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Impressum

Editorische Notiz

Inhalt

DER LEUCHTTURM

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DIE FLUCHT DES STEINMETZEN

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DER GRÖSSTE

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DIE SCHWARZE AUREOLE

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DER VERSCHLEIERTE ORPHEUS

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DAS ÄQUINOKTIUM DER WAHNSINNIGEN

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DIE EULE

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DIE LEUTE VON DER INSEL

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SEINE LETZTE ROLLE

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DER PIRATENFRIEDHOF

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Nachwort des Herausgebers

 

MEISTERWERKE DER DUNKLEN PHANTASTIK

Herausgegeben von Frank Rainer Scheck

 

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Anatol E. Baconsky

 

DAS ÄQUINOKTIUM DER WAHNSINNIGEN

und andere Erzählungen

 

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Aus dem Rumänischen übersetzt von

Max Demeter Peyfuss

 

 

 

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© 2008 dieser Ausgabe: BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Titelbild: Mark Freier

Autorenfoto: Manfred Beck

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-905-8

Editorische Notiz

 

Die zehn Erzählungen des vorliegendes Bandes erschienen 1967 in Bukarest unter dem Titel Echinoxul nebunilor si alte povestiri. 1969 brachte der Verlag Styria (Graz, Wien, Köln) das Werk unter dem Titel Äquinoktium der Wahnsinnigen und andere Erzählungen in deutscher Sprache heraus, übertragen von Max Demeter Peyfuss. Der Verlag dankt Herrn Professor Peyfuss für die freundlicherweise erteilte Genehmigung, seine Übersetzung der vorliegenden Neuausgabe des Buches zugrundezulegen.

Inhalt

 

Der Leuchtturm

Die Flucht des Steinmetzen

Der Grösste

Die schwarze Aureole

Der verschleierte Orpheus

Das Äquinoktium der Wahnsinnigen

Die Eule

Die Leute von der Insel

Seine letzte Rolle

Der Piratenfriedhof

Nachwort des Herausgebers

 

Über ein großes schwarzes Meer

bellt ein großer schwarzer Hund.

 

Aus einer alten Zauberformel

DER LEUCHTTURM

 

Ist solches nicht bei mir verborgen,

und versiegelt in meinen Schätzen?

Deuteronomium 32, 34

 

1

 

Da war der Leuchtturm, und da waren wir, die wir uns wie Nachtfalter versammelt hatten und ausharrten im Bereich seines kalten und fahlen Lichts – sinnlos ausharrten, weil uns in dieser Gegend des Verderbens nichts entschädigen konnte.

Aber für Menschen, deren Leben ziellos ist und zwecklos, hat es nie freigiebigeren Segen als Müßiggang, Einsamkeit und Öde gegeben. Und der schweigsame Horizont des Meeres verstand es, ein Nimbus überm Scheitel der Enterbten zu sein, die wir waren. Auch suchte uns niemand, und um unser Schicksal sorgte sich nur der Wind, der ständig vorüberzog wie die Zeit, der ununterbrochen die Richtung wechselte, der uns mit seinen Stößen umfing, uns liebkoste oder heftig auspeitschte, der das Blickfeld aufwühlte und den Sand der Wanderdünen umhertrug.

Der Leuchtturm, ein alter Bau, war an der Küste errichtet, um den Steuermännern die Gefahren zu künden, die ihnen drohten. Das Ufer unten bildete einen endlosen Strand, der sich allmählich ins Meer hinaus senkte, und an manchen Stellen zeigten sich Sandbänke weit draußen, wo niemand sie erwartet hätte. In den Häfen erzählte man von Schiffbruch und Strandung; als Zeugen standen ein paar Meilen weiter unten auf einer steinigen Anhöhe Kreuze mit verwaschenen Inschriften, die bestimmt waren, die dumpfe Erinnerung an einige Levantiner sinnlos aufrechtzuerhalten, die in dieser Gegend in einer längst vergangenen Nacht vom Tod überrascht worden waren.

Der Turm war ein nicht allzu hoher Ziegelbau, von dem stellenweise der Verputz abgebröckelt war, mit grünlichem, verrottetem Blech gedeckt und mit einer eisernen Balustrade versehen, zu der eine Wendeltreppe emporführte. Oben brannte in einem Glaszylinder die Lampe, die aus einer Anzahl von Flaschen nachgefüllt wurde; alle zwei, drei Monate kamen zwei Matrosen aus dem etwa vierzig Meilen gegen Mittag entfernten Hafen, um die Flaschen auszuwechseln. Sie benützten eine niedrige Schaluppe, die gerade noch über den Wellenkämmen hervorragte, und brachten daneben die gewohnte Nahrung des Wärters: Maismehl, Salz, Alkohol und Tabak. Sie brachten ihm auch Patronen, mit denen er Enten und Bleßhühner jagte, wenn er vom Fisch genug hatte, mit denen er im Winter aber auch den Wölfen nachstellte, die im düsteren Röhricht des Sumpfes umherirrten. Doch ging er recht selten jagen oder fischen. Die meiste Zeit verbrachte er schlafend mit offenen Augen, die Hände unterm Kopf und erstarrt wie ein Toter, dem die Lider zuzudrücken sich niemand gefunden hatte. Was er freilich nachts trieb, weiß ich nicht, denn mein Schlaf war tief, und ich pflegte erst beim Morgengrauen aufzuwachen, da ich ihn wieder hingestreckt auf die Holzbank am Fuß des Turms fand. Doch von Zeit zu Zeit schien es mir, als hörte ich wie im Traum Schüsse irgendwo tief in den Sümpfen. Ich fragte ihn nicht danach. Sicher hätte er mir keine Antwort gegeben. Vielleicht detonierten die Waffen auch nur in meinen Träumen voll von Trugbildern und Geistern. So dachte ich damals, als ich eben an jenes Ufer gekommen war und seine seltsamen Gesetze noch nicht kannte.

2

 

Die Küste hatte die Schönheit der Schwermut und des Verfalls. Es war eine schmale sandige Landzunge, die ebenso weit reichte wie die Sümpfe, die sich gegen Norden jenseits der Kette der kleinen Dünen ausdehnten. Wenn man auf die Dünen stieg, sah man auf der anderen Seite eine endlose Ebene, die von baumhohem Röhricht bedeckt war. Da und dort zeigten sich Wasserspiegel, große Seen mit umherirrenden schwimmenden Schilfinseln oder Reihen von Weiden und Pappeln, deren Stämme mit schwarzen Aushöhlungen besät waren. Unbekannte, bizarre Vögel verschwanden in der Luft; sie hatten weißes oder braunes oder mit ungewöhnlichen Farben geflecktes Gefieder. Ungeheure Vögel mit langen Hälsen und säbelförmigen Schnäbeln oder kleine lärmende und eilige Scharen, die sich zerstreuten oder sich versammelten an einem beweglichen Punkt unter dem weiten Himmel, über den die halluzinierenden Formen der Wolken zogen.

Schreie durchbrachen die Stille wie vergiftete Pfeile. Schreie, die Triumph oder Schrecken bedeuten konnten. Ich lauschte ihnen und fühlte, daß ich ihre Botschaft verstand, obwohl ich diese niemals werde in meiner Sprache erklären können. Ich lauschte auch dem Rauschen des Schilfs und versuchte zu erahnen, was sich in dieser Welt des okkulten Keimens zutrug. Ich hatte gehört, daß jenseits der Sümpfe das Feld beginne, aber der Weg dorthin ist weit und nicht sicher. Ich hatte von absurdem Verschwinden gehört und von Menschen, die samt ihrem Pferd vom Morast verschlungen worden waren, von Banditen und von Hirten, die verwildert waren im Kampf mit den wilden Tieren und dem Sumpf. Manchmal drang undeutlich das Echo von Hundegebell an mein Ohr, doch das leblose Blickfeld verdrängte meine Vorstellungen, und ich schrieb alles dem Wind zu, der vorzutäuschen und zu verblenden versteht.

Der Sumpf war auch nichts für mich. Die Sterne, die verstreut über sein Aschgrau, sein Gelb und Grün wachten, kalligraphierten mir sinnlose und unverständliche Hieroglyphen, und der Tod im Morast konnte meiner nicht harren. An ein solches Ende dachte ich nicht, und selbst wenn ich davon träumte, schreckte ich nicht auf. Der ehrwürdige Apolinarie, der Einsiedlervagabund, sagte, daß der Tod nicht von dem kommen könne, was der Seele fremd ist, sondern nur von Liebe und Haß gezeugt werde. Der Sumpf gehörte niemandem. Vielleicht gehörte er den unzähligen Lebewesen von den Ländern, der Luft und dem Wasser, oder den Bäumen und den Binsen, die entstanden und vergingen in ihrem blinden Jenseits. Nur der ehrwürdige Apolinarie murmelte mit undeutlichen Wörtern in seiner Sprache Flüche und rief den himmlischen Zorn auf den Hund aus den Sümpfen herab. Soviel sagte der Ehrwürdige und ließ seine Rede immer unvollendet. Aber sein Geist war verworren, und niemand außer dem Leuchtturmwärter hätte seinen Worten Bedeutung beigemessen. Wenn der Wärter ihn hörte, schien er aus seiner gewohnten Lethargie zu erwachen und für einen Augenblick wieder zum Leben zu gelangen, das ihn doch längst verlassen hatte.

3

 

Nun lag es vor mir, das Meer. Ein Wahn oder eine seltsame Krankheit hatte mich an seine Küste geführt, in jene Einsamkeit, wo alles im eigenen Nichtsein unterzugehen schien. Was konnte das Meer für einen bedeuten, der von den Menschen der Wälder und Berge abstammte? Heute weiß es selbst ich nicht mehr. Damals aber war ich ein Jüngling an der Schwelle jener achtzehn Jahre, die der Eitelkeit und den erbärmlichen Träumen gehörten. Ich hatte die Schule in einer Stadt gen Mitternacht beendet, mit viel Weiß, mit breiten, von Bäumen gesäumten Straßen und besessen von Glocken und Kuppeln, die sich wie rätselhafte Köpfe über die Häuser erhoben. Ich glaube, daß mir von dort her eine Art unsicherer Traurigkeit in der Seele haften blieb. Wie auch die Unbekümmertheit um den Tod, die von meinen Vorfahren herrührte. Ein guter Schüler war ich nur in den ersten Jahren gewesen. Später gefielen mir das Vagabundenleben und die Muße. Ich liebte die Bücher, die von den Lehrern gehaßt wurden, und auf ihren Seiten habe ich die ersten Zeichen des Lebens gefunden. Ich erwartete, daß mir unerhörte Dinge widerfahren würden, ich sehnte mich nach Großem und Schwerwiegendem, ohne eine genaue Vorstellung zu haben, und oft ging ich nachts allein auf den Dächern der Häuser spazieren und zeichnete mit Kreide hieratische Landschaften. Eine Antwort auf alle meine Fragen war mir im letzten Winter die Ratlosigkeit der Raben auf den Bäumen entlang der geraden Straßen, die im Nebel versanken.

Dann kam eines Tages das Meer. Ich weiß nicht mehr genau, wie es kam. Ich hatte einen Onkel mütterlicherseits, einen dunklen und in einer obskuren Biographie verborgenen Menschen. Soviel uns zu Ohren gekommen war, schien vieles an seiner Existenz unbekannt und trübe zu sein, doch war niemand imstande gewesen, unbezweifelbare Details und Tatsachen aus diesem Leben zu erfahren, das sich auf allen Meridianen der Welt zugetragen hatte. Und niemand von den Meinen, auch die entferntesten Verwandten nicht, hatten ihn in den letzten Jahren gesehen. Seine Fotografie, die in den Familienalben vergilbte, brachte von Zeit zu Zeit das Gesicht eines Ertrunkenen in Erinnerung, dessen Züge kaum noch erkennbar waren im kapriziösen Spiel der Sonnenstrahlen, die in die kristallinen Tiefen der Wasser drangen, in deren Reich er untergegangen war.

Ich fragte nach niemandem und pflegte den Anblick seines verirrten Bildes in den geheimen Stunden der Erregung unter dem großen und kalten Stern, der sich den vor der Zeit verwüsteten Seelen enthüllt. Ich stellte ihn mir groß und schwarz vor. Ich war überzeugt, daß auf den Kais der Häfen kein sonderbarerer und stolzerer Mann als er zu finden war. Da verließ ich mein Zuhause und machte mich auf den Weg mit einem blinden Bettler, der die Welt mit seinem Hund durchwanderte – und blickte nie wieder zurück.

Den Weg und alle seine Mäander vergaß ich. Nur die Bordelle am Hafen und die erste Begegnung mit dem Meer, das an den Abwässern der Schiffe leckte, die es auf den Knien wiegte, blieben mir in Erinnerung. Bald danach begegnete ich – in einer ganz anderen Gegend, als ich erwartet hatte – dem Mann, von dem ich nur den Namen kannte, und bei seinem Anblick ergriff mich ein absurdes Zittern. Ich fand ihn auf der Brücke des Lotsenbootes, das hinausfuhr, um die Dampfer durch die Rinnen des immer mehr versandenden Kanals zu geleiten. Der Alte war klein von Gestalt und ein wenig gebeugt, und seine aschgrauen, zwischen Runzeln eingebetteten Augen blitzten wie leere Kreise. Er erkannte mich, maß mich gleichgültig und sagte mir, daß der beste Platz für mich die Küste beim alten Leuchtturm sei, einige Meilen gen Mitternacht. Er sagte mir, daß der Leuchtturmwärter sein Freund sei und daß ich so lange dort bleiben könne, wie es mir Spaß mache; nachher werde ich mich allein um meine Angelegenheiten zu kümmern haben. Er war nicht sehr gesprächig, und ich weiß nicht mehr, wann ich mich, noch befangen von Schwindel, plötzlich im Hochsommer allein in dem verfallenen Zimmer schlafend fand, das mit mir zu teilen sich der Wärter bereit gezeigt hatte, indem er mich auch teilhaben ließ an seinem Fisch und seinem Maismehl. Manchmal bot er mir auch Tabak an und den Fusel aus der schmutzigen Flasche, in der er den Alkohol mit dem Wasser einer Quelle irgendwo im Sumpf vermischte. Schwerer fand ich mich mit seiner Stummheit ab und mit der verborgenen Feindschaft, die er mir entgegenzubringen schien. Aber das Meer wußte mich für alles zu entschädigen. Übrigens entzifferte ich seine vermutliche Feindseligkeit weder aus seinem Gesicht noch aus seinen Worten. Leichter war es für mich, die Sprache der Möwen zu verstehen als sein einsilbiges, sinnloses Reden. Und nicht einmal das, was mir widerfahren sollte, konnte ich mehr denn zur Hälfte begreifen.

4

 

Gib acht, Junge, hatte mir beim Abschied der Onkel gesagt, der nicht sehr begeistert geschienen hatte, mich zu sehen, du bist kräftig gebaut, aber dein Herz ist elend. Und ich fürchte sehr, daß das Leben, das du suchst, nichts für dich ist! Deine frühen Vorfahren waren ein Stamm von Banditen und Kriegern, aber du trägst ein Pfropfreis von fremder Herkunft. Ich durchschaue dich gut. Du würdest eher den Huren Freude machen, schön wie du bist. Dein Vater muß aus Gegenden gen Mitternacht sein, wo die Menschen weiß sind und aufgeschwemmt. Gib acht, daß du nicht vor der Zeit zur Beute der Fische oder der Reiher im Sumpf wirst!

Das war alles, was er zu mir gesprochen hatte, und ich könnte nicht behaupten, daß mir seine Rede besonders gefallen hätte oder das schiefe Lachen, das sein Gesicht entstellte, als er mir zum Abschied zuzulächeln versuchte. Ich blieb verdüstert und brauchte lange, um wieder in mein gewohntes Fahrwasser zu kommen. Erst später begriff ich, daß mir aus seinen Worten ein Gift, das mich kurz halten sollte, in die Seele gedrungen war. Und zwar als ich, einige Tage nach meiner Ankunft an dieser Niemandsküste, gezwungen war, an einem ungewöhnlichen Begräbnis teilzunehmen.

Ich war beim Morgengrauen erwacht, und als ich das Zimmer des Wärters verließ, sah ich ihn etwa hundert Schritt weit vom Leuchtturm, der noch müde blinkte, schweigsam neben dem Leichnam eines Unbekannten stehen. Der Tote war nackt und bläulich verfärbt und lag auf dem Rücken mit offenen Augen, in denen ein grünliches, trübes Wasser stand. Er zeigte keine Spuren von Schlägen oder Schüssen, und trotzdem war ich, sobald ich ihn sah, davon überzeugt, daß ihn jemand getötet hatte. Wer mag ihn wohl getötet haben, und wer war der Mann, der da vor uns so nahe am Wasser lag, daß die größeren Wellen manchmal seine Haare benetzten und ihm etwas zuflüsterten von der Schwermut der durchsichtigen Tiefen? Ich konnte es nicht erfahren. Er schien ein kräftiger Mann gewesen zu sein, an der Grenze zweier Lebensabschnitte, sonnenverbrannt und tabakbraun vom Meerwasser, das ihn in sich aufnehmen und ihm für immer die Transparenzen des Nichts verleihen sollte.

Dort aber hatten solche Fragen keinen Sinn. Das einzige, was dem Wärter durch den Kopf ging, war die Frage, ob das Meer oder der Sumpf das Grab des Unbekannten vom Strand werden sollte.

Gehen wir, sagte er wie zu sich selbst, und packte den Leichnam an den erstarrten Füßen, während ich vorausging, um das auf den Sand gezogene Boot ins Wasser zu lassen.

Wir hoben ihn hinein, legten ihn auf den wasserbedeckten Boden und ruderten rasch gegen Süden zum tieferen Wasser.

Der Leuchtturm wurde immer kleiner auf der verlassenen Küste, die Möwen schrien grauenhaft; sie waren zahlreicher als je, grimmiger, häßlicher, wilder, und der rote Horizont dehnte sich und zog sich wieder zusammen wie ein verfluchter Kreis. Ein Gefühl der Leere umfaßte mich, und ich ruderte wie wahnsinnig, die Augen zum Himmel, verkrampft, verloren wie ein verspätetes Gespenst, das vor dem Sonnenaufgang flieht, um nicht unter den Lebenden erblickt zu werden.

Wie im Schlaf hörte ich die Stimme des Wärters, der mich aufforderte, die Ruder zu lassen. Als ich mich zu ihm umwandte, stand er aufrecht am Ende des Bootes und schnitzte mit einem kurzen Messer an einem Pappelzweig herum. Der Wärter war ein tüchtiger Holzschnitzer: nach wenigen Augenblicken hing ein kleines Holzkreuz an einer Schnur am Hals des Toten. Dann ließen wir diesen ins Wasser, und während wir zurückruderten, trat ein wenig die Sonne hervor und krönte unsere Scheitel als Samariter der Gesetzlosen.

5

 

Die Ruhe und die Gleichgültigkeit des Wärters schienen mir ein erstes Unrecht zu sein. Den ganzen Tag über konnte ich nicht zur Ruhe kommen. Ich badete und schwamm weit hinaus, schlief kurz im Sand, und am Nachmittag schoß ich mit der Waffe, die er mir manchmal lieh, auf einer Lände einen großen gelben Vogel. Der Tote war aber ständig hinter mir her, und gegen Abend fühlte ich mich von meinen Schritten zu den einsamen Hütten am jenseitigen Strand getragen. Sie lagen etwa eine Meile vom Leuchtturm entfernt und waren aus Holz, Schilf und dem Schlamm des Sumpfes auf dem schmalen Strand zwischen Meer und Röhricht erbaut. Ich war noch nicht dort gewesen. Ich wußte, daß sich dort einige Fischer niedergelassen hatten, die aus dem Süden gekommen waren, aus den verlorenen Dörfern zwischen den zahllosen Armen des Deltas. Warum, wußte ich nicht. Ich hätte es auch gar nicht wissen können, da ich mich nicht einmal selbst gefragt hatte, warum ich gekommen war. Vielleicht war das fahle Licht des Leuchtturms, vielleicht die Niedertracht, vielleicht der Typhus der Einsamkeit und des Häßlichen der Grund für ihr Kommen.

Ich ging pfeifend auf dem meerseitigen Rand der Landzunge und spielte unbewußt mit den Wellen, die sich über den Sand legten und mir jeden Augenblick die Segeltuchschuhe zu durchnässen drohten. Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen, wandte mich zum Leuchtturm, der im Halbdunkel des Abends zu blinken begann, und verfluchte mit lauter Stimme den Wärter wegen seiner Stummheit. Er konnte nur schweigen oder grobe Lügen sagen, so als ob er sich über mich lustig machen wollte. Die Lüge war für ihn ein Schutz des Schweigens. Nach einigen Fragen, auf die ich wunderliche Antworten erhalten hatte, gab ich es auf, und allmählich beschränkten wir uns auf die wenigen Worte unserer Nachbarschaft. Deswegen brachte ich auch den Toten nicht zur Sprache. Wozu? fragte ich mich. Ich war beinahe sicher, daß er mir antworten würde, das Meer habe ihn gebracht.

Plötzlich stand ich vor den Hütten, in einer Entfernung von einigen Metern. Sie waren schwarz und tot wie Schilftristen. Eine einzige, die etwas abseits stand, ließ durch ein kleines Fenster einen Streifen schmutzigen Lichts dringen und sah aus wie ein riesiges Käuzchen, das mit einem einzigen Auge in die unmerklich herabgesunkene Dunkelheit blickte. Ein Schatten glitt vorbei und verbarg sich hinter einer Hütte, und auf den Rücken der Dünen verschwand die Gestalt eines Reiters im Röhricht. Ich stand still und blickte ihr aufmerksam nach. Fern im Sumpf ertönten deutlich das Wiehern eines rasenden Pferdes und ein Schrei, der von einem Menschen oder von einem seltsamen Vogel herrühren mochte.

Nach kurzem Zögern nahm ich meinen Weg zur erleuchteten Hütte wieder auf.

Wen suchst du, Junge? hörte ich plötzlich hinter mir, und als ich mich umdrehte, sah ich in einem offenen Fenster den schönen Kopf einer Frau, die eben der Jugend entwachsen war.

Sie blickte mich mit ihren großen und düsteren Augen an; sie waren blau oder grün – ich erkannte es nicht – und leuchteten in der Dunkelheit wie zwei phosphoreszierende Ringe. Sie schien entkleidet, das lange Haar war geöffnet, die Hände aufs Fensterbrett gestützt, am kleinen Finger der Linken trug sie einen groben, kupfernen Ehering und am Hals eine Kette von großen Perlen. Ich hatte die Sprache verloren und blickte sie starr an, während ich versuchte zu erraten, was sich in ihrer verdunkelten Hütte verberge. Ich muß wohl zusammenhangloses, wirres Zeug geredet haben, denn die Frau lächelte mitleidig.

Ich weiß nicht mehr, wie sie mich zum Eintreten einlud. Ich erinnere mich nicht, wie ich in ein Zimmer gelangte, in dem es nach Steinklee und Algen roch; ich weiß nicht einmal mehr genau, wann jene bewegte und rote Nacht vorüberging. Im Gedächtnis sind mir ihre Hände geblieben, die mich modellierten wie eine Kriegerstatue, und ein paar Bruchstücke ritueller Obszönitäten, ans Ohr geflüstert während unserer vermutlichen Schamlosigkeiten. Die Nacht drehte sich in sich zusammen wie eine wahnsinnig gewordene Mühle, und ihre Stunden konnte ich nicht mehr zählen. Ich hörte wieder das Wiehern des Pferdes. Dann trugen sich unerwartete Dinge zu. Betäubt wie ich war, hatte ich den Eindruck, daß jemand leise am Riegel der von innen verschlossenen Tür hantiere, aber ich war nicht fähig zu handeln. Die Frau neben mir schlief tief. Ihr Gesicht sah ich nicht. Ich hörte nur ihr gleichmäßiges Atmen. Ich hatte das Gefühl, daß sich alles in einem nebelhaften Traum abspiele. Ein Schatten erschien vor dem Fenster, das offengeblieben war, und plötzlich stieg jemand herein. Bevor ich mich fassen konnte, spürte ich einen dumpfen Schlag auf die Fontanellen, als ob ein Sandsack von der Decke gefallen wäre. Ich verlor mein Bewußtsein, während mich ein Gefühl des Ertrinkens und des Schwindels umfing.

6

 

Als ich die Augen öffnete, befand ich mich irgendwo am Strand. Wegen der furchtbaren Ohnmacht, die mich beherrschte, war ich nicht imstande, irgend etwas zu sehen, und meine müden Lider schlossen sich wieder, doch konnte ich das monotone und rhythmische Rauschen der Wellen hören und stellte mir dabei weiße Pferde mit brennenden Mähnen vor. Vermutlich hielt dieser Zustand von Traumtod lange an. Viel später spürte ich Kälte, und konvulsives Erbrechen quälte mich, bis ich, wieder beruhigt, immer deutlicher das Meer hörte, das den Sand aufwühlte, auf dem ich lag. Und zwischen den Wellen blieb mir eine Art andauerndes und einschläferndes Bienengesumm im Ohr. Wie von einer weiten Reise kehrte ich langsam in mich zurück und gewann allmählich wieder Gewalt über mich; als es den Augen endlich gelang, das Licht zu ertragen, schaute ich mit der Ratlosigkeit eines Schiffbrüchigen, der in einem unbekannten Land zu sich kommt, rund um mich. Ich war nackt und blau verfärbt und lag auf dem verlassenen Strand, mit dem Kopf zum Meer, und meine Haare waren naß vom Schaum und mit Sand durchsetzt.

Neben mir stand regungslos und eingehüllt in seine früh entfärbte Soutane der ehrwürdige Apolinarie und las mit singender Stimme undeutliche Gebete. Er hatte nicht bemerkt, daß ich ihn beobachtete, und setzte sein Psalmodieren fort, indem er modulierte wie die Klageweiber aus der Moldau, bei denen man nie weiß, wann sie weinen und wann sie singen. Wegen des offenen Buches, aus dem er las, sah ich nur die obere Hälfte seines Gesichts. Er trug eine Brille, die mit einer Schnur hinterm Ohr befestigt war, und hielt das linke Auge geschlossen, weil sie nur ein Glas hatte.

Es schien die Zeit vor dem Morgenrot zu sein. Der Himmel, vor dem sich der Kopf des Mönches abzeichnete, erhellte sich fahl. Das Meer verblaßte am Horizont, als ich mit verdrehten Augen hinzublicken versuchte. Die Kälte machte mir immer mehr zu schaffen, und ein Zittern befiel mich, während der Ehrwürdige sein Gebet fortsetzte. Wenn ich mich bemühte, genau hinzuhören, schien es ein Gebet für jene zu sein, die in die Welt der Gerechten eingegangen sind. Als ich begriff, daß es wirklich ein Totengebet war, legte ich unbewußt meine Hand auf die Brust, um zu sehen, ob ich auch ein Holzkreuz trage. Meine Bewegung machte den Mönch aufmerksam. Er schrak auf, und seine weitgeöffneten Augen, die weiß wurden wie ein von den Wellen angespülter Schädel, fixierten mich. Dann lief er am Strand davon, mit erhobenen Händen, in denen er das Buch und seinen Birkenstock trug. Ich verfolgte ihn mit meinen Augen, bis ich in einer neuen Welle von Ohnmacht versank.

7

 

Ich erwachte in einem geschlossenen Raum. Ich war wieder bei Kräften. Als ich mich von meinem Lager erhob, erkannte ich mein Zimmer beim Leuchtturm. Nackt wie ich war, warf ich die rauhe Decke, die auf mir lag, beiseite und erhob mich. An der Türschnalle hingen ein gebleichtes Matrosentrikot und eine kurze Hose aus blauem Leinen. Ich zog mich an, aß die kalte Mamaliga und einige auf der Kohle gegrillte Stöcker, die ich auf dem Tisch fand, und als ich durchs Fenster blickte, sah ich die Sonne hoch am Himmel stehen. Ich hatte Angst, dem Wärter zu begegnen, doch als ich die Tür öffnete, fand ich ihn nicht beim Leuchtturm, und auch am Ufer war er nicht zu erblicken. Erst ein Bad im Meer brachte mich wieder ganz auf die Beine.