cover.jpg

DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS

SHERLOCK HOLMES

 

 

img1.png

In dieser Reihe bisher erschienen:

 

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

3011 – Sherlock Holmes und die indische Kette von Michael Buttler

3012 – Sherlock Holmes und der Fluch der Titanic von J. J. Preyer

3013 – Sherlock Holmes und das Freimaurerkomplott von J. J. Preyer

3014 – Sherlock Holmes im Auftrag der Krone von G. G. Grandt

3015 – Sherlock Holmes und die Diamanten der Prinzessin von E. C. Watson

G. G. Grandt

 

 

SHERLOCK HOLMES

im Auftrag der Krone

 

 

Basierend auf den Charakteren von

Sir Arthur Conan Doyle

 

 

 

 

img2.png

© 2015 BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Umschlaggestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-213-4

Vorrede von Dr. Watson

 

Zweifellos muss ich zugeben, dass ich mich in meiner Eigenschaft als Chronist meines Freundes Sherlock Holmes mit der Niederschrift dieses Falles sehr schwergetan habe. Zum einen, weil ich nicht umhinkomme, dem geneigten Leser ein kurzzeitiges Zerwürfnis zwischen mir und meinem Partner einzugestehen, was mir keineswegs leichtfällt. Zum anderen, weil mich der Fall der gekreuzigten Frauen bis heute tief berührt und meine Seele noch immer in einen inneren Aufruhr versetzt, selbst wenn ich inzwischen bestens mit der Mentalität des Verbrechens vertraut bin. Diese Aufzeichnung ist ein erneuter Beweis für den scharfsinnigen Geist meines Freundes und steht daher völlig berechtigt neben den zahlreichen Schilderungen, die ich bislang zu Papier gebracht habe.

Dennoch möchte ich an dieser Stelle besonders hervorheben, dass uns dieser Fall alles abverlangt hat, nicht nur im intellektuellen Sinne, sondern auch auf zwischenmenschlicher Ebene. Dem Himmel sei Dank, dass er mich und Holmes nicht endgültig voneinander trennte. Schon alleine dieser Aspekt ist Motivation genug, um darüber zu berichten.

 

In der Nacht auf Karfreitag, den 10. April 1903, schlich der Tod durch das Armenviertel des Londoner East End. Er fand sein Opfer in der dreißigjährigen Straßenprostituierten Isabelle LaGarde, die an der Flower Street auf Kunden wartete. Am darauffolgenden Morgen wurde ihre Leiche entdeckt. Die Umstände ihres Todes waren so grausam und ungewöhnlich, dass ich sie nachfolgend detailliert schildern will, denn in der Folge blieb dieser grausige Mord nicht der einzige. Weitere folgten. Ihre Ausmaße uferten in solchen Ungeheuerlichkeiten aus, dass sie nicht nur mich und Holmes beinahe entzweiten, sondern London und Paris auf eine harte Probe stellten und sogar den Frieden in der Welt gefährdeten.

1. Kapitel

 

Karfreitag, 10. April 1903

Es war ein kalter und bewölkter Morgen. Im Labyrinth der Straßen und Gassen des Londoner East End hingen milchig graue Schleier, die das schwache Morgenlicht wie durch einen gigantischen Wattebausch dämpften. Nicht einmal die Häusergiebel der Elendswohnungen waren zu erkennen. Der Nebel schien sogar den allgegenwärtigen penetranten Geruch, der hier in den Armenvierteln vorherrschte, auf die Erde niederzudrücken, den Gestank aus den schlechten Kohleöfen, den Bergen aus faulendem Unrat, den jämmerlichen Latrinen und den Abwasserrinnen, die im Gegensatz zu den besseren Stadtteilen, in denen es seit einigen Jahren ein unterirdisches Abwassersystem gab, die Kloake direkt in die Themse leiteten.

Wie jeden Tag ging Rebecca Reeves an der schmalen Gasse in der Nähe der neuen Docks vorbei, die im Volksmund Devil’s Mouth genannt wurde. Und das aus gutem Grund: Lange vor den grausamen Morden Jack the Rippers hatte hier der geistesverwirrte Hausierer Jake McNan Kinder hineingelockt, um sich an ihnen zu vergehen. Schließlich war der Schotte von der Polizei gefasst worden, und der Strafgerichtshof verurteilte ihn zu einer lebenslangen Haftstrafe, die er bis zu seinem Tod im Zuchthaus verbrachte. Seitdem lastete ein Fluch auf dieser Seitenstraße, so jedenfalls munkelte man. Davon war auch Rebecca Reeves überzeugt. Sie war eine einfach gestrickte Frau, die, seit sie denken konnte, als Hebamme im Whitechapel Armenhaus arbeitete und aus Furcht noch niemals zuvor das Devil’s Mouth betreten hatte.

An diesem Morgen war sie früher als sonst von einem Botenjungen in eines der Hurenhäuser gerufen worden. Die Entbindung einer Dirne stand unmittelbar bevor. Ein weiteres unschuldiges Wesen würde in den verlorenen Armenvierteln des East End hineingeboren werden und einer ungewissen Zukunft voller Schmutz, Elend und Krankheit entgegensehen. Alle fünf Minuten erblickte in London ein Kind das Licht der Welt, und alle acht Minuten starb ein Mensch. Das wusste sie von Mr Billingham, dem Leiter des Armenhauses.

Rebecca Reeves schickte sich an, eiligst weiterzugehen. Um diese Zeit war sie noch alleine in dieser verkommenen und verrufenen Gegend. Flüchtig nur warf sie einen Blick ins Devil’s Mouth und erstarrte, als sie aus der dunklen Gasse das nackte Grauen wie ein tollwütiger Hund ansprang und ihr für einen Moment den Atem raubte. Sie spürte einen dicken Knoten in ihrem Magen, wagte es kaum, genauer hinzusehen.

An der brüchigen Fassade eines der heruntergekommenen Gebäude lehnte aufrecht ein riesiges verwittertes Holzkreuz. Und daran hing – eine Frau! Das Gesicht der Gekreuzigten wurde von dem verfilzten roten Haar fast gänzlich verdeckt. Nur das linke Auge stierte die Hebamme starr und kalt an wie das eines an Land gezogenen Fisches, verloren in der Ewigkeit des Todes, eingefroren im leidvollen Augenblick des Sterbens. Der bleiche, abgemagerte Körper der Toten war lediglich mit einer schäbigen, verschmutzten Tunika bekleidet. Durch ihre Handgelenke waren rostige Nägel getrieben, die sie am Querbalken des Kreuzes hielten, ein weiterer ragte aus ihren übereinandergelegten Fußgelenken am Längsbalken heraus.

Der schreckliche Anblick schnürte Rebecca Reeves geradewegs die Kehle zu. Die alte Hebamme wankte und musste sich an der Hauswand abstützen, um einer Ohnmacht zu entgehen. Dann entfuhr ihr doch ein gellender Schrei, der so laut und schrill durch das Devil’s Mouth gellte wie das Signalhorn eines Dampfers auf dem schlammigen Wasser der nahen Themse.

 

*

 

Ich komme nicht umhin zu gestehen, dass ich an diesem Morgen leicht reizbar war. Vielleicht lag es daran, dass ich die Nacht über trotz geöffnetem Fenster und somit ausreichender Zufuhr von frischer Luft schlecht geschlafen hatte. Schon immer war Mangel an Schlaf betrüblich für mein Gemüt gewesen. Auch der Blick nach draußen konnte mich nicht erquicken. Der Himmel war diesig und grau verhangen. Aus den Wolken fiel dichter Regen, der den Schmutz auf den Gehsteigen der Baker Street in Schlamm verwandelte.

Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich, als ich aus meinem Schlafgemach in unseren gemeinsamen und fröhlich möblierten Wohnraum trat, Sherlock Holmes auf der Couch liegen sah, nur mit seinem Morgenrock bekleidet und geistig völlig abwesend. Seine geweiteten Pupillen fixierten einen unsichtbaren Punkt an einem der breiten Fenster, durch die gedämpftes Morgenlicht hereinfiel. Neben ihm im Samtpolster lag die Spritze, die er sich, seinem Zustand nach zu urteilen, gewiss erst vor Kurzem an seinen Unterarm gesetzt hatte.

Schon zu dieser frühen Stunde frönte er also irgendeinem Narkotikum – ein unmittelbares Zeichen mangelnder intellektueller Beschäftigung und Anzeichen klassischer Symptome einer Depression sowie Trübsinns, wie ich es bei ihm des Öfteren vorgefunden hatte. Für mich als Arzt war sein Rauschmittelkonsum nicht nur ein unnötiges, sondern auch ein selbstzerstörerisches Laster. Doch dahingehend ließ er sich, wie ich aus vergangenen Zeiten wusste, nicht belehren.

„Sind Sie ansprechbar, Holmes?“, fragte ich in die morgendliche Stille des Raumes hinein.

Zuerst erfolgte weder eine irgendwie geartete körperliche Reaktion, noch erhielt ich eine Antwort. Der beratende Detektiv musste seinen Geist erst aus den Sphären zurückholen, in die er sich dank seiner Drogen geflüchtet hatte. So jedenfalls kam es mir vor. Für einen Moment flatterten seine Augenlider wie die Flügel eines Schmetterlings, dann sah er mich unvermittelt an. Das Leuchten in seinen grauen Augen war seltsam gedämpft.

„Sie scheinen Kummer mit Ihrem Bett zu haben, mein lieber Watson“, sagte er sogleich mit überraschend fester Stimme.

„Derweil Sie sich mit dem Übel der rauschhaften Ablenkung begnügen, werden meine Schlafstörungen langsam notorisch.“

„Vielleicht sollten Sie es einmal mit einer Portion Morphium versuchen, um sich nicht nur körperlich, sondern auch geistig zu entspannen.“ Ein kurzes Lächeln huschte über Holmes’ Lippen.

„Verschonen Sie mich mit diesem ungesunden Laster! Bei Ihnen ist das schon zu einem bedauerlichen Makel geworden, dessen Sie nicht mehr selbst Herr sind!“

„Lassen Sie uns nicht wieder über Sinn oder Unsinn von Morphium und Kokain diskutieren. Das bin ich langsam leid.“

Ich atmete tief durch und wandte mich wortlos ab, um in mein Schlafzimmer zurückzugehen und vielleicht doch noch etwas Ruhe zu finden, da klopfte es an der Tür. Es war erst kurz nach acht Uhr. Wer mochte das um diese Zeit sein?

Holmes ignorierte das Klopfen geflissentlich. Er hatte seine Augen erneut geschlossen, als ginge ihn das Ganze nichts an, und versank in seiner ihm eigenen Welt.

Ich zog den Gürtel meines Morgenrocks fester um die Taille und öffnete. Mrs Hudson, unsere Vermieterin, stand vor mir.

„Entschuldigen Sie die Störung, Doktor Watson, aber es ist bereits Besuch für Mister Holmes angesagt.“

„Besuch? Wer?“

„Die Polizei. Inspektor Bradstreet von Scotland Yard.“

„Um diese Zeit? Nun gut, warten Sie einen Augenblick.“ Ich wandte mich zu Holmes um, der immer noch auf der Couch lag, und fragte ihn: „Fühlen Sie sich in der Lage, einen Gast zu empfangen?“

Der Detektiv öffnete die Augen. „Natürlich, Watson! Natürlich! Sie wissen, dass mir, im Gegensatz zu Ihnen, Schlafmangel nichts ausmacht.“

„Nun gut, bitten Sie den Inspektor herein“, sagte ich daraufhin zu Mrs Hudson, die mit einem Nicken verschwand, um kurz darauf mit dem Polizeibeamten zurückzukommen. Sie war es gewohnt, dass das luftige Wohnzimmer auch als Geschäftsraum genutzt wurde.

Bradstreet war uns kein Unbekannter, hatten wir doch in verschiedenen Fällen bereits mit ihm zu tun gehabt{1}. Bevor der große, stämmige Mann zu Scotland Yard gewechselt war, war er der Bow Street Polizeiwache beigestellt gewesen. Er hatte seine Arbeit also von der Pike auf gelernt und besaß ausreichend Erfahrung, wie man sie nur in den Straßen vorfand, vor allem in denen der Elendsviertel, denn hier zeigte das Verbrechen jeglicher Abart seine wahre, schmutzige und grausame Fratze. Das hob Bradstreet weit über den Status eines hinter dem Schreibtisch dahinwelkenden Beamten hinaus, der in irgendwelchen Vorschriften und Fahndungstheorien schwelgte, die so ineffektiv und unpraktisch waren wie altes Schuhwerk.

Der Inspektor trug eine Schirmmütze und eine mit Schnüren besetzte Jacke. Er setzte sich neben mich auf das Zweiersofa, das normalerweise Holmes für sich als Sitzgelegenheit vereinnahmte. Der Detektiv hatte sich inzwischen von der Couch am Fenster aufgerafft und platzierte sich in den Ohrensessel uns gegenüber. Die Morphiumspritze konnte ich nirgends mehr entdecken.

„Es tut mir leid, meine Herren, dass ich Sie um diese unwirtliche Zeit störe, aber es ist ein Verbrechen geschehen, dessen Aufklärung keinen Aufschub duldet“, begann der Inspektor. „Von oberster Dienststelle wurden sämtliche involvierten Beamten zu einem raschen Ermittlungserfolg angehalten, doch wir stehen vor einem Rätsel. Weil ich der festen Überzeugung bin, dass Sie uns bei der Lösung helfen können, Mister Holmes, suche ich also Sie und Doktor Watson unverzüglich nach meiner Nachtschicht auf. Ich hoffe, ich bereite Ihnen damit keine Unannehmlichkeiten …“

Bradstreet sah tatsächlich völlig übernächtigt aus. Sein Gesicht war blass mit einem Ausdruck tiefster Düsterheit. Unter seinen müden Augen lagen dunkle Ringe, die sich wie bei einem knorrigen Baumstamm in die Haut eingegraben hatten.

„Ganz und gar nicht, Inspektor. Unangenehm ist es für mich, in einen Tag voller Langeweile hineinzuleben“, antwortete Holmes. Es schien nichts mehr von der rauschhaften Benommenheit des kurz zuvor injizierten Morphiums zurückgeblieben zu sein. Im Gegenteil: Er wirkte wach, klar und präzise.

Unvermittelt wechselte er das Thema und fragte unseren Besucher: „Möchten Sie vielleicht ein Frühstück? Eier mit Speck, Toast und Tee? Misses Hudson wird Ihnen gerne etwas zubereiten.“

„Sehr freundlich, Mister Holmes, aber ich habe keinen Hunger. Ehrlich gesagt, ist er mir vergangen.“

„Nun gut … Sie werden uns sicher gleich darüber aufklären, was Ihnen den Appetit verdorben hat. Also, um was für ein Verbrechen handelt es sich, Inspektor?“

Holmes legte jene Emsigkeit an den Tag, die ich gewohnt war, sobald er Lunte an einem Fall gerochen hatte.

Bradstreet schlug die Beine übereinander und starrte für einen Moment genauso finster zu einem der beiden gegenüberliegenden Fenster hinaus, wie es mein Partner noch vor wenigen Minuten getan hatte. Dann fing er an zu erzählen und berichtete uns von der Hebamme Rebecca Reeves, die am Morgen zuvor, am Karfreitag, im East End die Leiche einer Straßenprostituierten entdeckt hatte.

„Wie wir inzwischen wissen, ist ihr Name Isabelle LaGarde. Für gewöhnlich hält sie in der Flower Street vom Anbruch der Dunkelheit bis zum Morgengrauen Ausschau nach Freiern.“

„Miss LaGarde ist Französin, nehme ich an“, sagte Holmes mehr zu sich selbst. „London zieht viele Arbeitskräfte aus dem Festland an – qualifizierte und unqualifizierte. Einige von ihnen finden hier eine neue Heimat. Andere hingegen müssen hart ums tägliche Brot kämpfen, weil es zu wenig Arbeit für sie gibt. Dabei versuchen sich Männer zumeist mit handwerklicher Beschäftigung, um sich ein paar Shillings zu verdienen. Frauen jedoch bleibt oftmals nichts anderes übrig, als sich auf den Straßen im East End als Prostituierte anzubieten.“

„Sie sagen es, Mister Holmes“, bestätigte Bradstreet. „Es sind gottlose Zeiten! Isabelle LaGarde schien genau zu jenen unglückseligen Geschöpfen zu gehören, die Sie soeben beschrieben haben. Vor vier Jahren kam sie mit ihrem Gatten, einem Maurer, aus Paris nach London, um hier nach dem großen Glück zu suchen. Als ihr Mann unerwartet starb, gab es zum Überleben nur den Dirnenstrich für sie. Dieser ist ihr letztlich zum Verhängnis geworden.“

„In welcher Art und Weise, Inspektor?“ Der Blick des Detektivs hing wie eine Klette an unserem Gesprächspartner, während ich schweigend dasaß und Notizen in meinen Block machte.

„Miss LaGarde starb einen äußerst außergewöhnlichen Tod.“ Bradstreet hielt kurz inne, als müsse er sich erst sammeln, bevor er fortfuhr: „Einen Tod mit geradezu bizarren Ausmaßen, wie es ihn so in London noch nie gab.“

Wieder eine Pause. Nun war meine Neugier ebenfalls geweckt, und als der Inspektor weiterberichtete, hing auch ich an seinen Lippen.

„Miss LaGarde wurde gekreuzigt!“

Zunächst wagte ich es kaum, zu atmen, dann blies ich die Luft geräuschvoll aus meinen Lungen.

Gekreuzigt!

„In der Tat eine Tötungsart, die außerhalb des Üblichen liegt“, sinnierte Holmes, als sei er unbeeindruckt von dem soeben Gehörten. „Wurde sie ans Kreuz gefesselt oder genagelt?“

„Letzteres, Mister Holmes.“

„Wurde die Kreuzigung mit herkömmlichen Nägeln durchgeführt?“

Bradstreet nickte, während mein Freund und Partner immer mehr in Fahrt kam.

„Wie wurden die Nägel platziert? Durch die Handflächen oder durch die Handwurzelknochen?“

„Durch die Handwurzelknochen sowie die Fußwurzeln, um das Körpergewicht tragen zu können.“

Ich schloss für einen Moment die Augen in der vergeblichen Hoffnung, damit das flaue Gefühl in meinem Magen zu vertreiben. Unbeirrt der Vorstellung des schrecklichen Todes dieser armen Frau führten die beiden Männer ihre Unterhaltung fort, und zwar so nüchtern, als würden sie über das jährliche Pferdederby auf der Rennbahn Epsom Downs sprechen.

„Sieh an, sieh an“, meinte Holmes. „Die Täter kannten sich gewiss mit dieser Methode aus.“

„Wie kommen Sie darauf, dass es mehrere Täter waren, Mister Holmes?“

„Später, mein lieber Bradstreet, später. Lassen Sie mich zunächst einen Überblick über diese grausame Hinrichtungsmethode verschaffen. Ich nehme an, dass Miss LaGarde nicht an den Kreuzigungsverletzungen ihr Leben aushauchte?“

„Ganz richtig, Mister Holmes. Aber woher, um alles in der Welt, wissen Sie auch das?“

Holmes lächelte geheimnisvoll. Er stand auf, ging zu seinem persischen Pantoffel, in dessen Spitze er seinen Shag-Tabak aufbewahrte, stopfte seine alte Bruyère-Holzpfeife und entzündete sie. Während der gesamten Prozedur schwiegen wir und hingen unseren eigenen Gedanken nach.

„Jetzt kann ich klarer denken“, meinte mein Partner, nachdem er einen tiefen Zug aus seinem Rauchinstrument genommen hatte. „Schon in der Antike wurde die Kreuzigung als Hinrichtungsmethode angewandt. Die Phönizier taten es, die Assyrer, Perser, Griechen, Römer und später die Juden. Dabei sollten die Verurteilten keineswegs einen schnellen, sondern einen absichtlich langsamen Tod sterben. Deshalb wurde in der Regel auch das Annageln an das Marterwerkzeug so vorgenommen, dass der Blutverlust möglichst gering gehalten wurde. Delinquenten mit normaler Konstitution starben meist innerhalb von drei Tagen aufgrund eines Kreislaufkollapses, Herzversagens oder Erstickens. Voraus gingen Qualen wie Durst, Wundbrand und Verkrampfung der Atemmuskulatur. Gleichwohl hauchten Schwächere ihr Leben schon früher aus.“

Der Detektiv hielt in seinem Monolog inne, machte einen tiefen Zug aus der Pfeife und meinte weiter: „Ich glaube jedoch kaum, dass Miss LaGarde zwei oder drei Tage an ein Kreuz angenagelt im East End verbracht hätte, ohne entdeckt zu werden. Da die Frau, wie Sie berichteten, tot aufgefunden wurde, muss sie an etwas anderem gestorben sein. Etwas, das sie schneller vom Leben in den Tod hinüberführte, als die grauenvolle Hinrichtungsmethode des Kreuzigens es vermag.“

Der Inspektor atmete tief durch. „Wie immer bewundere ich Ihren Scharfsinn, Mister Holmes, der Ihnen folgt wie der Ruf eines erfolgreichen Schauspielers. Tatsächlich wurde Miss LaGarde vorher vergiftet. Der Gerichtsmediziner fand entsprechende Rückstände in ihrem Magen.“

„Konnte bei der Leichenschau festgestellt werden, um welches Gift es sich handelte, das Miss LaGarde verabreicht wurde?“

Eine weitere unbehaglich anmutende Pause entstand, bevor Bradstreet antwortete: „Mit Schierling, Mister Holmes.“

„Kōneion!“, platzte mein Partner daraufhin heraus.

„Sie meinen?“

Der Inspektor sah ihn fragend an, und auch ich schaute interessiert von meinem Block hoch.

Kōneion – so wird der Schierlingsbecher auf Griechisch genannt. Eine Art der Hinrichtung, die zuweilen von den alten hellenischen Gelehrten bevorzugt wurde.“

„Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Mister Holmes.“

„Mit dem Schierlingsbecher wird hauptsächlich die Liquidation des Philosophen Sokrates im Jahr 399 vor Christus verbunden“, klärte uns der Detektiv auf. „Dabei wird einem Getränk der Saft des gefleckten Schierlings beigemischt, der von dem Unglücklichen aufgenommen wird. Allerdings vermute ich, dass es neben dem Kōneion eine weitere Substanz gibt, die in den Eingeweiden des Opfers festgestellt wurde.“

Der Inspektor schien sichtlich verwirrt. „Auch in diesem Punkt haben Sie recht, denn es wurde außerdem noch ein Extrakt aus Mohn gefunden.“

Holmes schien seinen Blick wieder von dieser Welt abzuwenden und in sein Inneres zu richten, das naturgemäß jedem anderen verborgen blieb.

„Miss LaGarde wurde an ein Kreuz genagelt, das mitten im East End aufgestellt wurde. In einer Seitengasse zwar, dennoch in einer Gegend, in der zu verschiedenen Tageszeiten laufend Menschen unterwegs sind. Die Kreuzigungsverletzungen führen nicht unmittelbar zum Tod, also hätte die Bedauerliche noch die Möglichkeit gehabt, sich bemerkbar zu machen, und das, bevor ihre Peiniger sich vom Tatort zurückziehen konnten. Das scheint allerdings nicht der Fall gewesen zu sein, sonst würde es Zeugen dafür geben, die Sie, Inspektor, nicht hätten unerwähnt gelassen.“

„“„“