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Robert Beyer

Barbara Lutz, 1959 in Dornbirn geboren, studierte Ethnologie in Wien und Bern. Arbeitete in verschiedenen Kontinenten, in der Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung. «Russische Freunde» ist ihr erster Roman. Barbara Lutz lebt bei Bern.

Mit Dank an Renate für den Versand von Zeitungsartikeln und Lesen des Manuskripts, an Änni und Robert für ihre kritische Durchsicht und an Christina, Sarah, Aljona, Yvan und Marina.

BARBARA LUTZ

RUSSISCHE
FREUNDE

Roman

1

Nein. Nicht das. Nicht jetzt noch das.

Ich hatte den Hausschlüssel verloren. Es war kurz nach fünf Uhr in der Früh, die Dämmerung noch weit. Ich stand vor dem Wohnblock und starrte zu meinen Fenstern hoch. Nach elf Stunden Arbeit im Obdachlosenheim, nach Stunden, in denen ich im stickigen Büro angespannt betrunkenem Lallen zugehört und auf Schnarchen aus dem Schlafsaal gehofft hatte. Ich fühlte mich so dreckig, als hätte ich die Nacht unter einer Brücke zugebracht. Krätze, Flöhe, Läuse, Alkoholfahnen, alle Trostlosigkeit klebte an mir.

Ich ging um das Haus herum nach hinten, in unseren verwahrlosten, überwachsenen Garten. Ich wollte in meine Wohnung. Jetzt. Sofort. Der Fassade entlang sah ich nach oben zu meinem Balkon im ersten Stock.

Ich schob den Gartentisch an die Hauswand und schichtete eine Holzkiste und zwei morsche Harasse übereinander. Die Balkontür würde dran glauben müssen, aber sie schloss schon lange schlecht, und es war mir egal.

Der erste Versuch scheiterte. Die Regenrinne war stabil, doch fehlte mir die Kraft, um mich bis zum Balkon hochzuziehen. Der Kletterturm war nicht hoch genug. In einem Nachbargarten fand ich einen weissen Plastiksessel und einen Kübel. Das war frech, ich kannte diese Leute nicht, wusste bloss, dass sie ihren Gartensitzplatz täglich wischten und die dürren Blätter aus den Geranien zupften. Ich blieb stehen und horchte in die Stille. Noch schien alles zu schlafen, nur vorne auf der Hauptstrasse fuhr ein Auto.

Der Stuhl erwies sich als zu sperrig, aber den Kübel nahm ich mit, als ich wieder auf den Tisch kletterte. Vorsichtig balancierend, schaffte ich es auf die oberste Kiste und stieg auf den Kübel, der sofort unter mir wegzurutschen begann. Jetzt aber zog ich mich verbissen an der Rinne hoch. Ich schrammte mir die Fingerknöchel blutig. Ich würde es schaffen.

Plötzlich war alles taghell. Ich wurde von gleissenden Scheinwerfern angestrahlt, während ich vor Anstrengung zitternd an der Wand klebte. Wie die dicken Kinder im Turnunterricht, die an der Stange auf halber Höhe stecken bleiben. Ich schwitzte vor Anstrengung und es dauerte, bis ich begriff. Unter mir im Garten standen Polizisten. Ich habe doch bloss einen Plastikkübel genommen, ging mir als erstes durch den Kopf.

Die Polizisten schauten mir unbeteiligt zu, wie ich der Rinne entlang nach unten rutschte. Der Turm fiel in sich zusammen und ich musste mir vom Tisch helfen lassen. Mit herablassender Gleichgültigkeit, vorbei an uniformierten Oberschenkeln, wurde ich vom Tisch gehievt. Die Polizisten bugsierten mich in einen Streifenwagen und fuhren mit mir davon.

Ich fand mich alleine in einem kleinen, fast unmöblierten Büro wieder. Sie hatten mich ins Polizeigebäude am Waisenhausplatz gebracht. Ein Schreibtisch, drei Stühle. Keine Bilder, kein Kalender, keine Uhr, ich sass und wartete. Vielleicht hätte ich einfach aufstehen und davonlaufen können. Gut möglich, dass da keiner war, der es bemerkt hätte. Ich blieb sitzen. Während mindestens zwei Stunden wartete ich. Eine winzig kleine Spinne zog sich an ihrem Faden zum Schreibtisch hinauf und liess sich, oben angekommen, in die Tiefe fallen. Oft, immer wieder. Ich hatte Durst, meine Blase war voll, ich war müde.

Auch Polizisten scheinen nicht gerne vor acht Uhr morgens zu arbeiten. Irgendwann stieg der allgemeine Geräuschpegel im Haus, später betrat ein Mann in Zivil das Zimmer. Mit einem Gruss und kurzem Blick zu mir hin setzte er sich und startete den Computer. Während dieser langsam hochfuhr, sah er zum Fenster hinaus. Dann begann er etwas einzutippen.

«Wie ist Ihr Name?», richtete er schliesslich das Wort an mich und sah mich dabei zum ersten Mal an.

«Ilka Kovacs. Ich wohne in dem Haus, an dem ich hochgeklettert bin. Ich habe meinen Schlüssel verloren und wollte in meine eigene Wohnung.»

Ich sagte das sehr sachlich und souverän.

«Ich warte seit ungefähr zwei Stunden hier», schob ich nach, ohne es zu wollen. Ich gab mir alle Mühe, meine Wut zurückzuhalten. Ich war übernächtigt und entnervt und sass einem frisch rasierten Beamten gegenüber. Es hatte keinen Sinn.

«Ich muss Ihre Personalien aufnehmen. Bitte beantworten Sie meine Fragen. Ihr voller Name ist also Ilka Kovacs? Geburtsdatum?»

Nach dem Geburtsdatum kam die Frage nach Geburtsort, Familienstand, Staatsbürgerschaft, Wohnadresse. Es dauerte.

Sicherlich gab es schriftlich festgelegte Verfahrensregeln, Richtlinien für den Ablauf einer Befragung. Ganz bestimmt hielt er sich daran. Ob dort auch stand, dass kein weiteres Wort zulässig war? Eine kurze Erklärung, weshalb er mich befragte? Wie lange es dauern würde? War irgendwann vorgesehen, sich zu erkundigen, ob die Angeklagte aufs Klo musste? Ob sie Durst hatte? Ich hätte gerne meinen Anwalt erwähnt, aber ich hatte keinen, und der Herr hinter dem Schreibtisch wusste das.

Ich sagte nichts, beantwortete knapp seine Fragen und schaute, synchron zu seinen Blicken, ebenfalls zum Fenster hinaus. Ein müder Versuch, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Er tippte die Angaben ein, surfte herum, hatte sichtlich Zugang zu irgendwelchen Daten über mich. Dann druckte er etwas aus und verschwand.

Wenig später kam der gleiche Mann wieder herein, nun mit einem Dossier in der Hand.

«Kennen Sie den Mieter in der Wohnung oberhalb Ihrer eigenen, Juri Salnikow?», fragte er mich und schaute mir unerwartet direkt in die Augen. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet.

«Ja», antwortete ich und sah wieder zum Fenster hinaus. Es schien ihn nicht zu beirren.

«Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?»

«Das weiss ich nicht mehr.»

«Wann waren Sie zum letzten Mal in seiner Wohnung?»

«Wieso glauben Sie, dass ich überhaupt schon einmal in seiner Wohnung war?»

«Waren Sie schon einmal in seiner Wohnung?»

Ich gab auf. Er sollte mir doch einfach erklären, um was es eigentlich ging.

«Weshalb fragen Sie mich das alles? Ich habe versucht, zu meinem eigenen Balkon hochzuklettern. Falls ich irgendwelche Nachbarn gestört habe, werde ich mich entschuldigen. Sie haben doch inzwischen sicher schon herausgefunden, dass ich dort wohne. Weshalb also werde ich befragt?» Es klang kläglicher, als ich wollte.

Aber überraschenderweise ging er auf mich ein.

«In die Wohnung von Juri Salnikow ist eingebrochen worden. Eine Nachbarin hat das bemerkt und uns gerufen. Gleichzeitig sind Sie die Fassade hochgeklettert. Sie verstehen sicher, dass wir abklären müssen, ob es einen Zusammenhang gibt.»

Ich nahm den Beamten zum ersten Mal genauer wahr. Sein Blick auf mich war aufmerksam und angenehm nüchtern. Er war um die vierzig, etwas untersetzt, mit einem weichen Gesicht und braunen, leicht gelockten Haaren. Er wirkte nicht unklug und, genauer besehen, eigentlich sogar sympathisch. Ich war schon nicht mehr sauer, nur noch müde. Ich befürchtete den Beginn eines Stockholm-Syndroms.

«Waren Sie in seiner Wohnung?» Während er die Frage wiederholte, stand er kurz auf und beugte sich über den Drucker, mit gezielten und sorgfältigen Bewegungen. Ein ruhiger, besonnener Mann, ergänzte ich das «sympathisch». Seine weichen Bewegungen passten nicht zu meiner Vorstellung von einem Polizisten.

«Ich war ab und zu da. Wenn Juri Salnikow weg ist, schaue ich nach den Pflanzen. Ich darf sein Klavier benutzen. Ich weiss, wo ein Ersatzschlüssel zur Wohnung liegt. Ich müsste also gar nicht einbrechen. Und wenn schon eingebrochen worden ist, weshalb würde ich dann anschliessend noch einmal die Fassade hochklettern?»

Seine Kopfbewegung schien fast ein Nicken zu sein. Vielleicht war ich doch nicht die Hauptverdächtigte. Vielleicht würde er mich bald einmal auf die Toilette gehen lassen. Vielleicht bekam ich sogar einen Kaffee. Ich war bereit zur Kollaboration.

«Wo war denn Juri, als eingebrochen wurde?», erkundigte ich mich. Juri war nachts eigentlich immer zu Hause, er kam ab und zu spät heim, schlief aber selten auswärts. Der Beamte erklärte mir, der Einbruch sei um drei Uhr in der Früh geschehen. Eine Nachbarin wurde von ungewohnten Geräuschen wach und hatte im Treppenhaus nachgesehen. Sie bemerkte Juris aufgebrochene Wohnungstür und rief die Polizei, die den Einbruch feststellte. Die Täter waren bereits verschwunden, aber auch der Mieter war nicht da. Bisher hatte die Polizei Juri nicht erreicht. Als ich um fünf Uhr an der Fassade hochkletterte, fuhr die Polizeistreife zufällig zu einem zweiten Kontrollgang am Haus vorbei. Meine Wohnung liegt unter Juris Wohnung, ein Stockwerk tiefer.

Ein Einbruch in unser Haus war seltsam. Ich hatte noch nie daran gedacht, nicht in dem Quartier, nicht in dem Haus. Bei uns gibt es nichts zu holen, weder bei mir noch bei meinen Nachbarn, von denen viele von der Sozialhilfe leben. Allerdings war es einfach, über die Fassade einzusteigen. Falls man genügend Zeit dazu hatte.

Ich wurde noch weiter befragt und ich bekam einen Kaffee im Styroporbecher. Der Befrager hatte sich schliesslich vorgestellt, er hiess Stefan Ricklin und arbeitete beim Einbruch. Gegen Mittag fuhren mich zwei uniformierte Polizisten nach Hause. Sie fragten nach dem Ersatzschlüssel zu Juris Wohnung, der wie immer verstaubt auf dem kleinen Mauervorsprung über dem Gangfenster lag. Die Beamten versuchten, Juris Wohnung abzuschliessen, was ihnen nicht gelang. Die Tür war aufgebrochen worden, das Schloss kaputt, und schon vom Gang aus sah ich, dass in der Wohnung ein Chaos herrschte. Im Flur lagen CDS, Bücher und Papiere.

Ich dachte, die Polizisten würden die Wohnung nun versiegeln, aber sie versuchten bloss, sie abzuschliessen. Weil ich wollte, dass sie bald gingen, bot ich ihnen an, mich darum zu kümmern. Sie waren einverstanden und folgten mir hinunter zu meiner eigenen Wohnung, als ob sie überprüfen wollten, dass ich tatsächlich dort wohnte. Von der Polizeiwache aus hatte ich einen Schlüsselservice bestellt, der aber noch nicht eingetroffen war. Wir warteten.

Vielleicht wollte ich beweisen, dass ich mich hier auskannte. Jedenfalls gab es keinen Grund, die Tür zu meiner kleinen Rumpelkammer zu öffnen, während wir warteten. Der Abstellraum liegt ausserhalb meiner Wohnung, ein halbhoher, schräger Verschlag unter dem Treppenaufgang.

Direkt hinter der Tür, noch vor meinem eigenen Plunder, stand ein grosser brauner Lederkoffer, den ich noch nie gesehen hatte. Mir gehörte dieser Koffer nicht. Instinktiv griff ich nach der Etikette, die am Handgriff baumelte. In grossen und deutlichen Buchstaben waren darauf Juri Salnikows Name und Adresse zu lesen. Meine Verblüffung ging unter in der Ankunft des Schlüsselservices, von weitem hörbar keuchte der Mann die Treppe hoch. Trotz Anwesenheit von zwei Polizisten musste ich mich ausweisen, aber eine Minute später war meine Wohnung offen.

2

Ich wachte gegen Abend wieder auf und dachte an das, was am Morgen geschehen war. Ich musste einen weissen Plastikstuhl und einen Eimer zurückbringen, und vielleicht wäre es gut, mit ein paar Nachbarn zu sprechen und zu erklären, was ich letzte Nacht an der Fassade gewollt hatte. Ich wohne seit bald zwanzig Jahren in diesem Block. Manche Nachbarn mögen mich für eine Eigenbrötlerin halten, vielleicht auch für eine gescheiterte Existenz. Beides wäre hier in der Gegend nichts Aussergewöhnliches. Ich bin nicht sehr kontaktfreudig, aber ich benehme mich anständig und bin freundlich.

Ich mag das Quartier, in dem ich wohne, Bümpliz, eine Mischung aus Hochhäusern und Industrie, aus ein paar übrig gebliebenen, verlotterten Holzhäusern und in die Jahre gekommenen Mietskasernen. Unser dreistöckiges Haus gehört zu den letzteren, es stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Besitzer haben seit damals nicht viel investiert, mal abgesehen von ein paar Boilern. Vom Küchenfenster aus geht der Blick auf eine Tankstelle und auf mehrstöckige Wohnblöcke. Schön ist der verwilderte Garten hinter dem Haus, der bis zum Turnplatz einer Schule reicht. Die Wohnung ist billig, was sich gerade jetzt als ein Vorteil erwies. Ich hatte seit mehreren Monaten keine richtige Arbeit mehr.

Der Abend dämmerte bereits, als ich frühstückte. Da ich wieder einmal kein Brot hatte, musste ich mich mit Haferflocken begnügen. Sobald ich richtig wach war, wollte ich bei Juri vorbeischauen und von ihm erfahren, was eigentlich los gewesen war. Ich nahm an, dass er inzwischen zu Hause war, auch wenn ich von oben keine Geräusche vernahm. Normalerweise höre ich seine Schritte.

Juri ist Russe und wohnt seit eineinhalb Jahren über mir. Es ist nicht so, dass wir uns wirklich gut kennen, aber seine Nachbarschaft tut mir gut. Juri studiert im dritten Semester Wirtschaft, hat aber, soviel ich weiss, in seiner Heimat bereits einen Abschluss gemacht. Jedenfalls ist er schon einiges über dreissig. Juri lebt zurückgezogen, bis auf seltene Besuche von ein paar Studienkollegen oder anderen Exilrussen. Abends ist er meist zu Hause. Wenn wir uns im Treppenhaus begegnen, laden wir uns manchmal auf eine Tasse Tee ein.

Ich mag Juri. Ich glaube, er erinnert mich an Freddie, einen Buben aus meiner Kindheit. Freddie wohnte im gleichen Haus und er war mein Freund, dass er drei Jahre jünger war, spielte keine Rolle. Stundenlang lagen wir auf der Terrasse über der Bäckerei und betrachteten die Welt. Die Schnecken auf dem Weg zum Basilikum, die Käfer und Ameisen in der Regenrinne, die dicke Nachbarin beim Wäscheaufhängen, die anderen Kinder bei ihren Streifzügen durchs Quartier. Freddie durfte bei der Quartierbande nicht mitmachen, weil er zu klein war, und mich wollten sie nicht, weil ich ein Mädchen war. Freddie war wie ein kleiner Bruder. Juri gegenüber habe ich ähnliche Gefühle, er ist jünger als ich, aber er ist ein Verbündeter, dem ich ohne viele Worte begegne. Weshalb ich wenig über ihn weiss.

Was uns auch verbindet, ist das Klavier. Als Juri hier einzog und es die Treppe hochgetragen wurde, hatte ich seit Jahren keine Tasten mehr berührt. Dann aber liess Juri mich sein Klavier benutzen und eigentlich haben wir uns so kennengelernt. Auch das ist wie in meiner Kindheit. Damals ging ich zu einer Nachbarin, um zu spielen, zu einer älteren Dame, die mich dann auch unterrichtete. Da die Stunden nicht offiziell waren und der Unterricht meine Eltern nichts kostete, erwartete niemand, dass ich übte. Frau Rottuner brachte mich trotzdem dazu, mich mit Fingerübungen abzugeben, und ich wurde überraschend gut. Als ich irgendwann, ich war vielleicht sechzehn oder siebzehn, mit dem Improvisieren begann, war sie zuerst entsetzt. Dann aber überwand sie sich und besorgte mir Noten und Bücher über Jazz und Rock. In meiner Jugend verbrachte ich Stunden in der Nachbarwohnung am Klavier, und später gab es sogar eine Zeit, wo ich mit einer Band unterwegs war.

Juri selbst spielt ausgezeichnet Klavier. Er hat mir erzählt, er habe mit vier Jahren an der öffentlichen Musikschule von Tscherepovez begonnen, von dort stammt er. Und Juri ist ausgesprochen lärmtolerant. Selbst wenn ich stundenlang die gleichen Dinge übe, sitzt er seelenruhig mit seinen Arbeiten für die Uni im Nebenzimmer. Er muss in akustisch schlecht isolierten Plattenbauten aufgewachsen sein. Mein Geklimper stört ihn nicht, das hat er schon oft gesagt.

Ich rief meine Mutter an, in der Hoffnung, dass ich ihr einen Schlüssel überlassen hatte. Das Gespräch wurde langfädig, bis ich schliesslich die Frage nach dem Schlüssel anbringen konnte. Sie hatte einen, und wir vereinbarten, dass ich ihn am nächsten Tag holen kam.

Als ich auflegte, merkte ich, wie kalt mir war. Jetzt im September war es abends schon recht kühl. Ich sass neben dem Telefon auf dem Boden, durch die undichte Balkontür zog eisige Luft herein. Bald schon musste ich Öl beschaffen, ich heize mit einem Ölofen aus den Fünfzigerjahren, den man morgens mit einem Kanister auffüllt. Die Wohnung würde wieder den ganzen Winter über nach Öl stinken.

Juri war nicht da. Ich stieg mehrmals zu seiner Wohnung hoch und klopfte an die offen stehende Tür, betrat die Wohnung aber nicht. Juri kam auch im Laufe des Abends nicht nach Hause.

Drei Tage später war Juri immer noch verschwunden. Ich hatte nichts zu tun, ich drückte mich ums Bewerbungen schreiben. Seit Januar, seit neun Monaten also, hatte ich keine Arbeit mehr, abgesehen von den wenigen Schichten im Obdachlosenheim. Um diesen Aushilfsjob war ich zwar froh, aber ich fand ihn, vor allem die Nächte dort, immer unerträglicher. Ich fühlte mich selbst zu sehr als Sozialfall, um noch Geduld für gestrandete Existenzen aufzubringen. Die Gänge zum Arbeitsamt, das Bewerbungen schreiben, die Absagebriefe im Briefkasten zermürbten mich. Ich hatte es in all den Monaten nie zu einem Bewerbungsgespräch geschafft. Ich bin in solchen Dingen nicht sehr begabt. Trotzdem musste ich eine Lösung finden, jetzt bald. Selbstverständlich war es nun ein Problem, dass ich die Ausbildung abgebrochen hatte.

Es war kalt in der Wohnung und ich hatte kein Geld, um etwas zu unternehmen. Und so langsam machte ich mir wirklich Gedanken darüber, was mit Juri geschehen war. Deshalb holte ich seinen Koffer aus der Abstellkammer und öffnete ihn.

Was wusste ich denn schon von Juri? Ein paar Dinge aus seiner Kindheit. Er hatte erzählt von Ferien in der Ukraine, von Obstgärten voller blühender Pflaumen- und Kirschbäume, in denen er sich als Kind herumgetrieben hatte, und dass sie dort mit einem Gewehr auf Vögel geschossen hatten. Dass im Winter in Tscherepovez, das lag ganz im Norden, nur ein einziger Raum der Wohnung beheizt wurde, und dass sich die ganze Familie abends dort aufhielt. Von einem alten Onkel, der Dinge sah, die niemand sonst wahrnahm, und der ihn als Kind oft erschreckt hatte. Russland hat mich immer schon angezogen, aber mit meinen Bildern von Schlittenfahren und russischen Bauerndörfern lag ich vermutlich um Jahrhunderte hinter der Realität.

Der Koffer war nicht abgeschlossen. Zuerst sah ich einen zerknitterten Seidenschal und ein paar abgelaufene Kindersandalen. Darunter lag ein bestickter Beutel voller Murmeln und Kinderkram mitsamt einem kleinen, kopflosen Püppchen, was ich berührend fand. Dann war da noch ein USB-Stick, der überhaupt nicht in diesen Beutel passte. Ansonsten enthielt der Koffer Fotoalben und Kartonmappen mit Briefen und Dokumenten. Ich blätterte ein paar Briefe durch, konnte aber nichts lesen, schon wegen der kyrillischen Schrift. Die meisten Briefe waren von Hand geschrieben und vom Alter leicht angegilbt. Ich stellte mir vor, wie Juri die Post seiner Mutter und seiner Grossmutter aufbewahrte, Briefe, die er erhalten hatte, als er in irgendeinem Wohnheim in einer fremden russischen Stadt lebte und studierte.

Es war nicht in Ordnung, so in Juris Andenken zu stöbern, ich legte die Briefe zur Seite und sah mir die Fotoalben an, die mir weniger intim schienen. Einen blonden Jungen, der auf fast allen Fotos abgebildet war, identifizierte ich als Juri. Blond, blass, hoch aufgeschossen, auch heute noch sieht Juri so aus. Nicht wie ich mir einen Russen vorstelle. Juri hat kaum Bartwuchs, und selbst mit dreissig wirkt er wie ein zu schnell gewachsener Junge. Juri hatte mir einmal von einer Schwester erzählt, die mit elf Jahren an einer Hirnblutung gestorben war, vermutlich das dünne Mädchen, das auf vielen Fotos neben Juri stand. Ein Album enthielt Bilder von einer Moskaureise, Juri als junger Erwachsener inmitten einer Gruppe von Kameraden. Abgesehen davon, dass mich die Bilder nichts angingen, fingen sie an, mich zu langweilen. Ich kannte die Leute nicht, Pferdeschlitten kamen keine vor, und die Häuser hätten irgendwo stehen können.

Ganz unten im Koffer lag ein Ordner, in dem Juri Diplome und Dokumente aufbewahrte. Ich stellte fest, dass Juri in Kiew Maschinenbau studiert und vor fünf Jahren abgeschlossen hatte. Mit seinem ganzen Namen hiess er Juri Wadimowitsch Salnikow, und er hatte Blutgruppe A. Es war mir unangenehm, seine Sachen durchgesehen zu haben. Ich legte alles zurück in den Koffer und schloss ihn, zögerte dann aber, holte den USB-Stick aus dem Beutel und steckte ihn ein. Wenn schon, dann konnte ich mir auch noch anschauen, was sich darauf befand.

Aber wie kam Juri eigentlich dazu, den Koffer in meine Abstellkammer zu stellen? Als ob er ihn parat gemacht hätte für den Fall, dass er das Haus fluchtartig verlassen musste. Weil es brannte, zum Beispiel, es gibt Leute, die solche Dinge tun. Warum aber hatte er ihn dann bei mir deponiert? Jedenfalls schrieb ich ihm eine Notiz, er solle sich bei mir melden, und heftete sie an seine Wohnungstür, die ich, soweit es das defekte Schloss zuliess, zuzog. Ich musste dringend einen Schlosser bestellen.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, die Wohnung einer alten, alleinstehenden Dame, die vor kurzem verstorben war, zu räumen. Esther, eine Frau, die ich von meinem abgebrochenen Studium her kenne, hatte mich darum gebeten. Sie hatte als einzige Verwandte bereits alles an sich genommen, was sie behalten wollte. Es war deprimierend, wie ich in wenigen Stunden die letzten persönlichen Spuren der alten Dame beseitigte. Mit einem schlechten Gewissen stopfte ich Lippenstifte, Cremen und eine Haarbürste, in der sich noch einzelne weisse Haare der Verstorbenen befanden, respektlos in Müllsäcke, zu abgelaufenen Lebensmitteln aus der Küche, zu bereits benützten Seifen und angebrochenen Zahnpastatuben. Zuerst wollte ich nichts nehmen, dann aber überwand ich mich und füllte zwei Tüten mit unverderblichen Lebensmitteln wie Tee und Reis. Eigentlich konnte ich diese Dinge, im Hinblick auf meine finanzielle Lage, gut brauchen.

Während ich Blusen und Halstücher aus dem Kleiderschrank riss und Teppiche zusammenrollte, dachte ich an Frau Rottuner, meine Klavierlehrerin, die vor zwei Jahren gestorben war. Ich hatte sie noch bis kurz vor ihrem Tod mindestens einmal im Monat besucht, selbst als sie schon im Altersheim war und mich nicht mehr erkannte. Darauf war ich stolz.

Am letzten Abend kam Esther vorbei, und wir gingen gemeinsam in ein thailändisches Restaurant essen. Esther lud mich ein und bezahlte mich auch für meine Arbeit. Sie hat das Sprachstudium, das sie gemeinsam mit mir begann, mit Doktorat abgeschlossen, während ich nach sechs Semestern abbrach. Heute arbeitet sie in einem Sprachinstitut in leitender Stellung. Sowieso leben alle früheren Freunde und Freundinnen inzwischen in besseren Verhältnissen. Ich kann nicht mithalten, nicht beim Einkommen, auch nicht beim Nachwuchs, nicht bei den glücklichen Ehen und nicht bei den stilvoll eingerichteten Wohnungen und Eigenheimen im Grünen. Ich nehme an, einige meiner Bekannten halten mich für eine Versagerin. Normalerweise finde ich, dass das ihr Problem sei, aber in der letzten Zeit lief ich Gefahr, ihr Urteil zu übernehmen. Immerhin habe ich keine gesundheitlichen Probleme, dachte ich, als ich nach unserem Abendessen im Tram nach Hause fuhr. Kaum hatte ich mich dabei ertappt, das in allem Ernst gedacht zu haben, machte ich mir wirklich Sorgen um mich. Früher hatte ich keine solchen Gedanken.

3

Ich ging also eine Woche lang frühmorgens aus dem Haus und kam jeweils spät heim. Trotzdem hätte ich es bemerkt, wenn Juri zurückgekommen wäre. Normalerweise höre ich seine Schritte, ich höre es, wenn er den Wasserhahn betätigt oder wenn sein Radio läuft.

Am Freitagmorgen meinte ich, über mir Schritte zu vernehmen. Es war halb sechs Uhr in der Früh, trotzdem stand ich auf. Ich horchte nach oben, hörte nun aber nichts mehr. Juris Verschwinden und die verwüstete, offenstehende Wohnung machten mich nervös. Sobald es acht Uhr war, würde ich einen Schlosser anrufen.

Zwei Stunden später sass ich immer noch in der Küche. Ich trank den Kaffee aus, ich wollte mich in Juris Wohnung umsehen.

Der Boden war übersät mit Papieren, selbst im Gang konnte ich kaum einen Schritt machen, ohne auf etwas zu treten. Ich nahm ein Blatt in die Hand, Teil einer Seminararbeit für die Uni. In den Zimmern sah es ähnlich aus. Alle Bücher auf dem Boden, die Regale leergefegt, die Schreibtischschubladen offen und ausgekippt, sogar die Klaviernoten waren im Zimmer verteilt. Ich versuchte ein paar Takte zu spielen, aber es fühlte sich schlecht an, und ich liess es bleiben. Ganz offensichtlich war Juri seit dem Einbruch nicht zurückgekehrt. Ich hielt Ausschau nach einem Adressbuch oder einer Namensliste, fand aber nichts. In der Küche entdeckte ich zu meiner Überraschung Juris Mobiltelefon. Halb verdeckt vom Brotkasten war es wohl unabsichtlich liegengeblieben. Ich nahm es an mich und verliess die Wohnung.

Das Telefon war seit mehreren Tagen nicht benützt worden und der Akku fast leer. Nummern hatte sich Juri keine gespeichert, aber ich notierte mir die letzten Anrufe. Vielleicht wusste ja einer, den er angerufen hatte, wo ich ihn erreichen konnte.

Ich kam dann aber nicht dazu, Esther meldete sich noch einmal mit der Frage, ob ich für sie die Wohnungsabgabe übernehmen würde. Sie konnte sich bei ihrer Arbeit nicht freimachen. Ich sagte zu und verliess die Wohnung.

Am frühen Abend war ich zurück. Es vergingen mindestens zehn Minuten, bis ich den Einbruch bemerkte. Ich hatte mir, ausgehungert wie ich war, in der Küche ein paar Brote gestrichen, die Zeitung gelesen und meine Post angeschaut. Aber als ich das Wohnzimmer betrat, fiel mir eine leicht herausgezogene Schublade auf. Eine Schublade, in der ich überflüssige Computerkabel und unpassende Glühbirnen aufbewahre und die ich nie öffne. Ich sah mich um. Die Tür des Wandschrankes im Gang, sie stand seltsam offen. So hatte ich die Wohnung nicht verlassen. Ich ging von Raum zu Raum, zog Schubladen auf, begutachtete die Schränke, sah sogar unter das Bett. Natürlich war niemand da. Aber jemand war in meiner Wohnung gewesen.

Ich versuchte herauszufinden, ob etwas fehlte. Mein Computer, der wohl wertvollste Gegenstand in der Wohnung, stand auf seinem Platz, und auch der CD-Player war noch da. Dann bemerkte ich es: Der Koffer, Juris Koffer, war weg.

Ohne viel zu überlegen, ging ich zum Telefon und rief die Polizei an. Ich hatte bereits aufgelegt, als ich mich fragte, was ich mir von ihnen erwartete. Mir war nichts gestohlen worden, und ich hatte eigentlich keine Lust, Polizei in der Wohnung zu haben. Kurz darauf trafen sie aber bereits ein, zwei uniformierte, gelangweilte Männer, die sich die Wohnungstür ansahen und ein paar Fotos machten. Ausser ein paar Kratzspuren, die vielleicht nicht einmal neu waren, konnte ich an der Tür nichts feststellen. Falls es der gleiche Einbrecher war wie bei Juri, so hatte er Fortschritte gemacht.

Es war den Beamten anzusehen, dass sie einen Versicherungsbetrug vermuteten, als ich erklärte, ein Koffer sei gestohlen worden. Sie verabschiedeten sich, und ich hörte, wie sie im unteren Stock an Türen läuteten und Gespräche mit meinen Nachbarn führten. Ich blieb mit einem unguten Gefühl in meiner Küche sitzen und machte mich daran, festzuhalten, welche Gegenstände sich in dem Koffer befunden hatten. Die Beamten hatten mich darum gebeten. Es tat mir leid, dass ich mir den Kofferinhalt nicht genauer angesehen hatte.

«Kl. Plastikpuppe, Ledersandalen, Seidenschal», stand auf dem Blatt vor mir, als mir ein Gedanke kam. Ich hatte Juris USB-Stick nicht in den Koffer zurückgelegt. Ich fand ihn in der Tasche einer Jeans, die ich nicht wieder getragen hatte.

Kurz nach acht Uhr läutete es an der Tür. Ricklin, der Zivilpolizist, der mich nach meiner Fassadenkletterei auf dem Polizeiposten befragt hatte, stand da. Ich war überrumpelt. Er entschuldigte sich und fragte, ob er sich umsehen dürfe. Ich konnte seinen Besuch nicht recht einordnen, traute er seinen Kollegen nicht, kam er von einem anderen Dezernat, hatte ich mich verdächtig gemacht? Sie hatten ihn nicht angekündigt.

Ricklin ging zuerst hoch in Juris Wohnung, ich war gar nicht auf die Idee gekommen, aber gut möglich, dass sich der Einbrecher auch dort herumgetrieben hatte. Nach einigen Minuten kam Ricklin zurück, sagte aber nichts. Er schaute sich kurz und ohne allzu grosses Interesse meine Wohnungstür an und liess dann den Blick über meine Einrichtung gleiten. Ich fragte mich, was er von meiner Wohnung halten mochte, von meiner zufälligen Zusammenstellung an alten Möbelstücken, von der Ölheizung, den verblichenen Tapeten und zerkratzten Türen. Sicher kümmerte sich bei ihm zu Hause eine Gattin um stilvolle Einrichtung.

«Darf ich?», fragte er höflich und wechselte von der Stube in das Zimmer, das ich als Büro verwende. Er fragte mich, ob etwas fehle. Ich verneinte, sagte aber, dass ich trotzdem das Gefühl hatte, Schränke und Schubladen seien gründlich durchsucht worden. Ricklin setzte sich an meinen Schreibtisch, und ich entfernte eilig eine Bewerbung, die unvollendet zuoberst auf dem Schreibtisch lag. Ich schmiss sie ins Altpapier. Es wäre sowieso nichts daraus geworden.

«Haben sie sich am Computer zu schaffen gemacht?», fragte Ricklin, und ich wunderte mich über die Mehrzahl, ich war von nur einem Einbrecher ausgegangen.

«Das weiss ich nicht. Er steht jedenfalls noch gleich da.»

«Ich möchte überprüfen, ob sie an Ihrem Computer waren. Dafür muss ich ihn aber starten», das war als Frage gemeint, er sah mich aufmerksam an.

«Ja, bitte», antwortete ich etwas perplex, das Ganze wurde mir doch langsam ziemlich privat. Ich überlegte, ob ich etwas in meinem Computer hatte, was er nicht sehen sollte, und räumte ein paar herumstehende Dinge vom Schreibtisch, um Platz zu machen.

«Was ich vom Kofferinhalt noch habe, ist ein USB-Stecker», teilte ich Ricklin mit. Er schwieg einen Moment, beschäftigt mit meinem Computer. Dann drehte er sich zu mir hin.

«Ihr Laptop wurde heute Nachmittag um 15:00 Uhr geöffnet. Waren Sie das?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Haben Sie irgendwelche Dateien in Ihrem Computer, die jemanden interessieren könnten?»

Wir starrten jetzt gemeinsam auf meinen Desktop und auf die dort angezeigten Ordner, bei den meisten handelte es sich um Bewerbungen.

«Meine Steuererklärung?», fragte ich.

«Ja, dann müssen Sie wohl in Kürze mit einer Erpressung rechnen», zum ersten Mal sah ich ihn lächeln, «und den USB-Stick würde ich gerne mitnehmen.»

Ich bin über das Alter hinaus, in dem alles, was Polizei ist, automatisch mein Feind war. Die Polizei kann Frauen vor häuslicher Gewalt schützen, beispielsweise. Trotzdem war es mir unangenehm, einen Polizisten nett zu finden, und sei es auch nur ansatzweise. Was mir an Ricklin gefiel, war, wie unbeeinflussbar er wirkte. Wie nüchtern. Weder daraus, dass ich in einer abgenutzten Bruchbude wohnte, noch daraus, dass sich in meinem Computer vor allem Bewerbungen befanden, schien er irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Ich hatte das Gefühl, dass solche Dinge für ihn unwesentlich waren. Das gefiel mir.

Ricklin fragte mich noch weiter aus, über Juri, seine russischen Freunde und was er so tat und weshalb sich jemand für seine Sachen interessieren könnte. Da hatte ich selbst keine Ahnung.

Schliesslich erhob sich Ricklin und ging noch einmal aufmerksam und in sich versunken von Zimmer zu Zimmer, zuletzt ins Schlafzimmer. Ich folgte ihm auf Distanz und stand im Gang herum. Ich lehnte neben der Eingangstür im Schlafzimmer, als er sich umdrehte und direkt auf mich zukam. Wir sahen uns in die Augen, und plötzlich war das peinlich. In meinem Schlafzimmer. Ich dachte eigentlich gar nichts, aber ich dachte, dass er dachte, dass ich dachte. Ruhig ging er an mir vorbei aus meinem Schlafzimmer.

Ich war froh, als er weg war. Ich stellte einen Stuhl vor die Balkon- und einen vor die Eingangstür, damit keiner unbemerkt hereinkommen konnte, und legte mich mit einem Glas Bier in die Badewanne. Aber das Dösen tat mir nicht gut. Es war schon unangenehm genug, einen Polizisten nett zu finden. Von seinen lächelnden Augen zu träumen, ging zu weit.

4

Als ich am nächsten Morgen in meine Jeans schlüpfte, stellte ich fest, dass ich Ricklin einen falschen Stick mitgegeben hatte. Unabsichtlich, die Dinger, beide schwarz, sahen sich ähnlich, wie ich mit Juris richtigem Stick in der Hand konstatierte. Ricklin musste sich also mit einer Auswahl aus meinen Bewerbungsschreiben und Lebensläufen begnügen. Ich hingegen schloss Juris USB-Stick an meinen Computer an und kam problemlos in seine Dateien, die durch kein Passwort gesichert waren.

Der Stick erwies sich trotzdem als eine Herausforderung, systemlos waren unzählige Ordner und Dokumente darauf abgespeichert, solche mit russischem, mit deutschem, englischem und manchmal auch ohne Titel. Wahllos öffnete ich ein paar Ordner. Ich stiess auf Buchhaltungsdateien, Auszüge von Abrechnungen, wie mir schien. Ich nahm an, dass die Dateien mit Juris Arbeit zu tun hatten. Juri erledigte ab und zu etwas für eine Firma, die irgendwelche Konsumprodukte nach Russland exportierte. Als nächstes öffnete ich eine englische Powerpoint-Präsentation zu den russisch-schweizerischen Handelsbeziehungen, die mich nicht interessierte. In vielen Ordnern waren, wie ich feststellte, Fotos gespeichert, wohl an die tausend Bilder. Ich stiess auf Ferienfotos, Aufnahmen aus einem tropischen, vermutlich südamerikanischen Land. Dass Juri in Südamerika gewesen sein sollte, erstaunte mich. Die Reisegruppe bestand aus ungefähr sechs Männern mittleren Alters, allesamt begleitet von jungen Frauen. Von denen ich nicht annahm, dass es sich um die Ehefrauen handelte, die Mädchen waren jung, ziemlich jung. Das passte irgendwie nicht zu Juri. In anderen Ordnern fand ich Fotos von Jachthäfen, gutgekleidete Menschen auf einem Schiff, eine Abendgesellschaft auf einer Terrasse, eine mir unbekannte Familie an einem Swimming-pool. Ich war verblüfft. Juri hatte wohl irgendwann in seinem Leben Zugang zu besseren Kreisen gehabt.

Ich liess die Fotos bleiben, schliesslich wollte ich Juri ausfindig machen. Ich erinnerte mich an die Nummern aus seinem Mobiltelefon.

Beim ersten Anruf landete ich bei einer Firma namens Impexpo, eine Frau war am Apparat. Wie sie mir sagte, hatte Juri ab und zu für Impexpo gearbeitet, was allerdings schon eine Weile her war. Vor einigen Tagen hatte er sich gemeldet und nach Arbeit gefragt. Wo ich ihn finden konnte, wusste sie nicht.

Auch die zweite Nummer stellte sich als eine Geschäftsnummer heraus. Freundlich erklärte ich dem Herrn am Telefon, wer ich sei und dass in die Wohnung meines Nachbarn eingebrochen worden war. Ich fragte ihn, ob er Juri Salnikow kenne und vielleicht wisse, wo er zu finden sei.

«Wer sind Sie?», die Stimme mit ausländischem Akzent war misstrauisch. Ich wiederholte meinen Namen. Den seinen hatte ich genauso wenig verstanden, aber ich fragte nicht nach.

«Ich bin eine Nachbarin von Herrn Juri Salnikow. Ich suche ihn dringend, weil in seine Wohnung eingebrochen worden ist.»

«Hä? Sind Sie die Freundin von Salnikow?»

«Mein Name ist Kovacs», sagte ich zum dritten Mal. «Ilka Kovacs. Wie gesagt, ich bin eine Nachbarin von Herrn Salnikow. Er scheint verreist zu sein und weiss vermutlich nichts vom Einbruch. Er ist seit einigen Tagen nicht zurückgekommen. Ich versuche ihn deshalb zu erreichen.»

«Wo ist denn Salnikow jetzt?»

War der Typ blöd, verstand er mich nicht?

«Ich rufe an, weil ich dachte, dass Sie mir vielleicht sagen könnten, wo ich ihn erreichen kann.»

«Wie kommen Sie auf uns?»

«Er hat Ihre Telefonnummer notiert», log ich.

«Wir kennen keinen Salnikow.»

Das Telefon wurde grusslos aufgehängt. Was war denn das gewesen? Eine Firma, die so ähnlich wie Adfi geklungen hatte, vom Namen des Mannes hatte ich nur ein paar Zischlaute in Erinnerung, ein russischer Name vielleicht.

Bei der nächsten Nummer meldete sich eine verschlafene Männerstimme, was ich schon mal sympathisch fand.

«Hallooo?»

Diesmal fasste ich mich kürzer und sagte nur, dass ich Herrn Salnikow suchte, weil seine Wohnungstür aufgebrochen worden sei.

«Er hat sich bei mir nicht gemeldet, ich weiss nicht, wo er steckt», der Mann am Telefon gähnte, klang aber trotzdem interessiert und beteiligt. Es stellte sich heraus, dass er Juri privat kannte. Der Mann hiess Balthasar Zeiler und wohnte am Zielweg, er schlug vor, dass ich bei ihm vorbeischaute. «Am Nachmittag? Nicht vor zwei Uhr?»

«Klar. Entschuldige das frühe Telefon», duzte ich ihn. Es war ungefähr zehn Uhr vormittags.

Ich erreichte noch zwei weitere Personen aus der Liste, zuerst einen Mann, der sich mit Petar Lischkow meldete. Er begrüsste mich wie eine alte Freundin und behauptete, wir seien uns einmal bei Juri begegnet. Das Telefon dauerte keine zwei Minuten, er versprach zurückzurufen, weil er momentan bei der Arbeit kein längeres Gespräch führen könne. Dann erreichte ich noch eine Russin, deren Namen ich nicht verstand und die auch zu wenig Deutsch sprach, als dass wir uns wirklich unterhalten konnten. Immerhin brachte ich heraus, dass sie nicht wusste, wo Juri war. Bei der letzten Nummer meldete sich niemand. Eine Combox-Stimme verriet mir, dass der Anschluss einem gewissen Tobias Bucher gehörte. Ich hinterliess eine Nachricht und versuchte im Laufe der nächsten Tage immer wieder, Tobias Bucher zu erreichen, ohne Erfolg.

Den restlichen Vormittag verbrachte ich damit, eine Bewerbung für eine Stelle zu schreiben, die ich sowieso nicht kriegen würde. Gelangweilt formulierte ich einen lausigen Brief, der besagte, wie geeignet und motiviert ich war. Trotzdem genoss ich den Vormittag. Die Sonne schien in mein Zimmer, ich lief in weiten Hosen und in einem warmen Pullover herum und setzte mich später mit einer Tasse Tee auf den Balkon. Der September war bisher recht warm gewesen, nun war es, als ob sich der Sommer verabschieden wollte. Ich wollte die Tage geniessen, solange ich konnte. Wenn nur die Angst nicht gewesen wäre. Diesen Monat lag es nicht drin, alle Rechnungen zu bezahlen, und meine Nachbarin hatte Geld von mir zugut für eine Waschmaschinenreparatur. Es war aber nicht der finanzielle Ruin, der mir Angst machte. Ich fürchtete das Scheitern, was auch immer das sein mochte. Selbst das war mir nicht klar. Wie konnte ich denn jetzt noch scheitern?

Was ich hatte, war viel Zeit. Ich beschloss, mir das Geld für den Bus zu sparen und zu Fuss in die Stadt zu gehen. Unterwegs setzte ich mich auf eine Parkbank und sah ein paar Männern bei einem Schachspiel zu. Die beiden Spieler verschoben die schweren Figuren, ohne Emotionen zu zeigen, in ihre Gedanken versunken standen sie auf dem grossen, auf den Boden gemalten Spielfeld. Andere hatten sich dazugesellt, gaben fachkundige Kommentare ab und knackten dazu Kürbiskerne. Ich dachte an die Millionen von Menschen in der ganzen Welt, die jetzt gerade keiner Arbeit nachgingen. Männer in Istanbul, Boston oder Lagos, überall auf der Welt standen Männer gemeinsam herum, an einem Strasseneck, auf einem Platz, und sahen dem Leben zu. Junge Frauen in Brasilien und Mexiko lackierten sich vor dem Fernseher ihre Zehennägel und träumten von später. Nicht alle konnten produktiv sein in dieser Welt, es wurde auch so noch genug produziert. Weshalb hatte ich das Gefühl, gescheitert zu sein, nur weil ich Zeit hatte?

Irgendwann nach zwei Uhr kam ich bei Balthasar Zeiler an. Er lebte in einem älteren Block im Erdgeschoss, die Vorhänge waren zugezogen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er oft dazu kam, sie zu öffnen. An der Wohnungstür erwartete mich ein athletischer junger Mann im Morgenmantel. Wir setzten uns in ein modern und hell eingerichtetes Zimmer, professionelle Schwarzweissfotos schmückten die Wände. Ich fragte mich, ob Balthasar das Model oder der Fotograf war, wollte aber nicht aufstehen, um sie mir anzusehen. Komisch, ich hatte nie daran gedacht, dass Juri schwul war. Es war mir einfach nicht in den Sinn gekommen, so wie ich oft wochenlang nicht bemerke, wenn Frauen schwanger sind. Dabei war es eigentlich ganz offensichtlich, und bestimmt war Balthasar Juris Geliebter.