Für Hannah, die mir gesagt hat,

dass ich keine Angst zu haben brauche.


Thias Bene: „Eines schönen Todes“

1. Auflage, November 2014, Periplaneta Berlin, Edition Periplaneta

© 2014 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Straße 81a, 10439 Berlin
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Genehmigung des Verlags.

Lektorat: Sarah Strehle
Cover und Grafiken: Luzi Felis
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-943876-81-9
epub ISBN: 978-3-943876-49-9
E-Book-Version 1.2



Thias Bene

Eines schönen
Todes

Kein Märchenbuch


Periplaneta

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Prolog: Mutabor

Er stand vor dem Spiegel und sah zufrieden seiner Verwandlung zu. Sie würde die beste sein. Wenn er fertig war, würde es perfekt sein. Er würde perfekt sein. Körper und Geist würden eine vollkommene Einheit bilden, seine Instinkte gleich einer hauchdünnen Klinge, scharf geschliffen und gefährlich.

Schon unzählige Formen hatte er gehabt, viele Namen getragen. Als Wolf würde er keinen mehr brauchen und falls doch, würde er sich eben einen neuen borgen.

Er wurde hungrig. Doch der gesamte Inhalt seiner Vorratskammer würde nicht reichen, diesen Hunger zu stillen. Tausend Vorratskammern würden nicht reichen. Denn dieser Hunger war anders. Dieser Hunger ließ sich nicht mit Brot stillen. Auch Blut würde ihn nicht für immer besänftigen. Dieser Hunger war unstillbar, unbezwingbar, unzähmbar. Er war allumfassend.

Seine Wahrnehmung veränderte sich. Farben verloren ihre Bedeutung, verschwammen zu einem gleichgültigen Grau. Die einzige Farbe, die für ihn noch eine Rolle spielen würde, war Rot. Ein tiefes Knurren entfuhr seiner Kehle bei dem Gedanken an diese wundervolle, vollkommene Farbe, bei dem Gedanken an einen roten Tropfen auf weißer, unschuldiger Haut.

Sein Geruchssinn schärfte sich. Eine wahre Sinfonie an Gerüchen, die er wohlig erschauernd in sich einsog, erfüllte die Luft. Für ihn würde es keine guten oder schlechten Gerüche mehr geben, nur noch wichtige oder unwichtige, Witterung oder Ablenkung, Beute oder Zeitverschwendung.

Sein Spiegelbild starrte ihn mit gelben Wolfsaugen an und etwas, das einmal ein Lächeln gewesen sein mochte, grinste raubtierhaft. Bisher war er ein Mensch gewesen, lediglich als Wolf verkleidet, weil er die Angst genoss, die er damit erzeugte. Doch jetzt war er ein Wolf, der sich als Mensch verkleiden würde, wenn er jemanden in Sicherheit wiegen wollte.

Zufrieden starrte er auf sein Spiegelbild. Die Verwandlung war abgeschlossen. Heute Nacht noch würde er auf die Jagd gehen. Er betrachtete sein neues Ich ein letztes Mal und bemerkte dabei einen kleinen Zettel, der hinter dem Spiegel klemmte. Auf ihm war nur ein einziges Wort notiert.

Mutabor

Er zerriss den Zettel. Nie wieder würde er dieses Wort gebrauchen. Dann lachte er so laut und lange, bis das Wort aus seinem Kopf verschwunden war. Sein Lachen wich mehr und mehr einem durchdringenden Heulen. Als Wolf verschwand er in der kühlen Nacht.

Schneewittchen

Die Sonne schien. Nicht warm und liebevoll sondern erbarmungslos und sengend. Die Welt hatte sich verkehrt und anstatt des Himmels spannte sich eine stahlblaue Hölle über die Welt, die mit fiebrig heißem Atem alles und jeden zu verbrennen suchte. Auch die Prostituierten saßen träge auf dem Bordstein und hoben kaum die Köpfe, wenn sich potentielle Freier näherten. Der urbane Puls hatte sich verlangsamt und das eingedickte Blut floss zäh durch die Adern der dehydrierten Stadt.

Einzig ein waches, nervöses Augenpaar bildete einen Kontrast zu dieser erdrückenden Szene. Es gehörte einem jungen Mädchen, das mit der beinahe albern anmutenden Gewissenhaftigkeit eines Nagetiers an einem Keks knabberte. Ihre Haut verriet, dass sie sich viel im Freien aufhielt, und auf dem Rücken ihrer Stupsnase zeichnete sich ein beginnender Sonnenbrand ab. So fokussiert fiel es leicht, sie für ein normales Mädchen zu halten. Ein Mädchen, das in den Sommerferien am Straßenrand saß und darauf wartete, von ihren Freundinnen zum Schwimmen abgeholt zu werden.

Erst wenn man den Bildausschnitt vergrößerte, sah man sie sitzen zwischen wesentlich älteren Prostituierten und schwitzenden Zuhältern. Zwischen Junkies, die noch nicht oder nicht mehr in der Lage waren, ihren Körper feilzubieten. Und plötzlich wusste man, dass sie nicht von ihren Freundinnen abgeholt werden würde, sondern von Männern. Ledig oder verheiratet, auf Geschäftsreise oder auf dem Weg vom Büro nach Hause. Männer, die einsam oder abgestumpft genug waren, sie trotz oder gerade wegen ihres Alters auszuwählen. Die Knie ans Kinn gezogen schien sie ihren Körper eher beschützen als anbieten zu wollen.

Ein Handyklingeln durchschnitt die lähmende Stille. Sie begrüßte ihren Vater und entfernte sich ein Stück, um sich die hämischen Kommentare der anderen zu ersparen, wenn sie ihrem Vater daheim in ihrem Dorf von Erfolgen ihrer Tanzausbildung erzählte. Erfolge, die ebenso erfunden waren, wie ihr Dasein als Ballerina. Erfolge, die es ebenso wenig gab wie ihre Freundinnen und den Ausflug zum See. Ob sie genug esse, fragte er besorgt, und dass er sich freue, dass sie die Hauptrolle bekommen habe. Sein kleines Mädchen würde bestimmt das schönste Schneewittchen sein, das die Welt jemals gesehen hatte. Er erzählte von einem Besuch beim Arzt, der wie alle Ärzte der Welt ein Schwindler und Betrüger sei.

„Ich hab dich lieb“, sagte er, bevor er auflegte.

‚Ich dich auch, Papa‘, dachte sie und behielt das Handy noch einen Augenblick in der Hand. Zärtlich streichelte sie das Display, als könne ihr Vater diese liebevolle Geste spüren.

„Wie viel?“, fragte ein Mann mit belegter Stimme neben ihr.

Sie schreckte auf, hatte sich jedoch sofort wieder im Griff. Aufreizend lächelnd nannte sie ihm die Preise für Französisch, mit oder ohne Gummi.

„Anal?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Na gut“, brummte er. „Wohin?“

„Zieh dich aus!“, befahl er ungeduldig, nachdem sie das Zimmer betreten hatten.

Sie schüttelte erneut den Kopf. „Erst Geld!“

Während er die Scheine auf den Tisch blätterte, entledigte sie sich ihrer Kleidung. Er öffnete seine Hose und packte sie fest an den Hüften. Er hob sie hoch. So hoch, dass sie über seinem Kopf zu schweben schien. Sie hatte keine Angst. Sie fühlte sich sicher von starken Armen getragen. Als sie sanft auf dem Boden abgesetzt wurde, tänzelte sie leichtfüßig zum Bühnenrand, begleitet von ihrem Prinzen, umringt von sieben Zwergen, die die Wiederauferstehung ihres Schneewittchens feierten. Geblendet vom Scheinwerferlicht konnte sie keine einzelnen Gesichter im Publikum ausmachen. Sie wusste aber, dass Papa da war. Er saß in der ersten Reihe. Sie spürte, dass er stolz war. Und wie das Licht der Scheinwerfer spürte sie seinen lächelnden Blick.

Die Scheinwerfer erloschen.

Sie vermied es, den Freier anzuschauen, während sie sich anzog.

Der Fall der Eheleute Fischer

Am 23. August fand man gegen halb eins den Küster Hans Fischer halbnackt am Marktplatz auf. Er irrte ziellos durch den Regen. Mehrere Versuche, mit dem stark verwirrten Mann zu sprechen, schlugen fehl. Er starrte einfach weiter ins Leere und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Obwohl der zufällig vorbeikommende Dorfschullehrer das Gemurmel identifizieren konnte, blieb der Sinn rätselhaft:

„Manntje, Manntje, Timpe Te,

Buttje, Buttje in der See,

myne Fru, de Ilsebill,

will nich so, as ik wol will.“

Eigentlich war Hans Fischer ein rechtschaffender und gläubiger Kerl. Ein bisschen einfältig vielleicht, aber sein Herz saß zweifelsohne am rechten Fleck. Man erzählte sich, er habe im Krieg seine Schwester verloren, doch man wusste nichts Genaues, da Hans wie viele seiner Generation so gut wie nie über den Krieg sprach. Hans mochte scharfen Schnaps und geräucherten Fisch. Er mochte den Geruch von Weihrauch und Pfannkuchen und abgesehen davon mochte Hans vor allem eines: seine Ruhe.

Nicht dass Isabella, seine Frau, ihm diese oft gegönnt hätte. Die Eheleute, die von allen nur gutmütig spöttelnd der Fischer und seine Frau genannt wurden, wohnten am Rande des Küstendörfchens am Kirchhügel.

Man munkelte, dass Isabella es nie verwunden hatte, dass ihr Hans es nur bis zum örtlichen Küster gebracht hatte. Sie machte ihn verantwortlich für die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie lebten und derer sie sich schämte. Sie machte ihn verantwortlich für ihr tristes, einförmiges Leben und wohl auch dafür, dass die Ehe kinderlos geblieben war, obschon sie schon dreimal ein Kind unter dem Herzen getragen hatte. ‚Aber was soll auch schon aus dem Samen eines Schlappschwanzes werden? Nichts anderes als ein Wurm, der nicht lange genug lebt, um das Licht der Welt zu erblicken‘, dachte sie voll Bitterkeit.

Isabella, die den Vornamen und das dicke, schwarze Haar ihrer spanischen Großmutter geerbt hatte, war in ihrer Jugend durchaus ein hübsches und ehrliches Ding gewesen, das so manchem Burschen den Kopf verdreht hatte mit ihren blauen Augen, die keck unter dem schwarzen Schopf hervorblitzten. Doch mit der Zeit war aus ihren drallen Rundungen schlaffes Fett geworden und ihr Haar war ebenso grau geworden wie ihr Gesicht. In ihrer Jugend hatte man sie noch als temperamentvoll bezeichnet, doch jetzt war sie nur ein giftiges böses Weib. Wenn Hans darauf angesprochen wurde, zuckte er nur mit den Schultern. „Romantik ist halt nix für arme Leute“, pflegte er zu sagen. Hans läutete die Glocken, hielt die kleine Kirche rein und den Friedhof in Ordnung. Seine Frau ignorierte er, so gut es eben ging.

Der 21. August war ein heißer stickiger Tag. Selbst in der sonst so kühlen Kirche waren es an die 30 Grad. Die Luft war dick und klebrig wie Honig. Als Hans nach Hause kam, war irgendetwas anders. Etwas, das ihn gründlich verwirrte. Seine Frau empfing ihn fröhlich pfeifend und Hans hätte nicht verwunderter sein können, wenn Gott persönlich in seinem Wohnzimmer gesessen hätte. Isabella hatte sogar Limonade gemacht. Schon fast sanft bugsierte sie Hans zu einem Sessel. Er genoss das kühle Prickeln des säuerlichen Getränks. Dennoch kam er nicht umhin, seine Frau als unheimlich zu empfinden, denn in ihrem sonst so mürrischen Gesicht lag etwas Manisches.

„Mein lieber Hans“, säuselte sie zuckersüß, während sie seine Wange streichelte. „Unsere Tage in bitterer Armut sind gezählt. Endlich werden wir auch reich und ein jeder wird uns mit Respekt behandeln.“

Hans, der ihre Lebensverhältnisse eher als bescheiden denn als bitterarm bezeichnet hätte, schwieg und wartete ab.

„Denk dir nur, mein lieber alter Onkel Pepe aus Granada ist verstorben und hat mir eine Kleinigkeit hinterlassen.“

„Du hast mir nie von einem Onkel Pepe erzählt“, sagte Hans und fragte sich, ob die Hitze Isabella den Verstand geraubt hatte.

„Natürlich nicht!“, rief Isabella, „weil es ihn gar nicht gibt.“ Sie blinzelte ihn verschwörerisch an. „Sonst brächte es Onkel Pepe am Ende noch fertig, hier aufzutauchen und gar nicht tot zu sein.“ Sie kicherte und begann, enervierend schief vor sich hin zu pfeifen. Hans, der schon immer Schwierigkeiten gehabt hatte, komplizierten Gesprächen zu folgen und Zusammenhänge zu begreifen, die über seine Aufgaben als Küster hinausgingen, verstand nicht.

„Schau doch nicht wie ein Schaf, Hans!“, tadelte Isabella ihn, aber sie lächelte und ihre Stimme war fast gutmütig. „Also, stell dir doch nur mal vor, wir hätten wirklich Geld geerbt.“ Sie sprach langsam und deutlich mit ihm, so wie die Leute mit dem Kind vom Kohlen-Claas zu sprechen pflegten, das mit drei Jahren die Treppe zum Keller heruntergefallen, und seitdem etwas blöde war. „Ich habe heute Morgen die dicke Lotte von nebenan klagen gehört, dass ihr keine Bank mehr Geld leihen würde. Stell dir nur mal vor Hans, wir hätten Geld, dann würden wir es verleihen, und die Zinsen brächten uns ein hübsches Sümmchen ein!“

„Aber woher sollen wir das Geld denn nehmen?“, fragte Hans.

Isabellas Stimme wurde noch weicher. „Bist du nicht der Küster?“

Hans nickte.

„Und hast du also nicht den Schlüssel zu einem jeden Raum?“

Hans erschrak, als er endlich begriff. „Die Kirche bestehlen?“ Er schlug sich die Hand vor den Mund, als würde ihm schon das bloße Aussprechen dieser Ungeheuerlichkeit auf ewig einen Platz in der Hölle reservieren.

„Aber, aber … Wer redet denn von Stehlen? Wir wollen uns das Geld ja nur borgen. Sobald wir die ersten Zinsen haben, legen wir es zurück.“

Hans schüttelte entschieden den Kopf. Er zitterte. „Unrecht ist es, Unrecht bleibt es!“

Da fiel jedes Lächeln, jede Freundlichkeit aus Isabellas Gesicht und zurück kehrten ihre bösartigen Züge. Gleich würde sie beginnen zu zetern. Hans wusste, was nun kommen würde. Und schon begann sie, seine Männlichkeit und jeden seiner männlichen Vorfahren bis hin zu Adam im Paradies mit gotteslästerlichen Flüchen zu verspotten. Geduckt schlich er aus dem Haus wie ein geprügelter Hund.

Der Schnaps brannte in seiner Kehle. Hans seufzte. Das Geld interessierte ihn nicht, aber vielleicht bot sich hier eine Möglichkeit, Isabellas ewiges Genörgel loszuwerden. Mit jedem Schnaps wurde er mutiger, und als die Sonne längst untergegangen und Hans völlig betrunken war, verließ er die Kneipe und schwankte Richtung Kirche. Die Nachtluft war schwül. Als er alleine durch das Kirchenschiff lief, hallten seine Schritte laut von den Wänden wider.

Eine Wolke schob sich vor den Mond und verdunkelte die Kirche. Aber Hans brauchte kein Licht. Auch wenn man ihm die Augen verbunden hätte, hätte er den Weg gefunden, ohne sich irgendwo zu stoßen. Er blieb einen Augenblick vor dem Altar stehen und betrachtete das Kreuz.

Als die Wolke weiterzog, schien der Mond geradewegs in das Antlitz des Heilands, der ihn gütig aber vorwurfsvoll ansah. Er schüttelte sein dornenbekränztes Haupt und sprach: „Ach Hans, was tust du nur?“

Da besann sich Hans. Er würde nach Hause gehen, den Spuk ein für alle Mal beenden und nie mehr ein Wort darüber verlieren. Da hörte er plötzlich Isabellas schneidende Stimme: „Was kümmert dich der Lattenjupp?“ Hans mochte es nicht, wenn sie so über den Erlöser sprach, doch die Stimme fuhr erbarmungslos fort. „Sei einmal ein Mann, Hans Fischer!“

Beschämt wandte Hans sich vom Blick des Heilands ab und bekreuzigte sich. „Vater vergib mir“, murmelte er und eilte weiter.

Als Hans am nächsten Tag die Kirche fegte, ertrug er kaum den Blick des Gekreuzigten. Isabellas Augen hatten sich geweitet, als er das Geld vor ihr auf den Tisch gelegt hatte. Zärtlich, ja fast liebevoll hatte sie es gestreichelt. Und dann zum ersten Mal seit Ewigkeiten hatte sie ihm gestattet, mit ihr zu schlafen.

Obwohl der Himmel bewölkt war, lag noch immer eine schwere Schwüle über der Stadt und ein heißer Wind fegte durch die Straßen, als er nach Hause ging. Isabella empfing ihn freudestrahlend und Hans traute seinen Augen kaum: Sie sah beinahe hübsch aus in ihrem neuen Kleid. Ohrringe funkelten mit der Kette um ihren Hals um die Wette.

Doch Hans erschrak. „Hast du das ganze Geld für Schmuck und Kleider ausgegeben?“

„Soll ich als reiche Erbin etwa in Lumpen herumgehen?“, sagte sie.

„Aber wie sollen wir jetzt Geld verleihen?“

„Dann musst du eben mehr besorgen. Warum hast du nicht gleich mehr mitgebracht? Du bist selbst schuld!“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab und verschwand im Schlafzimmer, die Tür krachend hinter sich zuziehend.

Grübelnd saß Hans in der Kneipe. Beim dritten Schnaps wusste er, dass er keine Wahl hatte. Das Geld war weg. Er brauchte mehr Geld, sonst würde er keine Möglichkeit haben, das bisher entwendete zurück zu legen. Früher oder später, das wusste Hans, würde der Diebstahl auffliegen. Trotzdem brauchte er noch drei Schnäpse, bis er genug Mut hatte, um ein weiteres Mal in die Kirche zu gehen.

Wieder schien der Mond auf das Gesicht des Gesalbten, der nun erzürnt auf Hans hinab blickte. „Sieh, was aus dir geworden ist. Ein Dieb bist du! Ein Dummkopf noch dazu. Beißt die Hand, die dich füttert!“

Hans fiel auf die Knie und begann zu weinen. Sein Wimmern und Schluchzen hallte von den Wänden. Angst habe er vor seiner eigenen Frau. Was er denn nur tun solle.

„Bereust du denn, was du getan hast? Ehrlich und aus tiefstem Herzen?“

Hans nickte heftig.

Gütig lächelte der Heilige auf Hans nieder. „Dann geh morgen zum Pfarrer und beichte, was du getan hast. Dir wird vergeben werden.“

Dankbar bekreuzigte Hans sich und betete. Für sich. Und das Heil seiner Frau.

Über dem Meer stand eine schwarze Wolkenfront, als Hans am nächsten Tag erwachte. Isabella hatte sich gestern Abend in eine Furie verwandelt. Sie hatte ihn angebrüllt und eine nie dagewesene Kreativität an Beschimpfungen an den Tag gelegt. Und doch hatte sie Hans nicht ins Wanken bringen können. Er war fest entschlossen zu beichten.

Im Gegensatz zu gestern wirkte sie nun aufgeräumt und friedlich. Sie werkelte in der Küche und bereitete einen Heilbutt für das Mittagessen zu, während Hans sich für seinen Dienst fertigmachte. Ein heißer salziger Wind wehte bedrohlich vom Meer und brachte die Wolkenfront näher zur Küste.

„Wir wollen nicht mehr streiten“, sagte Isabella. „Ich bitte dich nur: Denk noch einmal darüber nach und dann komm zum Mittagessen nach Hause. Wenn du immer noch überzeugt bist, dann wollen wir heute Nachmittag zusammen zum Pfarrer gehen und gestehen, was wir getan haben.“

Hans, der wusste, dass seine Entscheidung bereits feststand, nickte dennoch. Er freute sich, dass seine Frau ihn begleiten wollte. Als er in der Kirche seine Tätigkeiten routiniert und gewissenhaft verrichtete, sah ihn der Heiland wohlwollend an.

Isabella nickte nur, als Hans ihr sagte, dass sich sein Entschluss nicht geändert hatte. „Nun, dann wollen wir jetzt essen“, sprach sie.

Hans war so erleichtert und aß mit so großem Appetit, dass er nicht bemerkte, dass sie ihr Essen kaum anrührte, sondern aufmerksam jeden Bissen beobachtete, den er sich in den Mund schob.

Am Himmel zuckten Blitze. In der Ferne war drohendes Donnergrollen zu hören. Die wolkenverhangene Sonne tauchte die Welt in ein unwirkliches Zwielicht.

Hans spürte plötzlich eine bleierne Müdigkeit. Seine Lider wurden schwer, sein Blick unscharf. Der Tisch schien zu schwanken. Er wollte aufstehen, doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Er fiel schwer auf den Stuhl zurück. Mit Mühe schaffte er es, den Kopf zu heben. Ihm wurde heiß. „Isabella … mir ist nicht gut … ich …“ Er brach hilflos ab. Ihm war so heiß, so verdammt heiß. „Hilf mir, Isabella!“

Doch ihre blauen Augen blickten ihn nur kalt an. Ein grausames Lächeln umspielte ihre Lippen. „Hast du wirklich gedacht, ich lasse mir durch deine Frömmigkeit das Leben ruinieren? Denkst du, ich lasse mich anspucken und als Diebin beschimpfen?“ Höhnisch blickte sie ihn an. „Den armen Hans hat eine Fischvergiftung leider viel zu früh aus dem Leben gerissen.“

„Du … du vergiftest mich?“, stammelte er. Er lockerte seinen Hemdkragen, das Atmen fiel ihm schwer.

Isabella schlug so heftig mit der Hand auf den Tisch, dass die Teller klirrten „Du bist selbst schuld!“, schrie sie, stand auf und schlug ihm hart ins Gesicht. „Du nichtsnutziger Feigling!“ Sie schlug weiter auf ihn ein, holte immer größeren Schwung für jeden Schlag, bis sie das Gleichgewicht verlor. Im Fallen zog sie Hans vom Stuhl. Beide landeten krachend auf dem Boden.

Plötzlich fand sich Hans auf ihr liegend, seine Hände legten sich um ihren Hals. Er drückte zu und spürte, wie sich seine Finger in ihr weiches Fleisch gruben. Er hörte ihr Röcheln, sah, wie sich ihre Augen weiteten. Er spürte, wie ihr Blut pulsierte. Doch unter ihrem Schweißgeruch nahm er plötzlich noch einen anderen Duft wahr, einen vertrauten und verlorengeglaubten. Mit einem Mal war sie wieder das junge Mädchen, in das er sich einst verliebt hatte. Die er begehrt und umworben hatte. Die gekichert und gelacht hatte, wenn er sich ihr plump und ungeschickt genähert hatte.

Er ließ ihren Hals los, doch sie hatte längst aufgehört zu atmen.

Sein Körper stand in Flammen, er riss sich das Hemd vom Leib. Er wollte auch seine Hose ausziehen, schaffte es aber nicht mehr. Mehr fallend als laufend stolperte er aus der Tür. Als er auf dem Marktplatz zusammenbrach, öffneten sich alle Schleusen des Himmels, als sollte alles, was soeben geschehen war, einfach weggewaschen werden, als sollte die ganze Welt fortgespült werden.

„Myne Fru, de Ilsebill, will nich so, as ik wol will“, murmelte Hans Fischer ein letztes Mal, bevor er um 14:05 Uhr endgültig die Augen schloss.

Waldsee

Johann hat schon von weitem gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Er steht vor den Resten der verkohlten Försterhütte. Johann, der Postbote des Dorfes, hat sich auf den Weg in den Wald gemacht, um dem Förster die Post zu bringen, und um vielleicht ein wenig mit Marie, der hübschen Frau des Försters, zu plaudern, die er heimlich verehrt. Normalerweise ist der Förster um diese Zeit im Wald unterwegs. Nun aber steht Johann vor den verkohlten Überresten der Hütte, ein Haufen verkohlter Balken. Inmitten des schwelenden Gebälks kann er etwas erkennen, was wie die Umrisse von zwei Menschen aussieht. Als er sich umwendet, bemerkt er einige handbeschriebene Blätter am Baum. Er nimmt sie ab und beginnt zu lesen.