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Das Treffen

Der Blinde

Der Bericht

Die Erkennungsmelodie

Die Farben des Wahnsinns

Ein teuflischer Plan

Die tödliche Falle

Das Zeichen der Schwarzen Fledermaus

Ein geheimnisvoller Mord

Geheime Order

Eine doppelte Falle

Kampf im Dunkeln

Ein Besucher in Schwarz

Begegnung am Tatort

Die Schwarze Fledermaus in Gefahr

Der blinde Bote

Im Rachen des Todes

Die Versammlung der Bettlerliga

Die Karten werden aufgedeckt

Wer ist die Schwarze Fledermaus?

Vorschau

 

DIE SCHWARZE FLEDERMAUS

Band 6

 

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In dieser Reihe bisher erschienen:

 

6001  Der Anschlag von G. W. Jones

6002  Der Sarg von G. W. Jones

6003  Angriff der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones

6004  Ein harmloser Fall von Angelika Schröder

6005  Tote schweigen nicht von M. Schwekendiek

6006  Liga der Verdammten von G. W. Jones

G. W. Jones

 

 

LIGA DER VERDAMMTEN

 

 

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In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book und Hörbuch erhältlich.

 

Copyright für ,Die Fledermaus‘ by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

© 2015 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-006-2

Das Treffen

 

Ein einarmiger Blinder stand an die Ziegelmauer eines Fabrikgebäudes gelehnt, nicht weit vom Zentrum der Großstadt. Er hielt eine Mundharmonika mit den Lippen fest und bewegte sie geschickt mit der Zunge und den Zähnen, um einen bekannten Schlager zu spielen. Seine Rechte – die einzige Hand, die er besaß – hielt einen Blechnapf, in dem er ein Fünf-Cent-Stück klirrend tanzen ließ, um damit die Aufmerksamkeit der vorbeieilenden Passanten auf sich zu ziehen.

Ein anderer Körperbehinderter, der auf einem niedrigen Rollwägelchen saß, fuhr an dem Blinden vorbei. Plötzlich wechselte die Melodie, und ein paar Takte einer klagenden, eindringlichen Weise ertönten. Der Krüppel auf dem Wägelchen nickte kaum merklich mit dem Kopf und lenkte sein kleines Fahrzeug in eine Seitenstraße neben dem Fabrikgebäude. Bald war er in der Finsternis verschwunden.

Diese Szene wiederholte sich mehrfach. Immer wieder kam irgendein Versehrter in zerschlissener, abgetragener Kleidung vorbei, und jedes Mal stimmte der Blinde jenes melancholisch klingende Lied an. Es war ein Signal, denn ein jeder Krüppel eilte, hinkte oder rollte dieselbe Straße entlang.

Eine Uhr schlug zehn, und der Blinde mit der Mundharmonika murmelte zwei jungen Leuten einen Fluch nach, die an ihm vorübergingen, ohne dabei eine Münze in seine Schale zu werfen. Ein Streifenpolizist bog um die Ecke, und der Blinde verschwand.

Im Schutz der Dunkelheit riss er die schwarze Brille herunter, blinzelte ein paarmal und rannte dann weiter. Seine Blindheit war wie durch ein Wunder geheilt. Er kam zu einer niedrigen Holztür, die mit schweren Stahlnägeln beschlagen war, und klopfte mit seinem Stab daran. Die Tür öffnete sich, und ein finster blickender, vierschrötiger Mann ließ ihn ein.

„Okay“, knurrte der Türhüter, „das hast du gut gemacht. Zweihunderteinunddreißig Jungens haben sich zur ersten Versammlung eingefunden. Junge, Junge, das wird ein Ding! Yancey hat was drauf. Wir werden noch einiges erleben.“

„Klar“, stimmte der Blinde ihm zu. „Wir wissen alle, dass wir gegen diese verdammten Blauen was unternehmen müssen. Diese Schufte haben ja nichts anderes zu tun, als ehrliche Menschen daran zu hindern, sich ihr Geld zu verdienen. Ich – ich bin für alles, was Yancey will.“

„Okay“, erwiderte der andere. „Jetzt lauf die Treppe hinunter; da stehen dann schon ein paar Leute, die dir sagen, wo du hin musst.“

„Schielauge“, der Blinde, gehorchte eilfertig. Ein paar geflüsterte Worte wiesen ihm den Weg in ein riesiges Kellergewölbe, das muffig und dumpf roch. Es war seit über fünf Jahren nicht mehr genutzt worden und stellte deshalb ein ideales Versammlungslokal dar.

Der Raum war bis zum Rand mit Männern gefüllt – Männern ohne Arme, ohne Beine oder ohne Augen, Männern, die mit den Fingern redeten. Manche kauerten auf dem Boden, die jetzt nutzlosen Krü­cken neben sich.

An einem Ende des Gewölbes stand ein roh zusammengezimmerter Tisch, hinter dem eine alte Kiste als Sitzgelegenheit diente. Über der ganzen Versammlung lastete Grabesstille.

Plötzlich strahlten ein paar Scheinwerfer die Krüppel von vorn an. Einen Augenblick lang waren sie – soweit sie sehen konnten – geblendet. Dann tauchte eine Gestalt aus einer Tür auf und postierte sich hinter dem Tisch. Die Versammelten konnten kaum etwas von ihm erkennen, da er hinter den Scheinwerfern stand, deren grelles Licht sie anleuchtete. Er selbst hingegen vermochte sie genau zu beobachten.

Hätte er sich aufgerichtet, so hätte man ihn als hochgewachsen bezeichnen können, aber er hielt sich vornübergebeugt, und als er sich umwandte, war zu erkennen, dass seine rechte Schulter verwachsen war. Seine weit vorspringende Nase erinnerte an den Schnabel eines Raubvogels, und er hatte ein fliehendes Kinn. Seine Augen waren klein und hell und saßen ein wenig zu weit auseinander. Sein Haar war lang und strohgelb. Alles in allem bot dieser Mann einen unheimlichen, beinahe erschreckenden Anblick.

Vier stämmige Männer hatten sich hinter ihm aufgereiht, und man konnte ihren Gesichtern ansehen, dass es Leute waren, die vor keinem Verbrechen zurückschreckten. Jetzt redete der Mann, und seine Stim­me stand in voller Harmonie zu seinem Aussehen – sie war hoch, schrill und beinahe weinerlich.

„Ich bin Yancey“, erklärte er und sah sich im Raum um. „Ich habe mich zu eurem Anführer ernannt, denn ihr braucht einen Anführer. Ihr braucht einen Mann mit meinem Verstand und meinem Mut. Die verdammte Polizei verjagt euch von den Straßen und zwingt euch, von den Almosen der öffentlichen Renten zu leben. Ihr, die ihr einmal hundert und mehr Dollar die Woche verdient habt, seid nun dazu verdammt, mit fünfzehn Dollar die Woche auszukommen. Wollt ihr euch das gefallen lassen, oder wollt ihr mich anhören?“

„Wir hören!“, erhob sich ein Chor von Stimmen. Die paar Stummen im Raum winkten ihm erregt zu.

„Gut“, sagte Yancey. „Ich weiß, dass ich euch allen vertrauen kann, denn ich habe über jeden Einzelnen von euch Erkundigungen eingezogen. Die Lage ist im Augenblick folgende: Man hat euch aus dem Geschäft gedrängt, und ihr seid nichts anderes als Almosenempfänger. Und nun mein Vorschlag: Wir vereinigen uns zu einer Gruppe, die imstande ist, die Elemente zu bekämpfen, die uns zum Narren halten wollen. Vereint werden wir auch mit der Polizei fertig.

Oh, versteht mich nicht falsch – ich meine natürlich nicht in offener Auseinandersetzung. Das wäre zu gefährlich. Wir werden gut leben, besser als wir je zuvor gelebt haben. Wir werden den größten Verbrecherring auf die Beine stellen, den dieses Land je gekannt hat. Wir werden alles machen – vom Taschendiebstahl bis zum Bankraub.

Aber wir müssen unsere Zahl vergrößern. Meine Leute durchstreifen jetzt die ganze Stadt und nehmen mit jedem Krüppel und jedem Bettler Kontakt auf. Es wird keine Woche vergehen, dann wird unsere Organisation bereits zwei- oder dreitausend Mann zählen.“

„Augenblick mal!“ Ein untersetzt wirkender Mann in abgerissener Kleidung und mit schwarzen Bartstoppeln im Gesicht schob sich durch die Menge, bis er nur mehr drei Meter vor dem improvisierten Rednerpult stand. „Ich bin noch nicht recht überzeugt. Was haben wir davon, und wie profitierst du dabei? Woher wissen wir denn, dass du uns nicht im Dreck sitzen lässt, wenn die Polente kommt? Ich bin bis jetzt ganz gut durchgekommen und komme auch weiterhin aus – mit oder ohne Polizei. Ich verdiene gegenwärtig fünfundsechzig Dollar die Woche, und davon lässt sich leben.“

Ein paar von den anderen Bettlern grölten zustimmend. Yancey runzelte die Stirn, und seine kleinen Augen funkelten böse. Er winkte den Sprecher näher an seinen Tisch heran und gab gleichzeitig den vier Männern, die seine Leibwache bildeten, verstohlen ein Zeichen. Sie umringten den Mann.

„Also“, sagte Yancey, „dein Name ist Shannon, wie? Du bist jetzt seit zehn Wochen in Chicago. Vorher warst du in St. Louis, aber von dort hat dich die Polizei verjagt. Stimmt‘s?“

„Ja, es stimmt“, bestätigte Shannon. „Versteh mich nicht falsch – ich hab‘ ja nichts gegen deine Pläne. Ich will nur etwas sehen.“

Shannon wurde roh gepackt, und seine Taschen wurden durchsucht. Einer der vier Schläger Yanceys warf ein Lederetui auf den Tisch. Yancey nahm es, klappte es auf und hielt die goldene Plakette, die es enthielt, so hoch, dass jedermann sie sehen konnte.

„Der Name Shannon stimmt“, knurrte Yancey. „Aber die Geschichte mit St. Louis stimmt nicht. Er kommt von der Diebstahlabteilung des Polizeipräsidiums.

Er hat den Auftrag, euch alle zu bespitzeln, um Beweismaterial zu sammeln, das viele von euch für Jahre hinter Gitter bringen wird. Er weiß genau, dass es sich bei einem großen Teil von euch um Betrüger handelt, um Schwindler, die im Vollbesitz ihrer gesunden Glieder sind. Was tun wir mit ihm?“

Wild schrien die Versammelten durcheinander.

„Jagt ihm eine Kugel durch den Kopf!“

„Stoßt ihm ein Messer zwischen die Rippen!“

„Schlagt ihm den Schädel ein!“ Yancey lächelte zufrieden, während Detektivsergeant Shannon, der die Rolle des Bettlers schon seit ein paar Monaten spielte, in Gedanken mit seinem Leben abschloss.

Yancey baute sich vor Shannon auf und zog ein Klappmesser aus der Tasche. Er drückte auf eine Feder, und die breite, blitzende Klinge klappte heraus.

Shannon zuckte zurück, aber zwei der Leibwächter packten ihn und schoben ihn wieder nach vorn. Yancey fuhr mit dem Daumen über die scharfe Schneide und hielt das Messer dann impulsiv einem Einarmigen hin, der sich nach vorn geschoben hatte, um ja alles zu sehen.

„Da, mach du‘s!“, sagte Yancey. „Du gehörst auch zu den Leuten, die dieser Mann bespitzelt hat. Wir stehen alle hinter dir, du brauchst also keine Angst zu haben.“

„Gib her!“

Der Krüppel riss das Messer an sich und stieß mit wutverzerrtem Gesicht zu. Der Körper des Polizeibeamten bäumte sich in den Armen der beiden Männer auf und wurde dann schlaff.

Yancey lächelte und klopfte dem Einarmigen zufrieden auf die Schulter. Dann fuhr er fort, als sei nichts geschehen: „In sechs Monaten werden wir Reichtümer angesammelt haben, wie sie keiner von uns sich je erträumt hat. Wenn ihr die ersten Takte der Schwarzen Messe hört, dann findet euch hier zur nächsten Zusammenkunft ein. Kommt dann so schnell, wie es möglich ist. Haltet die Augen offen – soweit ihr noch welche habt. Werbt neue Mitglieder, aber seid vorsichtig, damit sich kein Spitzel einschleichen kann.

Die Polizei ist schlau, aber verglichen mit mir hat sie nur Dummköpfe in ihren Reihen. Das wäre alles für heute. Verschwindet jetzt unauffällig, einer nach dem anderen, und wenn es bis zum Morgen dauert, bevor ihr alle draußen seid!“

Yancey trat von seinem Tisch zurück, ging ein paar Schritte und war plötzlich verschwunden, als hätte der Erdboden ihn verschlungen.

Der Blinde

 

Draußen war es neblig. Norton Kirby, besser unter dem Namen Silk bekannt, half seinem Herrn und Meis­ter beim Anlegen eines ziemlich armseligen Man­tels. Silk war ein schlanker Mann um die Vierzig mit einer beginnenden Glatze. Sein Gesicht verriet nur selten den Ausdruck einer Gefühlsregung.

„Wie kann man nur bei solchem Wetter auf die Straße gehen“, tadelte er. „O ja, ich weiß schon, dass Sie sich zeigen müssen. Seit dieser ekelhafte Mc­Grath uns dauernd nachschnüffelt, können Sie nicht immer im Zimmer sitzen, aber …“

Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern fügte wütend hinzu: „Ich hoffe nur, dass den Kerl eines Tages der Teufel holt.“

„Aber, aber, Silk!“

Sein Herr lächelte leicht – ein seltsames Lächeln, denn Tony Quinns Augen leuchteten dabei nicht auf. Sein Gesicht, besonders um die Augen, war von furcht­baren Narben entstellt.

„Ja, sagen Sie nur, dass das Hirngespinste sind“, murmelte Silk, „aber dieser McGrath ist gefährlich. Eines Tages wird er Ihnen ein Bein stellen – und dann marschiert Tony Quinn in eine Zelle. McGrath würde seinen rechten Arm dafür geben, die Schwarze Fledermaus ins Kittchen zu bringen. Seien Sie nur vorsichtig. Eigentlich sollte ich mitkommen oder wenigstens Butch anrufen, dass der ein Auge auf Sie hat.“

Tony Quinn schüttelte den Kopf. „Ich gehe allein. Ein Blinder muss lernen, selbst auf sich aufzupassen.“

Tony Quinns Stock tappte über die Stufen, die von seiner Haustür aus zu dem mit Platten belegten Weg führten. Er hielt den Kopf hoch erhoben und sah weder nach rechts noch nach links.

Ein Polizist salutierte überflüssigerweise, als er Tony Quinn an einem Straßenübergang zögern sah, und pfiff dann. Er hob die Hand, und der Verkehr kam zum Stillstand. Dann nahm er Quinn am Arm und führte ihn über die Straße.

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln flog über Tony Quinns Lippen. Was der hilfsbereite Polizist wohl gedacht hätte, wenn er gewusst hätte, dass er soeben die Schwarze Fledermaus über die Straße geführt hatte?

Denn Tony Quinn und die Schwarze Fledermaus waren ein und dieselbe Person. Er war jahrelang Staatsanwalt gewesen und hatte das Verbrechertum mit den Waffen des Gesetzes bekämpft, oft behindert von bürokratischen Vorschriften und Formalitäten. Und dann war Tony Quinn geblendet worden, als ein verzweifelter Verbrecher eine Säureflasche auf ein ihn belastendes Dokument geworfen und dabei Quinn getroffen hatte, der das Schriftstück vor der Vernichtung bewahren wollte.

Das war die Lage gewesen, als eines Nachts, da ihn die Verzweiflung wieder einmal gepackt hielt, ein geheimnisvolles Mädchen auftauchte. Über sie war Tony Quinn mit einem Landarzt in Verbindung getreten. Eine Operation war durchgeführt worden, und Tony Quinn konnte wieder sehen. Es war ihm wie ein Wunder erschienen.

Von diesem Augenblick an hatte Tony Quinn eine Mission zu erfüllen. Die Verbrecherwelt hatte einen geheimnisvollen Feind bekommen, ein mysteriöses Wesen, das unter dem Schutz einer Maske und eines Mantels arbeitete, der nachts an die Flügel einer Fledermaus erinnerte. Bald war die Schwarze Fledermaus zu einem Begriff geworden, bei dessen Nennung die Angehörigen der Unterwelt erschauerten.

Tony Quinn schlenderte, sich seines weißen Blindenstabes bedienend, langsam weiter. Die kühle Luft ließ ihn frösteln, und er schlug den Kragen seines fadenscheinigen Mantels hoch. Plötzlich bemerkte er, dass ein Wagen ihm folgte und dabei ganz nah an den Bürgersteig heranfuhr. Quinn schnaufte leise. Vielleicht waren Silks Befürchtungen doch berechtigt gewesen. Vielleicht hatte die Unterwelt Wind von seiner Doppelrolle bekommen, und diese Männer waren Gangster, die sich an der Schwarzen Fledermaus rächen wollten.

Der Wagen hielt an, und ein Mann stieg aus. Er vertrat Quinn den Weg und packte ihn am Arm.

„He, Kumpel!“, sagte er. „Gar nicht so leicht, wenn man nichts sieht, he? Schätze, ich werde dir ein Abendessen kaufen, was? Siehst aus, als hättest du schon lange nichts Ordentliches mehr zu futtern bekommen. Die Bettelei geht auch nicht mehr so glänzend, seit die Polizei sich darum kümmert, richtig?“

Tony Quinn stellte sich sofort auf die Rolle des Bettlers ein. „Da hast du recht, Kumpel. Anscheinend wollen diese verdammten Blauen uns alle aus der Stadt jagen.“

„Komm!“, sagte der andere. „Ich hab‘ einen Wagen mit ein paar Kumpels da. Wir machen eine kleine Fahrt, dann erfährst du vielleicht etwas Interessantes.“

Quinn spürte, wie sein Herz schneller schlug. In welch eine Situation war er jetzt geraten? Dieser Mann war bestimmt alles andere als ein unbescholtener Bürger. Diese geheimnisvolle Begegnung mit ihm schien Tony Quinn unversehens auf eine wichtige Fährte gebracht zu haben.

„Selbstverständlich komme ich mit, Freund“, erklärte er eifrig. „Wenn ich jeden Tag zu einem anständigen Essen komme, tue ich alles, was du von mir verlangst.“

Der Wagen rollte in einen Park und hielt an einer dunklen, verlassenen Stelle. Quinn saß mit seinem Stock zwischen den Beinen da und blickte starr vor sich hin. Der Mann, der ihn angehalten hatte, schob sich den Hut ins Genick und erklärte: „Da wären wir also. Wie ich schon gesagt habe: Die Blauen schubsen euch herum und hindern euch am Geldverdienen. Deshalb haben wir beschlossen, damit Schluss zu machen, und haben auch einen schönen Plan entworfen. Wir werden jetzt alle Leute wie dich organisieren, weißt du. Und dann zeigen wir den Blauen, wie der Wind weht! Kapiert?“

Tony Quinn schüttelte hilflos den Kopf.

„Nein, das kapier‘ ich nicht. Natürlich, uns zusammenzutun, das ist eine gute Idee. Ich mache schon mit, aber ich versteh‘ nicht, worauf ihr damit hinauswollt.“

„Sag‘s ihm ruhig“, meinte der zweite Mann. „Der Junge ist in Ordnung, das sieht man doch.“

„Okay, dann hör zu! Du lungerst genauso wie bisher auf den Straßen herum. Kümmer‘ dich nicht um die Polizei. Gelegentlich wirst du einmal einen Mann mit einer Mundharmonika oder einer Geige die Schwarze Messe spielen hören. Hast du die Melodie schon einmal gehört? Nein, ich glaube nicht. Wir werden sie dir vorspielen. Also, wenn du diese Melodie hörst …“

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und Quinn musste an sich halten, um nicht in diese Richtung zu blicken. Aus dem Augenwinkel sah er, dass der Fahrer davorstand, der um den Wagen herumgegangen war. Tony Quinn erkannte in dem Mann Joe Cadell. Er selbst hatte dafür gesorgt, dass Cadell eine Gefängnisstrafe von vier Jahren bekam. Cadell hatte das bestimmt nicht vergessen.

Cadell riss Quinn die Brille herunter. Dann fluchte er halblaut.

„Verdammt! Es war mir doch gleich so, als ob ich diesen Vogel kenne! Da habt ihr ja eine schöne Erwerbung gemacht. Wisst ihr, wer das ist? Ein Bettler? Dass ich nicht lache! Das ist Tony Quinn, der Staatsanwalt, der mir vier Jahre Knast verpasst hat. Wisst ihr, der Bursche, dem Oliver Snate die Säure ins Gesicht geschüttet hat. Freilich, blind ist er, und er würde sich gewiss auch gern anhören, was ihr ihm sagt, aber eine Stunde später hätten wir die Cops auf dem Hals!“

Der Gangster schlug Quinn mit der flachen Hand ins Gesicht. Quinn, getreu seiner Rolle als Blinder, wich dem Schlag nicht aus, sondern fuhr erschrocken zurück, als er ihn traf. Es hatte keinen Sinn, die Rolle des Bettlers weiterzuspielen.

„Ich weiß, was ihr plant“, erklärte er. „Erst erzählt ihr allen Bettlern Märchen von einem sagenhaften Reichtum, den sie erwerben werden, wenn sie bei euch mitmachen, dann zwingt ihr sie, euch Prozente von ihren Einnahmen abzugeben. Nicht schlecht ausgedacht, aber auch nicht neu.“

„Latour!“ Der Fahrer deutete auf den Mann, der Quinn aufgehalten hatte. „Wir müssen etwas unternehmen. Wenn wir ihn kaltmachen, gibt es vielleicht eine Razzia. Ich glaube, du solltest den Chef anrufen.“

„Ja, aber wie?“, fragte Latour. „Ich weiß nicht, wer er ist oder wie man ihn erreicht – abgesehen von der Telefonnummer, die er uns nur für den Notfall gegeben hat.“

„Ist das vielleicht kein Notfall?“, knurrte Cadell. „Los, mach schon! Dort drüben ist eine Telefonzelle.“

Latour stieg aus und rannte davon. Es dauerte zwanzig Minuten, bis er keuchend und erregt zurückkam. Während der ganzen Zeit hatte Cadell Quinn nicht aus den Augen gelassen, und Quinn wusste genau, dass eine einzige falsche Bewegung ihn das Leben kosten konnte.

„Ich hab‘ ihn erreicht“, keuchte Latour. „Er sagt, wir sollen diesen Burschen sofort kaltmachen, und er hat mir auch einen Tipp gegeben, wie wir es anstellen sollen, damit es wie ein Unfall aussieht. Quinn ist doch blind, nicht wahr? Wir bringen ihn zum Hafen und binden ihm ein paar Säcke Salz um den Leib. Die ziehen ihn in die Tiefe. In ein paar Tagen löst sich das Salz auf, und er treibt dann wieder nach oben. Wenn man ihn findet, wird man glauben, dass er bei einem Spaziergang ausgeglitten und ins Wasser gefallen ist. Raffiniert, was?“

Cadell nickte und setzte sich hinters Lenkrad. Während Latour Quinn einen Knebel zwischen die Zähne schob, näherte sich der Wagen einer dunklen Seitenstraße. Cadell hielt, stieg aus und kam nach einer Weile mit einem schweren Sack zurück, den er in den Kofferraum warf. Dieser Vorgang wiederholte sich noch dreimal; dann fuhren sie weiter zu einer verlassenen Bootsanlegestelle am Stadtrand, wo weder Hafenwächter noch Passanten zu sehen waren.

Quinn wurde gezwungen, auszusteigen, dann lud Cadell die Säcke aus. Ein Seil wurde Quinn um den Leib gebunden, und dann nahm Latour ihm den Knebel aus dem Mund, hielt ihm aber gleichzeitig die Pistole an die Schläfe.

„Ein Mucks, und es knallt!“, drohte er. „–“