack,

der Regenriese tritt die Seufzer aus.

DRACHEN IM HERBST

Noch keinen einzigen Drachen

hab ich in diesen herbstlichen Tagen

steigen sehen.

Waren die Winde zu lose?

Packig zerrten sie an unseren

plan bespannten Holzkreuzen,

die wir am Drahtspill über die Fluren zogen.

 

Der Himmel war voll

bastfarbener Schwänke.

Wachsblau, foliorote Rauten

mit Harlekinsschwänzen und Ohrenschaukeln.

 

Wenn ein lachendes Drachengesicht

spitzbogig in die Erde kurvte

und spanhölzern zerbarst,

wer dachte daran, dass so

Passagierflugzeuge stürzen!

 

Heute spannen wir bunte Fetzen

von Hoffnung übers Kreuz,

die wie Taschentücher durch den Äther fackeln.

Aber der Zwirn zerreißt,

tot sind die Gedankenfäden,

die aus riesenrunder Drachenstirn hängen,

und wir rennen

wie vergessenes Spielzeug

auf unsre Kiste zu.

SCHLÜSSELKINDER

Du und ich, wir waren Schlüsselkinder

zu einem Reich, das mit Türmen

aus dem Asphalt schoss und dessen

verwegene Pilze unter den Himmel wuchteten.

 

Du und ich.

 

Einen Strauß Glasmarmelblumen hab ich

dir gepflückt im Frühling,

als die Städte sich erwärmten,

und eine war darunter,

die von dir Erwählte,

in der es fremdgescheckt

und sulger flimmerte:

sie zeigte Helgoland.

So klein war Welt, so gläsern rein.

 

Du hast sie abgebissen,

du wusstest Glas zu schmecken.

Auf der Zunge reichtest du mir

das Eingezurrte, das saure Bisschen Herz,

und wir tauschten

die Schlüssel am Hals.

ERINNERUNG

Regen,

Regen rieselt

am Fenster,

schräge Schraffur,

die Uhr tickt,

unterm Zeiger nicken

die Ziffern ein,

und Regen,

Regen rauscht, rauscht,

ein Gesicht regt sich

in der Gischt,

naht der Scheibe,

Regengesicht mit riesliger Haut,

ein Wasserblick …

die Uhr tickt.

 

Erinnerung klopft

mit feuchtem Finger

an die Scheiben meiner Glasveranda.

 

Wir spielen unser Schach

am Nachmittag.

Rasch dunkeln die Felder ein,

auch die der hellen Tage.

Wie Schatten huschen die Figuren,

Schatten im Regen, Schatten,

knöchern und leise,

und schon neigt sie das Gesicht

zum letzten Zug:

es ist das matte Lächeln,

das mir die Krone raubt.

 

Schach, Erinnerung,

die Felder hellen auf zu Scheiben,

schräge Schraffur,

Regen rieselt,

Wasserblick zieht sich

in die Tropfen zurück,

das Gesicht verblasst,

die Uhr tickt,

weckt ihre Ziffernschar,

fett glänzen

die Blätter der Topfpflanzen.

LANDSCHAFT IM WINTER

Hart und hölzern

ist der Schlaf des Bauern,

in seiner Kammer hangen

die Pfeifen kalt an der Wand,

der Föhn fährt durch den Kamin

und raunt den Ahnen Zerrworte zu.

Hinterm Ofen nisten Angstgespenster.

 

In den Wäldern haust schon der Winter

mit seinen rauhen Gesellen,

sie ziehen den Bäumen das Fell ab.

Die Stürme brausen im Chor,

und eine fremde Frauenstimme

jodelt wild den Jägern zu

in der Wolkenpfühle.

 

Frühmorgens geht

wie ein leises Läuten ein Kind

im Reifnadelhemd durchs Land,

huscht in die Gärten,

umarmt die vergreisten Bäume

und malt mit Eisfingern

Blumen an die Fensterscheiben.

JAHRES-MARKT

In allen Ständen der Liebe, des Glücks,

der Hoffnung wird das letzte Schrot

verschossen für eine Windrose aus Papier.

 

Die Pferdchen ziehn den Honigkuchen

durch den Sand, und das Kinderlachen

hängt an blauen Ballonen in der Luft.

 

Hat die Orgel den Herbst zuendegeleiert,

sackt der ganze klingelnde Bestand

dieser Welt zu Staub zusammen, und

verbrauchte Luft bläst dir ins Gesicht.

FLAMANTS ROSES

Den grauen Himmel oben

weben meine Gedanken

dröhnend und gestochen scharf

wie eine Bomberstaffel

in Diamantformation.

 

Den blauen Himmel unten

durchrauscht mit geschundnen Flügeln

ein Schwarm Flamingos,

die Hälse nach Süden gestreckt,

ein verwirrtes Trauergeschwader.

 

Ohne dass der Vogel im Rosengefieder

vom Strahl getroffen stürzt,

muss ich immer wieder, ich muss

die Diamantvögel über die Piste jagen,

ohne dass ein Schrei die Luft entflammt.

SOMMERENGEL

Einen Kranz von Nattern im Haar,

schreitet der Sommer bleichfüßig

übers Land,

fiebert

und wirft die Tage

wie brennende Fackeln aus der Hand.

 

Für die Dauer einer kurzen

gewitterlosen Nacht schläft

er sich ein warmes Bett

ins fruchtstrotzende Korn.

Sein heißer Atem

versengt die Winde,

wenn sie am frühen Morgen

den neuen Tag entfachen.

 

Mit Beulen und Blasen erwacht

die Landschaft, zerknittert,

und erträgt den Druck

seines schweißfeuchten Körpers.

 

Bevor sie sich öffnet,

küsst der Sommer die rote Wunde des Tages,

die Sonne,

und gibt die Himmelsarena

für wütende Kämpfe frei.

BEGEGNUNG

Der gefrorene Sonnenschein

auf dem Eis, das gefrorene

Lächeln auf ihrem Gesicht

und ein gestrandetes Wrack:

die gemeinsame Vergangenheit.

 

Dann schmilzt die Sonne das

Eis in ihrem Lächeln. Aber er

denkt sich aus den Trümmern

ein Floß und stößt weit ab

aus ihrem flüssigen Gesicht.

RAPUNZEL

In goldenen Flechten

gehn dir die Waldsterne auf.

Dein Haar

ist keine Speise des Todes,

doch die Tannen sagen ja

zum Fluch der finstern Krone.

 

Harzig tropft das Gelächter

von den Marmorsäulen ins Herz.

Auf würzigem Grund,

an den Rändern des Heimwehs

brennt die Märchenwunde.

Der rote Zaunkönig donnert

durch das Wurzelschloss,

und überm Moor geistern

bleiche Asse wie Windlichter.

 

Die Nacht schlürft dein Ohr aus

bis auf den letzten Tropfen Mondblut.

In den Flechten glitzern

worttote Diademe.

Deine Speise,

deine Speise

ist das goldene Haar

an der Larve.

BALANCE

Einsamkeit,

dunkel hing sie herab,

mir als Strick um den Hals,

und wollte mich erdrosseln.

Ich packte das Tau,

zog die kalten Füße an,

ein Geläut hob mich empor.

 

So hab ich gelernt,

auf dem Seil zu gehen,

zag erst, mit Kinderschritten,

und verwundbar vom Licht,

dann mit immer weniger Gepäck,

hab allen Ballast abgeworfen,

auch die Liebe,

ein Kranz erfrorener Flügel.

 

Höher und höher geh ich

auf dünner und dünnerem Seil,

bald nur noch auf einem Silberfaden,

Sternen und Spinnweb nah,

geh ich und tanze,

dreh meine Pirouetten auf Wundspitzen,

schlag meine Metaphernräder mit

schwarz verbundenen Augen:

Salto auf Salto mortale.

 

Spring nicht zu hoch

und triff den Faden!

Unten gähnt ein Netz von Löchern.

 

Oben hält dich nur Balance,

virtuose Balance,

dies Schuppenkleid von Worten,

das dir aus den Hüften wächst und

schön erglitzert im tödlichen Licht.

III

MARMORERA

Marmorera,

Trauermeer,

aus bleiben die Gezeiten

des Glücks,

die Flaschenposten sind zerschellt,

du steuerst deinen Kahn,

das dürre Herzblatt,

der Toteninsel zu.

Kein Ankern mehr

in diesen schwarzen Wassern.

Wie die Gischthaie schnappen!

Über den Masten kreist

schon der Geier

und wirft seine Botschaft ab.

 

Wenn auch das Flammensegel

emporschnellt für

die Dauer einer Nacht,

wenn lohe Locken um

die Schläfen züngeln

und ein heißer Wind

dir durchs Gebein fährt,

du legst nicht an

am zimtenen Strand,

wo eine Muschel

in Rosaglut erblüht

und die Silberträne

auf dem Grund bewahrt,

du legst nicht an,

das Zwieland versinkt

dir unter der Hand,

und die Marmorfluten

schlagen ans Korallenriff.

 

Marmorera,

Trauermeer,

wie Glockenklang tönt’s

aus der Tiefe,

schwankend hohl.

Du steuerst deinen Kahn

mit flachen Händen.

Setz als Segel

Fleisch und Pergament,

auf dem die Nacht

zur Tintenspur gerinnt.

O spring nicht ab,

schon rückt er nah,

der Grottenmund,

mit Stalaktiten messerscharf.

Aus dem Rachen lockt

ein Flötenton so silbern leise,

und es winkt

das Rauchsignal.

TITHONIEN

Tithonien,

mennig leuchtend,

ein hellenischer Gruß aus

fernmythischer Bläue,

Lachen der Sonnenbraut,

die in eine Blutorange biss.

Wie ihre Haarfackel brennt

im Gletscherwind!

Oder Japan mit seidenen Fingern greift

über den Ozean in unsere Gartenräume.

Die Geisha nickt zur Silbergongmusik,

und die Scherben eines weißen

Porzellangesichts

fallen in den Lotosblumenteich.

Monsun, rausche nieder

in den Teehauspark!

Reis rieselt über tote Kinderhände.

 

Tithonien,

ein Japanschmerz,

ein hellenisches Lachen im

goldgrünen Gobelin unserer

herbstlichen Gärten, wo die Astern,

eingenickt beim Bienengesumse,

dunkel und helllila ihre Träume weben.

 

Feuchte Blätter fallen auf den Mund.

Im Augengelände sömmert Erinnertes dahin,

und für Sekunden stirbt die Stunde,

weicht die Bläue,

versilbert sich in deinem Ohr

der Geishaschrei.

FRÜHLING

Im Frühlingslaub quellen

eure Münder rosig auf

und tragen Lippenfrüchte.

Ein Blütenzweig wächst

aus den Innerungen himmelan,

sät Dornen in den Gaumen

und bricht den Glocken

das Genick. Ihr werdet

schwer tragen an euren Balken

über den Augenhöhlen,

in der Domwerkstatt.

RUNENSCHRIFT

Du bist die dreizehnte Rune,

meißle dich ein in die Hand,

du brichst den Stab überm Herzen,

zieh dich am Giftstachel hoch.

Du bist der Stein deiner Meilen,

wirf ihn selber nach dir,

du wächst als Gras über Narben,

suche den Holzweg zum Licht.

Du bist ein Signal der Trompete,

füll deine Trommel mit Sand,

du lachst im Zickzack der Pausen,

leih dem Schweigen dein Ohr.

Du bist eine Mitternachtsziffer,

zeige gekrümmt auf das Werk,

du suchst nach dem Kreis für die Mitte,

blättre als Rost von der Zeit.

Du bist die dreizehnte Rune

unter dem Schweigen im Sand.

PHLOX

Phlox blüht noch,

leise und blau,

Spättraum des Sommers,

Kies lächelt

im Sonnenschein,

in der Mauerecke

kauert alte Hitze,

Wind schläft im Pappellaub.

 

Herüber wehen schon

septemberne Gongschläge

wie leicht gebräunte

Atemzüge des Herbstes.

LANDSCHAFT AM SEE

Ausgeträumte Palette, Modulation

vom Grau ins Grauen.

Drüben – auch trüb alles.

Verwaschene Hügelstaffage

fernnah mit weißen Kalkflecken hof-

bildenden Gemäuers.

Baumlumpen, Isländisch Moos.

Der See: graues Gift deiner,

der Geliebten zuzutrinken,

weich.

Und der Himmel rührt sich nicht,

der alte steife Sack,

nicht mal eine Wunde von Sonne.

Wittergreis, Milzblume!

 

Nur die Geranien verharren

in ihrem grünspansüchtigen Rot,

beflecken das Seegrau

und die milde Milch

eines frühverherbsteten

zwittrigen Sonntagnachmittages.

 

Erkältungswetter.

Selbstbedienung.

 

Du, nichts Bleibendes,

Labyrinthe,

kein Ansatz, keine Wende,

ein Fragezeichen,

und das Ende nah.

 

Die Kurgäste, Sommerfrischler, alles

abgezogen, ausgestuhlt das große

Konzert dieses Sommers, Pause.

Vermisst wird ein Paukenschlag

auf das weite leere Fell

des früh ergrauten Tages, vermisst

ein Klang von Horngold

oder dunkel entsagendem Rot,

Blut, keine Tinte, nicht Geraniengepinkel.

Aber die Musikanten sind verladen,

die Instrumente eingesargt,

nur eine Flöte noch, die Liebesflöte,

wird dünn, zweibeinig

in den Wind geblasen.

GLÜCK

Mondschlei schwimmt,

der feuchte Silbermund,

die Wälder haben ihren würzigen Schlaf.

Wir aber tauchen ein ins Rosenöl

und gehen barfuß sanft

den Blütenpfad von dir zu mir.

Schmerzendes erlischt,

tritt sich die Flammenspitzen

aus im finstern Haus.

 

Tief ein in unsern Leib,

ins lichte Fleisch,

vergräbt die Nacht

den fünfgezackten Stern,

und unterm Herzensgrund,

wo blaue Rosen schauern,

liegen unsere Quellen

Mund an Mund.

VENISE

Venise, freskenhafter Traum!

Nebelschleier kriechen ans Land,

Laternengerippe verseuchen den Dunst,

und über dem Horizont verschieben

sich Schwermutsfugen ineinander.

Die Gondeln wiegeln getarnt und dichtgereiht

gegen den Kai und reiben

die hölzerne Melodie unter die Figuren.

Über die Marmortreppen hinauf

hetzen die Meerhunde ihren Schaum,

und auf den Arkaden, in den Bildersälen,

wanken die schwer vergoldeten Rahmen aus dem Lot.

Feuerfest ist das Land.

Im grünen Sprühlicht tanzen

die geköpften Säulchen untereinander vertäut

und ans Haltlose gebunden;

Worte aus Gischt fressen sich ins Gemäuer ein

und steigen den Dogen faul in den Mund:

Koseworte für die Peitschknaben und die

Wasserhuren.

Löscht die Kerzen auf dem sinkenden Scherben,

löscht, schweigt mit den Kerzen,

wächsern, wässrig,

und schon abgebunden.

KREUZSONATE

Von sömmerlichen Notenblättern,

in denen alle Kreuze fallen,

spielst du

auf vergilbten Tasten eine Sonate

in den herbstlich getäferten Raum.

Schwermut verdunkelt ihn

wie eine Dame in violettem Samt.

Du legst ihr

Klanggeschmeide um den Hals.

 

Schwarze Vögel rauschen auf,

Abschiedskadenzen im Terzenflug,

die vom Spiel erhärteten Hände

wandern wie Spinnen ins Haar,

leis tickt die Uhr und rüstet

zum Schlag von Mörderhand,

und sachte stehn die Kreuze auf

unter der entflogenen Melodie.

DRÜBEN

Drüben,

die Schreie,

rostig

aufragende Brücken,

sterben ab überm

schwarzen Fluss,

drüben,

jenseits der Grenze

von Ich und Opal,

die du barfuß in

feuchten Schmerz trittst,

drüben versinkt

eine Küste

im weißen Schlaf,

schwarzer Mohn

blüht im Nebel,

am Rosengeländer wandelt

schmal

die Engelsgestalt

deines Wahns.

Drüben,

im giftigen Lachen

versinken die Worte

und blinken wie

totes Silber herauf.

SPÄTNOVEMBERLICHES

Nun wachsen sie wieder, die

Grabsteine im Eichengarten,

unbeschriftet und nackt, mit

einer zierlichen Rundung für

jedes verstorbene Gefühl. Aus

dem dicken Laubteppich stoßen

sie hervor wie Zähne aus jungem

Fleisch, ein lose gestaffeltes

Heer, und halten die Hügel besetzt.

 

Aber aus den Kronen fallen tot

herab Hörner und Trommeln, grün

verbeultes Blech. In den Trichtern

vermodert der letzte Trauermarsch

November, den die Bäume mit

nebelgesättigten Lungen bliesen.

Nur noch der Regen weiß ein kaltes

Lied zu rieseln und die Blätter

für seine Kloaken schiffbar zu machen.

WOHNRAUM

Die Wände sind Tafeln aus Schnee

mit Wildspuren, die zur Decke führen.

Spinnen hocken in den Ecken und

weben ein Netz von haarfeinen Rissen.

 

Das Licht, bevor es durch die Luke tritt,

bündelt sich blau und zuckt als

Milchblitz herab, selten gerinnt es

zum Farbchoral eines Glasfensters.

 

Nachts erwachen die Schattenfratzen,

fliegen wie Fledermäuse davon,

Hirschgeweihe wachsen von der Decke,

Eukalyptusnebel spiralen sich ein,

 

nachts erscheinen Flammenschriften,

manchmal ein Wort nur, ein feurig

geschmiedetes, das wie ein weither

geschleuderter Dolch stecken bleibt,

und der König zerschlägt seine

steinerne Stirn im Eisspiegel.

 

Die Wände sind Tafeln aus Schnee

mit Versspuren, die zum Herzen führen.

 

‹Nebelgeliebte›. Manuskript einer Vorstufe (1965).

NEBELGELIEBTE

Im Nebel begegnest du mir,

Nebelgeliebte,

im Park zwischen schweren Bäumen,

eine Witwe unter Weiden,

die ihr schwarzes Haar zurückwirft

und lacht,

eine läubliche Gestalt im langen

Regenkleid,

über Wiesen und Kieswege streifend.

Wie du die Blumenbeete kränkst

mit feuchten Blicken!

Unter deiner beringten Hand

erstarren die Kinderschaukeln.

 

Ich ruf dich an

beim schönen Namen:

Jordibeth!

Du nickst, lüftest

wie zum Gruß den Schleier,

und ich blick in zwei tote Kastanien.

 

Schon bist du entflohn

über die Autobahn in die Stadt,

du hängst dich zwischen Hochhausfassaden,

umschwärmst die Neonreklamen,

du verliebst dich in Limousinen,

du küsst den Asphalt und die Schaufenster

von Leder- und Pelzgeschäften,

jedem Trunkenbold gibst du dich

auf der Straße,

der nach Sternbildern tastet,

herzlos bist du, kalt und käuflich,

Jordibeth,

Dirne der Einsamkeit.

SCHMERZ

Tanze mein blaues Pferd,

tanze,

schlag aus in der Brust,

bis zur Blauglut tanze,

dass die Disteln erglitzern,

und erstirb!

 

Lesbar

bleibt die Wundschrift

deiner Hufe im Schnee,

wenn sie von den Metallhufen

meiner Maschine auf anderes

Weiß überspringt,

deutlich und schön

in gültiger Wortfigur.

 

 

 

KINDERGEDICHTE

BEIM BETRACHTEN EINER LÄNDLICHEN IDYLLE
AUS DEN MÜNCHENER BILDERBOGEN

Die Sonne scheint, der Landmann pflügt,

das Kindlein weint, der Rabe fliegt,

der Bote geht, die Bäuerin lacht,

der Gockel kräht, der Hofhund wacht.

 

So zeigt das erste Bild die ländliche Idylle,

doch tauschen nun die Verben Platz in aller Stille:

 

Die Sonne pflügt, der Landmann scheint,

das Kindlein fliegt, der Rabe weint,

der Bote wacht, die Bäuerin geht,

der Gockel lacht, der Hofhund kräht.

 

Und weiter geht’s im Text mit der Verwandlung.

Doch mich entzückt die optische Behandlung

einer Gestalt, der Sonne, durch die ganze Bildserie.

Nur im Vergleich, der Frage nach dem Wie,

wird offenbar des Graphikers Genie:

 

Die Sonne mit der Glatze, wie sie Zähne zeigt und kräht,

die Sonne eilend auf der Straße, und das Röcklein weht,

die Sonne, schlank, als Dame hinterm schweren Pflug,

die Bauersfrauensonne, lachend, pausbackig und klug,

die Sonne auf dem blassen Stroh, als wollte sie kujiehnen,

das arme Söhnchen, nimmer froh, weint bitter gelbe Tränen.

 

Gemessen am synoptischen Pläsier

verblasst der Text zu Variante vier:

 

Die Sonne kräht, der Landmann weint,

das Kindlein geht, der Rabe scheint,

der Bote fliegt, die Bäuerin wacht,

der Gockel pflügt, der Hofhund lacht.

 

Die Verse, wenn auch surreal,

sind allzu hübsch manierlich

und im Vergleich zum Bild banal,

das bunt wirkt und possierlich:

 

Die Sonne steht im Hemdlein auf dem Hundehaus und kräht,

das nackte Kind auf staubiger Straße mit dem Eilbrief geht,

der Landmann sitzt, die Fäustchen in den Augen, da und weint,

der Rabe spreizt die schwarzen Flügel im Zenit und scheint,

der Bote mit dem blauen Mantel über Äcker fliegt,

der Gockel stellt den Kamm, treibt wild die Pferde an und pflügt,

die Bäuerin an der Kette kniet auf Stroh, den Hof bewacht,

dieweil der Hund die Pfoten in die Hüften stemmt und lacht.

 

An diesem Bild entzündet sich

die Kinderphantasie.

Was wäre, wenn, so frage ich

und aber, wo und wie:

 

Was wäre, wenn die kregle Sonne nun, die ohnehin vor Hitze brennt,

ihr rotes Hemd dem Botenkind ausleihen würde für den weiten Weg?

Der Landmann weint. Sieht er denn nicht, wie über ihm ein Vogel lustig scheint?

Wie geht ein Rabe auf? Wie schwarz wird er bei einer Sonnenfinsternis?

Wie kann der Bote mit den Armen fliegen und zugleich Pakete tragen?

Dem Gockel glaub’ ich nicht, dass starke Pferde sich von ihm befehlen lassen.

Die feiste Bäuerin aber, wie nur, sagt, schlüpft sie durchs enge Hundeloch?

Mein stolzer Hund, wie lange noch stehst aufrecht du auf deinen Hinterbeinen?

 

So frag ich hin, so frag ich her,

die Bilder antworten nicht mehr.

Enttäuscht ist meine Phantasie

von dieser ländlichen Serie.

Die Wut kocht auf, man ist betrogen

und – ratsch – zerreißt den Bilderbogen:

 

Die halb zerfetzte Sonne scheint, das Bein des Landmanns pflügt,

der Schranz im Bauch des Kindes weint, die Rabenfeder fliegt,

der Bote auf zwei Stummeln geht, der Kopf der Bäuerin lacht,

und eh’ der Gockel dreimal kräht, hat Ajax ausgewacht.

 

Hört die Moral von der Geschicht:

Man spiele mit Idyllen nicht!

DAS ALTE KARUSSELL

August: Auf unserm Schulhausplatz, mit Kreide vorgezeichnet,

ein Labyrinth von Budengassen in der Mittagsglut.

Da steht mein altes Karussell im Staub, die Plachen zugeknöpft.

Es dreht sich langsam wie vom Wind getrieben,

und aus dem Innern weht ein süßer Kampferduft.

 

Noch immer spring ich ab in voller Fahrt

und schlage mit der Stirn auf einen Stein.

Ich sehe Sterne und die schwarzen Haare meines Vaters

in einer Nageltrommel kreisend über mir

und rieche Gas aus einem grünlichen Ballon.

 

Ein greller Wiener-Walzer rasselt ab,

die Bälge schnaufen laut im Orgelkasten.

Der rote Schalter kippt, die Plachen blähen sich und reißen:

Von dunklen Quasten schwirren Motten auf,

Glühbirnen leuchten stumpf im Sonnenlicht.

 

Tief hängen Fahnen von Scharlach

aus dem geborstenen Himmel mit den Bildertafeln,

auf denen freche Weiber ihre Röcke heben.

Am Galgen sind die Ringe angebracht,

und auf dem Sockel faltet sich das perforierte Band.

 

Posaunen brechen aus dem Kartonleib.

Ein rostiger Falter klebt am Herz aus Türkenhonig.

Nackt in der blauen Wiege liegt die Kinderbraut.

Vom Schimmel stürzt der ausgestopfte Bräutigam,

sein Kopf verglüht als stinkender Komet.

 

Hoch auf der silbernen Draisine sitzt

und grinst der dürre Harlekin,

sein Kostüm schillert fiebrig weiß.

Weit lehnt er über die Plattform hinaus

und schnappt in jeder Runde nach dem goldnen Ring.

 

Es klickt, er hat ihn, freie Fahrt!

Doch weggeschleudert wird die Puppe,

die Achse stellt sich schief,

und wie ein irrer Kreisel torkelt

das Karussell nun auf mich zu.

 

Ein geiler Knall: die Orgel explodiert,

Glühbirnen platzen, Spiegel scherbeln,

und Speichen, Kutschenfransen, Baldachine,

die Teile eines Wracks aus Eiweiß und Trompetengold

sind aufgeflogen und zerstreut in alle Winde.

 

Da endlich setzt in meiner Stirn der Walzer aus,

der die chimärenhaften Gäule angetrieben,

und von der Schramme blättert ab ein glasig roter Lack.

August, die Hitze flimmert, auf dem leeren Platz,

verwischt im Staub: die Spur, ein Achsenkreuz.

TURM-WILHELM

«Um Mitternacht, mein Wilhelm», sprach die Hex’ im Traum,

«musst du mit einem Küchenmesser auf den Kirchturm steigen,

sollst vom Rand der Glocke Rost abkratzen und mit diesem Pülverlein

die Suppe deiner lieben Schwester würzen, denn nur so

kannst du das Kind von meinem Bann erlösen.»

Klein Wilhelm, der will alles tun

 

für das arme, verzauberte Trudchen.

 

Der Küster Bockhorst trinkt beim Kerzenschein

den heißen Punsch in seiner Stube.

Da dünkt ihn kurz nach Mitternacht, er hör’

ein Schaben, fast wie Glockenschwingen.

«Das kommt vom Turm», sagt Bockhorst,

«was ein rechter Küster ist,

lässt solchen Ton untätig nicht verklingen.»

 

Wilhelm indessen rittlings sitzt

auf einem Balken hoch im Glockenstuhle

und kratzt mit stumpfem Messer, kurz nach Mitternacht,

den Rost ab, den er auffängt mit der Mütze.

An Trudchen denkt er, an das arme Kind,

das nicht mehr lacht, noch weint, noch singt,

seit es die Kröte hocken sah in einer Pfütze.

 

Dem Küster kommt’s nicht recht geheuer vor, dass angelehnt

die Turmtür steht. Er tritt ins muffige Verlies,

hebt hoch die Kerze, ruft: «Was ist da oben los, gefälligst?»

Ein kalter Luftzug bläst die Flamme aus.

Er hört den Schrei, Gepolter, und es stürzt

der Glockenschwengel durchs Gebälk vor seine Füße.

Dann Totenstille, kurz nach Mitternacht.

 

Klein Wilhelm, der den Halt verloren,

greift nach dem Glockenrand. Doch unter ihm

das Uhrwerk rüstet schon zum Schlag. Die Glocke schwingt,

noch ohne Laut. Sie reißt vom luft’gen Sitz den Knaben,

er zappelt mit den Beinen überm tiefen Schacht.

Die Fledermäuse schwirren, kurz nach Mitternacht.

Verloren bist du, Wilhelm, bist verloren.

 

Die Glocke holt nun weiter aus,

schwingt, dass sie fast den Dachstuhl sprengt.

Zwei Hände binden, welch ein Graus,

die Füße Wilhelms fest, er wird gehängt:

im Glockenbecher aufgeknüpft,

und dröhnend wie ein Klöppel schlägt

sein blutiger Kopf hart an die Wandung.

 

Der Küster Bockhorst aber starrt entsetzt

hinauf ins finstere Gebälk.

Ein Feuerschein erhellt das Turmgemäuer.

Die Glocke schallt weit in die Nacht

und glüht, als wär’ sie neu gegossen:

«Der Wilhelm schreit, der Wilhelm schreit

nach dem armen, verzauberten Trudchen.»

 

Wohl hundert Jahre sind seither verflossen.

Hoch oben auf dem Turm, wo heut

die Schwalben und die Störche nisten,

wo Zifferblätter, königsblau, den Nachmittag verschlafen,

da klingt noch manchmal wie ein dumpfes Glockenschaben

die Sage nach vom Turm-Wilhelm, da liegt, wer weiß,

noch heut die Mütze mit dem Häufchen Rost

 

für das lachende, weinende, singende Trudchen.

 

 

 

KIRCHBERGER IDYLLEN

1. DUODEZHEFT

STUDIERSTUBE

Was man denn, frug ich die Großmutter, wenn man studiere, studiere,

     War mir doch längstens klar: Pfarrer, das ist mein Beruf!

Schwarz im Talar auf den Klängen der Orgel durch Kirchen zu schweben,

     Unter dem Ärmel die Schrift, Scheiben-Apostel im Chor,

Stufe um Stufe das gotische Schnitzwerk der Kanzel zu stürmen,

     Atem zu holen fürs Wort: dies war ein lohnendes Ziel.

Heute bin ich ein Pfarrhaus-Verweser und brauche nur Wörter,

     Neble das Südzimmer ein, wo einst die Predigt gedieh.

Bücher in Massen statt eines in Flammen geschriebenen Textes,

     Ordner, Skripte und Wust; Duden, die Schreibkonkordanz.

Allerlei Muße: das Malzeug, der Ton überwintern im Ofen,

     Krimskrams im Messingversteck, früher das Steinkissenloch.

Allerlei Musen: die Büste Athenes mit steinblinden Augen,

     Kagrans Prinzessin im Wind, göttlich der Garbo Profil.

Pläne, Modelle und Pausen von niemals verwirklichten Bauten

     Hängen vergilbt an der Wand, zeugen von nützlichem Tun.

Humus von Blättern, Postalien, Journalen, auf Tischen verzettelt,

     Makulatur für den Korb, mittenmang mal ein Gedicht.

Lesen, bei Tag? Eine Sünde. Ich sitze im Sessel am Fenster,

     Lasse der Aare den Lauf, blinzle ins blinkende Band.

Auch ein Rüchlein Tabak: Charutos, Sumatra und Brasil,

     Kistchen, mit Blattgold bronziert, stützen das Œuvre von Kleist.

Rauchringe blasend studier ich, was wohl ein Studierter studiere:

     Zweimal im selben Fluss schwimmt man nicht gegen den Strom.

NÜSPERLI-LINDE

Vorn auf dem Blattspitz des wehrhaften Kirchhofs wächst eine Linde,

     Nüsperli-Linde genannt; auf einem Täfelchen steht:

«Unter dieser von ihm selbst errichteten Linde

     Ruht …», wer solcherart spricht, ist seines Nachruhms gewiss.

Durch ein taxusverkleidetes Tor betret ich die Stube,

     Meinen Argovia-Balkon: Hier lebt der Bronnersche Geist!

Rund um den Baum hat der Sigrist die eichene Sitzbank gezimmert,

     Weil dies sein Kiltplatz war, als er die Martha gefreit.

Unter dem schützenden Dach der Lindenblätter genießt man

     Frei den herrlichsten Blick: Ölgrün spiegelt der Fluss

Aaretalabwärts die silberbekrönten Auwälder bis Wildegg,

     Staufberger Hügel und Schloss Lenzburg im bläulichen Dunst.

Mahnst mich an Lubowitz, Freiherr von Eichendorffs Heimat in Schlesien,

     Sommerschwüle im Park, bleiern die Oder im Grund.

Urnengräber im Rücken, betrachte ich Suret und Länzert,

     Schornig und Moorberger Bank, Lotte, den Liebeggerwald.

Hundertundfünfzig Jahre schon nährt der Humus des Pfarrers

     Wurzel, Krone und Stamm dieses einzigen Baums.

Jakob Nüsperli war zur Zeit der Helvetik ein Freigeist,

     War im Kulturkanton lang eine treibende Kraft;

Auf dem Kirchberg im Pfarrhaus versammelte sich die Elite,

     Welche der Wissenschaft ihr Gymnasium gab;

Hatte im Stecklikrieg den Zorn der Bauern zu fürchten,

     Nanny versöhnte die Schar mit einem währschaften Mahl.

Heinrich Zschokke, ihr späterer Gatte, begehrte die Linde,

     Dank dem Sittengericht blieb der Baumriese stehn,

Teilt den Platz mit dem Denkmal des eidgenössischen Obersts,

     Helm und Degen gekreuzt hoch auf dem Deckel des Steins.

SOPHOREN BEIM EINGANG

Welch ein Portal: zwei Sophoren flankieren den Aufgang zum Garten,

     Schatten mit ihrem Gezelt weit in die Straße hinaus.

Efeuumwuchert und hohl die knorrig verknoteten Stämme,

     Sprengen mit Wurzelkraft Stützmauer, Treppe und Weg,

Tragen ein Krüppelgewölbe verschlungener Arme und Kröpfe,

     Überzwerch und morsch, Korkenziehergehölz;

Blühen im Monat August: zwei Raupen von hellgrünen Rispen,

     Süßer Akazienduft steigt zum Studierzimmer auf.

Perlschnurartige Gliederhülsen wachsen als Früchte,

     Erst um Weihnachten fällt rösch von den Frösten das Laub.

Oft bleib ich stehn vor dem Binnengeflecht der verhedderten Zweige,

     Schlangen zischen mich an, Ottern und Viperngezücht;

Fratzen seh ich, Fabelgesichter, bizarre Chimären,

     Rüssel, Schnabel und Schwanz, albtraumhaftes Getier.

Wigger, der Friedhofnarr, ist in die Schirme verwachsen,

     Hat ins Gekröse geglotzt wie ein verdächtiger Pilz.

Krumme Sophora japonica, ostasiatischer Herkunft,

     Bist in Japan bekannt als der Dichter Symbol.

Oft hab ich wirre Gedanken verloren im wuchernden Astwerk,

     Hab aus dem Labyrinth meine Gesichte befreit.

KRÄHEN

Krähen flecken vom Wald in den Garten, bevölkern die Birke,

     Halten kroaxend Gericht, klumpen wie Schöffen im Stuhl.

Isst man ihr blutiges Herz, verleiht es prophetische Kräfte,

     Unter dem Galgen belauscht, lehren die Vögel Magie.

Picken die stelzigen Fräcke ums Haus, ist’s ein düsteres Zeichen,

     Krächzen sie heiser im Chor, bringen sie Kriegsnot ins Land.

Biblische Feldraben lehrten den Adam die Leichen begraben,

     Wasenmeister im Rock, blechschwarze Küster zuhauf.

Knarren Flugs ziehn Krähen zur Aare und segeln im Kreise,

     Stutzerscheuchen im Korn schrecken den Klaasvogel kaum.

Rabenhirn, roh, weckt die Liebe, die Galle stärkt das Gemächte,

     Mantik der Quacksalberei, heilsamer Corvus corax!

Schlechtes Omen, wenn Krähen den Schornstein besetzen und häufeln,

     Hört man ihr Kraken im Bett, heißt das: Maroder, du stirbst!

Flugs aus der Arche verflucht hat Noah das Biest nach der Sintflut,

     Schwarz hat die Sonne gebrannt, schwarz den Vogel versengt.

Wüstes Geschrei im Weidhölzli, ein jäsendes Aas wird umzingelt,

     Schillerndes Fliegengeschmeiß, klaffende Flanke im Dreck.

Rabenfedern zu finden im Gras ist ein glückliches Zeichen,

     Eh man zu krätzen beginnt, spuckt man die Spitze ins Fass.

Schultergenosse des Dichters und Wappenvogel des Friedhofs,

     Bei den Krähen ist’s wahr, schreibt man mit Kolkrabenblut.

ERDBESTATTUNG

Habt ihr’s vernommen? Der Laubkäfer-Fritz ist gestorben. Drei Tage

     Lag er, von keinem vermisst, in seiner Bettstatt im Lätt.

Zwygart erhält als Erster die Zeitung. Er schaufelt in Kürze

     Je nach Wunsch einen Schacht oder der Urne ein Loch.

Morgens um sechs beginnt er zu graben, er pickelt sich tief und

     Tiefer in den Lehm, Lätt hierzulande genannt.

«Küttiger Kürbisse», flucht er, wenn der Pickel auf große

     Steine im Erdreich stößt, ächzend stemmt er sie raus.

Hart an die Friedhofmauer kommt der Fritz nun zu liegen,

     Hat noch vor kurzem geglaubt, dort sei kein Platz mehr für ihn.

Zaungast bin ich des Todesbetriebs, es schickt sich mitnichten,

     Jenseits der Grenze zu stehn, Maulaffen sind dort nicht feil,

Aber ich merke mir, was mich betrifft: ein tödlicher Unfall.

     Keiner ist stark genug, nicht zu erschrecken dabei,

Wenn der Spaten klinkend die untersten Schichten heraufholt,

     Flach vom Erddruck der Sarg, schimmlig zersplissenes Holz,

Beckenknochen und Speichen, zertrümmerte Scherben von Schädeln,

     Brustkasten violett verpappt, Halswirbel, Steißbein und Fuß.

Ecce homo – nach drei Jahrzehnten –, der Anblick ist lehrreich,

     Zeitig soll man den Tod aus der Nähe besehn,

Sind wir doch samt und sonders Todes-Analphabeten,

     Klammern das Sterben aus, sondern die Leichname ab.

Ehrlicher ist’s, wie mein Nachbar mit dem Pickel zu wüten,

     Schwitzend dem neuen Skelett Knochen als Gabe zu leihn.

Erdbestattung, Abdankung, Leichenschmaus, was für Vokabeln,

     Trockener Buchstabentrost für die Gewissheit: ein Loch

Wird in den Boden gegraben, zieht man die Spundbretter raus, so

     Schließt sich polternd der Spalt, und im Ossarium herrscht Ruh.

Habe mich nie dagegen gesträubt, es zu lernen. Was hilft’s? Der

     Laubkäfer-Fritz ist tot; mir galt es diesmal noch nicht.