Nagel & Kimche E-Book
HERMANN BURGER WERKE IN ACHT BÄNDEN
Band 1
Gedichte
Verstreute Gedichte (ab 1963)
RAUCHSIGNALE (1967)
KINDERGEDICHTE (um 1975)
KIRCHBERGER IDYLLEN (1980)
Nachwort: Harald Hartung
Band 2
Erzählungen I
KURZGEFASSTER LEBENSLAUF
und andere frühe Prosa (ab 1963)
BORK (1970)
DIABELLI (1979)
Parerga
Nachwort: Beatrice von Matt
Band 3
Erzählungen II
BLANKENBURG (1986)
UNGLAUBLICHE GESCHICHTEN
und andere späte Prosa (1987–1988)
DER SCHUSS AUF DIE KANZEL (1988)
Parerga
Nachwort: Ruth Schweikert
Band 4
Romane I
SCHILTEN: SCHULBERICHT ZUHANDEN DER
INSPEKTORENKONFERENZ (1976)
Parergon
Nachwort: Remo H. Largo
Band 5
Romane II
DIE KÜNSTLICHE MUTTER (1982)
Parerga
Nachwort: Dieter Bachmann
Band 6
Romane III
BRENNER 1: BRUNSLEBEN (1989)
BRENNER 2: MENZENMANG (Kapitel 1–7; 1992)
Parerga
Nachwort: Kaspar Villiger
Band 7
Sammelbände
EIN MANN AUS WÖRTERN (1983)
ALS AUTOR AUF DER STÖR (1987)
Nachwort: Karl Wagner
Band 8
Poetik & Traktat
Essays und Preis-Reden (ab 1970)
DIE ALLMÄHLICHE VERFERTIGUNG DER IDEE BEIM
SCHREIBEN: FRANKFURTER POETIK-VORLESUNG (1986)
TRACTATUS LOGICO-SUICIDALIS:
ÜBER DIE SELBSTTÖTUNG (1988)
Herausgeberbericht
Zeittafel Hermann Burger
Fragebogen
Nachwort: Ulrich Horstmann
Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch
den Kanton Aargau
sowie der Unterstützung durch
die UBS Kulturstiftung
die STEO-Stiftung Zürich
die Stadt Zürich Kultur
den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs
© 2014 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
ISBN Sammelband: 978-3-312-00611-3
Unser gesamtes lieferbares Programm
und viele andere Informationen finden Sie unter:
www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
Nagel & Kimche E-Book
Hermann Burger
WERKE IN ACHT BÄNDEN
Herausgegeben von
Simon Zumsteg
Erster Band
Gedichte
Hermann Burger
RAUCHSIGNALE
KINDERGEDICHTE
KIRCHBERGER IDYLLEN
Gedichte
Mit einem Nachwort von
Harald Hartung
Nagel & Kimche
Die Werkausgabe wurde ermöglicht dank der großzügigen Unterstützung durch
den Kanton Aargau
sowie der Unterstützung durch
die UBS Kulturstiftung
die STEO-Stiftung Zürich
die Stadt Zürich Kultur
den Verein zur Förderung des Schweizerischen Literaturarchivs
© 2014 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Umschlag: Stefanie Schelleis, München
Porträtfoto Hermann Burger: um 1967, Schweizerisches Literaturarchiv (Bern). Foto: privat
Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann
ISBN Band 1: 978-3-312-00612-0
Unser gesamtes lieferbares Programm
und viele andere Informationen finden Sie unter:
www.hanser-literaturverlage.de
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
FRÜHE GEDICHTE
Spät Geliebtes Land
Früher Sonntagnachmittag Einkehr
Gong Erntegewitter
Sanduhr Das erste Wort
RAUCHSIGNALE: Gedichte
I
Der stumme Bruder Gefangenschaft
Landschaft bei Aarau Schwerindustrie
Undine Spaziergänge Reigen
Dichterin Malven Abend vor dem Dorf
Baum I und II Scherben und Glück
Herzlose Asse Eiszeit
II
Mit dem Herbst zu Gast Worte
An einem Streichholz entfacht Drachen im Herbst Schlüsselkinder Erinnerung Landschaft im Winter Jahres-Markt Flamants roses Sommerengel Begegnung
Rapunzel Balance
III
Marmorera Tithonien
Frühling Runenschrift Phlox
Landschaft am See Glück Venise
Kreuzsonate Drüben Spätnovemberliches
Wohnraum Nebelgeliebte · Schmerz
KINDERGEDICHTE
Beim Betrachten einer ländlichen Idylle aus den Münchener Bilderbogen Das alte Karussell
Turm-Wilhelm
KIRCHBERGER IDYLLEN
1. DUODEZHEFT
Studierstube Nüsperli-Linde Sophoren beim Eingang Krähen Erdbestattung
Auf dem Turm Baumgarten Gipsreibi
Erster August Hortensien
2. DUODEZHEFT
Pfarrhaus-Estrich Eidgenössischer Oberst
Chriesbaum beim Friedhof Brunnen
Totengräber-Werkstatt Turmhahn Das Tälchen Schellenbrücke Krankheit
Gartenhaus
3. DUODEZHEFT
Kohlenkeller Koryphäen und Koniferen
Clematis Das Wurfgitter Leichentor
Nebelkirche Kranzdeponie Ruine Horen
Silvesternacht Waldterrasse
4. DUODEZHEFT
Bullaugen-Abort Heldengräber
Studierzimmer-Birke Wigger Friedhof im Winter Hochzeit Sandplatz
Papiermühle Feierabend im Sommer
Diesseits und jenseits der Mauer
NACHGELASSENE KIRCHBERGER IDYLLEN
Archiv Gartensaal Kanzelaufstieg
Abendmahls-Diener Abdankung
VERSTREUTE GEDICHTE
An alle Linksextremisten
Der Wasserfall von Badgastein
ANHANG
Editorische Notizen
Nachwort von Harald Hartung
Alphabetisches Register der Gedichttitel
FRÜHE GEDICHTE
Spät im Oktober,
Wenn die primären Tage vorbei sind,
Und abends sich die Wälder
In graue Nebelkulissen stufen –
Wenn die leeren Gehäuse der Züge
Ausfahren
Mit frühen Stirnlichtern besteckt –
Wenn die erleuchteten Schaufenster
Wie Silberplomben
Im Weichbild der Stadt sitzen,
Riecht es da nicht schon
Nach Schnee und älteren Gestirnen?
Geliebtes Land, deine Burgen altern.
Im Turmsaal über der Stadt
verschwistern die Stunden
zu grauen Gespinsten;
es wimmelt von Asseln und Faltern.
Von der Wand
fällt das Lorbeerblatt in den Schrein.
Die Erinnerung verwelkt,
orangensüßer Duft entschwindet
mit dem Rauch in der Dämmerung.
Durch die Tore ziehen Sagen ein.
Die Welt ist weiß
und vom Nebel durchbissen.
Die grauen Wälder mit ihren
Reif besetzten Orgelstämmen
bewachen das Schweigen.
Aus entlegenen Dörfern
schicken die Kirchen
den bronzenen Klangfuß übers Land.
Figurengruppen bewegen sich
am Eisweiher vorbei
auf dem gelben Band der Straße.
Friedvoll bäuerliches Spiel
dem Tale zu.
Kehrt ein in den dürren Zelten,
den Oktoberschenken, die
hoch im Winde schaukeln, kehrt ein!
Da gibt es noch einen feuchten
schwarzen Wein von tödlicher Süße,
ein berauschendes Scherbengelächter.
Aber unter uns höhlt das Geschrei
der Raben einen Raum längst vermorschter
Gefühle. Auf den tiefer liegenden
Äckern verherbsten die Brote zu Stein,
und in fernster Tiefe verraucht still
das stürzende Schwarzblut der Wälder.
Der Himmel aus Bronze und
aus Bronze die See, die Sonne
ein nicht lokalisierbares
Glanzlicht und der Nebel
metallische Ausdünstung.
Alles hart und gehämmert,
dass die Öltanker erträglich
werden mit den schwarzen
Rauchfahnen, die starrhalsigen
Kräne über den Werkhallen,
die Blechzigarren in der Luft.
Weckt ja nicht das Lied,
das, nach Eichendorff, in allen
Dingen schläft. Ein Gewitter
grausig golden scherbender
Gongschläge müsste über uns
hereinbrechen.
Burg um Burg hast du erbaut
mit Sommern, Stirnen und Staub,
Stirnenstaub,
vor den Toren spielen Kinder Krieg im Korn,
blutig verrostet der Zinnsoldat.
Vergebens spielen die Kinder Krieg,
keine meiner Wunden löscht der Mohn,
schwarzer Mohn,
die Vogelscheuchen lächeln sich Kopfweh zu,
ein grüner Engel wettert am Horizont.
Die Vogelscheuchen gehen irr durchs Korn,
lautlos rast im Hof das Karussell,
die Orgel tief im Wahn,
die Kinder reiten wild und schreien
nach dem goldnen Ring in deiner Stirn.
Die Kinder schreien nach dem goldnen Ring,
lass die Burgen verrauchen im Herbst,
bitteres Rauchsignal,
in den Wolkenhallen kracht die Erztür zu,
der Engel schmerzt dich, wenn du barfuß sprichst.
In gelben Wolkenhallen kracht die Erztür zu,
Konfetti schneit dir vors Herz,
bunte Silben,
die Schwänin sinkt im Scherbenweiher, trink
ihr aus den Federn den blutigen Mond.
Es rinnt mir aus den Augen
in deine Augen:
Sand, aus dem kein Gold gewaschen wurde.
Nahtlos trennt dein Schatten
sich von meinem Schatten.
Unsere Blindheit trägt kein Zeichen,
nur dies: erschlaffte Gewitter
in aufgeworfenen Armen.
Unaufhörlich rinnt der Sand
aus deinem Haar
in mein bodenloses Herz.
Roter Sand,
aus dem kein Gold gewaschen wurde.
Zu früh gefallen
der erste Schnee
auf jedes Wort.
Mit hohler Hand
deckst du die Flammen,
bengalischrot,
bengalischgrün.
Der eisig behauchte Spiegel
verzerrt den Schimmer,
und dies nur bleibt,
Mehlspeise im Wind:
zu früh gefallen
das erste Wort mit
dem ersten Schnee.
RAUCHSIGNALE
Gedichte
Noch muss ich einen Bruder haben,
der kommt mir entgegen
auf einer verschatteten Straße,
irgendwo in einem Sommer,
irgendwo in einem grünen Land,
ohne Sprache, nackt,
mit verdunkelten Brillengläsern
und die behaarten Arme
von Zornesgebärden erschlafft.
Und er erkennt mich nicht,
weil er den Verstand verlor,
als er von einer Brüstung ins
hüfthohe Gras stürzte.
Mein sprachloser Bruder,
du bist nicht tot.
Zieh dir ein grünes Hemd über,
lehr mich deine Sprachlosigkeit,
grins, wenn ich nicht versteh,
wir wollen schweigen zu zwein.
Aber du erkennst mich nicht.
Gleich mir hat dich eine fremde Mutter
mit einer Sendung von Wünschen
zur Welt geschickt,
wie einen Ochsen vor ihren Stolz gespannt
und hat dir die steinernen Rosinen
aus ihrer Krone zugeworfen.
Dein Hufschlag zermalmt
die Mühle ihres Gebets.
Mein Bruder, mein Gegenblut,
mir ins Fleisch geschrieben,
als wir wie eine Münze hart
in diese Welt geworfen wurden,
lag dein Gesicht unten.
Aber du bist nicht tot.
Gefangene
sind wir im
knöchernen Verlies,
von Nacht durchtränkt,
von bitterem Vergessen
genährt und gefesselt an unsern
Mörder,
den schwarzen Schlaf.
Auf Zehenspitzen tasten
wir uns ans Gitter der Worte.
Draußen fällt
schneeweißes Wissen
und Schweigen über den Hügeln.
An festlichen Julitagen
erwacht die Stadt
im leichten Fahnengewand
und spendet Schatten
auf die grünenden Straßen und Plätze.
Kanonenschüsse springen ins Land.
Der schwarze Adler knattert
über dem Blutbann im Wind.
Mit dem goldenen Degen,
beflaggte Stadt,
und einer weißen Rose
hast du uns geschmückt,
zu Rittern deines Glücks geschlagen.
Der Tag bekränzt sich,
die Ebenen
werden uns hinter die Flüsse tragen.
Später, im Herbst,
wenn alle Türen offenstehn
von den Schwellen am Anfang
bis zu den Schwellen am Ende,
stürzt ein Fahnenträger
durch die entlaubten Alleen
und zerteilt mit dem Schwert
die fallenden Hände.
Sein Gefolge: ein Wind
von Trommelwirbeln.
In der Ferne mischt sich
des Abends Dämmerflor
mit dem Geruch von Schwefel und Blut.
Gegen den Himmel treibt Sand.
Im Ansturm schwärzt sich
der Wolkenverband.
Zehn Fugen ineinanderspielen,
das Gebilde aus Stahl gießen
und tief in den Kopf hineindenken,
bis es so unverrückbar sitzt,
dass die Zahnwurzeln krachen,
es dann herumsausen lassen
ziel- und endlos in gebogenen Schächten,
selber langsam auf einer Scholle treibend,
mit dem Schädel gegen andere Schädel rennen,
ins Wachs beißen, Glas zwischen den Lippen,
gefrorenes Blaugut unter den Augen,
die Hände im Feuer waschen,
die Schlangenhaut nach außen kehren,
das ist immer der Prozess.
Das hauchdünn Herausgestanzte
dann zusammenfalten und dem Tanz
der Winde überlassen.
Undine komm,
komm und wach auf
im weißen Bett meiner Sprache,
tauch auf aus den tödlichen Wassern
und streif die Meerhaut ab.
Geh nicht zugrunde stumm wie ein Fisch,
sink nicht in dich hinein,
in dein Korallenschloss,
sprachlos und versteinert,
ist doch ein Wort noch,
das uns weiterträgt,
wenn auch ein Wort nur
im Schwarm der andern Worte,
aber weißglühender als jedes Wort
stillt’s die blaue Wunde unseres Wesens,
die der Abend aufbricht
und die nahtlose Nacht,
stillt’s den Mund,
die violetten Münder am Vulkan,
löscht’s das Feuer in der Felsburg,
dein Wort, Undine,
Wasser, das dir entströmt,
die Liebe,
komm.
Auf Spaziergängen im Herbst,
da wird mein Vogel wach
im goldenen Käfig,
die Einsamsel, und singt
aus zerbrochener Kehle.
Ich lass sie flattern und trinken
von der Trauer in den Triften.
Wie ihr Gefieder metallisch
erglänzt und sich steift über
den gescheckten Wäldern,
über dem Lapislazuliauge des Teichs!
Im Flug streift sie kreisend
den Hügel mit trockenem Burgentrost.
In den Weilern wird ein
Knarren laut, als lösten sich
verwrackte Archen vom Tau.
Die Landschaft schifft sich ein
für eine Sturmfahrt übers braune Meer.
Schwarze Segel hissen die Tannenmasten.
Da stürzt meine Amsel,
zerschnitten von Horizonten
und von Fernweh getroffen,
ab über der Straße des Erlkönigs.
Stumm zieht der Nebeltross.
Die schwarz befrackten Schergen
zerhacken ihr das Gefieder,
eine Flaumspur führt zur Mördergrube.
Folg ihr nicht,
im Käfig wächst bald ein
anderer Vogel nach,
der sich befreit und getötet wird,
und dann ein anderer Vogel,
befreit und getötet,
immerzu dies:
befreit und
getötet.
Nonnen,
leichte Figuren
aus schwarzem Wachs
durchtanzen den düsteren
Hain, in den Reigen welkender
Blätter mischt sich weiches Geriesel,
Regen,
der Regen
wäscht das Wachs
ihrer Gesichter aus den
Schalen der Hauben, die schwarzen
Flammen verzückter Augen löscht der Wind.
Reigen.
Dünne Fäden
schwärzlichen Rauchs
steigen auf ins Gespinst
der Äste. Reigen faulender Blätter
und Nonnen im Regen, im düster welkenden Hain.
Das schwere Bündel heilloser Wunden,
das dir die Schulter schnürt
und deine Fersen schändet, wirf
es nicht weg. Es könnte sein, dass tausend
ungerächte Flämmchen dir nachtanzen
und ihr Gelächter alle gangbaren Tunnel
herzwärts zerfrisst.
Kein Wassertropfen löscht den Schweiß
auf der Stirn, keine Träne das Salz im Blut,
und die Schleuder der Flüche hängt lahm.
Aber noch heute, noch eh diese mit Leitern
verstellte Nacht zu kreisen beginnt,
wird dir das Fahnentuch zugemessen,
und im leichten Faltenüberwurf ersteigst
du dieser Erde Sockelgeschoss.
Weich blüht wieder das Wort
und graurosa in meinem Gehirn,
Schlangen zieht es nach sich,
die aus heißen Gemäuernischen fahren,
staubige Wege
und sterbende Gartenräume.
Was soll ich mit Malven?
Auf meinem Schreibtisch häufen sich
herbstliche Aufträge.
In Verse schneiden,
gepuderte Malvenverse?
Malvenvers,
ein neues Wort,
herbarisiert schon und
geeignet für ein gebräuntes Albumblatt.
Weich, graurosa blüht das Wort Malven
in meinem Gehirn und vergilbt zu Versen.
Auf dem Schreibtisch häufen sich
herbstliche Aufträge.
So still. –
Das Dorf im Abendsonnenschein,
ländlich, eingefriedet von Baum- und Hügelzügen.
Mais im Vordergrund, Blaukraut,
Schüttergras und Streifen Ackers, Feuernelken.
Etwas tiefer eingesenkt: die Narbe
eines Flussbettes mit Birken,
Weidenwitwen auch. Zwischen
den Stämmen Schatten, und wo
schattenhaft sich Tieferes noch findet,
kühl, gemäuernah,
da stand die Mühle einst
vor einem Wehr …
Nun längst verrottet,
so still. –
Kirchturm, die Glocke schlägt,
einmal nur. Zimmermannsgerufe.
Auch diese Frage geht verloren.
In tief gezogene Dächer eingezargt
die Pfarrhaus-Stirnwand, weiß,
für Storchenblicke. Dann Reben,
Gelände, einer Fahne müdes Rot,
wie letzte Auszeichnung des Sommers.
Aber in der Nähe wird getreckt,
Nationalstraßenbau.
Und hinten auf dem Damm
das hohlhäusig tönende Gerail
eines Eilfernzuges, gedämpft
vom Rhythmus der Schienenstöße,
anschwellend, konstant, bis es
zwei Tunnelwände schlucken
und für kurze Zeit vermauern.
Dann still. –
Ein Schuss, dumpf. Viele Fenster geöffnet,
aber keins, aus dem sich abends Etüden
oder Sonaten verlieren.
Viele Giebel mit Wespenhöckern oder
Schwalbennestern, Schlafbürgen.
Auch ein Milchhaus, bei der Brücke,
sechs bis sieben offen,
oder bis halb acht. Da werden
die Münzen in Aluminiumeimern
hingetragen und gegen weiß schäumend
Warmes aus der Kanne eingetauscht.
Dann noch, einzelweise, karges Gespräch,
beim Brunnen, aufflammendes Streichholz,
davonschlurfende Schritte
und mampfende Mäuler im Stall.
Sonst: Stille. –
Ein Baum steht verirrt im Nebel,
seine Gebärden sind verdorrt,
auch die läublich umarmenden,
im Astwerk hängen Birnen ungereift
und Blüten für den Wind
aus einem lieblosen Frühling.
Der Frost leiht ihm Zepter und Krone,
und die Krähen sitzen zu Gericht
in den dunklen Achselhöhlen.
Im Nebel steht irr ein Baum,
die verdorrten Äste starren und
umarmen ein Nichts mit bizarrer Gebärde,
geplatzte Birnen grinsen im Gras,
Windblüten säuseln frühlingslieb.
Vom rissigen Haupt fällt die Krone,
das Zepter steckt zitternd im Mark,
erschrocken kreisen die Krähen
und stürzen zu Tode auf offenem Feld.
Mit unsern Küssen
haben wir ein Land zertreten,
wo eines das andere nur
sachte bei der Hand nehmen soll,
damit nicht das Korallenleuchten
in den Fingerspitzen zerbricht.
Schwäne können untergehn,
und leicht verliert das Glück
seinen Silberschuh.
Noch funkelt dein Aug als
Glasrosette in meinem Dom,
rundum aber wächst Dunkelheit
auf schnellen Pfeilern.
Herzlos blättert
der Wind in den Assen,
das Kartenhaus treibt
auf dem zornigen Schlaf.
Mit den Marmeln
rollt dein Aug über
den steinernen Tisch,
ausgestochen vom Glück.
Die Zeit beißt
ihren Würfel entzwei,
giftig versickern die
Nächte im grünen Filz.
Mikado, du lachst
in deinem Wasserschach?
Nasse Asse schlafen
wachsam unterm Gras.
Die Kälte nehm ich
als bittern Pelz um den Hals
und folge blind der Rentierspur,
die mich durch Eiszeiten führt,
durch Mindel und Riss über
Spalten bösen Gelächters hinweg.
Nebelgeweihe leuchten am Weg.
Noch funkelt der Goldfisch
in meiner Brust, noch
taucht und wendet er stumm.
Bald, denk ich, bald
wirst auch du erfroren sein, und
Licht trauert auf deinen Schuppen.
Licht, das sich tausendfach bricht
in den Kristallen,
die von meinem Mund fallen.
Dann, ihr rosa Flocken,
schneit mir das Gesicht zu
und die Herzmuschel auch.
An verspäteten Gartentischen,
noch aus dem letzten Sommer,
die das Platzkonzert eines
weitländlichen Regens abnehmen,
sitzt der Herbst, ein letzter Gast,
klimpert ungeduldig mit Springpfützen
auf das rote Blech und wirft
den Rosen trübe sättigende Blicke zu.
Trinkt nur, trinkt das feuchte Grau,
es spiegeln sich die Schatten
schwarzer Vögel schon
(und Palmenwedel, unbewegter)
in meinem nassen flächigen Gesicht.
Trinkt! – Und du?
Du kannst schon gehn, zieh
deine Hand zurück. Der Sommer
bezahlt nie, der macht nur alles
schwanger und haut ab.
Sein großes Erbe, das herbe Rot,
blas es in die Bäume, misch
den Rost von Abendglocken bei
und treib den Blätterzins noch ein.
Worte,
Steine im Brett,
fügbar zu jeder Figur,
schwarz weiß schwarz,
fügbar zu Fuge und Gitter,
zu Muster und Klang.
Welches Wort aber beschwört
den Schattentanz an der Wand,
schnürt das Flammenbündel im Aug,
und welches Wort lässt die
Silbertonreihe erklingen
im Unterwassergarten?
Worte,
Steine in der Hand,
Wasser zu treffen, Schatten und Flamme.
Graues zuckt auf, lächelnd
weiten sich Ringelblumen und Augen
im Gitter meiner Worte,
schwarz weiß auf Schweigegrund.
Die Flammen feiern ein lohes
Fest im Brombeerschloss,
Zischgäste huschen aus und ein,
der Apfelbraten musiziert.
Bös züngelt eine Zipfelmütze,
der Hofnarr lacht, der Fratzenbold,
leert einen Becher Glutenwein
in seinen Feuerrachen.
Zag finden sich die Flammenspitzen
zu Ringeltanz und Kranzballett.
Schwarze Funkenpferde stieben
über Lockentreppen in den Rauch.
Ein Feuerwerk wird abgebrannt.
Raketenräder rasen, Sonnen platzen,
violett kichert der Vulkan,
ein Kratergarten tut sich auf,
Zündschnurschlangen schleichen,
und es schillert giftgrün
wie von Krötenkrallen.
Im Brombeerschloss verloht ein Fest.
Die Nacht schwingt dunkle Fahnen,
Wind wohnt in den Fensterhöhlen,
ein Mond verfault im Aschenfrack,
der Regenriese tritt die Seufzer aus.
Noch keinen einzigen Drachen
hab ich in diesen herbstlichen Tagen
steigen sehen.
Waren die Winde zu lose?
Packig zerrten sie an unseren
plan bespannten Holzkreuzen,
die wir am Drahtspill über die Fluren zogen.
Der Himmel war voll
bastfarbener Schwänke.
Wachsblau, foliorote Rauten
mit Harlekinsschwänzen und Ohrenschaukeln.
Wenn ein lachendes Drachengesicht
spitzbogig in die Erde kurvte
und spanhölzern zerbarst,
wer dachte daran, dass so
Passagierflugzeuge stürzen!
Heute spannen wir bunte Fetzen
von Hoffnung übers Kreuz,
die wie Taschentücher durch den Äther fackeln.
Aber der Zwirn zerreißt,
tot sind die Gedankenfäden,
die aus riesenrunder Drachenstirn hängen,
und wir rennen
wie vergessenes Spielzeug
auf unsre Kiste zu.
Du und ich, wir waren Schlüsselkinder
zu einem Reich, das mit Türmen
aus dem Asphalt schoss und dessen
verwegene Pilze unter den Himmel wuchteten.
Du und ich.
Einen Strauß Glasmarmelblumen hab ich
dir gepflückt im Frühling,
als die Städte sich erwärmten,
und eine war darunter,
die von dir Erwählte,
in der es fremdgescheckt
und sulger flimmerte:
sie zeigte Helgoland.
So klein war Welt, so gläsern rein.
Du hast sie abgebissen,
du wusstest Glas zu schmecken.
Auf der Zunge reichtest du mir
das Eingezurrte, das saure Bisschen Herz,
und wir tauschten
die Schlüssel am Hals.
Regen,
Regen rieselt
am Fenster,
schräge Schraffur,
die Uhr tickt,
unterm Zeiger nicken
die Ziffern ein,
und Regen,
Regen rauscht, rauscht,
ein Gesicht regt sich
in der Gischt,
naht der Scheibe,
Regengesicht mit riesliger Haut,
ein Wasserblick …
die Uhr tickt.
Erinnerung klopft
mit feuchtem Finger
an die Scheiben meiner Glasveranda.
Wir spielen unser Schach
am Nachmittag.
Rasch dunkeln die Felder ein,
auch die der hellen Tage.
Wie Schatten huschen die Figuren,
Schatten im Regen, Schatten,
knöchern und leise,
und schon neigt sie das Gesicht
zum letzten Zug:
es ist das matte Lächeln,
das mir die Krone raubt.
Schach, Erinnerung,
die Felder hellen auf zu Scheiben,
schräge Schraffur,
Regen rieselt,
Wasserblick zieht sich
in die Tropfen zurück,
das Gesicht verblasst,
die Uhr tickt,
weckt ihre Ziffernschar,
fett glänzen
die Blätter der Topfpflanzen.
Hart und hölzern
ist der Schlaf des Bauern,
in seiner Kammer hangen
die Pfeifen kalt an der Wand,
der Föhn fährt durch den Kamin
und raunt den Ahnen Zerrworte zu.
Hinterm Ofen nisten Angstgespenster.
In den Wäldern haust schon der Winter
mit seinen rauhen Gesellen,
sie ziehen den Bäumen das Fell ab.
Die Stürme brausen im Chor,
und eine fremde Frauenstimme
jodelt wild den Jägern zu
in der Wolkenpfühle.
Frühmorgens geht
wie ein leises Läuten ein Kind
im Reifnadelhemd durchs Land,
huscht in die Gärten,
umarmt die vergreisten Bäume
und malt mit Eisfingern
Blumen an die Fensterscheiben.
In allen Ständen der Liebe, des Glücks,
der Hoffnung wird das letzte Schrot
verschossen für eine Windrose aus Papier.
Die Pferdchen ziehn den Honigkuchen
durch den Sand, und das Kinderlachen
hängt an blauen Ballonen in der Luft.
Hat die Orgel den Herbst zuendegeleiert,
sackt der ganze klingelnde Bestand
dieser Welt zu Staub zusammen, und
verbrauchte Luft bläst dir ins Gesicht.
Den grauen Himmel oben
weben meine Gedanken
dröhnend und gestochen scharf
wie eine Bomberstaffel
in Diamantformation.
Den blauen Himmel unten
durchrauscht mit geschundnen Flügeln
ein Schwarm Flamingos,
die Hälse nach Süden gestreckt,
ein verwirrtes Trauergeschwader.
Ohne dass der Vogel im Rosengefieder
vom Strahl getroffen stürzt,
muss ich immer wieder, ich muss
die Diamantvögel über die Piste jagen,
ohne dass ein Schrei die Luft entflammt.
Einen Kranz von Nattern im Haar,
schreitet der Sommer bleichfüßig
übers Land,
fiebert
und wirft die Tage
wie brennende Fackeln aus der Hand.
Für die Dauer einer kurzen
gewitterlosen Nacht schläft
er sich ein warmes Bett
ins fruchtstrotzende Korn.
Sein heißer Atem
versengt die Winde,
wenn sie am frühen Morgen
den neuen Tag entfachen.
Mit Beulen und Blasen erwacht
die Landschaft, zerknittert,
und erträgt den Druck
seines schweißfeuchten Körpers.
Bevor sie sich öffnet,
küsst der Sommer die rote Wunde des Tages,
die Sonne,
und gibt die Himmelsarena
für wütende Kämpfe frei.
Der gefrorene Sonnenschein
auf dem Eis, das gefrorene
Lächeln auf ihrem Gesicht
und ein gestrandetes Wrack:
die gemeinsame Vergangenheit.
Dann schmilzt die Sonne das
Eis in ihrem Lächeln. Aber er
denkt sich aus den Trümmern
ein Floß und stößt weit ab
aus ihrem flüssigen Gesicht.
In goldenen Flechten
gehn dir die Waldsterne auf.
Dein Haar
ist keine Speise des Todes,
doch die Tannen sagen ja
zum Fluch der finstern Krone.
Harzig tropft das Gelächter
von den Marmorsäulen ins Herz.
Auf würzigem Grund,
an den Rändern des Heimwehs
brennt die Märchenwunde.
Der rote Zaunkönig donnert
durch das Wurzelschloss,
und überm Moor geistern
bleiche Asse wie Windlichter.
Die Nacht schlürft dein Ohr aus
bis auf den letzten Tropfen Mondblut.
In den Flechten glitzern
worttote Diademe.
Deine Speise,
deine Speise
ist das goldene Haar
an der Larve.
Einsamkeit,
dunkel hing sie herab,
mir als Strick um den Hals,
und wollte mich erdrosseln.
Ich packte das Tau,
zog die kalten Füße an,
ein Geläut hob mich empor.
So hab ich gelernt,
auf dem Seil zu gehen,
zag erst, mit Kinderschritten,
und verwundbar vom Licht,
dann mit immer weniger Gepäck,
hab allen Ballast abgeworfen,
auch die Liebe,
ein Kranz erfrorener Flügel.
Höher und höher geh ich
auf dünner und dünnerem Seil,
bald nur noch auf einem Silberfaden,
Sternen und Spinnweb nah,
geh ich und tanze,
dreh meine Pirouetten auf Wundspitzen,
schlag meine Metaphernräder mit
schwarz verbundenen Augen:
Salto auf Salto mortale.
Spring nicht zu hoch
und triff den Faden!
Unten gähnt ein Netz von Löchern.
Oben hält dich nur Balance,
virtuose Balance,
dies Schuppenkleid von Worten,
das dir aus den Hüften wächst und
schön erglitzert im tödlichen Licht.
Marmorera,
Trauermeer,
aus bleiben die Gezeiten
des Glücks,
die Flaschenposten sind zerschellt,
du steuerst deinen Kahn,
das dürre Herzblatt,
der Toteninsel zu.
Kein Ankern mehr
in diesen schwarzen Wassern.
Wie die Gischthaie schnappen!
Über den Masten kreist
schon der Geier
und wirft seine Botschaft ab.
Wenn auch das Flammensegel
emporschnellt für
die Dauer einer Nacht,
wenn lohe Locken um
die Schläfen züngeln
und ein heißer Wind
dir durchs Gebein fährt,
du legst nicht an
am zimtenen Strand,
wo eine Muschel
in Rosaglut erblüht
und die Silberträne
auf dem Grund bewahrt,
du legst nicht an,
das Zwieland versinkt
dir unter der Hand,
und die Marmorfluten
schlagen ans Korallenriff.
Marmorera,
Trauermeer,
wie Glockenklang tönt’s
aus der Tiefe,
schwankend hohl.
Du steuerst deinen Kahn
mit flachen Händen.
Setz als Segel
Fleisch und Pergament,
auf dem die Nacht
zur Tintenspur gerinnt.
O spring nicht ab,
schon rückt er nah,
der Grottenmund,
mit Stalaktiten messerscharf.
Aus dem Rachen lockt
ein Flötenton so silbern leise,
und es winkt
das Rauchsignal.
Tithonien,
mennig leuchtend,
ein hellenischer Gruß aus
fernmythischer Bläue,
Lachen der Sonnenbraut,
die in eine Blutorange biss.
Wie ihre Haarfackel brennt
im Gletscherwind!
Oder Japan mit seidenen Fingern greift
über den Ozean in unsere Gartenräume.
Die Geisha nickt zur Silbergongmusik,
und die Scherben eines weißen
Porzellangesichts
fallen in den Lotosblumenteich.
Monsun, rausche nieder
in den Teehauspark!
Reis rieselt über tote Kinderhände.
Tithonien,
ein Japanschmerz,
ein hellenisches Lachen im
goldgrünen Gobelin unserer
herbstlichen Gärten, wo die Astern,
eingenickt beim Bienengesumse,
dunkel und helllila ihre Träume weben.
Feuchte Blätter fallen auf den Mund.
Im Augengelände sömmert Erinnertes dahin,
und für Sekunden stirbt die Stunde,
weicht die Bläue,
versilbert sich in deinem Ohr
der Geishaschrei.
Im Frühlingslaub quellen
eure Münder rosig auf
und tragen Lippenfrüchte.
Ein Blütenzweig wächst
aus den Innerungen himmelan,
sät Dornen in den Gaumen
und bricht den Glocken
das Genick. Ihr werdet
schwer tragen an euren Balken
über den Augenhöhlen,
in der Domwerkstatt.
Du bist die dreizehnte Rune,
meißle dich ein in die Hand,
du brichst den Stab überm Herzen,
zieh dich am Giftstachel hoch.
Du bist der Stein deiner Meilen,
wirf ihn selber nach dir,
du wächst als Gras über Narben,
suche den Holzweg zum Licht.
Du bist ein Signal der Trompete,
füll deine Trommel mit Sand,
du lachst im Zickzack der Pausen,
leih dem Schweigen dein Ohr.
Du bist eine Mitternachtsziffer,
zeige gekrümmt auf das Werk,
du suchst nach dem Kreis für die Mitte,
blättre als Rost von der Zeit.
Du bist die dreizehnte Rune
unter dem Schweigen im Sand.
Phlox blüht noch,
leise und blau,
Spättraum des Sommers,
Kies lächelt
im Sonnenschein,
in der Mauerecke
kauert alte Hitze,
Wind schläft im Pappellaub.
Herüber wehen schon
septemberne Gongschläge
wie leicht gebräunte
Atemzüge des Herbstes.
Ausgeträumte Palette, Modulation
vom Grau ins Grauen.
Drüben – auch trüb alles.
Verwaschene Hügelstaffage
fernnah mit weißen Kalkflecken hof-
bildenden Gemäuers.
Baumlumpen, Isländisch Moos.
Der See: graues Gift deiner,
der Geliebten zuzutrinken,
weich.
Und der Himmel rührt sich nicht,
der alte steife Sack,
nicht mal eine Wunde von Sonne.
Wittergreis, Milzblume!
Nur die Geranien verharren
in ihrem grünspansüchtigen Rot,
beflecken das Seegrau
und die milde Milch
eines frühverherbsteten
zwittrigen Sonntagnachmittages.
Erkältungswetter.
Selbstbedienung.
Du, nichts Bleibendes,
Labyrinthe,
kein Ansatz, keine Wende,
ein Fragezeichen,
und das Ende nah.
Die Kurgäste, Sommerfrischler, alles
abgezogen, ausgestuhlt das große
Konzert dieses Sommers, Pause.
Vermisst wird ein Paukenschlag
auf das weite leere Fell
des früh ergrauten Tages, vermisst
ein Klang von Horngold
oder dunkel entsagendem Rot,
Blut, keine Tinte, nicht Geraniengepinkel.
Aber die Musikanten sind verladen,
die Instrumente eingesargt,
nur eine Flöte noch, die Liebesflöte,
wird dünn, zweibeinig
in den Wind geblasen.
Mondschlei schwimmt,
der feuchte Silbermund,
die Wälder haben ihren würzigen Schlaf.
Wir aber tauchen ein ins Rosenöl
und gehen barfuß sanft
den Blütenpfad von dir zu mir.
Schmerzendes erlischt,
tritt sich die Flammenspitzen
aus im finstern Haus.
Tief ein in unsern Leib,
ins lichte Fleisch,
vergräbt die Nacht
den fünfgezackten Stern,
und unterm Herzensgrund,
wo blaue Rosen schauern,
liegen unsere Quellen
Mund an Mund.
Venise, freskenhafter Traum!
Nebelschleier kriechen ans Land,
Laternengerippe verseuchen den Dunst,
und über dem Horizont verschieben
sich Schwermutsfugen ineinander.
Die Gondeln wiegeln getarnt und dichtgereiht
gegen den Kai und reiben
die hölzerne Melodie unter die Figuren.
Über die Marmortreppen hinauf
hetzen die Meerhunde ihren Schaum,
und auf den Arkaden, in den Bildersälen,
wanken die schwer vergoldeten Rahmen aus dem Lot.
Feuerfest ist das Land.
Im grünen Sprühlicht tanzen
die geköpften Säulchen untereinander vertäut
und ans Haltlose gebunden;
Worte aus Gischt fressen sich ins Gemäuer ein
und steigen den Dogen faul in den Mund:
Koseworte für die Peitschknaben und die
Wasserhuren.
Löscht die Kerzen auf dem sinkenden Scherben,
löscht, schweigt mit den Kerzen,
wächsern, wässrig,
und schon abgebunden.
Von sömmerlichen Notenblättern,
in denen alle Kreuze fallen,
spielst du
auf vergilbten Tasten eine Sonate
in den herbstlich getäferten Raum.
Schwermut verdunkelt ihn
wie eine Dame in violettem Samt.
Du legst ihr
Klanggeschmeide um den Hals.
Schwarze Vögel rauschen auf,
Abschiedskadenzen im Terzenflug,
die vom Spiel erhärteten Hände
wandern wie Spinnen ins Haar,
leis tickt die Uhr und rüstet
zum Schlag von Mörderhand,
und sachte stehn die Kreuze auf
unter der entflogenen Melodie.
Drüben,
die Schreie,
rostig
aufragende Brücken,
sterben ab überm
schwarzen Fluss,
drüben,
jenseits der Grenze
von Ich und Opal,
die du barfuß in
feuchten Schmerz trittst,
drüben versinkt
eine Küste
im weißen Schlaf,
schwarzer Mohn
blüht im Nebel,
am Rosengeländer wandelt
schmal
die Engelsgestalt
deines Wahns.
Drüben,
im giftigen Lachen
versinken die Worte
und blinken wie
totes Silber herauf.
Nun wachsen sie wieder, die
Grabsteine im Eichengarten,
unbeschriftet und nackt, mit
einer zierlichen Rundung für
jedes verstorbene Gefühl. Aus
dem dicken Laubteppich stoßen
sie hervor wie Zähne aus jungem
Fleisch, ein lose gestaffeltes
Heer, und halten die Hügel besetzt.
Aber aus den Kronen fallen tot
herab Hörner und Trommeln, grün
verbeultes Blech. In den Trichtern
vermodert der letzte Trauermarsch
November, den die Bäume mit
nebelgesättigten Lungen bliesen.
Nur noch der Regen weiß ein kaltes
Lied zu rieseln und die Blätter
für seine Kloaken schiffbar zu machen.
Die Wände sind Tafeln aus Schnee
mit Wildspuren, die zur Decke führen.
Spinnen hocken in den Ecken und
weben ein Netz von haarfeinen Rissen.
Das Licht, bevor es durch die Luke tritt,
bündelt sich blau und zuckt als
Milchblitz herab, selten gerinnt es
zum Farbchoral eines Glasfensters.
Nachts erwachen die Schattenfratzen,
fliegen wie Fledermäuse davon,
Hirschgeweihe wachsen von der Decke,
Eukalyptusnebel spiralen sich ein,
nachts erscheinen Flammenschriften,
manchmal ein Wort nur, ein feurig
geschmiedetes, das wie ein weither
geschleuderter Dolch stecken bleibt,
und der König zerschlägt seine
steinerne Stirn im Eisspiegel.
Die Wände sind Tafeln aus Schnee
mit Versspuren, die zum Herzen führen.
‹Nebelgeliebte›. Manuskript einer Vorstufe (1965).
Im Nebel begegnest du mir,
Nebelgeliebte,
im Park zwischen schweren Bäumen,
eine Witwe unter Weiden,
die ihr schwarzes Haar zurückwirft
und lacht,
eine läubliche Gestalt im langen
Regenkleid,
über Wiesen und Kieswege streifend.
Wie du die Blumenbeete kränkst
mit feuchten Blicken!
Unter deiner beringten Hand
erstarren die Kinderschaukeln.
Ich ruf dich an
beim schönen Namen:
Jordibeth!
Du nickst, lüftest
wie zum Gruß den Schleier,
und ich blick in zwei tote Kastanien.
Schon bist du entflohn
über die Autobahn in die Stadt,
du hängst dich zwischen Hochhausfassaden,
umschwärmst die Neonreklamen,
du verliebst dich in Limousinen,
du küsst den Asphalt und die Schaufenster
von Leder- und Pelzgeschäften,
jedem Trunkenbold gibst du dich
auf der Straße,
der nach Sternbildern tastet,
herzlos bist du, kalt und käuflich,
Jordibeth,
Dirne der Einsamkeit.
Tanze mein blaues Pferd,
tanze,
schlag aus in der Brust,
bis zur Blauglut tanze,
dass die Disteln erglitzern,
und erstirb!
Lesbar
bleibt die Wundschrift
deiner Hufe im Schnee,
wenn sie von den Metallhufen
meiner Maschine auf anderes
Weiß überspringt,
deutlich und schön
in gültiger Wortfigur.
KINDERGEDICHTE
Die Sonne scheint, der Landmann pflügt,
das Kindlein weint, der Rabe fliegt,
der Bote geht, die Bäuerin lacht,
der Gockel kräht, der Hofhund wacht.
So zeigt das erste Bild die ländliche Idylle,
doch tauschen nun die Verben Platz in aller Stille:
Die Sonne pflügt, der Landmann scheint,
das Kindlein fliegt, der Rabe weint,
der Bote wacht, die Bäuerin geht,
der Gockel lacht, der Hofhund kräht.
Und weiter geht’s im Text mit der Verwandlung.
Doch mich entzückt die optische Behandlung
einer Gestalt, der Sonne, durch die ganze Bildserie.
Nur im Vergleich, der Frage nach dem Wie,
wird offenbar des Graphikers Genie:
Die Sonne mit der Glatze, wie sie Zähne zeigt und kräht,
die Sonne eilend auf der Straße, und das Röcklein weht,
die Sonne, schlank, als Dame hinterm schweren Pflug,
die Bauersfrauensonne, lachend, pausbackig und klug,
die Sonne auf dem blassen Stroh, als wollte sie kujiehnen,
das arme Söhnchen, nimmer froh, weint bitter gelbe Tränen.
Gemessen am synoptischen Pläsier
verblasst der Text zu Variante vier:
Die Sonne kräht, der Landmann weint,
das Kindlein geht, der Rabe scheint,
der Bote fliegt, die Bäuerin wacht,
der Gockel pflügt, der Hofhund lacht.
Die Verse, wenn auch surreal,
sind allzu hübsch manierlich
und im Vergleich zum Bild banal,
das bunt wirkt und possierlich:
Die Sonne steht im Hemdlein auf dem Hundehaus und kräht,
das nackte Kind auf staubiger Straße mit dem Eilbrief geht,
der Landmann sitzt, die Fäustchen in den Augen, da und weint,
der Rabe spreizt die schwarzen Flügel im Zenit und scheint,
der Bote mit dem blauen Mantel über Äcker fliegt,
der Gockel stellt den Kamm, treibt wild die Pferde an und pflügt,
die Bäuerin an der Kette kniet auf Stroh, den Hof bewacht,
dieweil der Hund die Pfoten in die Hüften stemmt und lacht.
An diesem Bild entzündet sich
die Kinderphantasie.
Was wäre, wenn, so frage ich
und aber, wo und wie:
Was wäre, wenn die kregle Sonne nun, die ohnehin vor Hitze brennt,
ihr rotes Hemd dem Botenkind ausleihen würde für den weiten Weg?
Der Landmann weint. Sieht er denn nicht, wie über ihm ein Vogel lustig scheint?
Wie geht ein Rabe auf? Wie schwarz wird er bei einer Sonnenfinsternis?
Wie kann der Bote mit den Armen fliegen und zugleich Pakete tragen?
Dem Gockel glaub’ ich nicht, dass starke Pferde sich von ihm befehlen lassen.
Die feiste Bäuerin aber, wie nur, sagt, schlüpft sie durchs enge Hundeloch?
Mein stolzer Hund, wie lange noch stehst aufrecht du auf deinen Hinterbeinen?
So frag ich hin, so frag ich her,
die Bilder antworten nicht mehr.
Enttäuscht ist meine Phantasie
von dieser ländlichen Serie.
Die Wut kocht auf, man ist betrogen
und – ratsch – zerreißt den Bilderbogen:
Die halb zerfetzte Sonne scheint, das Bein des Landmanns pflügt,
der Schranz im Bauch des Kindes weint, die Rabenfeder fliegt,
der Bote auf zwei Stummeln geht, der Kopf der Bäuerin lacht,
und eh’ der Gockel dreimal kräht, hat Ajax ausgewacht.
Hört die Moral von der Geschicht:
Man spiele mit Idyllen nicht!
August: Auf unserm Schulhausplatz, mit Kreide vorgezeichnet,
ein Labyrinth von Budengassen in der Mittagsglut.
Da steht mein altes Karussell im Staub, die Plachen zugeknöpft.
Es dreht sich langsam wie vom Wind getrieben,
und aus dem Innern weht ein süßer Kampferduft.
Noch immer spring ich ab in voller Fahrt
und schlage mit der Stirn auf einen Stein.
Ich sehe Sterne und die schwarzen Haare meines Vaters
in einer Nageltrommel kreisend über mir
und rieche Gas aus einem grünlichen Ballon.
Ein greller Wiener-Walzer rasselt ab,
die Bälge schnaufen laut im Orgelkasten.
Der rote Schalter kippt, die Plachen blähen sich und reißen:
Von dunklen Quasten schwirren Motten auf,
Glühbirnen leuchten stumpf im Sonnenlicht.
Tief hängen Fahnen von Scharlach
aus dem geborstenen Himmel mit den Bildertafeln,
auf denen freche Weiber ihre Röcke heben.
Am Galgen sind die Ringe angebracht,
und auf dem Sockel faltet sich das perforierte Band.
Posaunen brechen aus dem Kartonleib.
Ein rostiger Falter klebt am Herz aus Türkenhonig.
Nackt in der blauen Wiege liegt die Kinderbraut.
Vom Schimmel stürzt der ausgestopfte Bräutigam,
sein Kopf verglüht als stinkender Komet.
Hoch auf der silbernen Draisine sitzt
und grinst der dürre Harlekin,
sein Kostüm schillert fiebrig weiß.
Weit lehnt er über die Plattform hinaus
und schnappt in jeder Runde nach dem goldnen Ring.
Es klickt, er hat ihn, freie Fahrt!
Doch weggeschleudert wird die Puppe,
die Achse stellt sich schief,
und wie ein irrer Kreisel torkelt
das Karussell nun auf mich zu.
Ein geiler Knall: die Orgel explodiert,
Glühbirnen platzen, Spiegel scherbeln,
und Speichen, Kutschenfransen, Baldachine,
die Teile eines Wracks aus Eiweiß und Trompetengold
sind aufgeflogen und zerstreut in alle Winde.
Da endlich setzt in meiner Stirn der Walzer aus,
der die chimärenhaften Gäule angetrieben,
und von der Schramme blättert ab ein glasig roter Lack.
August, die Hitze flimmert, auf dem leeren Platz,
verwischt im Staub: die Spur, ein Achsenkreuz.
«Um Mitternacht, mein Wilhelm», sprach die Hex’ im Traum,
«musst du mit einem Küchenmesser auf den Kirchturm steigen,
sollst vom Rand der Glocke Rost abkratzen und mit diesem Pülverlein
die Suppe deiner lieben Schwester würzen, denn nur so
kannst du das Kind von meinem Bann erlösen.»
Klein Wilhelm, der will alles tun
für das arme, verzauberte Trudchen.
Der Küster Bockhorst trinkt beim Kerzenschein
den heißen Punsch in seiner Stube.
Da dünkt ihn kurz nach Mitternacht, er hör’
ein Schaben, fast wie Glockenschwingen.
«Das kommt vom Turm», sagt Bockhorst,
«was ein rechter Küster ist,
lässt solchen Ton untätig nicht verklingen.»
Wilhelm indessen rittlings sitzt
auf einem Balken hoch im Glockenstuhle
und kratzt mit stumpfem Messer, kurz nach Mitternacht,
den Rost ab, den er auffängt mit der Mütze.
An Trudchen denkt er, an das arme Kind,
das nicht mehr lacht, noch weint, noch singt,
seit es die Kröte hocken sah in einer Pfütze.
Dem Küster kommt’s nicht recht geheuer vor, dass angelehnt
die Turmtür steht. Er tritt ins muffige Verlies,
hebt hoch die Kerze, ruft: «Was ist da oben los, gefälligst?»
Ein kalter Luftzug bläst die Flamme aus.
Er hört den Schrei, Gepolter, und es stürzt
der Glockenschwengel durchs Gebälk vor seine Füße.
Dann Totenstille, kurz nach Mitternacht.
Klein Wilhelm, der den Halt verloren,
greift nach dem Glockenrand. Doch unter ihm
das Uhrwerk rüstet schon zum Schlag. Die Glocke schwingt,
noch ohne Laut. Sie reißt vom luft’gen Sitz den Knaben,
er zappelt mit den Beinen überm tiefen Schacht.
Die Fledermäuse schwirren, kurz nach Mitternacht.
Verloren bist du, Wilhelm, bist verloren.
Die Glocke holt nun weiter aus,
schwingt, dass sie fast den Dachstuhl sprengt.
Zwei Hände binden, welch ein Graus,
die Füße Wilhelms fest, er wird gehängt:
im Glockenbecher aufgeknüpft,
und dröhnend wie ein Klöppel schlägt
sein blutiger Kopf hart an die Wandung.
Der Küster Bockhorst aber starrt entsetzt
hinauf ins finstere Gebälk.
Ein Feuerschein erhellt das Turmgemäuer.
Die Glocke schallt weit in die Nacht
und glüht, als wär’ sie neu gegossen:
«Der Wilhelm schreit, der Wilhelm schreit
nach dem armen, verzauberten Trudchen.»
Wohl hundert Jahre sind seither verflossen.
Hoch oben auf dem Turm, wo heut
die Schwalben und die Störche nisten,
wo Zifferblätter, königsblau, den Nachmittag verschlafen,
da klingt noch manchmal wie ein dumpfes Glockenschaben
die Sage nach vom Turm-Wilhelm, da liegt, wer weiß,
noch heut die Mütze mit dem Häufchen Rost
für das lachende, weinende, singende Trudchen.
KIRCHBERGER IDYLLEN
Was man denn, frug ich die Großmutter, wenn man studiere, studiere,
War mir doch längstens klar: Pfarrer, das ist mein Beruf!
Schwarz im Talar auf den Klängen der Orgel durch Kirchen zu schweben,
Unter dem Ärmel die Schrift, Scheiben-Apostel im Chor,
Stufe um Stufe das gotische Schnitzwerk der Kanzel zu stürmen,
Atem zu holen fürs Wort: dies war ein lohnendes Ziel.
Heute bin ich ein Pfarrhaus-Verweser und brauche nur Wörter,
Neble das Südzimmer ein, wo einst die Predigt gedieh.
Bücher in Massen statt eines in Flammen geschriebenen Textes,
Ordner, Skripte und Wust; Duden, die Schreibkonkordanz.
Allerlei Muße: das Malzeug, der Ton überwintern im Ofen,
Krimskrams im Messingversteck, früher das Steinkissenloch.
Allerlei Musen: die Büste Athenes mit steinblinden Augen,
Kagrans Prinzessin im Wind, göttlich der Garbo Profil.
Pläne, Modelle und Pausen von niemals verwirklichten Bauten
Hängen vergilbt an der Wand, zeugen von nützlichem Tun.
Humus von Blättern, Postalien, Journalen, auf Tischen verzettelt,
Makulatur für den Korb, mittenmang mal ein Gedicht.
Lesen, bei Tag? Eine Sünde. Ich sitze im Sessel am Fenster,
Lasse der Aare den Lauf, blinzle ins blinkende Band.
Auch ein Rüchlein Tabak: Charutos, Sumatra und Brasil,
Kistchen, mit Blattgold bronziert, stützen das Œuvre von Kleist.
Rauchringe blasend studier ich, was wohl ein Studierter studiere:
Zweimal im selben Fluss schwimmt man nicht gegen den Strom.
Vorn auf dem Blattspitz des wehrhaften Kirchhofs wächst eine Linde,
Nüsperli-Linde genannt; auf einem Täfelchen steht:
«Unter dieser von ihm selbst errichteten Linde
Ruht …», wer solcherart spricht, ist seines Nachruhms gewiss.
Durch ein taxusverkleidetes Tor betret ich die Stube,
Meinen Argovia-Balkon: Hier lebt der Bronnersche Geist!
Rund um den Baum hat der Sigrist die eichene Sitzbank gezimmert,
Weil dies sein Kiltplatz war, als er die Martha gefreit.
Unter dem schützenden Dach der Lindenblätter genießt man
Frei den herrlichsten Blick: Ölgrün spiegelt der Fluss
Aaretalabwärts die silberbekrönten Auwälder bis Wildegg,
Staufberger Hügel und Schloss Lenzburg im bläulichen Dunst.
Mahnst mich an Lubowitz, Freiherr von Eichendorffs Heimat in Schlesien,
Sommerschwüle im Park, bleiern die Oder im Grund.
Urnengräber im Rücken, betrachte ich Suret und Länzert,
Schornig und Moorberger Bank, Lotte, den Liebeggerwald.
Hundertundfünfzig Jahre schon nährt der Humus des Pfarrers
Wurzel, Krone und Stamm dieses einzigen Baums.
Jakob Nüsperli war zur Zeit der Helvetik ein Freigeist,
War im Kulturkanton lang eine treibende Kraft;
Auf dem Kirchberg im Pfarrhaus versammelte sich die Elite,
Welche der Wissenschaft ihr Gymnasium gab;
Hatte im Stecklikrieg den Zorn der Bauern zu fürchten,
Nanny versöhnte die Schar mit einem währschaften Mahl.
Heinrich Zschokke, ihr späterer Gatte, begehrte die Linde,
Dank dem Sittengericht blieb der Baumriese stehn,
Teilt den Platz mit dem Denkmal des eidgenössischen Obersts,
Helm und Degen gekreuzt hoch auf dem Deckel des Steins.
Welch ein Portal: zwei Sophoren flankieren den Aufgang zum Garten,
Schatten mit ihrem Gezelt weit in die Straße hinaus.
Efeuumwuchert und hohl die knorrig verknoteten Stämme,
Sprengen mit Wurzelkraft Stützmauer, Treppe und Weg,
Tragen ein Krüppelgewölbe verschlungener Arme und Kröpfe,
Überzwerch und morsch, Korkenziehergehölz;
Blühen im Monat August: zwei Raupen von hellgrünen Rispen,
Süßer Akazienduft steigt zum Studierzimmer auf.
Perlschnurartige Gliederhülsen wachsen als Früchte,
Erst um Weihnachten fällt rösch von den Frösten das Laub.
Oft bleib ich stehn vor dem Binnengeflecht der verhedderten Zweige,
Schlangen zischen mich an, Ottern und Viperngezücht;
Fratzen seh ich, Fabelgesichter, bizarre Chimären,
Rüssel, Schnabel und Schwanz, albtraumhaftes Getier.
Wigger, der Friedhofnarr, ist in die Schirme verwachsen,
Hat ins Gekröse geglotzt wie ein verdächtiger Pilz.
Krumme Sophora japonica, ostasiatischer Herkunft,
Bist in Japan bekannt als der Dichter Symbol.
Oft hab ich wirre Gedanken verloren im wuchernden Astwerk,
Hab aus dem Labyrinth meine Gesichte befreit.
Krähen flecken vom Wald in den Garten, bevölkern die Birke,
Halten kroaxend Gericht, klumpen wie Schöffen im Stuhl.
Isst man ihr blutiges Herz, verleiht es prophetische Kräfte,
Unter dem Galgen belauscht, lehren die Vögel Magie.
Picken die stelzigen Fräcke ums Haus, ist’s ein düsteres Zeichen,
Krächzen sie heiser im Chor, bringen sie Kriegsnot ins Land.
Biblische Feldraben lehrten den Adam die Leichen begraben,
Wasenmeister im Rock, blechschwarze Küster zuhauf.
Knarren Flugs ziehn Krähen zur Aare und segeln im Kreise,
Stutzerscheuchen im Korn schrecken den Klaasvogel kaum.
Rabenhirn, roh, weckt die Liebe, die Galle stärkt das Gemächte,
Mantik der Quacksalberei, heilsamer Corvus corax!
Schlechtes Omen, wenn Krähen den Schornstein besetzen und häufeln,
Hört man ihr Kraken im Bett, heißt das: Maroder, du stirbst!
Flugs aus der Arche verflucht hat Noah das Biest nach der Sintflut,
Schwarz hat die Sonne gebrannt, schwarz den Vogel versengt.
Wüstes Geschrei im Weidhölzli, ein jäsendes Aas wird umzingelt,
Schillerndes Fliegengeschmeiß, klaffende Flanke im Dreck.
Rabenfedern zu finden im Gras ist ein glückliches Zeichen,
Eh man zu krätzen beginnt, spuckt man die Spitze ins Fass.
Schultergenosse des Dichters und Wappenvogel des Friedhofs,
Bei den Krähen ist’s wahr, schreibt man mit Kolkrabenblut.
Habt ihr’s vernommen? Der Laubkäfer-Fritz ist gestorben. Drei Tage
Lag er, von keinem vermisst, in seiner Bettstatt im Lätt.
Zwygart erhält als Erster die Zeitung. Er schaufelt in Kürze
Je nach Wunsch einen Schacht oder der Urne ein Loch.
Morgens um sechs beginnt er zu graben, er pickelt sich tief und
Tiefer in den Lehm, Lätt hierzulande genannt.
«Küttiger Kürbisse», flucht er, wenn der Pickel auf große
Steine im Erdreich stößt, ächzend stemmt er sie raus.
Hart an die Friedhofmauer kommt der Fritz nun zu liegen,
Hat noch vor kurzem geglaubt, dort sei kein Platz mehr für ihn.
Zaungast bin ich des Todesbetriebs, es schickt sich mitnichten,
Jenseits der Grenze zu stehn, Maulaffen sind dort nicht feil,
Aber ich merke mir, was mich betrifft: ein tödlicher Unfall.
Keiner ist stark genug, nicht zu erschrecken dabei,
Wenn der Spaten klinkend die untersten Schichten heraufholt,
Flach vom Erddruck der Sarg, schimmlig zersplissenes Holz,
Beckenknochen und Speichen, zertrümmerte Scherben von Schädeln,
Brustkasten violett verpappt, Halswirbel, Steißbein und Fuß.
Ecce homo – nach drei Jahrzehnten –, der Anblick ist lehrreich,
Zeitig soll man den Tod aus der Nähe besehn,
Sind wir doch samt und sonders Todes-Analphabeten,
Klammern das Sterben aus, sondern die Leichname ab.
Ehrlicher ist’s, wie mein Nachbar mit dem Pickel zu wüten,
Schwitzend dem neuen Skelett Knochen als Gabe zu leihn.
Erdbestattung, Abdankung, Leichenschmaus, was für Vokabeln,
Trockener Buchstabentrost für die Gewissheit: ein Loch
Wird in den Boden gegraben, zieht man die Spundbretter raus, so
Schließt sich polternd der Spalt, und im Ossarium herrscht Ruh.
Habe mich nie dagegen gesträubt, es zu lernen. Was hilft’s? Der
Laubkäfer-Fritz ist tot; mir galt es diesmal noch nicht.