Bilderbuch ohne Bilder


Es ist seltsam! wenn ich am wärmsten und tiefsten fühle, ist es, als ob mir Hände und Zunge gebunden wären; ich kann es nicht so wiedergeben, nicht so aussprechen, wie es in mir lebendig ist; und doch bin ich Maler, das sagt mir mein Auge, das haben alle anerkannt, welche meine Skizzen und Bilder sahen.

Ich bin ein armer Bursche, ich wohne drüben in einer der engsten Gassen, aber das Licht fehlt mir nicht, denn ich wohne hoch droben, mit der Aussicht über alle Dächer. Die ersten Tage, als ich in die Stadt hereingekommen, war es mir so eng und einsam; statt des Waldes und der grünen Hügel hatte ich jetzt nur die grauen Schornsteine als Horizont. Nicht einen Freund besaß ich hier, nicht ein bekanntes Gesicht grüßte mich.

Eines Abends stand ich recht betrübt an meinem Fenster, ich öffnete es und sah hinaus. Nein, wie ich da froh wurde! Ich sah ein Gesicht, das ich kannte, ein rundes, freundliches Gesicht, meinen besten Freund von fern aus der Heimat: es war der Mond, der liebe, alte Mond, unverändert derselbe, gerade wie er aussah, als er dort zwischen den Weiden am Moor zu mir hereinschaute. Ich warf ihm Kußhände zu und er schien gerade in mein Zimmer herein und versprach, daß er jeden Abend, wenn er ausgehe, ein wenig zu mir hereinsehen wolle; das hat er auch seitdem ehrlich gehalten. Schade, daß er nur so kurz bleiben kann. Jedesmal, wenn er kommt, erzählt er mir das eine und andre, was er die Nacht zuvor oder am selben Abend gesehen. »Male nun das, was ich erzähle,« sagte er bei seinem ersten Besuch, »dann wirst du ein recht hübsches Bilderbuch bekommen.« Das habe ich denn seit vielen Abenden getan. Ich könnte in meiner Art eine neue »Tausendundeine Nacht« in Bildern geben, aber das wäre doch zu viel; die, die ich gebe, sind nicht ausgewählt, sondern folgen aufeinander, wie ich sie gehört; ein großer, genialer Maler, ein Dichter oder Tonkünstler mag mehr daraus machen, wenn er will; was ich zeige, sind nur flüchtige Umrisse auf dem Papier und dazwischen meine eignen Gedanken, denn der Mond kam nicht jeden Abend, zuweilen schob sich eine Wolke, wohl auch zwei dazwischen.

Erster Abend.

»In der vergangenen Nacht,« das sind des Mondes eigne Worte, »glitt ich durch Indiens klare Luft und spiegelte mich im Ganges: meine Strahlen suchten durch das dichte Geflecht der alten Platanen zu dringen, das sich wie eine Schildkrötenschale wölbte. Da kam aus dem Dickicht ein Hindumädchen, leicht wie die Gazelle, schön wie Eva; es war etwas so Luftiges, und doch wieder eine so üppige Lebensfülle in dieser Tochter Indiens! Ich konnte die Gedanken durch die feine Haut sehen; die dornigen Lianen zerrissen ihre Sandalen, und doch schritt sie rasch voran; das Raubtier, das vom Flusse kam, wo es seinen Durst gelöscht, sprang scheu vorüber, denn das Mädchen hielt in der Hand eine brennende Lampe; ich konnte das frische Blut in den feinen Fingern sehen, die sie zum Schutz vor die Flamme hielt. Sie näherte sich dem Flusse, setzte die Lampe auf die Strömung und die Lampe schwamm hinab; die Flamme flackerte, als wenn sie verlöschen wollte, aber sie brannte doch, und des Mädchens schwarze, funkelnde Augen hinter den langen Seidenfransen der Wimper folgten ihr mit einem seelenvollen Blicke; sie wußte, daß, brannte die Lampe solange sie sie sehen konnte, ihr Geliebter noch lebe. Erlosch sie aber, so war er tot. Und die Lampe brannte und flackerte und ihr Herz flammte und zitterte; sie sank auf die Knie und betete; neben ihr im Grase lag die feuchtkalte Schlange; aber sie dachte nur an Brahma und ihren Bräutigam. »Er lebt!« jubelte sie und von den Bergen widerhallte es: »er lebt!«

Zehnter Abend.

»Ich kannte eine alte Jungfer,« sagte der Mond, »sie ging jeden Winter in einem gelben Atlaspelz, der immer neu war; denn er war ihre einzige Mode. Jeden Sommer trug sie denselben Strohhut und ich glaube, denselben blaugrauen Rock. Nur zu einer alten Freundin quer über der Gasse ging sie; aber im letzten Jahre tat sie es nicht mehr, denn die Freundin war tot. Verlassen arbeitete meine alte Jungfer hinter dem Fenster, wo den ganzen Sommer über hübsche Blumen standen und im Winter prächtige Kresse auf einem Hutfilze. Im letzten Monat saß sie nicht mehr am Fenster, aber sie lebte noch, das wußte ich, denn ich hatte sie die große Reise nicht machen sehen, von der sie und ihre Freundin so oft sprachen. ›Ja,‹ sagte sie dann, ›wenn ich mal sterbe, werde ich eine viel größere Reise machen, als in meinem ganzen Leben; sechs Meilen von hier ist unser Familienbegräbnis, dort werde ich hingeführt werden, dort werde ich bei den andern von meiner Verwandtschaft schlafen.‹ Gestern Nacht hielt ein Wagen vor dem Hause; sie trugen einen Sarg heraus, da wußte ich, daß sie tot war; sie legten Stroh um den Sarg und fuhren fort. Da schlief die stille, alte Jungfer, die im letzten Jahre nicht aus dem Hause gewesen; und der Wagen rollte aus der Stadt, so rasch, als ob es eine Vergnügungsfahrt wäre. Auf der Landstraße selbst ging es noch rascher; der Kutscher sah ein paarmal verstohlen zurück; ich glaube, er fürchtete sich, sie in dem alten Atlaspelz auf dem Sarge sitzen zu sehen; deshalb schlug er auch so unvernünftig auf die Pferde los, und hielt sie so stramm, daß sie im Gebiß schäumten; sie waren jung und feurig; ein Hase lief über den Weg und sie gingen durch. Die alte Jungfer, die sich jahraus jahrein zu Hause so langsam im gleichen Kreise bewegte, fuhr nun, da sie tot war, über Stock und Stein auf der offenen Landstraße. Der Sarg, der mit Strohmatten umgeben war, flog herab und lag auf der Straße, während Pferde, Kutscher und Wagen in wilder Flucht dahinjagten. Die Lerche flog singend vom Felde empor, zwitscherte ihr Morgenlied über dem Sarge, setzte sich darauf und stöberte mit dem Schnabel in den Matten, als wollte sie eine Puppe zerreißen. Dann stieg sie wieder empor, und ich zog mich hinter die roten Morgenwolken zurück.«

Elfter Abend.

»Es war ein Hochzeitsfest!« erzählte der Mond. »Lieder wurden gesungen, Gesundheiten ausgebracht, alles war reich und prächtig; die Gäste verabschiedeten sich, Mitternacht war vorüber; die Mütter küßten Bräutigam und Braut; ich sah diese allein, aber die Gardinen waren beinahe ganz vorgezogen; die Lampe beleuchtete das trauliche Gemach. ›Gott sei Dank, sie sind fort!‹ sagte er und küßte ihre Hände und Lippen; sie lächelte und weinte, ruhte an seiner Brust, bebend, wie die Lotosblume auf dem strömenden Wasser ruht; und sie flüsterten süße, glückselige Worte. ›Schlafe süß!‹ rief er und sie zog die Gardinen des Fensters auf die Seite. ›Wie schön doch der Mond scheint,‹ sagte sie, ›sieh, wie still und klar!‹ und sie löschte die Lampe aus, es wurde dunkel in dem behaglichen Zimmer, und doch strahlte mein Licht, wie seine Augen strahlten. – Weiblichkeit, küsse du des Dichters Harfe, wenn er von des Lebens Geheimnissen singt!«

Zwölfter Abend.