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Kapitel I – Nächtlicher Besuch

Kapitel II – Ätzende Säure

Kapitel III – Eine geheimnisvolle junge Frau

Kapitel IV – Es werde Licht

Kapitel V – Stimme ohne Gesicht

Kapitel VI – Das Zeichen der Schwarzen Fledermaus

Kapitel VII – Die Probe

Kapitel VIII – Der Banküberfall

Kapitel IX – Die Falle

Kapitel X – Neue Rekruten

Kapitel XI – Besuch für den Commissioner

Kapitel XII – Nächtlicher Trubel

Kapitel XIII – Der nächste Wagendiebstahl

Kapitel XIV – Butch in Bedrängnis

Kapitel XV – Eine verzwickte Situation

Kapitel XVI – Drei Gefangene

Kapitel XVII – Falscher Kurier

Kapitel XVIII – Blinder Passagier

Kapitel XIX – Aus der Traum

Kapitel XX – Die Fledermaus erklärt sich

Vorschau

 

DIE SCHWARZE FLEDERMAUS

Band 1

 

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In dieser Reihe bisher erschienen:

 

6001  Der Anschlag von G. W. Jones

6002  Der Sarg von G. W. Jones

6003  Angriff der Schwarzen Fledermaus von G. W. Jones

6004  Ein harmloser Fall von Angelika Schröder

6005  Tote schweigen nicht von M. Schwekendiek

6006  Liga der Verdammten von G. W. Jones

G. W. Jones

 

 

DER ANSCHLAG

 

 

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In unserem Shop ist dieser Roman auch als E-Book und Hörbuch erhältlich.

 

Copyright für ,Die Fledermaus‘ by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

© 2015 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-001-7

Kapitel I – Nächtlicher Besuch

 

Tony Quinn wälzte sich unruhig im Schlaf, während der Schatten eines Mannes lautlos durch sein Zimmer huschte. Obwohl der Einbrecher es eilig hatte, machte er nicht das leiseste Geräusch. Das Mondlicht zeigte ihn einen Augenblick lang als Relief eines Vierzigjährigen mit weit zurückgezogenem Haaransatz und spitzer Nase, die genauso schmal wie sein Mund war. Obwohl er weder finster noch anderweitig bedrohlich aussah, verhehlte er eine spezielle Eigenschaft nicht: Gerissenheit. Er berührte die Schulter des Schlafenden und rüttelte behutsam daran. Erschreckt fuhr Tony Quinn auf. Er vermochte sich sofort zu orientieren, und eine Hand schnellte unter das Kissen, um seine 38er Automatik hervorzuziehen.

„Halt, Sir“, flüsterte der Eindringling. „Ich tue Ihnen einen großen Gefallen. Hören Sie mich an! Bitte.“

„Nur zu“, entgegnete Tony Quinn leise. „Erklären Sie mir, was Sie im Haus des Bezirksstaatsanwalts zu suchen haben.“

„Der sind Sie?“, staunte der Unbekannte, fuhr dann jedoch, ohne auf eine Antwort zu warten, fort. „Das erklärt einiges. Ich bin nicht allein in diesem Haus, Sir. Ein weiterer Mann durchstöbert die Zimmer. Er trägt eine Waffe! Oh, ich leugne nicht, dass ich Sie ausrauben wollte, aber ich hatte nicht vor, mich dabei in einen Mord hineinziehen zu lassen, Sir.“

„In den Schrank mit Ihnen“, entschied Quinn schnell. „Schließen Sie die Tür, und keinen Ton. Falls Sie die Wahrheit sagen, soll es Ihnen nicht leidtun. Falls Sie mich aber hinters Licht führen wollen, werde ich diese Schranktür perforieren.“

Der Einbrecher schien durch den Raum zu schweben, so leise bewegte er sich. Quinn legte sich wieder hin und schob seine Pistole unter die Decke, wo er sie geruhsam entsicherte. Mittlerweile war er hellwach. Sogar zu einem Grinsen ließ er sich hinreißen.

Dann sah er mit halb geschlossenen Augen, wie sich die Schlafzimmertür öffnete. Eine Sekunde lang zeichneten sich die Umrisse eines stämmigen Mannes im Mondschein ab. Das Licht leuchtete auf. Quinn drehte sich unbehaglich um und blinzelte. Der Eindringling stand nun weniger als zehn Fuß vor ihm am Bett und richtete eine Pistole direkt auf seine Brust.

„Ruhig bleiben, Rechtsverdreher“, drohte der zweite Besucher.

Quinn betrachtete ihn eingehender. Ein kleiner, dicklicher Kerl mit breitem Gesicht, unbarmherziger Miene und nervös zusammengekniffenen Augen.

„Ich will nur reden“, behauptete der Fremde. „Du lebst allein in diesem Haus, also weiß ich, dass uns niemand stört. Mach bloß keine hektischen Bewegungen, denn ich will dich nicht umbringen müssen.“

„Jetzt einmal halblang“, erwiderte Tony Quinn ruhig. „Wer sind Sie, und weshalb hat Oliver Snate Sie hergeschickt?“

Der Eindringling grinste. „Du hast es erraten. Goldrichtig liegst du. Ich komme in Snates Auftrag, aber mein Name tut nichts zur Sache. Pass auf! Die Verhandlung wurde heute vertagt, um dir Zeit zu geben, einen unerwarteten Zeugen gegen Snate vorzuladen. Er steht wegen Nötigung und Verschwörung vor Gericht. Bislang sah es wenigstens für uns so aus, als sei er aus dem Schneider, doch dann hast du ’nen neuen Zeugen erwähnt und etwas davon, dass Snates Stimme aufgezeichnet worden sei. Ich bin hier, um dir ’nen Deal vorzuschlagen.“

Quinn zuckte mit keinem Muskel. „Mein Leben gegen die Aufnahmen sowie den Namen des Zeugen, damit Sie ebendiesen töten können. Sparen Sie sich die Luft, ich weiß Bescheid. Die Antwort lautet: ausgeschlossen!“

Der Killer schaute grimmig. „Machst es mir nicht leicht, Freundchen. Ich habe meine Anweisungen. Entweder die Bänder und den Namen des Zeugen, oder ich verpasse dir ’ne Kugel dorthin, wo sie am meisten weh tut. Lass es dir durch den Kopf gehen. Fünf Minuten. Nicht zucken, denn ich sitze am längeren Hebel und drücke nur zu gern ab.“

Tony Quinn fragte sich, mit einem Blick auf den Schrank, ob der Kerl darin, der ihn gewarnt hatte, nicht auch bloß einer von Snates Handlangern war. Innerlich verfluchte er sich dafür, so leichtsinnig gewesen zu sein. Als Police Commissioner Warner ihm einen Leibwächter aufzwingen wollte, hatte er lachend abgewunken. Nun steckte er in der Klemme. Mit dem Tod als offenbar einzigem Ausweg.

Sicher, mit der versteckten Automatik unter dem Laken hatte Quinn noch ein Ass im Ärmel. Sein Finger ruhte bereits am Abzug. Er schaute dem Killer unverhohlen in die Augen.

„Noch einmal, damit ich nichts falsch verstehe“, fasste er langsam zusammen. „Snate schickt Sie mit dem Auftrag, die Aufnahmen, von denen ich sprach, sicherzustellen sowie den Namen des Zeugen herauszufinden. Und wenn ich beides nicht preisgebe, sterbe ich. Soweit korrekt?“

„Hast das beim ersten Mal schon ganz genau kapiert“, raunte der Mann. Allmählich wurde er etwas fahrig. Eigentlich sollte jemand in Quinns prekärer Situation heulen und mit den Zähnen klappern, doch der Anwalt wirkte so ruhig, als trete er in einem Fall mit bereits feststehendem Ausgang vor die Geschworenen. Es war nicht normal, und der Killer befürchtete, dass Quinn eine Überraschung parat hatte. Er leckte seine Lippen und bereitete sich auf die Bluttat vor. Brachte er Quinn um die Ecke, konnte Snate sich nicht beschweren. Vermutlich traute der Zeuge sich daraufhin nicht, vor Gericht aufzukreuzen. Und die Tonbänder waren wohl im Haus und deshalb leicht zu finden. Er hakte den Finger seiner Schusshand ein wenig beherzter ein.

Quinn sah das Funkeln in den Augen seines Gegenübers. Er wollte seine eigene Waffe unter der Bettdecke hervorholen und sie auf seinen Widersacher richten. Doch dann setzte sein Herzschlag für einen Moment aus. Die Pistole hatte sich in der Decke verwickelt!

Genau in diesem Augenblick flog die Schranktür auf, ein Schuh schnellte hervor, geradewegs auf den Widersacher zu. Dieser fuhr mit dem Kopf herum, schwenkte seine Kanone und feuerte auf die Bretter. Inzwischen war es Quinn gelungen, die Automatik hervorzuzerren. Der Knall fiel fast mit dem Schuss des Killers zusammen.

Für eine Sekunde stand der Mann stocksteif da, dann erschlaffte sein Körper, sackte zusammen und lag nach einer Drehung reglos am Boden. Quinn war bereits aus dem Bett gesprungen und trat ihm auf dem Weg zum Schrank die Pistole aus der Hand.

Der Einbrecher, sein Retter, hielt sich mit einer Hand an einem Kleiderhaken fest. Blut lief über sein Gesicht. Ein freundliches Grinsen schlug fehl; er stand kurz davor, sein Bewusstsein zu verlieren. Quinn bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er vornüber zu Boden ging. Rasch schleppte er ihn zum Bett, legte ihn darauf und besorgte Handtücher aus dem Bad. Nachdem er dem Mann das Blut aus dem Gesicht gewischt hatte, stellte er erleichtert fest, dass nur seine Kopfhaut aufgeschürft war. Falls er keine Gehirnerschütterung davongetragen hatte, würde er in zehn Minuten wieder wohlauf sein.

 

*

 

Quinn flößte dem Mann puren Brandy ein und nickte zufrieden, als sich dessen Lider bewegten. Dann sah er nach dem Auftragsmörder. Mausetot.

„Sind Sie … Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?“, fragte der Verwundete stockend.

Quinn ging zurück zum Bett und hockte sich auf die Kante. „Danke! Mir geht es von uns dreien hier am besten“, erwiderte er. „Sie haben eine Schramme am Kopf, die nicht besonders ernst aussieht. Können Sie reden?“

„Ja, Sir, ich schätze schon, aber es gibt nicht viel zu sagen. Ich … ich war in Ihrem Haus, hatte nichts weiter im Sinn, als Sie zu beklauen, und … und aktenkundig bin ich auch. Jetzt hab ich es wohl endgültig vergeigt.“

Quinn spendierte einen zweiten Schluck Brandy und half dem Mann, sich gegen die Kissen aufzurichten.

„Keinesfalls haben Sie das“, versicherte er. „Ihnen verdanke ich mein Leben. Das macht Ihren Einbruch vergessen. Wer sind Sie? Erzählen Sie.“

„Ich heiße Kirby, Sir. Norton Kirby. Die Bull… die Polizei kennt mich als Silk Kirby. Ich bin ein Trickbetrüger. Einbruch ist nicht mein Ding, aber ich hatte Hunger und war verzweifelt. Ihre Haustür kriegte ich mit einem Generalschlüssel auf und schlüpfte gerade rechtzeitig herein, um zu sehen, wie der da ein Fenster öffnete und durchkletterte. Ich wusste sofort, dass der nicht auf Beute aus war. Der Mann wollte Sie umbringen, Sir. Ich war dann schneller bei Ihnen, Sir. Das ist alles.“

Silk Kirby.“ Quinn schmunzelte. „Nie von Ihnen gehört. Gut, dann mache ich Ihnen mal etwas zu essen und Kaffee für uns beide.“

„Lassen Sie mich das übernehmen, Sir.“ Kirby schwang seine Füße auf den Boden. „Ich habe als Hausdiener gearbeitet, das ist mein Beruf.“

Quinn willigte ein, und wenig später nippte er an einer guten Tasse Kaffee, die Silk gekocht hatte.

Sein Retter war sehr gesprächig, als müsse er seinem Herzen Erleichterung verschaffen. „Ich habe nie etwas Unmoralisches getan, Sir. Es ging immer nur gegen Leute, die es verdient hatten, äh … ausgenommen zu werden. Mit dem Einbruch bei Ihnen habe ich zum ersten Mal Gewalt angewendet.“

„Und gleichzeitig auch zum letzten Mal“, sagte Quinn und bemerkte, dass Silk blass wurde. „Ich werde Sie nicht den Behörden ausliefern, Silk“, fügte er rasch hinzu. „Wissen Sie, jemanden wie Sie könnte ich gut gebrauchen. Ich bin nicht verheiratet, habe eine Menge Geld und als Bezirksstaatsanwalt obendrein nicht wenige Feinde. Einer ist ganz besonders scharf darauf, mir die Lichter auszublasen. Er setzte auch diesen Mann hier auf mich an. Was halten Sie davon, für mich zu arbeiten? Als eine Art Leibwächter.“

Der Feuereifer, der nun in Silks Augen aufblitzte, konnte nicht gespielt sein. „Sehr, sehr viel, Sir! Ich bin zwar kein gelernter Leibwächter, unterstützen kann ich Sie dennoch, Sir.“

Quinn grinste. „Perfekt! Sie sind angestellt. Meine Menschenkenntnis trügt mich nicht, also weiß ich, dass Sie offen zu mir sind. Und nun direkt zur Sache. Zu diesem versuchten Mord: Sie sollten wissen, dass sein Auftraggeber Oliver Snate wegen Verschwörung vor Gericht steht. Wie bei vielen schrägen Gestalten seines Kalibers ist der Prozess zu einer Farce ausgeartet. Zeugen verstummten urplötzlich, und Alibis tauchen aus dem Nichts auf. Snate wähnt sich bald wieder auf freiem Fuß, doch ich habe einen Joker in der Hinterhand.“

 

*

 

„Dieser Joker ist ein kleiner, alter Mann namens Brophy. Er betreibt einen Laden im Westen der Stadt und weigerte sich, vor Snates Schergen zu kuschen, weshalb ihm der Strippenzieher persönlich einen Besuch abstattete. Allerdings ist Brophy nicht auf den Kopf gefallen und traf Vorkehrungen, um seine Unterhaltung mit Snate aufzuzeichnen. Die Schallplatten händigte er mir aus. Sie liegen in meinem Safe. Morgen wird Brophy in den Zeugenstand treten, unter Eid aussagen und Snates Ausflüchte und Einwände unter Hinzuziehung der Aufnahmen vollkommen zunichte machen. Damit wäre dieser große Fisch an der Angel.“

„Snate ist mir ein Begriff, Sir“, erklärte Silk, der gerade dabei war, das Sandwich, das er sich zubereitet hatte, hinunterzuschlingen. „Mit ihm ist wahrlich nicht zu spaßen. Ich bleibe für den Rest der Nacht auf und bewache Ihren Safe. Sie brauchen Ihren Schlaf, damit Sie morgen ausgeruht und fit sind.“

Quinn ging zu einem Telefon, das an der Küchenwand hing, nahm den Hörer ab und wählte. „Bei allem sollten wir nicht vergessen, dass in meinem Schlafzimmer eine Leiche liegt. Auch ein Bezirksstaatsanwalt muss Rechenschaft über einen plötzlichen und gewaltsamen Tod ablegen. Also, Sie sind jetzt mein Angestellter. Niemand wird Fragen stellen, weil ich außer einer Putzfrau, die tagsüber hier sauber macht, keine andere Hilfe im Haushalt habe.“

Während Quinn telefonierte, schlug sich Silk den Bauch weiter mit Sandwiches voll. Eine halbe Stunde später rückte ein Polizeiaufgebot mit Kollegen der Gerichtsmedizin an. Sie nahmen den Toten mit. Nachdem Silk ein anderes Zimmer hergerichtet hatte, legte sich Quinn dort nieder. Mit einer Pistole, die er in der Schublade eines Sekretärs fand, pflanzte er sich auf einen Stuhl mit senkrechter Rückenlehne, kippte ihn gegen den Wandsafe und wartete, bis der Morgen graute.

Als Quinn gut ausgeschlafen erwachte, stand sein Frühstück schon bereit.

Kapitel II – Ätzende Säure

 

Im Gerichtssaal gab es wohl niemanden, der unter größerer Anspannung stand als Oliver Snate. Er saß mit seinem Zweihundert-Dollar-Anzug nebst entsprechenden Accessoires auf der Stuhlkante und kaute nervös an seinen Fingernägeln. Er wusste, dass Quinn der fähigste amtierende Bezirksstaatsanwalt seit Jahren war, und auch vom Tod des Mannes, den er auf ihn angesetzt hatte.

Als er über die Schulter blickte, kehrte ein Teil seiner Zuversicht zurück. Unter die Menge im Zuschauerraum hatten sich fünf Männer gemischt, die nicht aus dieser Stadt stammten. Jeder von ihnen war mit einer eindeutigen Aufgabe betraut worden. Falls sie versagten, stand Snates Urteil fest: Tod auf dem elektrischen Stuhl. Snate kannte diese Männer nicht, da sie von einem Freund angeheuert wurden. Ihm war keine andere Wahl geblieben.

Quinn betrat den Saal, gefolgt von Silk, der eine prall gefüllte Aktentasche sowie zwei schwere Gesetzbücher mitschleppte. Letztere legte er ab, ehe er dem Strafverfolger etwas zuflüsterte und dann mit wichtiger Miene am Protokolltisch Platz nahm.

Die Verhandlung wurde eröffnet. Quinn ergriff das Wort. „Euer Ehren, werte Geschworene. Gestern erbat ich mir einen Aufschub, um einen unwiderlegbaren Beweis dafür zu erbringen, dass Oliver Snate sowohl der Nötigung als auch der Konspiration schuldig ist. Mein Zeuge wurde sorgfältig bewacht. Aufzeichnungen, die Snates Schuld beweisen, bewahrte ich bei mir zu Hause auf, und ich allein weiß, was sie beinhalten und welche Aussage mein Zeuge treffen wird. Zu solchen Vorsichtsmaßnahmen sah ich mich gezwungen, da Oliver Snate ein skrupelloser und brutaler Verbrecher ist. Er …“

„Einspruch!“, rief Snates Verteidiger. „Wir möchten Beweise sehen und keine Beleidigungen hören. Die Anklage versucht, meinen Klienten vor den Geschworenen zu diffamieren. Einen unschuldigen Mann, der genauso rechtschaffen und redlich ist wie der verehrte Staatsanwalt selbst.“

Quinn wandte sich an Snate und fragte mit scharfem Ton: „Würde ein Unschuldiger einen Killer dafür bezahlen, mich im Schlaf umzubringen?“

Snates Gesicht blieb bis auf ein kurzes Zucken regungslos. Sein Verteidiger kniff die schmalen Lippen zusammen und plumpste auf seinen Stuhl.

Quinn trat vor den Zeugenstand, drehte sich um und gab einem älteren, weißhaarigen Mann in der ersten Reihe der Galerie ein Zeichen. „Ich rufe Joseph Brophy in den Zeugenstand!“

Der Mann stand auf, sah sich um und trat mit unsicheren Schritten vor. Nachdem er vereidigt worden war, setzte er sich und tippte unruhig die Fingerspitzen gegeneinander. Quinn öffnete seine Tasche, zog zwei Aufnahmescheiben heraus und legte sie auf den Tisch. Dann widmete er sich seinem Zeugen Brophy. „Erläutern Sie uns bitte mit eigenen Worten die genauen Umstände Ihrer Begegnung mit dem Angeklagten. Identifizieren Sie ihn und legen Sie alles offen, was Sie über ihn wissen. Wenn Sie fertig sind, werde ich die Aufnahmen abspielen und meinem geschätzten Kollegen die Möglichkeit geben, das kalte, mechanische Zeugnis eines Phonographen anzufechten.“

Und Brophy begann mit seiner Aussage. „Morgen ist es drei Monate her, als zwei von Snates Männern meinen Laden besuchten und meinten, ich müsse eine Versicherung kaufen. Ich brauchte keine und erklärte ihnen das auch so. Daraufhin zerbrachen sie eine Vitrine. Zwei Tage später kehrten sie zurück und wurden mir gegenüber handgreiflich. Ich lag eine Woche im Krankenhaus. Als sie danach wiederkamen, gab ich ihnen zu verstehen, sie sollten verschwinden, doch diesmal schlugen sie mein Schaufenster ein. Auf den nächsten Besuch wollte ich gefasst sein, weshalb ich ein Aufnahmegerät mit einem empfindlichen Mikrofon installierte. Ich hatte Glück, dass Snate mich persönlich aufsuchte. Ich ließ ihn glauben, ich sei bereit, mich ihm zu fügen, und er wurde redselig. Jedes einzelne seiner Worte ist auf diesen Scheiben verewigt.“

„Erzählen Sie uns, was er gesagt hat“, bat Quinn und sah, wie die Geschworenen sich gespannt nach vorne beugten. Dieses Dutzend war darauf erpicht, Snate zu überführen. Der Gangster war mit jedem Verbrechen, vom Mord bis zur schnöden tätlichen Beleidigung, davongekommen. Alles, was die Vereidigten noch brauchten, waren stichhaltige Indizien.

Snate beobachtete sie ebenfalls. Beklommen zog er ein Seidentuch aus seiner Hosentasche, um sich die Stirn damit abzuwischen. Das vereinbarte Zeichen. Sofort wurden die fünf unbekannten Männer rege. Einer langte wie beiläufig in seine Tasche und zog den Auslöser einer eigens entwickelten Rauchbombe. Er sprang auf, warf sie nach vorn und zückte blitzschnell eine Pistole. Seine vier Komplizen taten es ihm gleich. Die Bombe explodierte just in dem Moment, als sie unmittelbar vor dem Zeugenstand aufschlug. Der aufziehende Qualm machte es nahezu unmöglich, im Gerichtssaal noch etwas zu sehen. Die Bewegungen der Männer waren aufeinander abgestimmt, als sie sich nach vorn durch die Absperrung drängten. Zwei stürzten sich auf die Klangscheiben auf dem Tisch, einer mit einer Flasche extrem scharfer Säure in der Hand, deren Inhalt er teilweise über die Beweisstücke goss.

Quinn hatte sofort reagiert, kämpfte sich zum Tisch vor und versuchte den Mann mit der Säure zu attackieren. Er verfehlte jedoch sein Ziel und geriet ins Straucheln. Der Sturz war schmerzhaft, doch Quinn war sofort wieder auf den Beinen. Im Gerichtssaal herrschte Aufruhr. Frauen kreischten, Männer stießen Flüche aus, Polizisten und Wachleute versuchten, die Männer auszumachen, die für den Überfall verantwortlich waren, doch der Rauch stand dicht im Raum.

Quinn war dem Mann mit der Flüssigkeit hinterhergestolpert, bekam ihn zu packen, schlang beide Arme um ihn und wollte ihn zu Boden werfen, doch der Attentäter erkannte die Gefahr und widersetzte sich mit der einzigen Waffe, die er zur Hand hatte: Er kippte den verbliebenen Inhalt seiner Flasche über seine Schulter. Die aggressive Säure spritzte Quinn mitten ins Gesicht. Er spürte, wie sie sich ins Fleisch ätzte und in seinen Augen brannte, bis die weißen Schwaden einer undurchdringlichen Schwärze wichen. Quinn taumelte herum und fuhr sich mit der Hand in die Wunden. Tränen flossen ihm über die Wangen. Der Schmerz war so grausam, dass ein normaler Mensch ihn kaum aushalten konnte.

Er schwankte weiter, konnte sich an einem Tisch festhalten und drückte sich erneut die Finger in die Augen. Mit einem Schrei versuchte er sich Linderung zu verschaffen, doch die Säure fraß sich tiefer und tiefer. Jemand packte ihn am Arm. Zwei dumpfe Schüsse vernahm er noch, bevor eine tiefe Bewusstlosigkeit ihn von der Folter erlöste, die sein Körper durchleiden musste.

Neben Quinn stand Silk, in dessen Hand eine Waffe schimmerte. Er zielte durch den Dunst und feuerte einmal. Ein Mann, bewaffnet mit einer Automatik, ging mit einem Loch in der Stirn zu Boden.

 

*

 

Der Knall kam einem Startschuss gleich. Weitere Schüsse folgten. Jemand schlug ein Fenster ein. Luft strömte herein und vertrieb den Qualm. Während sich der Rauch allmählich lichtete, sah man zwei Marodeure, die sich durch die aufgebrachte Menge im Saal zwängten. Sie erreichten die massiven Flügel der Schwingtür.

„Haltet sie auf!“, brüllte jemand. „Stoppt die Mörder!“

Die Männer drehten sich um und jagten ein halbes Dutzend Kugeln in den Raum. Dann stürzten sie in den Flur, wo ein Beamter mit Schnellfeuergewehr sie mit einer unbarmherzigen Bleisalve empfing. Die zwei sackten zusammen.

Es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis die Ordnung einigermaßen wiederhergestellt war. Kranken- und Streifenwagen parkten dicht an dicht auf dem Gehsteig vor dem Gebäude. Auf den Gängen durchsuchten Polizisten jedermann und begannen mit Verhören. Snate saß in Handschellen zwischen zwei Wachen. Rettungssanitäter versorgten sechs Verwundete.

Commissioner Jerome Warner betrat den Gerichtssaal und fluchte. Draußen auf dem Flur lagen zwei durchsiebte Schützen, während die drei anderen, die Snate scharfgemacht hatte, drinnen ihr Ende gefunden hatten. Alle fünf waren tot, einer durch Silk, die anderen beiden gefallen im vernichtenden Kugelhagel der Polizisten.

Brophy, der als Einziger Rechenschaft über Snates Komplott ablegen konnte, saß immer noch im Zeugenstand, doch sein Körper lag schräg vornübergebeugt auf dem polierten Holz. In seiner Brust steckte ein Messer.

Quinn lag bewusstlos auf einem der langen Tische, während die Notärzte seine Augen behandelten. Silk, dem der Schweiß von den Wangen tropfte, wich nicht von seiner Seite.

Der Commissioner trat in die Richterbank und setzte sich neben den anhaltend blassen Amtsmann.

„Die Menschen in diesem Land sollten sich angesichts dieser Tat in Grund und Boden schämen“, wetterte der Richter mit brüchiger Stimme. „Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen, die ich angeordnet habe, kam es zu dieser Katastrophe. Der Zeuge ist tot, seine Aufnahmen von Säure zerfressen, und der Bezirksstaatsanwalt wird wahrscheinlich nie wieder sehen können.“ Er wandte sich dem Police Commissioner zu: „Commissioner, was ist zu tun?“

Der Commissioner wischte sich Schweiß aus dem Gesicht. „Gibt es überhaupt irgendetwas, das ich noch nicht versucht habe? Wenn wir es Snate ankreiden können, kommt er auf den Stuhl, aber seien Sie sich nicht allzu sicher, dass wir das auch tatsächlich schaffen. Snate saß ein und hat demgemäß ein wasserdichtes Alibi. Falls wir die fünf Leichen nicht identifizieren, befragen können wir sie ja nicht mehr, sind wir erledigt. Wir müssen sie mit Snate und seinen Schergen in Verbindung bringen, sonst beweisen wir nichts.“

„Ich friere ihn ein!“, schrie der Richter. „Und zwar so lange ich kann. Treiben Sie Ihre Leute an, Commissioner. Beweisen Sie, dass die fünf mit Snate zu tun hatten, dann haben wir ihn kaltgestellt. Zeigen Sie der Öffentlichkeit, dass wir einen Polizeiapparat besitzen und nicht bloß einen Haufen Idioten in blauen Uniformen.“

Die fünf toten Gangster wurden anhand ihrer Fingerabdrücke identifiziert. In der Stadt waren sie Fremde und ließen sich unmöglich an Snate oder dessen Hintermännern festmachen. Es war das alte Lied: Beweismaterial und Zeugen, die man nicht auf andere Weise zum Schweigen bringen konnte, wurden rigoros vernichtet. Die Vorwürfe gegen Snate hatten sich zerschlagen. Was das Volk glaubte oder mutmaßte, war vor dem geschriebenen Gesetz unerheblich. Man hatte absolut nichts gegen diesen Verbrecher in der Hand.

 

*

 

Dreihundert handverlesene Detectives arbeiteten Tag und Nacht, um selbst den winzigsten Beweisfetzen aufzuspüren, der Snate überführen mochte, doch einen solchen gab es nicht. Zudem besaß er gewiefte Verteidiger. Sie erhoben Einspruch gegen die Vermutung, ihr Klient sei dazu in der Lage gewesen, einen solch heimtückischen Plan auszuhecken. Sie erinnerten daran, dass Snate keinen Besuch empfangen durfte und demgemäß auch mit keinem seiner Verbündeten in Kontakt getreten war. Was immer sich ereignet hatte, ginge nicht auf sein Konto.

Die bestens bezahlten Anwälte stellten zynisch Theorien auf, wonach irgendwer, den Tony Quinn einmal hinter Gitter gebracht hatte, gekommen war, um Rache zu üben. Diese Vorstellung schien nicht allzu abwegig, da Quinn sich während seiner drei Jahre als Verbrecherjäger manchen Feind gemacht hatte. Verschiedene Ideen, Spekulationen und Vorwürfe standen im Raum, jedoch nichts Handfestes. Am Ende wurde Snate vom gleichen Richter freigesprochen, der sich vor den Kugeln der Auftragskiller hatte ducken müssen. Nicht einmal der Einbrecher, den Quinn getötet hatte, ließ sich Snates Klüngel zuordnen. Der Tote erwies sich in der Tat als jemand, der den Staatsanwalt aus nachvollziehbaren Gründen gehasst hatte: Dank Quinn war sein Bruder auf dem elektrischen Stuhl gelandet.

Die Zeitungen heizten die Stimmung weiter auf, indem sie wahlweise einen vollkommenen Umsturz der Behörden oder Snates Festnahme gänzlich ohne Anhaltspunkte forderten. Commissioner Warner verlor fünfzehn Pfund Gewicht in zwei Wochen. Seine Züge verhärteten sich, die Augen schwollen rot an, weil er kaum noch schlief und sich körperlich verausgabte.

Nur ein Mann hüllte sich in Schweigen. Tony Quinn ruhte auf einem Sofa in der Bibliothek seines Hauses. Er sprach mit niemandem außer dem getreuen Silk, und dann auch nur über Notwendigkeiten. In Tony Quinns Herz schwelte der Zorn. Sein Geist sann vergeblich nach einer Antwort auf alle Fragen, doch die schien nicht zu existieren. Was ihn zudem in tiefste Verzweiflung stürzte, war seine ungeheure Verletzung, die jede wache Stunde in Agonie hüllte.

Tony Quinn war vollkommen blind!

Kapitel III – Eine geheimnisvolle junge Frau

 

Tony Quinn musste seinen Beruf als Bezirksstaatsanwalt aufgeben und darbte weiter in Dunkelheit. Tage vergingen, Wochen, schließlich Monate.

„Ich bin blind, Silk“, wiederholte er zum tausendsten Mal. „Stockblind, mein Freund. Bis zum Ende meiner Tage bin ich dazu verdammt, in einer Welt ohne Licht zu leben, während ein Monster wie Snate weiter gedeiht. Gibt es etwas Neues über ihn zu vermelden?“

Silk schüttelte schwermütig den Kopf. „Ich werde Ihnen nichts verschweigen, Sir. Sie sind zu gescheit, als dass mir das unbemerkt gelänge. Snate steht wieder dort, wo Sie ihn letztes Jahr aufgehalten haben, indem Sie ihn festnagelten. Er übt mehr Einfluss denn je aus. Ich … Sir, ich habe es Ihnen bislang vorenthalten, aber er schickte einen Karton Blumen ins Krankenhaus, während Sie dort lagen. Mit einer Beileidskarte. Ich warf sie in den Papierkorb, Sir.“

Quinn lachte verbittert. „Richtig so. Dieser Schakal wäre besser selbst in den Müll gewandert. Nun, Silk, ich erwarte nicht, dass Sie sich noch länger mit mir herumschlagen. Weitere Heilung brauche ich mir nicht zu versprechen. Ich bleibe für immer entstellt, und die besten Ärzte, die sich für Geld einspannen lassen, zerschlagen jedwede Hoffnung darauf, dass ich irgendwann einmal wieder sehen werde. Ich bin ein Wrack, aber was ich auf keinen Fall gebrauchen kann, ist Mitleid. Falls Sie also Ihren Hut nehmen möchten, habe ich volles Verständnis dafür.“

Silk glättete die Decke auf Quinns Schultern. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sir, werde ich bleiben. Sie bedürfen meiner jetzt, und ich … Ihrer mittlerweile auch, Sir. Vielleicht finden wir eines Tages einen Arzt, jemanden, der uns neue Zuversicht schenkt. Was Ihre Narben betrifft, so sind die kaum der Rede wert. Man nimmt sie überhaupt nicht wahr.“

Quinn lachte erneut sarkastisch. „Sie sind ein gnädiger Lügner. Immerhin fühle ich sie, wenn ich mir durchs Gesicht fahre. Schon seltsam, Silk, wie sich mein Tastsinn verändert hat. Obwohl ich erst seit einem Jahr blind bin, erkenne ich bereits Dinge, indem ich sie bloß mit den Händen berühre. Das gleicht das fehlende Sehvermögen teilweise aus. Wie wäre es mit einem Ihrer vorzüglichen Kaffees, Silk? Zumindest in einem Punkt kann ich mich glücklich schätzen: Ich habe Sie.“

Silk steckte ein Kloß im Hals. „Sofort, Sir. Nur ein paar Minuten. Der Kaffee ist gleich fertig.“

Quinn stand auf, entledigte sich der Decke, in die er gehüllt war, und tastete sich zu einem Tisch in der Ecke des Raumes. Dabei umging er einen Stuhl und blieb kurz vor dem Möbel stehen, um die Hände daraufzulegen. „Kein Grund zur Sorge, Silk“„“