{5}1

Es war August, und eigentlich hätte es nicht regnen dürfen. Vielleicht war Regen aber auch ein zu starkes Wort für das Nieseln, das die Einzelheiten der Landschaft verschwimmen ließ und dafür sorgte, daß meine Scheibenwischer in Bewegung waren. Ich fuhr in Richtung Süden und war zwischen Los Angeles und San Diego.

Die Schule lag jenseits des Highway zu meiner Rechten, auf einem großen eigenen Gelände, das sich der Küste entlang erstreckte. In Richtung des Meeres sah ich den trüben Schimmer jenes Morastes, der dieser Gegend den Namen gegeben hatte: Laguna Perdida. Ein Blaureiher stand, winzig durch die Entfernung, wie eine Statuette am Rand des gekräuselten Wassers.

Auf das Gelände fuhr ich durch automatische Tore, die sich hoben, als mein Wagen eine Kontaktschiene überfuhr. Ein grauhaariger Mann in blauer Uniform kam aus einem Pförtnerhäuschen und humpelte auf mich zu.

»Haben Sie einen Passierschein?«

»Dr. Sponti möchte mich sprechen. Mein Name ist Archer.«

»Richtig, Ihr Name steht hier.« Er zog eine mit Maschine geschriebene Liste aus der Innentasche seines Jacketts und schwang sie, als wäre er stolz darauf, lesen zu können. »Sie können auf dem Platz vor dem Verwaltungsgebäude parken. Das Büro von Sponti ist dann gleich drinnen.« Mit einer Handbewegung zeigte er auf ein verputztes Gebäude; es lag hundert Meter weiter an der Straße.

Ich bedankte mich. Er humpelte zu seinem Häuschen zurück, blieb dann stehen, drehte sich um und schlug mit der Hand gegen sein Bein. »Steifes Knie. Weltkrieg eins.«

»So alt sehen Sie gar nicht aus.«

»Bin ich auch nicht. Als ich Soldat wurde, war ich fünfzehn, sagte ihnen jedoch, ich wäre achtzehn. Einigen von den Jungen hier,« sagte er, und plötzlich bekam er dabei {6}einen zornigen Ausdruck, »würde es ganz gut tun, auch mal im Dreck zu liegen.«

Nirgends waren irgendwelche Jungen zu sehen. Die Gebäude der Schule lagen, auf kahlen Feldern und zwischen Eukalyptuswäldchen weit verstreut, wie vereinzelte Bestandteile einer nicht errichteten Stadt unter dem grauen Himmel.

»Kennen Sie den jungen Hillman?« sagte ich zu dem Pförtner.

»Ich habe von ihm gehört. Er ist ein Unruhestifter. Bevor er verschwand, hat er East Hill völlig durcheinander gebracht. Patch wäre fast geplatzt.«

»Wer ist Patch?«

»Mr. Patch,« sagte er unbeteiligt, »ist der Aufseher von East Hall. Er wohnt mit den Jungen zusammen, und das geht ihm schwer auf die Nerven.«

»Was hat der junge Hillman denn angestellt?«

»Wie Patch behauptet, hat er versucht, eine Rebellion anzuzetteln. Behauptete, die Jungens in der Schule hätten dieselben Bürgerrechte wie jeder andere auch. Was aber nicht stimmt. Das sind doch alles Minderjährige, und außerdem sind die meisten im Kopf nicht ganz klar. Sie würden es nicht für möglich halten, was ich in meinen vierzehn Jahren als Pförtner alles erlebt habe.«

»Verschwand Tommy Hillman durch dieses Tor?«

»Nein. Er kletterte über den Zaun. Zuerst durchschnitt er das Drahtgeflecht vor dem Schlafsaal der Jungen und verschwand dann, mitten in der Nacht.«

»Vorgestern nacht?«

»Stimmt genau. Wahrscheinlich ist er jetzt schon wieder zu Hause.«

Das war er nicht, denn sonst wäre ich nicht hier gewesen.

Dr. Sponti mußte beobachtet haben, wie ich meinen Wagen parkte. Vor der Tür zu seinem Büro wartete er im Zimmer der Sekretärin auf mich. In der linken Hand hielt er ein Glas Buttermilch, in der rechten eine Diätwaffel. Die {7}Waffel schob er in den Mund und gab mir dann kauend die Hand. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

Er war dunkel, rotgesichtig und stämmig und hatte das leicht verzweifelte Aussehen eines Mannes, der abnehmen mußte. Wahrscheinlich war er ein stark gefühlsbetonter Mensch – man merkte es an seinen feuchten, unruhigen Augen –, der jedoch gelernt hatte, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Gekleidet war er in einen teuren, konservativen dunklen Anzug mit Nadelstreifen, der locker an ihm hing. Seine Hand war schlaff und kalt.

Dr. Sponti erinnerte mich an einige Leichenbestatter, die ich kennengelernt hatte. Selbst sein Büro mit den dunklen Mahagonimöbeln und dem grauen Licht vor dem Fenster erinnerte an ein Bestattungsinstitut, als trauerten Schule und Direktor ständig um ihre Schüler.

»Nehmen Sie Platz,« sagte er mit melancholischer Stimme. »Wir haben gewisse Schwierigkeiten, die ich Ihnen bei unserem Ferngespräch bereits mitteilte. Normalerweise beschäftigen wir keine Privatdetektive, um verlorengegangene Jungen zu – äh – zu überreden, wieder zurückzukommen. Aber hier handelt es sich, wie ich fürchte, doch um einen besonderen Fall.«

»Wodurch ist er besonders geworden?«

Sponti nahm einen Schluck Buttermilch und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe. »Verzeihen Sie – kann ich Ihnen irgend etwas anbieten?«

»Nein, danke.«

»Ich meinte nicht das hier.« Nervös schüttelte er die cremige Flüssigkeit in seinem Glas. »Ich könnte etwas aus der Gemeinschaftsküche kommen lassen. Auf der Speisekarte stehen heute Kalbsschnitzel.«

»Nein, danke. Mir wäre es lieber, Sie gäben mir die Informationen, die ich brauche, so daß ich mich an die Arbeit machen kann. Warum haben Sie mich kommen lassen, um einen Ausreißer zu suchen? Bei Ihnen dürfte so etwas doch nicht selten sein.«

{8}»Es sind nicht so viele, wie Sie vielleicht glauben. Mit der Zeit gewöhnen sich die meisten unserer Jungen daran, daß die Schule Mittelpunkt ist. Wir haben ein reichhaltiges und vielfältiges Programm. Thomas Hillman war jedoch noch keine Woche hier, und Verschiedenes deutete bereits darauf hin, daß es ihm schwerfallen würde, sich an der Gruppe zu orientieren. Er ist ein schwieriger junger Mann.«

»Und das macht seinen Fall zu einer Ausnahme?«

»Ich will Ihnen gegenüber offen sein, Mr. Archer,« sagte er und zögerte. »Für die Schule ist die Situation ziemlich peinlich. Wider besseres Wissen habe ich Tom Hillman aufgenommen, im Grunde auch ohne vollständige Kenntnis seiner Vergangenheit, nur weil sein Vater darauf bestand. Und jetzt gibt Ralph Hillman uns die Schuld daran, daß sein Sohn ent … das heißt, daß er heimlich Urlaub nahm. Hillman hat mit gerichtlichen Schritten gedroht, falls dem Jungen irgend etwas zustoßen sollte. Vor Gericht wird er damit nicht weit kommen – Ähnliches haben wir bereits erlebt –, aber in der Öffentlichkeit könnte uns so etwas schaden.« Dann fügte er noch hinzu, und eigentlich sprach er dabei zu sich selbst: »Patch hat einen Fehler gemacht.«

»Was hat Patch gemacht?«

»Leider war er unnötigerweise heftig. Nicht, daß ich ihm von Mensch zu Mensch die Schuld zuschieben möchte. Aber vielleicht ist es besser, wenn Sie mit Mr. Patch selbst sprechen. Er kann Ihnen dann sämtliche Einzelheiten über das – äh – Verschwinden von Tom erzählen.«

»Später würde ich ihn gern sprechen. Aber vielleicht erzählen Sie mir noch einiges über die Vergangenheit des Jungen.«

»Das kann ich nur sehr begrenzt. Wir bitten die Familien oder die Ärzte um eine detaillierte Schilderung der bei uns eintretenden Schüler. Mr. Hillman versprach uns eine schriftliche Darstellung, hat sie uns aber bis heute noch nicht geschickt. Und ich hatte ziemliche Schwierigkeiten, ihm {9}wenigstens einige Tatsachen zu entlocken. Er ist ein ausgesprochen stolzer und sehr jähzorniger Mensch.«

»Und auch ein wohlhabender?«

»Über seine finanziellen Verhältnisse bin ich nicht orientiert. Die meisten Eltern leben in guten Verhältnissen,« fügte er mit einem flüchtigen, blasierten Lächeln hinzu.

»Ich würde mich mit Hillman gern unterhalten. Wohnt er hier?«

»Ja, aber bitte, versuchen Sie nicht, ihn aufzusuchen, zumindest nicht heute. Er rief mich vorhin gerade wieder an, und es würde ihn noch mehr aufregen.«

Sponti erhob sich von seinem Stuhl und trat ans Fenster. Ich folgte ihm. Draußen hing der feine Regen wie eine sichtbare Depression in der Luft.

»Dennoch benötige ich eine sehr genaue Beschreibung des Jungen und alles, was sich über seine Gewohnheiten feststellen läßt.«

»Das kann Patch Ihnen sagen, besser als ich. Er war mit ihm täglich in Kontakt. Und Mrs. Mallow, die Hausmutter, können Sie auch fragen. Sie ist geschult und beobachtet sehr genau.«

»Hoffen wir, daß es so ist.« Allmählich machte Sponti mich ungeduldig. Er schien zu spüren, daß das Verschwinden des Jungen unwirklicher wurde, je weniger er mir über ihn erzählte. »Wie alt ist er, oder ist auch das geheim?«

Sponti schielte leicht, und seine schlaffen Wangen bekamen rote Flecken. »Ich verbitte mir diesen Ton.«

»Das ist Ihr Vorrecht. Wie alt ist Tom Hillman?«

»Siebzehn.«

»Haben Sie ein Bild von ihm?«

»Die Familie hat mir keines zur Verfügung gestellt, obgleich wir routinemäßig darum gebeten haben. Ich kann Ihnen aber kurz sagen, wie er ungefähr aussieht. Er ist ein bescheiden wirkender junger Bursche, wenn man den mürrischen Gesichtsausdruck, den er gewöhnlich hat, unberücksichtigt läßt. Er ist ziemlich groß, etwa einen Meter achtzig, sieht aber älter aus, als er ist.«

{10}»Die Augen?«

»Dunkelblau, glaube ich. Sein Haar ist dunkelblond. Wie sein Vater hat er scharfe Züge, wenn man so sagen kann.«

»Irgendwelche Merkmale?«

Er zuckte mit den Schultern. »Mir sind keine bekannt.«

»Aus welchem Grund kam er hierher?«

»Natürlich zur Behandlung. Aber er blieb nicht lange genug, daß sie sich auswirken konnte.«

»Was war nun eigentlich mit ihm los? Sie sagten, er sei schwierig, aber das ist eine sehr allgemeine Beschreibung.«

»Das sollte sie auch sein. Es ist schwer zu sagen, was diese Jungen im Sturm des Heranwachsens bedrückt. Häufig helfen wir ihnen, ohne zu wissen, warum oder wie. Außerdem bin ich kein Arzt.«

»Das hatte ich angenommen.«

»Nein. Unserem Stab gehören natürlich Ärzte und auch Psychiater an. Mit ihnen zu sprechen, hätte allerdings nicht viel Sinn. Ich bezweifle, daß Tom lange genug hier war, um seinen Psychiater überhaupt kennenzulernen. Kein Zweifel besteht jedoch daran, daß er high war.«

»High?«

»In gefühlsmäßiger Hinsicht; indem er die Kontrolle über sich verlor. Er war in schlechter Verfassung, als sein Vater ihn herbrachte. Wir gaben ihm Beruhigungsmittel, aber bei den verschiedenen Patienten wirken sie nicht immer gleich.«

»Hat er sehr viele Schwierigkeiten gemacht?«

»Allerdings. Offen gestanden, ich bezweifle, ob wir ihn noch einmal aufnehmen, wenn er zurückkommt.«

»Trotzdem wollen Sie mir den Auftrag geben, ihn zu suchen?«

»Mir bleibt nichts anderes übrig.«

Wir sprachen noch über die finanzielle Seite, und er gab mir einen Scheck. Dann ging ich über die Straße zur East Hall. Bevor ich eintrat, um Mr. Patch zu sprechen, drehte {11}ich mich um und blickte auf das Gebirge jenseits des Tales. Wie halbvergessene Gesichter wirkten die Berge im Dunst. Der einsame Blaureiher flog vom Rand des Morastes auf und segelte in ihre Richtung.

2

East Hall war ein großflächiges, einstöckiges Gebäude, das irgendwie nicht in diese weite Landschaft paßte. Das gewöhnliche und reizlose Aussehen wurde von den hohen engen Fenstern noch betont, die alle mit Maschendraht versperrt waren. Vor allem von der Tatsache, daß es eine Art Gefängnis war, was zu sein es leugnete. Die dornigen Pyracantha-Sträucher, die den Rasen vor dem Gebäude einfaßten, ähnelten eher Barrieren als einer Zierde. Selbst im Regen wirkte das Gras verdorrt.

Dasselbe galt für die Jungen, die durch die Haupttür marschierten, als ich näher kam. Jungen jeglichen Alters von zwölf bis zwanzig, Jungen aller Art und aller Größen, die nur eines gemeinsam hatten: sie glichen Angehörigen einer geschlagenen Armee. Sie erinnerten mich an die blutjungen Soldaten, die wir während des letzten Krieges am Rhein gefangennahmen.

Zwei Schüler sorgten für Ordnung. Ich folgte ihnen in einen großen Vorraum, dessen Einrichtung aus ziemlich abgewetzten Möbeln bestand. Die beiden Anführer gingen geradewegs zu einem Pingpongtisch, der in einer Ecke stand, griffen nach den Schlägern und begannen ein schnelles und intensives Spiel mit einem Ball, den einer der beiden aus der Tasche seiner Windjacke geholt hatte. Sechs oder sieben Jungen sahen ihnen dabei zu. Vier oder fünf beschäftigten sich mit Comic-Büchern. Die übrigen standen herum oder betrachteten mich.

Ein junger Bursche mit knospendem Bart, der sich eigentlich rasieren müßte, kam lächelnd auf mich zu. Sein {12}Lächeln war strahlend, verschwand jedoch wie eine optische Illusion. Er kam mir so nahe, daß seine Schulter gegen meinen Arm stieß. Hunde tun so etwas, um zu sehen, ob der Fremde auch freundlich ist.

»Sind Sie der neue Aufseher?«

»Nein. Ich dachte, Mr. Patch sei hier der Aufseher.«

»Aber nicht mehr lange.« Ein paar jüngere Burschen kicherten. Der Bärtige ähnelte einem erfolgreichen Komödianten. »Das hier ist die Abteilung für Gewalttätige. Hier hält es keiner lange aus.«

»So gewalttätig finde ich es hier gar nicht. Wo ist Mr. Patch?«

»Drüben im Eßsaal. Er wird gleich kommen. Dann fängt der Spaß erst richtig an.«

»Für dein Alter redest du ziemlich zynisch. Wie alt bist du?«

»Neunundneunzig.« Seine Zuhörer lachten. »Mr. Patch ist erst neunundvierzig. Deswegen fällt es ihm auch so schwer, ein väterliches Vorbild zu sein.«

»Vielleicht rede ich dann lieber mit Mrs. Mallow.«

»Sie ist in ihrem Zimmer und trinkt zu Mittag. Mrs. Mallow trinkt immer zu Mittag.« Die lächelnde Bosheit in seinen Augen wurde zu einem bösen Glitzern. »Sind Sie ein Vater?«

»Nein.«

Im Hintergrund klickte der Tischtennisball wie eine sinnlose Unterhaltung hin und her.

Einer der Zuhörer sagte laut: »Er ist kein Vater.«

»Vielleicht ist er dann eine Mutter?« meinte der Bärtige. »Sind Sie eine Mutter?«

»Aussehen tut er aber nicht wie eine Mutter. Er hat keinen Busen.«

»Meine Mutter hat auch keinen Busen,« sagte ein dritter. »Deswegen fühle ich mich doch mißachtet.«

»Laßt diesen Unsinn jetzt.« Dabei wünschten sie sich sehnlichst, ich wäre ein Vater oder sogar eine Mutter, {13}jedenfalls jemand, der zu ihnen gehörte, dieser Wunsch stand deutlich in ihren Augen. »Ihr wollt doch wohl nicht, daß ich mich auch mißachtet fühle, oder?«

Niemand antwortete. Der bärtige Junge sah lächelnd zu mir hoch. Es dauerte etwas länger als sein erstes Lächeln. »Wie heißen Sie? Ich bin Frederick Tyndal der Dritte.«

»Ich bin Lew Archer der Erste.«

Ich führte den Jungen von seinem Publikum weg. Er sträubte sich gegen die Berührung, kam jedoch mit und setzte sich neben mich auf ein rissiges Ledersofa. Einige Jungen hatten eine abgespielte Schallplatte auf einen Plattenspieler gelegt. Zwei fingen an, zu dem heiseren Gesang, einer Selbstparodie, miteinander zu tanzen. »Surfin’ ain’t no sin« hieß der Refrain.

»Kanntest du Tom Hillman, Fred?«

»Ein bißchen. Sind Sie sein Vater?«

»Nein. Ich habe doch vorhin schon gesagt, daß ich kein Vater bin.«

»Erwachsene sagen nicht immer die Wahrheit.« Er zupfte an seinen Kinnhaaren, als haßte er das Anzeichen, langsam erwachsen zu werden. »Mein Vater hat gesagt, er werde mich auf eine Militärschule schicken. Er ist in der Regierung ein großes Tier,« fügte er leise, ohne jeden Stolz, hinzu und sagte dann in völlig anderem Ton: »Tom Hillman kam mit seinem Vater auch nicht zurecht. Deswegen wurde er hierher gebracht. Die Einbahnstraße zum wunderbaren Königreich.« Dabei verzog er sein Gesicht zu einem wütenden, verzerrten und hoffnungslosen Grinsen.

»Hat Tom mit dir darüber gesprochen?«

»Ein bißchen. Er war nicht lange hier. Fünf Tage. Oder sechs. Sonntagabend kam er, und Samstagnacht verschwand er.« Unbehaglich rutschte er auf dem knarrenden Sofa herum. »Sind Sie von der Polizei?«

»Nein.«

»Ich überlegte auch bloß. Sie fragen nämlich wie einer von der Polizei.«

{14}»Hat Tom irgend etwas getan, was die Polizei interessieren könnte?«

»Das haben wir doch alle, oder?« Sein unruhiger und zugleich kühler Blick wanderte durch den Raum und verharrte bei den Gestalten der tanzenden Jungen. »Für East Hall hat man sich nur qualifiziert, wenn man kriminell geworden ist. Ich bin selbst ein kriminelles Genie gewesen. Ich habe nämlich die Unterschrift des großen Tieres auf einem Fünfzig-Dollar-Scheck gefälscht und bin über das Wochenende nach San Francisco gefahren.«

»Und was hatte Tom angestellt?«

»Einen Wagen geklaut, glaube ich. Es war sein erstes Vergehen, sagte er, und er würde leicht Bewährung kriegen. Aber sein Vater wollte, daß nichts an die Öffentlichkeit kommt, und deswegen hat er ihn hierher gebracht. Außerdem glaube ich, daß Tom Streit mit seinem Vater gehabt hat.«

»Ich verstehe.«

»Warum reden Sie eigentlich immer nur von Tom?«

»Weil ich ihn suchen soll, Fred.«

»Und ihn dann hierher zurückbringen?«

»Ich bezweifle, daß man ihn hier wieder aufnehmen wird.«

»Hat der ein Glück.« Mehr oder weniger unbewußt rückte er wieder näher an mich heran. Deutlich roch ich sein ungepflegtes Haar, seinen ungepflegten Körper und spürte seinen Kummer. »Ich würde auch abhauen, wenn ich wüßte, wo ich dann bleiben könnte. Das große Tier würde mich doch bloß dem Jugendamt übergeben. Dabei würde er dann Geld sparen.«

»Wußte Tom, wo er bleiben kann?«

Er richtete sich kerzengerade auf und betrachtete mein Gesicht aus den Augenwinkeln. »Das habe ich nicht behauptet.«

»Aber ich habe dich danach gefragt.«

»Hätte er es gewußt, würde er es mir bestimmt nicht gesagt haben.«

{15}»Mit wem war er in der Schule am engsten befreundet?«

»Er war mit keinem befreundet. Als er kam, war er so aufgeregt, daß man ihn in ein Einzelzimmer steckte. Ich bin hingegangen und habe einmal nachts mit ihm geredet, aber viel hat er mir nicht erzählt.«

»Auch nicht über seinen Plan, wo er hingehen wollte?«

»Geplant hat er gar nichts. Am Samstag abend versuchte er, einen Aufruhr anzuzetteln, aber die anderen sind noch die reinsten Kinder. Deswegen ist er abgehauen. Er schien ziemlich aufgeregt.«

»War er emotional gestört?«

»Sind wir das nicht alle?« Er klopfte gegen seine Stirn und verzog sein Gesicht zu einer Maske. »Sie sollten sich mal meinen Rorschachtest ansehen.«

»Ein andermal.«

»Wie Sie wollen.«

»Es ist wichtig, Fred. Tom ist noch sehr jung, und er war aufgeregt, wie du selbst gesagt hast. Seit zwei Nächten ist er verschwunden, und es besteht die Möglichkeit, daß er in sehr große Schwierigkeiten gerät.«

»Schlimmer als hier?«

»Das weißt du selbst, sonst wärst du auch schon lange über den Zaun geklettert. Hat Tom irgend etwas darüber gesagt, wo er hin wollte?«

Der Junge antwortete nicht.

»Dann nehme ich also an, daß er es dir gesagt hat.«

»Nein.« Aber er wollte mir nicht ins Gesicht sehen.

Mr. Patch betrat den Raum und änderte dessen unbesorgte Atmosphäre. Die beiden tanzenden Jungen taten, als hätten sie miteinander gerungen. Die Comic-Bücher verschwanden wie Bündel heißen Geldes. Die Pingpongspieler steckten den Ball weg.

Patch war ein Mann in mittleren Jahren mit schütter werdendem Haar und dicker werdenden Wangen. Ein zweireihiger hellbrauner Gabardineanzug spannte sich über seiner ziemlich korpulenten Vorderfront. Auch sein Gesicht {16}verzog sich: zu einem höhnischen Lächeln der Macht, das nicht zu seinem empfindsamen kleinen Mund paßte. Als er sich im Raum umblickte, sah ich, daß seine Augen gerötet waren.

Er ging zum Plattenspieler, schaltete ihn ab, und seine Stimme unterbrach die plötzliche Stille.

»Mittagszeit ist nicht Musikzeit, Jungs. Musikzeit ist nach dem Abendbrot, von sieben bis halb acht.« Dann wandte er sich an einen der Pingpongspieler: »Vergiß das nicht, Deering. Tagsüber keine Musik. Ich mache dich dafür verantwortlich.«

»Yessir.«

»Hast du nicht eben Pingpong gespielt?«

»Wir haben nur einen Ballwechsel geübt, Sir.«

»Woher hattest du den Ball? Soviel ich weiß, sind die Bälle in meinem Schreibtisch eingeschlossen.«

»Das stimmt, Sir.«

»Woher hast du dann den Ball, mit dem ihr gespielt habt?«

»Ich weiß nicht, Sir.«

Deering fummelte in seiner Windjacke. Er war ein linkischer Junge mit einem Adamsapfel, der von außen wie ein verschluckter Pingpongball aussah. »Ich glaube, ich muß ihn gefunden haben.«

»Wo hast du ihn gefunden? In meinem Schreibtisch?«

»Nein, Sir. Ich glaube, es war irgendwo auf dem Gelände.«

Mit einer Art melodramatischer Vorsicht näherte sich Mr. Patch ihm. Als er den Raum durchquerte, schnitten die Jungen hinter ihm Gesichter, wedelten mit den Armen und machten Unsinn. Einer der Jungen, der zu den Tänzern gehörte, ließ sich lautlos zu Boden fallen, wobei er mit einer Handbewegung tat, als schnitte er sich die Gurgel durch, erstarrte sekundenlang in der Pose eines sterbenden Gladiators und stand dann wieder auf.

In leidendem Tonfall erklärte Patch: »Du hast ihn gekauft, {17}nicht wahr, Deering? Du weißt, daß die Vorschriften es euch untersagen, eigene Bälle mitzubringen. Das weißt du, nicht wahr? Immerhin bist du Präsident der East Hall Legislative Assembly und hast daran mitgearbeitet, diese Vorschriften zu formulieren. Stimmt das?«

«Yessir.»

»Dann gib mir den Ball, Deering.«

Der Junge händigte Patch den Ball aus. Patch bückte sich, um ihn auf den Fußboden zu legen – während ein Junge hinter ihm so tat, als versetzte er ihm einen Tritt –, und zertrat ihn mit dem Absatz. Die Reste gab er Deering.

»Es tut mir leid, Deering. Aber ich muß die Vorschriften genauso einhalten wie du.« Er wandte sich an die andern Jungen, die unter seinem Blick jede Eigenart verloren hatten, und sagte sanft: »Also, Jungens, was steht auf dem Plan …?«

»Ich, glaube ich,« sagte ich und erhob mich von dem Sofa. Ich nannte meinen Namen und fragte, ob ich ihn allein sprechen könne.

»Gewiß,« sagte er mit besorgtem Lächeln, als könnte ich tatsächlich sein Nachfolger sein. »Kommen Sie mit in mein Büro. Deering und Bronson, ihr übernehmt die Aufsicht.«

Sein Büro war eine fensterlose Kabine, die einen ungeordneten Schreibtisch und zwei steife Stühle enthielt. Vor dem Geräusch, das aus dem Vorraum durch den Korridor drang, schloß er die Tür, knipste dann eine Tischlampe an und setzte sich seufzend hin.

»Man muß ihnen immer überlegen bleiben.« Er redete wie ein Mann, der seine Gebete spricht. »Und Sie wollen sich mit mir über einen meiner Jungen unterhalten?«

»Über Tom Hillman.«

Der Name bedrückte ihn. »Sind Sie der Beauftragte seines Vaters?«

»Nein. Dr. Sponti schickte mich her, damit ich mich mit Ihnen unterhalten kann. Ich bin Privatdetektiv.«

»Ach so.« In einer Art Schmollen warf er die Lippen auf. {18}»Vermutlich hat Sponti mir, wie üblich, die Schuld zugeschoben.«

»Er sprach von unnötiger Heftigkeit.«

»Das ist Unsinn!« Mit geballter Faust schlug er auf den zwischen uns stehenden Tisch. Sein Gesicht lief dunkelrot an. Dann wurde es leichenblaß, ähnlich einer überbelichteten Photographie. Nur das leicht gerötete Weiße seiner Augen behielt seine Farbe. »Sponti schlägt sich mit diesen Tieren auch nicht herum. Ich muß es schließlich wissen, wann physische Disziplin erforderlich ist. Seit fünfundzwanzig Jahren helfe ich jetzt bereits bei der Betreuung jugendlicher Krimineller.«

»Es scheint Sie jedoch ziemlich mitzunehmen.«

Mit einer Anstrengung, die sein Gesicht verzerrte, bekam er sich wieder in die Hand. »O nein, ich liebe diese Arbeit – wirklich. Jedenfalls ist sie das einzige, für das ich ausgebildet worden bin. Ich liebe die Jungen. Und sie lieben mich.«

»Das habe ich vorhin erlebt.«

Er hörte nicht auf meine ironische Bemerkung. »Wäre Tom Hillman länger hier gewesen, hätte ich mich mit ihm ebenfalls angefreundet.«

»Warum ist er nicht hiergeblieben?«

»Er ist weggelaufen. Das wissen Sie. Dem Gärtner stahl er eine Schere, und mit ihr zerschnitt er den Maschendraht vor seinem Schlafzimmerfenster.«

»Wann war das genau?«

»Irgendwann in der Nacht vom Samstag, zwischen meinem Rundgang um elf und dem Rundgang am frühen Morgen.«

»Und was war vorher passiert?«

»Am Samstag abend, meinen Sie? Et wiegelte die anderen Jungen auf und stachelte sie an, das hier wohnende Personal anzugreifen. Nach dem Abendbrot hatte ich den Speisesaal verlassen, und von hier aus hörte ich seine Ansprache. Er versuchte die Jungen davon zu überzeugen, daß man sie {19}ihrer Rechte beraubt hätte und daß sie für diese Rechte kämpfen müßten. Einige leicht Erregbare ließen sich beeinflussen. Als ich Hillman jedoch befahl, den Mund zu halten, war er der einzige, der auf mich losging.«

»Hat er Sie geschlagen?«

»Ich war schneller,« sagte Patch. »Dessen schäme ich mich nicht. Gegenüber den anderen mußte ich meine Autorität aufrechterhalten.« Er rieb sich die Faust. »Ich schlug ihn zu Boden. Man muß gelegentlich seine eigene Männlichkeit unter Beweis stellen. Wenn ich zuschlage, steht keiner vorzeitig wieder auf. Auf diese Weise gibt man den Jungens ein Vorbild, das sie respektieren.«

Um ihn zu unterbrechen, sagte ich: »Und was passierte danach?«

»Ich brachte ihn in sein Zimmer und meldete dann Sponti den Vorfall. Meiner Ansicht nach hätte der Junge in die Gummizelle gehört. Aber Sponti widersetzte sich meinem Rat. Hillman wäre niemals ausgebrochen, wenn Sponti mir erlaubt hätte, ihn in die Gummizelle zu bringen. Unter uns gesagt: es war Spontis Fehler.« Dann unterbrach er sich und sagte mit leiserer Stimme: »Aber verraten Sie es ihm nicht.«

»In Ordnung.«

Langsam zweifelte ich daran, aus Patch irgend etwas Nützliches herauszubekommen. Er war genauso verschlissen wie die Möbel im Gemeinschaftsraum. Der Lärm, der aus dieser Richtung kam, wurde ständig lauter. Müde stand Patch auf.

»Wahrscheinlich ist es besser, ich gehe jetzt wieder hin, bevor sie das ganze Haus einreißen.«

»Ich wollte Sie nur noch etwas fragen. Haben Sie eine Ahnung, wo Tom Hillman hingegangen sein könnte, nachdem er hier ausbrach?«

Patch dachte über meine Frage nach. Es schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten, sich die Außenwelt vorzustellen, in die der Junge verschwunden war. »Los Angeles,« {20}sagte er schließlich. »Gewöhnlich fahren sie nach Los Angeles. Oder sie fahren in Richtung Süden nach San Diego und zur Grenze.«

»Oder nach Osten?«

»Wenn die Eltern im Osten leben, fahren sie manchmal auch dorthin.«

»Oder in westlicher Richtung über den Ozean?« Ich hatte ihm einen Köder hingeworfen.

»Das stimmt. Einmal stahl ein Junge ein Drei-Meter-Boot und fuhr in Richtung der Inseln.«

»Es scheint hier eine ganze Menge Ausreißer zu geben.«

»Im Laufe der Jahre summiert es sich natürlich. Sponti ist gegen strenge Sicherheitsmaßnahmen, wie wir sie in Juvenile Hall hatten. Bei den vielen Ausreißern überrascht es mich, daß er sich bei diesem einen Fall so anstellt. Der Junge taucht bestimmt wieder auf – das tun fast alle.«

Patch sprach, als freute er sich nicht gerade über diese Möglichkeit.

Irgend jemand klopfte an die Tür. »Mr. Patch?« fragte eine Frau hinter der geschlossenen Tür.

»Ja, Mrs. Mallow?«

»Die Jungens sind bald nicht mehr zu bändigen. Auf mich hören sie nicht. Was machen Sie denn da drinnen?«

»Ich habe eine Besprechung. Dr. Sponti hat mir einen Mann geschickt.«

»Ausgezeichnet – einen richtigen Mann können wir dringend brauchen.«

»Was soll das heißen?« Er drängte sich an mir vorbei und öffnete die Tür. »Behalten Sie bitte Ihre Bemerkungen für sich, Mrs. Mallow. Mir sind einige Dinge bekannt, für deren Kenntnis Dr. Sponti sehr dankbar wäre.«

»Mir auch,« sagte die Frau.

Sie war auffällig geschminkt, und das gefärbte rote Haar hing ihr in Ponyfransen in die Stirn. Sie trug ein dunkles, strenges Kleid, das seit etwa zehn Jahren unmodern war, sowie mehrere Reihen unechter Perlen. Ihr Gesicht war {21}dennoch angenehm, obgleich ihre Augen durch inneres und äußeres Entsetzen getrübt waren.

Als sie mich sah, strahlte sie. »Hallo.«

»Mein Name ist Archer,« sagte ich. »Dr. Sponti holte mich, damit ich das Verschwinden von Tom Hillman untersuche.«

»Ein nett aussehender Junge,« sagte sie. »Zumindest war er es, bis unser hiesiger Marquis de Sade sich seiner annahm.«

»Ich handelte in Notwehr,« rief Patch. »Es macht mir keinen Spaß, andere Menschen zu schlagen. Aber ich vertrete in East Hall die Autorität, und wenn man mich angreift, ist es genau so, als ermordeten die Jungen ihren Vater.«

»Dann machen Sie sich mit Ihrer Autorität lieber auf den Weg, Vater. Wenn aber diese Woche noch jemand verletzt wird, schneide ich Ihnen bei lebendigem Leibe das Herz heraus.«

Patch sah sie an, als wäre er überzeugt, daß sie so etwas tun könnte. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand mit schnellem Schritt in Richtung des lärmenden Raumes. Unvermittelt erstarb der Lärm, als hätte Patch eine schalldichte Tür hinter sich geschlossen.

»Der arme Patch,« sagte Mrs. Mallow. »Er ist schon viel zu lange hier. Das sind wir alle. Allzu langer Kontakt mit den Seelen Heranwachsender, wenn Seele das richtige Wort ist, und schließlich reden wir alle nur noch Unsinn.«

»Warum bleiben Sie dann?«

»Wir haben uns so daran gewöhnt, daß wir draußen nicht mehr leben können. Uns geht es wie langjährigen Häftlingen. Das ist das Schlimme daran.«

»Hier scheinen die Menschen ungewöhnlich bereit zu sein, ihre Probleme darzulegen …«

»Das kommt von der psychiatrischen Atmosphäre.«

»Aber dennoch,« fuhr ich fort, »erzählt mir keiner das, was ich wissen möchte. Können vielleicht Sie mir etwas Genaueres über Tom Hillman sagen?«

»Ich kann Ihnen nur meine eigene Impression beschreiben.«

{22}Sie hatte leichte Schwierigkeiten mit dem Wort, und anscheinend wirkte es sich auch auf ihr Gleichgewicht aus. Sie betrat das Büro von Patch und lehnte sich an den Tisch, so daß sie mich ansah. Ihr Gesicht, vom nach oben gerichteten Licht der Lampe zur Hälfte im Schatten gelassen, erinnerte mich an das einer Sibylle.

»Tom Hillman ist ein recht netter Junge. Er gehörte nicht hierher. Das hat er selbst sehr schnell gemerkt. Deswegen verschwand er.«

»Warum gehörte er nicht hierher?«

»Soll ich Ihnen Einzelheiten nennen? East Hall ist im wesentlichen ein Aufenthaltsort für Jungen mit Problemen der Persönlichkeit und des Charakters oder mit einer soziopathischen Tendenz. Die stärker gestörten Jugendlichen, Jungen wie Mädchen, befinden sich in West Hall.«

»Und dorthin hätte Tom gehört?«

»Kaum. Man hätte ihn überhaupt nicht nach Laguna Perdida schicken sollen. Das ist zwar nur meine eigene Ansicht, aber vielleicht ist sie doch etwas wert. Früher war ich eine recht gute klinische Psychologin.« Sie blickte jetzt in das Licht hinunter.

»Dr. Sponti schien Tom für gestört zu halten.«

»Auf andere Gedanken kommt Dr. Sponti nie, schon gar nicht in derartigen Fällen. Wissen Sie, was die Eltern dieser Kinder bezahlen? Tausend Dollar pro Monat, dazu noch alle Sonderausgaben, Musikunterricht oder Gruppentherapie.« Sie lachte rauh. »Dabei gehören in der Hälfte aller Fälle die Eltern hierher. Oder in Anstalten, wo es noch ganz anders zugeht.

Tausend Dollar pro Monat,« wiederholte sie. »Deswegen verdient dieser sogenannte Dr. Sponti im Jahr seine fünfundzwanzigtausend. Das ist mehr als das Sechsfache dessen, was er mir bezahlt, damit ich die Händchen der Kinder halte.«

Sie war eine Frau, die irgendeinen Kummer hatte. Manchmal ist Kummer der Grund, daß man die Wahrheit sagt, {23}wenn auch nicht immer. »Was meinten Sie damit: dieser sogenannte Dr. Sponti?«

»Er ist kein Arzt, nicht einmal ein richtiger Doktor. Den Doktorgrad erwarb er sich mit einer Arbeit über die Schulverwaltung, und zwar auf einer dieser Diplomfabriken unten im Süden. Wissen Sie, worüber er seine Dissertation geschrieben hat? Über die Küchenversorgung der mittelgroßen Boarding School.«

»Um auf Tom zurückzukommen,« sagte ich. »Warum brachte sein Vater ihn hierher, wenn er keine psychiatrische Behandlung brauchte?«

»Das weiß ich nicht. Ich kenne seinen Vater nicht. Wahrscheinlich wollte er seinen Sohn los sein.«

»Warum?« bohrte ich weiter.

»Der Junge steckte in irgendwelchen Schwierigkeiten.«

»Hat Tom Ihnen das erzählt?«

»Er sprach überhaupt nicht darüber. Aber ich kann gewisse Zeichen deuten.«

»Haben Sie auch die Geschichte gehört, daß er einen Wagen gestohlen hat?«

»Nein, aber das würde vieles bei ihm erklären. Er ist ein sehr unglücklicher junger Mensch und schuldbewußt dazu. Er gehört nicht zu den abgebrühten jugendlichen Kriminellen. Genaugenommen gehört keiner dazu.«

»Sie scheinen Tom Hillman gemocht zu haben.«

»Das wenige, was ich von ihm sah. In der vergangenen Woche wollte er mich sprechen. Ich versuche immer, mich den Jungen nicht aufzudrängen. Abgesehen vom Unterricht, verbrachte er die meiste Zeit in seinem Zimmer. Wahrscheinlich versuchte er irgend etwas vorzubereiten.«

»Vielleicht den Plan für eine Revolution?«

Ihre Augen funkelten amüsiert. »Das haben Sie also auch schon gehört! Der Junge besaß mehr Verstand, als ich ihm zugetraut hatte. Machen Sie nicht so ein überraschtes Gesicht. Ich stehe auf seiten der Jungen. Weswegen wäre ich wohl sonst hier?«

{24}Mrs. Mallow begann mir zu gefallen. Da sie es spürte, kam sie näher und berührte meinen Arm. »Sie hoffentlich auch. Auf Toms Seite, meine ich.«

»Damit warte ich, bis ich ihn kennenlerne. Außerdem ist es nicht wichtig.«

»Das ist es doch. Es ist immer wichtig.«

»Was passierte eigentlich genau zwischen Tom und Mr. Patch am Samstagabend?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Samstagabend habe ich immer frei. Wenn Sie wollen, Mr. Archer, können Sie es sich notieren.«

Sie lächelte, und flüchtig erkannte ich den Sinn ihres Lebens. Sie kümmerte sich um andere Menschen. Um sie kümmerte sich jedoch niemand.

3

Durch eine Nebentür, die erst aufgeschlossen werden mußte, ließ sie mich hinaus. Es regnete gerade so, daß mein Gesicht naß wurde. Tiefhängende Wolken sammelten sich über den Bergen, und wahrscheinlich bedeutete dies, daß es vorerst weiterregnen würde.

Ich machte mich auf den Rückweg zum Verwaltungsgebäude. Sponti sollte erfahren, daß ich mit Tom Hillmans Eltern sprechen mußte, ob es ihm nun paßte oder nicht. Die unterschiedlichen Angaben über Tom, die ich von Leuten gehört hatte, die ihn mochten oder nicht, gaben mir keinen klaren Eindruck von seinen Gewohnheiten und seiner Persönlichkeit. Er konnte ein verfolgter Halbwüchsiger oder aber ein Psychopath sein, der genau wußte, wie man ältere Frauen beeindrucken kann, oder irgend etwas dazwischen, wie Fred der Dritte.

Ich paßte nicht auf, wo ich hinging, und so wurde ich auf dem Parkplatz beinahe von einem gelben Taxi überfahren. Ein Mann in einem Tweedanzug stieg aus dem Fond. {25}Ich dachte schon, er wolle sich bei mir entschuldigen, aber anscheinend hatte er mich überhaupt nicht gesehen.

Es war ein großer silberhaariger Mann, gut genährt, gepflegt und unter normalen Umständen wahrscheinlich gut aussehend. Im Augenblick wirkte er verstört. Er rannte in das Verwaltungsgebäude. Ich ging hinter ihm her und fand ihn bei Spontis Sekretärin, mit der er sich gerade stritt.

»Es tut mir sehr leid, Mr. Hillman,« sagte sie gerade. »Dr. Sponti ist bei einer Konferenz. Ich kann ihn unmöglich stören.«

»Ich an Ihrer Stelle würde es lieber tun,« sagte Hillman mit rauher Stimme.

»Es tut mir leid. Sie müssen schon warten.«

»Aber ich kann nicht warten. Mein Sohn befindet sich in den Händen von Verbrechern. Man versucht mich zu erpressen.«

»Ist das wahr?« Ihre Stimme klang gar nicht mehr berufsmäßig, sondern scharf.

»Ich habe nicht die Angewohnheit zu lügen.«

Das Mädchen entschuldigte sich und verschwand in Spontis Büro, wobei sie die Tür sorgfältig hinter sich schloß. Ich sprach Hillman an und nannte ihm meinen Namen sowie meinen Beruf.

»Dr. Sponti hat mich zugezogen, um Ihren Sohn zu suchen. Ich wollte Sie schon aufsuchen. Jetzt scheint es dringend erforderlich zu sein.«

»Weiß Gott.«

Er ergriff meine Hand. Er war ein großer, beeindruckender Mann. Sein Gesicht hatte jene knöcherne Struktur, die man bei alten Patriziern findet und die nicht unbedingt mit Verstand, Fähigkeiten oder gar Anstand kombiniert zu sein braucht, aber ganz allgemein mit Geld zusammenhängt. Er hatte einen kräftigen Brustkasten und breite Schultern. Aber in seinem Griff lag keine Kraft. Er zitterte am ganzen Körper wie ein verängstigter Hund.

»Sie sagten eben etwas von Verbrechern und Erpressung.«

»Das stimmt.« Aber seine stahlgrauen Augen wanderten {26}immer wieder zur Tür von Spontis Büro. Er wollte mit jemandem sprechen, dem er die Schuld zuschieben konnte. »Was machen die denn da drinnen?« sagte er leicht aufgebracht.

»Das dürfte nicht so wichtig sein. Wenn Ihr Sohn tatsächlich entführt worden ist, kann Sponti Ihnen nicht viel helfen. Dann wäre es ein Fall für die Polizei.«

»Nein! Die Polizei bleibt draußen. Ich habe die Anweisung, sie draußen zu lassen.« Zum ersten Mal sahen seine Augen mich richtig an, hart vor Mißtrauen. »Sie sind kein Polizist, nicht wahr?«

»Ich sagte Ihnen doch vorhin, daß ich Privatdetektiv bin. Vor einer Stunde bin ich aus Los Angeles hier eingetroffen. Wie haben Sie das mit Tom herausbekommen, und wer hat Ihnen die Anweisung gegeben?«

»Einer der Bande. Er rief zu Hause an, als wir gerade beim Mittagessen saßen. Er warnte mich, wir sollen uns ruhig verhalten, sonst würde Tom nie mehr zurückkehren.«

»Hat er das gesagt?«

»Ja.«

»Was hat er noch gesagt?«

»Man will mir Informationen über Toms Aufenthalt verkaufen. Das war aber nur eine Umschreibung für Lösegeld.«

»Wieviel?«

»Fünfundzwanzigtausend Dollar.«

»Haben Sie soviel?«

»Im Laufe des Nachmittags werde ich das Geld haben. Ich verkaufe einige Aktien. Bevor ich hierher kam, bin ich bei meinem Börsenmakler in der Stadt gewesen.«

»Sie handeln schnell, Mr. Hillman.« Er brauchte eine respektvolle Bemerkung. »Aber mir ist nicht ganz klar, warum Sie hierher gekommen sind.«

»Ich traue diesen Leuten nicht,« sagte er mit gedämpfter Stimme. Anscheinend hatte er vergessen – oder hatte es nicht gehört –, daß ich für Sponti arbeitete. »Ich glaube, {27}daß Tom von hier weggelockt worden ist. Vielleicht mit Hilfe von innen, und jetzt will man es vertuschen.«

»Das bezweifle ich sehr stark. Ich habe bereits mit dem Betreffenden gesprochen. Er und Tom hatten am Samstagabend eine Auseinandersetzung, und später hat Tom ein Drahtgitter durchgeschnitten und ist über den Zaun geklettert. Mehr oder weniger hat einer der Schüler dies bestätigt.«

»Ein Schüler würde zuviel Angst haben, die offizielle Version zu bestreiten.«

»Nicht dieser Schüler, Mr. Hillman. Sollte Ihr Sohn entführt worden sein, ist es passiert, nachdem er hier verschwand. Sagen Sie, hatte er irgendwelche Verbindungen zu Verbrechern?«

»Tom? Sie müssen wahnsinnig sein!«

»Ich hörte, daß er einen Wagen gestohlen hat.«

»Hat Sponti Ihnen das erzählt? Dazu hatte er nicht das Recht.«

»Ich hörte es aus anderer Quelle. Junge Menschen stehlen Wagen gewöhnlich erst dann, wenn sie bereits Erfahrungen außerhalb des Gesetzes gesammelt haben, vielleicht in einer Bande Jugendlicher …«

»Er hat den Wagen nicht gestohlen.« Hillmans Blick wich mir aus. »Er hat ihn sich von einem Nachbarn geborgt. Die Tatsache, daß er den Wagen zuschanden fuhr, war reiner Zufall. Er war erregt …«

Das war Hillman auch. Ihm fehlten Luft und Worte. Wie ein großer Fisch, der an der Angel zappelt und an die ihm fremde Luft gezogen wird, klappte sein Mund auf und zu. »Was sollen Sie mit den Fünfundzwanzigtausend machen?« sagte ich. »Sollen Sie auf weitere Anweisungen warten?«

Hillman nickte und setzte sich verstört auf einen Stuhl. Die Zimmertür Dr. Spontis hatte sich geöffnet, Sponti hatte zugehört, ich wußte nicht, wie lange schon. Er kam jetzt in den kleinen Vorraum, begleitet von seiner Sekretärin und gefolgt von einem Mann mit einem langen, bleichen Gesicht.

{28}»Wie war das mit der Entführung?« sagte Sponti mit schriller Stimme. Dann zwang er seine Stimme in einen gedämpften Ton. »Das tut mir leid, Mr. Hillman.«

Hillmans Sitzstellung änderte sich zu einer Art Ducken. »Es wird Ihnen noch viel mehr leid tun. Ich will wissen, wer meinen Sohn hier herausgeholt hat, unter welchen Umständen und mit wessen Einverständnis.«

»Ihr Sohn hat uns aus eigenem freiem Willen verlassen, Mr. Hillman.«

»Und Sie waschen Ihre Hände in Unschuld, nicht wahr?«

»Bei den uns Anvertrauten sind wir nie ohne Verschulden, mag ihr Aufenthalt auch noch so kurz gewesen sein. Ich habe Mr. Archer beauftragt, Ihnen behilflich zu sein. Und außerdem habe ich gerade mit Mr. Squerry, unserem Geschäftsführer, gesprochen.«

Der bleiche Mann verneigte sich feierlich. Schwarze Haarsträhnen legten sich quer über den fast kahlen Schädel. Er sprach mit einer präzisen Stimme.

»Dr. Sponti und ich haben beschlossen, Ihnen den vollen Betrag zurückzuerstatten, den Sie letzte Woche einzahlten. Wir haben gerade einen Scheck ausgestellt – hier ist er.«

Er reichte Hillman ein Stück gelbes Papier. Hillman zerknüllte es zu einer Kugel und warf sie Mr. Squerry zurück. Sie prallte von seiner eingefallenen Brust ab und fiel zu Boden. Ich hob sie auf. Der Scheck war auf zweitausend Dollar ausgestellt.

Hillman stürzte aus dem Zimmer. Ich folgte ihm, bevor Sponti meinen Auftrag rückgängig machen konnte, und erwischte Hillman, als er gerade in das Taxi steigen wollte.

»Wo wollen Sie hin?«

»Nach Hause. Meine Frau ist in keiner guten Verfassung.«

»Dann fahre ich Sie hin.«

»Nicht, wenn Sie für Sponti arbeiten.«

»Auch dann bin ich noch mein eigener Herr. Sponti hat mich beauftragt, Ihren Sohn zu finden. Sofern es menschenmöglich ist, werde ich es tun. Dazu benötige ich jedoch {29}eine gewisse Zusammenarbeit mit Ihnen und Mrs. Hillman.«

»Was können wir denn tun?« Er hielt mir seine großen hilflosen Hände entgegen.

»Erzählen Sie mir, was für ein Junge er ist, wer seine Freunde sind, wo er sich aufhält …«

»Und was soll das alles? Er befindet sich in den Händen von Verbrechern. Diese Verbrecher wollen Geld. Ich bin bereit zu zahlen.«

Der Taxifahrer, der ausgestiegen war, um Hillman die Tür zu öffnen, stand daneben und hörte mit offenem Mund und aufgerissenen Augen zu.

»Möglicherweise wird es nicht ganz so einfach sein,« sagte ich. »Aber darüber brauchen wir nicht gerade hier zu sprechen.«

»Mir können Sie trauen,« sagte der Fahrer heiser. »Ich habe einen Schwager bei der Highway Patrol. Außerdem rede ich nie über meine Fahrgäste.«

»Das möchte ich Ihnen auch nicht geraten haben,« sagte Hillman.

Er bezahlte den Mann und kam mit mir zu meinem Wagen.

»Da wir gerade von Geld reden,« sagte ich, als wir nebeneinander auf den Vordersitzen saßen, »wollten Sie tatsächlich zweitausend Dollar einfach wegwerfen?« Ich strich den gelben Scheck glatt und reichte ihn Hillman.

Man kann nie sagen, was den Zusammenbruch eines Menschen verursacht. Eine langdauernde Stille, das Läuten eines Telefons oder der falsche Klang in einer Frauenstimme. Bei Hillman war es jedenfalls der Scheck über zweitausend Dollar. Er steckte ihn in seine Brieftasche aus Krokodilleder, dann stöhnte er laut. Er bedeckte seine Augen mit den Händen und preßte seine Stirn gegen das Armaturenbrett. Krächzende Laute drangen aus seinem Mund, als zerrte eine wütende Krähe an seinen Gedärmen.

Nach einiger Zeit sagte er: »Ich hätte ihn nie dort {30}hinbringen dürfen.« Seine Stimme klang menschlicher, als wäre er zu einer tiefer gelegenen Schicht der Selbsterkenntnis durchgedrungen.

»Geschehenes ist nicht zu ändern.«

Er richtete sich auf. »Ich jammere auch nicht.« Seine Augen waren völlig trocken.

»Wir wollen uns nicht streiten, Mr. Hillman. Wo wohnen Sie?«

»In El Rancho. Das liegt auf halbem Wege zur Stadt. Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie auf dem kürzesten Weg hinkommen.«

Der Pförtner humpelte aus seinem Häuschen, und wir wechselten einen flüchtigen Gruß. Dann öffnete er die Tore. Entsprechend Hillmans Anweisungen befuhr ich eine Straße, die durch schilfbewachsenes Brachland führte, wo Amseln sich laut stritten, dann durch eine Gegend unmittelbar am Stadtrand, mit neuen Wohnungen überbaut, und schließlich an einem College-Campus entlang.

Wir passierten einen Flugplatz, wo gerade eine Maschine startete. Hillman sah hinüber, als wünschte er, an Bord dieser Maschine zu sein.

»Warum haben Sie Ihren Sohn in die Laguna Perdida School gesteckt?«

Seine Antwort kam langsam und bruchstückweise. »Ich hatte Angst. Er schien schnurstracks auf irgendwelche Schwierigkeiten zuzusteuern. Ich hatte das Gefühl, es verhindern zu müssen. Ich hoffte, man könnte ihn dort wieder in Ordnung bringen, damit er nächsten Monat auf die normale Schule zurückkehren kann. Dann beginnt nämlich sein letztes Schuljahr an der High School.«

»Könnten Sie sich nicht etwas ausführlicher über die Schwierigkeiten äußern, in denen er steckte? Meinen Sie damit den Wagendiebstahl?«

»Der gehörte dazu. Aber wie ich schon sagte, war es im Grunde kein Diebstahl.«

»Erläutert haben Sie diese Behauptung noch nicht.«

{31}»Er nahm den Wagen von Rhea Carlson. Rhea und Jay Carlson wohnen direkt nebenan. Wenn man einen neuen Dart die ganze Nacht mit dem Zündschlüssel im Schloß auf der Auffahrt stehen läßt, ist das praktisch eine Aufforderung zu einer Vergnügungsfahrt. Das habe ich ihnen auch gesagt. Jay hätte es sicher sofort zugegeben, wenn er nicht gerade schlecht auf Tom zu sprechen gewesen wäre. Oder wenn Tom den Wagen nicht zuschanden gefahren hätte. Der Schaden war zwar restlos gedeckt, sowohl von meiner Versicherung als auch von ihrer, aber sie betrachteten die ganze Angelegenheit eben gefühlsbetont.«

»Der Wagen war zuschanden gefahren?«

»Es war ein Totalschaden. Ich habe keine Ahnung, wie es ihm gelungen ist, sich mit dem Wagen zu überschlagen, aber er tat es. Glücklicherweise kam er ohne jede Schramme davon.«

»Wo wollte er hin?«

»Er war auf dem Heimweg. Der Unfall passierte praktisch vor unserer Tür. Ich zeige Ihnen gleich die Stelle.«

»Und wo war er gewesen?«

»Das wollte er nicht sagen. Er war die ganze Nacht weggewesen, wollte mir darüber jedoch nichts sagen.«

»Welche Nacht war das?«

»Samstagnacht. Vor einer Woche. Die Polizei brachte ihn morgens gegen sechs nach Hause und riet mir, den Arzt kommen zu lassen, was ich auch tat. Körperlich war ihm nichts passiert, aber sein Geist schien gelitten zu haben. Er geriet in Wut, als ich ihn zu fragen versuchte, wo er die Nacht verbracht habe. Ich hatte ihn noch nie so erlebt. Er war immer ein friedfertiger Junge gewesen. Er sagte, ich hätte kein Recht, über ihn Bescheid zu wissen, und daß ich in Wirklichkeit auch gar nicht sein Vater sei und so weiter und so fort. Leider verlor ich die Beherrschung und gab ihm, als er das sagte, eine Ohrfeige. Daraufhin wandte er mir den Rücken zu und wollte überhaupt nichts mehr sagen, gar nichts.«

{32}»Hatte er getrunken?«

»Das glaube ich nicht. Nein. Ich hätte es riechen müssen.«

»Und was ist mit Drogen?«

Ich merkte, wie er mir das Gesicht zukehrte, groß und undeutlich, da ich es nur aus den Augenwinkeln sah. »So etwas ist völlig ausgeschlossen.«

»Hoffentlich. Dr. Sponti erzählte mir, daß Ihr Sohn auf die Beruhigungsmittel sonderbar reagiert habe. Das erlebt man gelegentlich bei Leuten, die gewohnheitsmäßig Drogen nehmen.«

»Mein Sohn hat keine Drogen genommen.«

»Eine ganze Menge junger Leute tut heutzutage so etwas, und die Eltern sind meistens die letzten, die es erfahren.«

»Nein. So etwas war es nicht,« sagte er hastig. »Der Unfallschock hatte sich auf seinen Geist ausgewirkt.«

»Ist der Arzt auch dieser Ansicht?«

»Dr. Shanley ist Orthopäde und Chirurg. Mit psychiatrischen Störungen kennt er sich nicht aus. Überhaupt wußte er nicht, was am selben Morgen passiert war, als ich zum Haus des Richters ging, um wegen der Kaution vorzusprechen. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen.«

Ich wartete und hörte den Scheibenwischern zu. Ein grünweißes Schild am Straßenrand gab bekannt: »El Rancho.« Als wäre er froh, über neutrale Dinge sprechen zu können, sagte Hillman: »Nach einer Viertelmeile müssen Sie abbiegen.«

Ich fuhr langsamer. »Sie wollten mir erzählen, was an jenem Sonntagmorgen passiert ist.«

»Nein. Ich glaube nicht, daß ich es möchte. Für die gegenwärtige Situation hat es auch keine Bedeutung.«

»Woher wollen wir das wissen?«

Er antwortete mir nicht. Vielleicht hatte der Gedanke an sein Zuhause und die Nachbarn ihn zum Schweigen veranlaßt.

»Sagten Sie nicht, die Carlsons wären auf Tom nicht gut zu sprechen?«

{33}»Das sagte ich, – und es stimmt.«

»Ist Ihnen der Grund bekannt?«