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Kapitel I – Selbstgericht

Kapitel II – Die Pflicht ruft

Kapitel III – Die Fledermaus wird aufgeschreckt

Kapitel IV – McGrath kann es nicht lassen

Kapitel V – Kinderleichter Mord

Kapitel VI – Commissioner Warner teilt aus

Kapitel VII – Wege und Mittel

Kapitel VIII – Fiese Falle

Kapitel IX – Ein weiterer Raubzug

Kapitel X – Folter

Kapitel XI – Die Warnung

Kapitel XII – Die Fledermaus schreitet zur Tat

Kapitel XIII – Der nächste Diebstahl

Kapitel XIV – Blutgeruch

Kapitel XV – Der nächste Tote

Kapitel XVI – Der Klotz am Bein

Kapitel XVII – Was Carol widerfuhr

Kapitel XVIII – Beinahe lebendig begraben

Kapitel XIX – Silk schreitet ein

Kapitel XX – Die Schlinge zieht sich zu

Kapitel XXI – Nächtlicher Besuch

Kapitel XXII – Überführt

Vorschau

 

DIE SCHWARZE FLEDERMAUS

 

Band 2

 

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In dieser Reihe bisher erschienen:

 

6001  Der Anschlag von G. W. Jones

6002  Der Sarg von G. W. Jones

6003  Angriff der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones

6004  Ein harmloser Fall von Angelika Schröder

6005  Tote schweigen nicht von M. Schwekendiek

6006  Liga der Verdammten von G. W. Jones

G. W. Jones

 

 

DER SARG

 

 

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In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book und Hörbuch erhältlich.

 

Copyright für ,Die Fledermaus‘ by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

© 2015 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-002-4

Kapitel I – Selbstgericht

 

Die Fassade der Graham Company strahlte eine unauffällige Erhabenheit aus, wie es sich für ein weltbekanntes Schmuck­kontor geziemte. Die Kundenbüros dahinter hatte man gar nicht erst mit so etwas Ordinärem wie Schaukästen eingerichtet, denn Interessenten bekamen die Waren unmittelbar aus dem großen Tresorraum vorgesetzt. Ein Kauf hier war genauso sicher wie Devisengeschäfte mit der nationalen Prägeanstalt. Vielleicht schauten die Angestellten deshalb umso erstaunter auf, als Mrs van den Killan mit finsterer Miene und galligen Worten hereinplatzte. Sie übertönte sogar die Sekretärin, als diese Clarence Graham, der das Traditionsunternehmen bereits in der fünften Generation leitete, über die Sprechanlage verständigte.

„Was soll denn die ganze Aufregung?“, fragte er geruhsam. „Schicken Sie sie doch herein, um Himmels willen.“

Mrs van den Killan trat ein und schlug die Tür hinter sich zu, ehe sie ein Päckchen vor Graham auf den Schreibtisch legte. „Das also“, rief sie schrill, „bedeutet der Name Ihres Hauses! Vor sieben Wochen habe ich hier eine Tiara gekauft. Einhundertdreißigtausend Dollar kostete sie. Ein Skandal ist das, ach, was sage ich: Ein Verbrechen ist das!“

„Madam, bei allem, was recht ist!“ Graham stand auf und schob ihr einen Stuhl hin. „Bitte beruhigen Sie sich. Stimmt etwas nicht mit der Tiara? Natürlich werden wir Sie für jede Wertminderung zu entschädigen wissen.“

„Ob etwas damit nicht stimmt?“ Sie brüllte jetzt fast. „Ob etwas nicht stimmt? Wie können Sie so dreist sein, seelenruhig dazusitzen und mir eine solche Frage zu stellen? Das Ding ist nichts weiter als eine Fälschung. Strass! Ein künstlicher Stein, wenn ich es Ihnen sage, und tausend Dollar wert, wenn es hoch kommt.“

Graham lächelte. „Offenbar liegt hier tatsächlich etwas im Argen. Man könnte doch …“

„Mein Gatte ist drauf und dran, die Polizei einzuschalten“, blaffte Mrs van den Killan. „Ich erstand die Krone im Glauben, es handle sich um die echte aus dem Besitz der Zarin. Wir reisten nach Amsterdam, wo ich sie bei einem wichtigen Empfang vorführte.“ Sie beugte sich vor und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Sie können sich vorstellen, dass ich mich in Grund und Boden schämte, als die Frau des belgischen Botschafters mit genau der gleichen Kopfbedeckung durch den Ballsaal stolzierte.“

„Was?“ Graham erhob sich. „Das ist doch unmöglich. Es gibt nur eine Tiara der Art, wie Sie sie von mir erstanden haben. Die Fälschung muss also die andere gewesen sein.“

Mrs van den Killan zog eine verächtliche Grimasse. „Gewiss, das dachte ich auch … zunächst. Ich nahm meine Krone ab und erfuhr später, dass die Belgierin ihre erst drei Tage zuvor eigens für diesen Anlass gekauft hatte. Deshalb ergriff ich Maßnahmen, um herauszufinden, ob Sie mir Tand angedreht haben. Jetzt weiß ich ganz sicher, dass ich die Betrogene bin, Mister Graham!“

Er öffnete das Päckchen mit zittrigen Fingern. Darin steckte ein breites, edles Etui, dessen Federschloss er berührte, woraufhin der Deckel aufschnellte. Das Licht der Schreibtischlampe badete die Tiara in warmem Glanz. Graham entnahm den mit funkelnden Edelsteinen besetzten Reif und legte ihn vor sich, um ihn mit einer Schmucklupe zu beäugen. Das Vergrößerungsglas zeigte ihm deutlich jedes einzelne Juwel. Der Geschäftsführer atmete erleichtert auf. Dann drückte er einen Knopf am Tisch, und zwei Minuten später trat ein kleiner, breitschultriger Mann mit penibel gestutztem Bart ins Büro, der sein Humpeln offenbar zum Markenzeichen erhoben hatte. „Ja, Mr Graham“, sprach er, indem er über seine dicken Brillengläser schaute. „Sie haben mich gerufen?“

„Doktor Wayhl“, grüßte Graham. „Ich will, dass Sie sich diese Tiara anschauen und mir sagen, was sie wert ist. Missis van den Killan verlangt ein neues Gutachten des Stücks.“

Wayhl nahm die Krone in die Hand, setzte einen kritischen Blick auf und hielt sie sich dicht vor seine Augen. Graham richtete sich inzwischen wieder an die Dame. „Doktor Wayhl gilt als einer der kundigsten Schmuckkenner der Welt. Er wird Ihnen die Echtheit dieser Tiara bestätigen, denn ich bin mir sicher, dass Sie sich irren, Madam. Wir bei Grahams veräußern ausschließlich makellosen Schmuck.“ Einen Augenblick lang herrschte angespanntes Schweigen. Dann schaute Graham seinen Spezialisten an. „Nun?“, fragte er ungeduldig.

Wayhl legte die Tiara zurück in das prächtige Etui und zwang sich zu einer relativ aufrechten Körperhaltung, bevor er mit nüchterner Stimme verkündete: „Das Stück ist ungefähr eintausend Dollar wert und besteht aus feinstem Strass, gefertigt von Expertenhand. Dennoch würde ich nicht mehr als eben diesen Betrag dafür zahlen, mein Herr.“

„Aber das ist die Tiara, die wir Missis van den Killan vor sieben Wochen verkauft haben!“, ereiferte Graham sich. „Damals hieß es noch, sie sei perfekt und hundertfünfzigtausend Dollar wert. Wie kann sie auf einmal ein Imitat sein?“

Wayhl zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Darauf weiß ich keine Antwort. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Vielleicht hat jemand aus der Familie sie heimlich ausgewechselt. Auch könnten es gewiefte Diebe gewesen sein, wer weiß? Ich bin kein Polizist, nein, sondern kenne mich nur mit Edelsteinen aus, und deshalb kann ich beteuern, dass es sich bei diesem Stück um Kunstschmuck handelt. Eine Fälschung.“

Graham schickte den Spezialisten mit einer Hand­bewegung hinaus. „Missis van den Killan“, begann er langsam. „Ich weiß nicht, was geschehen ist. Ehrlich, ich bin vollkommen ratlos. Sie erhielten diese Tiara von uns als echte Ware. Irgendjemand muss Sie betrogen und Ihnen diese Replik aus Strass untergeschoben haben. Mehr kann ich dazu nicht sagen, doch mit Hinblick auf den Ruf unseres Hauses und nach Ihrer glaubhaften Schilderung komme ich nicht umhin, unverzüglich für Ihren Schaden aufzukommen. Ich hoffe, Sie damit zufriedenzustellen.“

„Danke“, erwiderte die Frau. „Ich weiß auch nicht, wie es passiert ist, doch die Tiara ist genau die gleiche, die aus Ihrem Geschäft kam, Mister Graham. Ich nahm sie sofort am Tag nach ihrer Lieferung mit nach Europa. Auf der Überfahrt befand sie sich im Gewahrsam des Schiffsstewards, und in Paris lag sie in einem Banktresor. Als wir gestern zurückkehrten, brachte ich sie zum Juwelier Harriman, der sie nach der Reise erneut begutachten sollte. Er pochte darauf, es handle sich um ein Imitat.“

„Ich werde versuchen, die Hintergründe aufzudecken“, versprach Graham freundlich. „Sobald sich etwas ergibt, rufe ich Sie an und berichte Ihnen, was wir in Erfahrung bringen konnten. Danke für Ihr Verständnis, Missis van den Killan. Ich finde keine Worte, um zu beteuern, wie unangenehm mir das alles ist.“

Nachdem Graham die Tür hinter ihr schloss, taumelte er regelrecht auf dem Rückweg zum Tisch, wo er sich in seinen Sessel fallen ließ. Er betrachtete die Tiara eindringlich; selbst seinen untrüglichen Augen kam sie echt vor. Oder doch nicht? Mangelte es einigen der Steine nicht an Wärme? Strahlten sie im Gegenteil nicht eine gewisse Kälte aus? Natürlich lag Wayhl richtig. Sein Urteil war unanfechtbar. Ruckartig stand Graham auf, trat vor einen Wandtresor und öffnete ihn. Er zog drei Stahlschatullen mit geschliffenen Diamanten heraus, klappte sie auf und starrte den Inhalt an. Dann klemmte er sich die Lupe ins Auge und untersuchte einige Steine. Auf einmal wurde er leichenblass. Er atmete stoßartig, während er einmal mehr zitternd die Klingel bediente, um Wayhl zu rufen. Der Mann humpelte herein, wobei sein haarloser Kopf glänzte. Geduldig wartete er, was Graham zu sagen hatte.

„Wayhl“, begann der Inhaber, „sehen Sie sich die hier an. Sie befinden sich schon seit einem halben Jahr in unserem Besitz. Nachdem wir sie erhalten hatten, bewerteten Sie sie als absolut reine Diamanten. Auf mich wirken sie nicht so. In Gottes Namen, sagen Sie mir nicht, dass es sich ebenfalls um Fälschungen handelt.“

Wayhl machte sich an die Arbeit. Während Graham im Raum auf und ab ging, untersuchte er die Steine einzeln, um sie in zwei Gruppen zu unterteilen. Am Ende lagen doppelt so viele auf dem einen Haufen wie auf dem anderen, und auf Ersteren zeigte er mit dem Finger. „Mein Herr“, sagte er, „die sind unecht. Aufwendige Imitate, für die man einen ordentlichen Preis verlangen könnte, aber keine Diamanten, nein. Keine Diamanten.“

„Sie lagen aber im Safe, seit Sie mir ihre Echtheit verbrieft haben!“, rief Graham. „Wayhl, lassen Sie etwa nach? Hat uns jemand diese Fälschungen als echte Ware angedreht?“ Wayhl richtete sich auf und betonte wichtigtuerisch: „Ich arbeite schon dreißig Jahre lang mit Diamanten. Kein einziges Mal musste ich mir Achtlosigkeit vorwerfen lassen. Als mir diese Stücke zur Begutachtung vorgelegt wurden, waren sie echt. Weder weiß ich, was mit ihnen geschah, nachdem ich sie aus den Händen gegeben habe, noch ist es für mich von Belang.“

„Ja, ja. Gewiss“, stöhnte Graham. „Sie sind eine Koryphäe auf diesem Feld. Jahrelang genossen Sie in Amsterdam größtes Vertrauen in Ihrer Position, aber es ist einfach unglaublich. Etwa zwei Drittel dieser Steine sind unecht. Wayhl, der Rest unseres Bestandes … vielleicht hat auch damit jemand Schindluder getrieben. Passen Sie auf: Gehen Sie zurück in Ihr Büro, und ich werde Ihnen die Magazine nacheinander zukommen lassen. Untersuchen Sie sie alle! Arbeiten Sie gewissenhaft wie nie zuvor. Wir verwahren hier Edelsteine im Wert von mehreren Millionen Dollar. Falls zwei Drittel davon falsch sind, bedeutet das meinen Ruin. Keine Versicherung kommt dafür auf, denn man wird sagen, die Steine seien bereits als Imitate angemeldet worden. Zu Recht, denn wie hätte der Austausch vonstatten gehen sollen?“

Zwei Stunden lang brütete Graham schweißgebadet in seinem Privatbüro. Alle zehn Minuten hinkte Wayhl herein und bildete zweierlei Häufchen aus Edelsteinen: Opale, Smaragde, Rubine und Saphire. Zwei Drittel eines jeden Magazins waren unecht, meisterliche Replikate zwar, aber dennoch Fälschungen.

„Kein Sterbenswort“, mahnte Graham den Experten. „Wir haben ein paar Stunden Zeit, um herauszufinden, was hier passiert ist. Sortieren Sie die Bestände weiter und sprechen Sie mit niemandem darüber.“ Grahams Telefon klingelte. Er nahm ab und gab jeweils knappe Antworten, während er mit hängenden Schultern lauschte. „In Ordnung. Schicken Sie ihn herein.“

Ein Mann von ungefähr dreißig Jahren trat mit einem drei Karat schweren Diamanten in der Hand ein. Er war fast so bleich wie Graham.

„Was ist denn, Mister McFayden?“, blaffte der Chef. „Worum geht es?“ Sein Bürovorsteher schluckte angestrengt. „Ich … ich kann es mir wirklich nicht erklären, Sir. Mister Philip Mitchell hat diesen Stein gestern für den Ring seiner Verlobten gekauft. Dreitausend Dollar hat er bezahlt, doch jetzt behauptet er felsenfest, er sei nicht echt.“

Graham riss ihm den Diamanten aus der Hand und hielt ihn gegen das Licht. Dann schickte er McFayden wütend hinaus. „Sagen Sie Mister Mitchell, es handle sich um einen Fehler unsererseits. Er wird innerhalb der nächsten zwei bis drei Stunden einen Ersatz bekommen. Verdammt, erzählen Sie ihm irgendetwas, aber jetzt raus hier!“

Nachdem sich McFayden hastig aus dem Büro verzogen hatte, trank Graham einen Schluck Wasser, fuhr sich erschöpft mit der Hand über das Gesicht und ächzte laut. „Hintergangen. Komplett zum Narren gehalten. Wertsachen von einer Million Dollar vor meiner Nase gestohlen und durch Kunstschmuck ersetzt. Kneife mich jemand. Einfach undenkbar, dass so etwas geschehen kann!“ Matt sackte er auf seinem Sessel zusammen.

 

Ungefähr eine halbe Stunde später schaute McFayden in seinem Büro verwirrt hoch, als ein Angestellter ihn aufsuchte und wissen ließ: „Mister Graham möchte Sie sprechen, und zwar sofort. Seine Sekretärin hat gerade angerufen und gesagt, Sie sollen ihn in seinem Büro aufsuchen.“

McFayden nickte müde. „Noch mehr Geheimniskrämerei. Als Nächstes wird er mir die Schuld dafür geben, dass dieses Ei in seinen Schrank gelangen konnte.“

Als er von seinem Schreibtisch aufstand und ins Vorzimmer seines Chefs ging, nickte er der Sekretärin zu und trat zur Tür von Grahams ehrwürdigem Privatraum. Er klopfte an und wartete auf die Stimme, die ihn hineinbitten würde. Aber vergeblich. Also pochte er lauter. „Sind Sie sicher, dass er überhaupt da ist?“, fragte er schließlich.

„Bin ich“, betonte sie. „Moment. Ich gebe ihm über die Sprechanlage Bescheid.“ Sie drückte den Knopf und nannte Grahams Namen. Als sie keine Antwort bekam, sprang sie auf. „Etwas muss passiert sein. Bitte, McFayden, öffnen Sie!“

Langsam drehte er am Knauf und drückte die Tür einen Spaltbreit auf. Der Sekretärin, die ihm über die Schulter schaute, bot sich ein unheilvoller Anblick. Graham saß am Schreibtisch. Sein Kopf hing wie leblos mit dem Kinn an der Brust nach vorn, sodass er in diesem Sessel mit der hohen Rückenlehne wie ein Gnom wirkte. Sie sahen, wie seine rechte Hand offensichtlich träge in die Schublade langte und eine Pistole herauszog. Diese hob er langsam hoch, bis der Lauf beinahe seine Schläfe berührte.

„Nein!“, brüllte McFayden. „Nicht schießen, Mister Gra­ham! Nicht schießen!“

Doch der Geschäftsführer beachtete ihn nicht. Er schien dieser Welt bereits entrückt zu sein. Sein Finger betätigte den Abzug. Der Kopf wurde zur Seite gerissen, eine Blutfontäne spritzte über die Armlehne und besudelte den Teppich. Die Schusshand sackte außer Sicht, ehe die Waffe mit einem dumpfen Poltern zu Boden fiel.

Grahams Sekretärin stieß einen lauten Schrei des Ent­setzens aus. Sie wich mit McFayden aus dem Büro zurück. Die Tür zog er wieder ins Schloss. „Bleiben Sie hier“, befahl er ihr. „Lassen Sie niemanden hinein.“

Er stürmte hinaus, während sie einen Blick auf die Tür warf, hinter der der Tote lag. „Ich soll hier bleiben? Auf gar keinen Fall mache ich das!“ Sie eilte hinter McFayden her, der mitten im Geschäftsraum stehen blieb und sich dramatisch aufbaute.

„Mister Graham hat sich gerade erschossen!“, gellte er. „Selbstmord! Ich habe es mit angesehen. Ruft die Polizei und einen Arzt. Schnell!“

Kapitel II – Die Pflicht ruft

 

Der noble Sportwagen hielt vor einem gepflegten, beschaulich gelegenen Anwesen in einem der vornehmeren Viertel der Stadt. Uralte Eichen und Ulmen umgaben das Haus, sorgfältig geschnittene Hecken und vielfarbige Blumenbeete machten das Grundstück zu einer Augenweide, was aber nur derjenige sehen konnte, der es betreten durfte. Auf einem Schild aus unbehandeltem Eichenholz an der hohen Grundstücksmauer stand der Name des Besitzers: TONY QUINN. Ein Mann stieg aus dem Flitzer und hastete den Weg hinauf zum Haus. Philip Harriman hatte allen Grund, sich zu beeilen. Sein ansonsten gepflegtes, weltmännisches Äußeres, für das seine treuesten Kunden ihn achteten, ging ihm gerade völlig ab. Schwerlich wäre man darauf gekommen, es mit einem wohlhabenden, allseits bewunderten Mann zu tun zu haben, dem eines der drei größten Edelsteingeschäfte des Landes gehörte, denn er sah eher aus wie ein grämlicher Makler voller Verzweiflung nach einem Börsensturz. Auf sein Läuten hin ging die Tür fast sofort auf, als habe der Bedienstete ihn kommen sehen. Harriman kannte Tony Quinns Butler Norton Silk Kirby, der ihm vertraulich zunickte. Silk entsprach vom Aussehen her kaum den gängigen Vorstellungen von einem Diener im Haus eines reichen Mannes. Dazu wirkte er zu verschlagen, sein Blick zu aufgeweckt, der Mund zu schmal unter seiner spitzen, dünnen Nase und der fliehenden Stirn. „Ich werde Sie als Gast ankündigen“, sagte er.

„Lassen Sie mich sofort zu ihm“, bat Harriman. „Es ist furchtbar dringend.“

Silk hielt den Juwelier mit der Hand zurück. „Tut mir leid, Sir, aber Mister Quinn empfängt selten Gäste, seit er … sein Augenlicht verloren hat. Er ist sehr empfindlich geworden, müssen Sie wissen.“

„Aber es handelt sich um ein ungeheuer wichtiges Anliegen. Es geht um Millionen!“, platzte Harriman heraus. „Tony ist nach wie vor mein Anwalt. Blindheit hin oder her: Ich brauche seine Hilfe.“

Obwohl Silk nicht von seiner Entscheidung abrückte, übersah er Harrimans Beklemmung keineswegs. Also gewährte er ihm mit einer Geste Einlass und führte ihn ins geräumige Wohnzimmer. In einem großen Ledersessel vor dem Kamin saß ein schlanker, stattlicher Mann. Er hatte sich aufgerichtet und den Kopf leicht zur Seite geneigt, als sei ihm das Gespräch im Empfangssalon nicht entgangen. Seine Augen schauten jedoch geradeaus, leer und glasig, wie es bei Blinden üblich ist. Sein Gesicht bot keinen schönen Anblick, denn vor allem die Augenpartie war von tiefen, hässlichen Narben gezeichnet, was Quinn zu einer unheilvollen Erscheinung machte.

Der Besucher trat vor. „Tony Quinn, ich bin es, Phil Harri­man. Ich muss mit Ihnen sprechen.“

„Treten Sie ein, Phil, und setzen Sie sich in den grünen Sessel. Dort verstehe ich Sie sehr gut.“ In ihrer Ausdrucks­losigkeit war die Stimme des Anwalts nur ein schwaches Aufbäumen im Vergleich zu der Urgewalt, mit welcher er früher Geschworene mitgerissen und Verbrecher das Fürchten gelehrt hatte. Mit seiner Sehkraft schien Tony Quinn auch andere Eigenschaften verloren zu haben. Enttäuschung und Verlassenheit schwangen in seinem Tonfall mit.

Als Harriman Platz genommen hatte, zog sich Silk unauffällig zurück. Der Juwelier steckte sich eine Zigarette an. „Sie sind ein Wunder, Tony“, bemerkte er. „Jedes Mal, wenn ich Sie besuche, beschreiben Sie mir exakt, wo ich mich hinsetzen soll und wie der jeweilige Stuhl aussieht.“

Quinn lächelte müde. „Ich behalte stets in meinem Kopf, wo die Möbel stehen“, erklärte er. „Bewegt ein Blinder sich, muss er genau wissen, wo sich Hindernisse auftun, über die er stolpern könnte. Nun aber zu Ihnen, Phil: Was bedrückt Sie? Ich höre Ihnen an, dass Sie Kummer haben.“

„Ich benötige Ihren Rat“, erwiderte Harriman rasch. „Bevor Sie zum besten Bezirksstaatsanwalt beordert wurden, den wir jemals hatten, arbeiteten Sie für Privatklienten, zu denen auch ich gehörte. Ich betrachte Sie immer noch als meinen Fürsprecher. Oh nein, winken Sie nicht ab, damit ich still bin. Sie mögen nichts mehr sehen, doch das beeinträchtigt keineswegs Ihre Routine in Gesetzesfragen. Passen Sie auf, Tony: Da ist etwas Unerhörtes im Gange. Heute Morgen suchte niemand Geringeres als Missis van den Killan mein Büro auf und legte mir eine Tiara vor, die sie vor etwa zwei Monaten bei Graham gekauft hat. Sie wollte meine Meinung dazu einholen. Nun, die gab ich ihr, genauso wie die meines Fachmanns Anghis Khan, der zu den berühmtesten Edelsteinexperten der Welt gehört. Der Juwelenbesatz war nicht echt, dafür aber die beste Fälschung, die mir während meiner Berufszeit je untergekommen ist. Ein Imitat war sie nichtsdestoweniger, und das musste ich der Frau beibringen.“

„Was Sie nicht sagen.“ Tony Quinn legte die Fingerspitzen aneinander und blickte leidlich interessiert drein.

Harriman fuhr gequält fort: „Das ist aber noch nicht alles. Anghis Khan und ich glaubten, unseren Augen nicht trauen zu können. Die Tiara besteht, abgesehen von ein paar Rubinen und Smaragden zur farblichen Gestaltung, ausschließlich aus Diamanten. Um sicherzugehen, dass wir uns nicht irrten, zogen wir einige Steine aus meinem eigenen Bestand zum Vergleich heran, und dabei, Tony, bekam ich den Schock meines Lebens. Meine eigenen Edelsteine waren unecht, Nachahmungen der Originale! Wie im Fall von Missis van den Killans Tiara handelte es sich um überragend gefertigten Kunstschmuck, der jeden beiläufigen Betrachter hinters Licht geführt hätte. Gemeinsam mit Khan habe ich jeden einzelnen Stein meiner Kollektion untersucht. Drei Viertel davon sind getürkt.“

Tony Quinn beugte sich nach vorn, während er den Gehstock, den er in der Hand hielt, so fest umschloss, dass die Fingerknochen weiß hervortraten. Dies war das einzige Anzeichen dafür, dass er aufmerksam zuhörte. „Der Betrüger muss aus Ihren eigenen Reihen stammen, Phil. Anders kann es nicht sein.“

Harriman atmete wieder schwer aus. „Natürlich, das war auch mein Gedanke, aber ich kenne jeden einzelnen meiner Angestellten schon jahrelang, und gut die Hälfte von ihnen stand bereits bei meinem Vater im Dienst. Sie können mir nicht in den Rücken gefallen sein. Aber wie dem auch sei, diese gefälschte Tiara brachte mich auf den Gedanken, Graham sei vielleicht auf ähnliche Weise ausgenommen worden. Ich werde zu ihm fahren, sobald ich von hier aufbreche. Tony, ich bin quasi bankrott. Ich brauche einen Anwalt. Ich brauche Sie, denn dieser Fall wird alle möglichen rechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen. Werden Sie mir helfen? Können Sie mir sagen, was ich tun soll?“

„Eins vorab“, antwortete Quinn. „Wenden Sie sich an die Polizei und danach mit Ihren Versicherungsverträgen an einen kompetenten Juristen, der Ihnen sagen kann, ob Sie abgesichert sind. Diese Angelegenheit ist alles andere als alltäglich, Phil, und ich würde Ihnen liebend gern unter die Arme greifen, wenn … nun, wenn ich überhaupt irgendjemandem etwas nützte und mir selbst zu helfen wüsste. Ziehen Sie in jedem Fall schnell die Polizei hinzu, bevor der Verantwortliche beziehungsweise die Räuberbande nicht mehr behelligt werden kann.“

Harriman stand auf und setzte sich den Hut mit Nachdruck auf den Kopf. „Wunderbar. Ich wollte bloß sichergehen, dass ich das Richtige tue. Rechnen Sie dennoch weiterhin damit, mir als Anwalt zu dienen, Tony. Ein Nein werde ich nicht hinnehmen. Jetzt suche ich Graham auf, danach die Polizei. Danke, alter Freund.“

Nachdem Silk Harriman nach draußen begleitet hatte, schloss er die Haustür. Er wartete, bis er den Wagen des Geschäfts­mannes vom Randstein losfahren hörte. Dann ging er zügig zum Wohnzimmer, wo Tony Quinn immer noch starren Blickes am Feuer saß. „Silk“, sagte er. „Haben Sie Harri­mans Geschichte mitbekommen?“

Silk bejahte. „Klingt nach einem besonders abgekarteten Spiel.“

„Dahinter steckt mehr, als wir zunächst glauben mögen, Silk. Graham würde nie eine unechte Tiara verkaufen. Nein, nicht einmal einen gefälschten Diamanten von einem viertel Karat. Er ähnelt Harriman dahingehend, dass er genauso entwaffnend ehrlich ist und seine Geschäfte mit ebendieser Maxime abwickelt. Beide verfügen über gewaltige Bestände an Schmuck, der kostbarer kaum sein könnte. Falls also jemand so clever war, drei Viertel von Harrimans Waren einzusacken, so dürfte er ebenso schadlos bei Graham zugeschlagen haben. Vermutlich wird auch die Polizei im Dunkeln tappen, und so, Silk, kann es sein, dass die Schwarze Fledermaus auf den Plan treten muss. Der Fall klingt faszinierend.“

„Ja“, pflichtete Silk bei, „das tut er wirklich, und wir sind müßig gewesen … zu lange, wenn Sie mich fragen.“ Das Telefon klingelte. Silk lief hinaus, um abzuheben.

Harriman war am Apparat. Seine Stimme kippte. „Geben Sie mir Tony Quinn, Silk. Schnell!“

„Tut mir leid, Sir“, entgegnete Silk. „Mister Quinn nimmt keine Anrufe mehr entgegen. Gern überbringe ich ihm Ihre Nachricht.“

„Verflucht, warum ist er so dünnhäutig wegen seiner Be­hin­derung?“, krächzte Harriman nervös. „Vergebung, Sir“, un­ter­brach Silk. „Mister Quinn bewegt sich nur ungern vom Fleck. Es ist einfach zu umständlich für ihn. Falls Sie also eine Bot­schaft …“

„Ja, bitte. Sagen Sie ihm, dass Graham sich umgebracht hat! Man lässt mich nicht in seine Geschäftsräume, dort wimmelt es von Polizisten. Grahams Schreiber, McFayden, war Augenzeuge, als er sich in den Kopf schoss. Wie ich hörte, soll er eine Art Abschiedsbrief hinterlassen haben. Ich fahre nun sofort zum Präsidium. Quinn wird nachvollziehen können, was ich meine.“

„Danke, Sir.“ Silk verabschiedete sich und legte auf. Im Wohnzimmer berichtete er: „Es war Harriman. Er ist bereits auf dem Weg zur Polizei und lässt ausrichten, Graham habe sich erschossen.“

Tony Quinn schürzte die Lippen und pfiff leise. Einen Augenblick lang leuchteten seine Augen auf. So wirkte er wieder lebendig und geistesgegenwärtig. „Da ist etwas im Busch, Silk“, murmelte er, „doch vorerst ist Harriman auf sich allein gestellt. Wir gehen jetzt besser zu Bett.“

Kapitel III – Die Fledermaus wird aufgeschreckt

 

Eine Stunde nach Mitternacht war Tony Quinn allerdings immer noch hellwach, obwohl in seinem Zimmer kein Licht brannte. Auch Silk ging im ersten Stock zu viel durch den Kopf, als dass er mit gutem Gewissen hätte schlafen können. Zur Ruhe zu kommen war kaum möglich, wenn die Ereignisse sich derart überschlugen. Der Ex-Staatsanwalt wurde das Gefühl nicht los, dass diese Angelegenheit nicht weniger außergewöhnlich war als seine Fähigkeiten. Wie schon zuvor angesichts der Nachricht von Grahams Suizid hatte Quinns Blick sich aufgeklart. Er wirkte fokussiert, statt weiterhin dumpf ins Nichts zu stieren. Darüber hinaus war sein für die Darstellung eines Blinden typischer, andauernd konfuser Gesichtsausdruck verschwunden. So stockdunkel es im Raum war, so klar und deutlich beinahe wie tagsüber erkannte Tony Quinn jeden einzelnen Gegenstand. Er gab nicht nur vor, mit Blindheit geschlagen zu sein, sondern besaß obendrein ein nahezu übernatürliches Sehvermögen.

Er spielte den Behinderten so überzeugend, wie es nur jemand vermochte, der auch tatsächlich vorübergehend blind gewesen war. Als aufstrebender, junger Staatsanwalt hatte Quinn dem Verbrechen den Krieg erklärt, bis er eines Tages im Gerichtssaal selbst handgreiflich werden musste. Dabei wurden Schallplattenaufnahmen zerstört, die einen gewichtigen Kriminellen schwer belastet hätten, als einer von dessen Handlangern Säure darüber ausgoss. Als der Anwalt dazwischenfuhr, um die Beweisstücke zu retten, bekam er etwas von der Säure ab, die sich tief in sein Gesicht ätzte und zu seinen unansehnlichen Narben geführt hatte. Er erblindete und sollte auf abscheuliche Weise fürs Leben gezeichnet bleiben. Da er überhaupt nichts mehr sah und es keine Chance auf Heilung gab, legte Quinn sein Amt nieder und begnügte sich mit einem Leben in Dunkelheit, von dem ihn, wie es schien, einzig der Tod erlösen konnte. Mit dem Verlust des Augenlichts ging jedoch eine Schärfung seiner anderen Sinne einher, die so großartig verlief, dass seine Ohren hellhörig wurden wie die eines Raubtiers im Dschungel. Zudem vermochte er Objekte allein durch die Berührung mit seinen Fingerspitzen überaus detailliert im Geiste nachzubilden. Einzig die Welt der Farben blieb ihm verschlossen, doch dafür gewann er ein solches Vertrauen in seine Instinkte, dass er es sofort bemerkte, wenn sich jemand im gleichen Raum wie er aufhielt.

Eines Nachts schließlich erschien ihm in einer Stunde tiefster seelischer Not eine junge Frau. Sie gab sich als Carol Baldwin aus und verwies ihn an einen ominösen Landarzt, der weit weg von der Stadt lebte. Der Mediziner führte eine Operation an Quinn durch, die ihn nicht bloß wieder sehen ließ, sondern seine Augen schärfer denn je machte. Wie durch ein Wunder bewirkte dieser Eingriff, dass er die Dinge im Dunkeln beinahe so klar wie im Hellen erkannte. Als er von diesem abgeschiedenen Ort auf dem Land zurückkehrte, gab er vor, Urlaub gemacht zu haben, und spielte weiterhin den Blinden. Allerdings verfolgte er von nun an verbissen sein Ziel, und abgesehen von dem Arzt, der mittlerweile verstorben war, kannten nur drei Menschen sein Geheimnis.

Zuerst natürlich Carol Baldwin. Sie führte ein unauffälliges Leben nur wenige Blocks entfernt von Quinns Haus und war jederzeit bereit, sich aktiv an seinen Vorhaben zu beteiligen. Silk Kirby war ebenfalls eingeweiht. Er hatte den Anwalt ursprünglich ausrauben wollen, blieb jedoch bei ihm und wurde zu seinem innigsten Vertrauten. Silk schien ihm gar unersetzlich, weil er als bekehrter Verbrecher nicht nur so treu war, dass es an Fanatismus grenzte, sondern zudem ein ehemaliger Trickbetrüger gewesen war, der auf diesem Gebiet seinesgleichen suchte. Dann gab es noch Butch O’Leary, der Quinn während eines Banküberfalls aufgefallen war. Dieser Bär von einem Mann hatte sich auf einen Verbrecher gestürzt, der gerade mit dem Maschinengewehr in eine Traube von Beobachtern schießen wollte. Quinn war sofort klar gewesen, dass er sich auf einen Kerl wie Butch verlassen konnte. Alle drei waren loyal, hilfsbereit und erpicht darauf, zur Tat zu schreiten. Tony Quinn gab seinem Leben eine völlig neue Richtung. Da die Unterwelt sich im Allgemeinen über das Gebrechen des Ex-Bezirksstaatsanwalts belustigte und ihn unsinnigerweise als blind wie eine Fledermaus bezeichnete, wurde er zu einer ebensolchen: zur Schwarzen Fledermaus, die bei Nacht jagte und sich mit den durchtriebensten Köpfen unter den Verbrechern maß. Quinn hatte sich zum Rächer aufgeschwungen, zur Geißel im Reich der kriminellen Niederungen, und wurde bald als dunkler Unbekannter von jedermann gefürchtet, der ein Leben der Gewalt und Hinterlist führte. Jedes Mal, wenn die Schwarze Fledermaus waltete, hinterließ er eine eindrückliche Visitenkarte. Seine Opfer trugen stets das Zeichen einer kleinen Fledermaus mit ausgestreckten Schwingen wie einen Stempel auf ihrer Stirn. Als finanziell unabhängiger Mann hatte Quinn sich dazu durchgerungen, sein Leben ganz der Bekämpfung des Verbrechens in all seinen verkommenen, liederlichen Facetten zu widmen. Vordergründig blieb er indes ganz der Alte, narbengesichtig und zur ewigen Blindheit verdammt. Dieses Geheimnis wahrte er überaus sorgfältig.