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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS

SHERLOCK HOLMES

 

 

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In dieser Reihe bisher erschienen:

 

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch von Martin Barkawitz

3009 – Sherlock Holmes und sein schwierigster Fall von Gary Lovisi

3010 – Sherlock Holmes und der Hund der Rache von Michael Hardwick

Gary Lovisi

 

 

SHERLOCK HOLMES

und sein schwierigster Fall

 

 

Basierend auf den Charakteren von

Sir Arthur Conan Doyle

 

 

Aus dem Amerikanischen von
Andreas Schiffmann

 

 

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Gary Lovisi, (Jahrgang 1952), orientiert sich an Vorbildern wie Philip K. Dick, Conan Doyle, Edgar Rice Burroughs, H. P. Lovecraft, J. R. R. Tolkien, James Ellroy, Robert E. Howard und Andrew Vacchs. Seine besondere Vorliebe gilt Sherlock Holmes.

Geprägt wurde er von seiner Heimat Brooklyn, was besonders in seinen Hard­boiled-Kriminal-Romanen zum Ausdruck kommt.

© 2015 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Aus dem Amerikanischen von Andreas Schiffmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-208-0

Ein Brief an den Leser

 

Viele von Watsons leidgeprüften Bekannten wissen, dass es der gute Doktor nicht lassen konnte, zu Stift und Papier zu greifen, um die, wie er glaubte, besonders denkwürdigen Fälle in meiner Laufbahn als Kriminalberater und Detektiv für die Nachwelt aufzuschreiben.

Obwohl ich mich über seine Anstrengungen als Literat lustig machte und ihm vorwarf, sich der Sensationsgier der Boulevardpresse anzudienen, zumal er in seiner Erzählweise so manches Mal zu dick auftrug, muss ich gestehen, dass er sich in seinen kleinen Geschichten aufrichtig darum bemühte, Licht auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten zu werfen, die er mir zumaß, und angemessen dokumentierte, wie erfolgreich ich Verbrechen aufdeckte, die die offiziellen Behörden ratlos machten.

Früher deutete Watson an, es falle ihm schwer, den bereits abgehandelten Fällen weitere Berichte folgen zu lassen. Um die Wahrheit zu sagen, bestand meistens auch kaum ein Anlass, die alten Geschichten wieder aufzurollen beziehungsweise das gegenwärtige Befinden der einzelnen Beteiligten zu erörtern. Dies galt lange Zeit, bis jetzt. Ich glaube, was Sie gleich lesen werden, verleiht dem ursprünglichen Fall, mit dem Watson und ich im Herbst 1902 konfrontiert waren, eine weitere Dimension. Er liegt der Geschichte zugrunde, die ich im vergangenen Jahr veröffentlichen ließ. Sie erschien in der Zeitschrift The Strand unter dem Titel Der illustre Klient.

In dieser neuen Erzählung gibt es ein Wiedersehen mit den Protagonisten des Originalfalls zu einem späteren Zeitpunkt. Die meisten der 1902 maßgeblichen Personen treten erneut auf, wobei ihr Leben und Handeln, das tödliche Konsequenzen hatte, drei Jahre später nachgezeichnet wird. Im Übrigen zog dieser Fall auch für Watson und mich schlimme Folgen nach sich. Wir sahen uns in eine teuflische Intrige verstrickt, mit der man sowohl meinem lieben Freund, dem Doktor, als auch meiner Karriere beziehungsweise meinem eigenen Leben ein Ende bereiten wollte, und zwar ein für alle Mal.

Jetzt im Alter, da ich mich zur Ruhe gesetzt habe, greife ich also schweren Herzens zur Feder, um einen meiner Fälle zu rekapitulieren. Diesmal spare ich mir jegliche Lobhudelei im Vorfeld und komme gleich auf meine Arbeit zu sprechen, bei der ich mir mehrere schwerwiegende Fehler erlaubte. Watson heftete sich ständig an meinen Rock, um die Umstände meines Schaffens schriftlich festzuhalten, was ich nun in seinem Gedenken weiterführe. Derweil ich mich häufig in Sticheleien erging, von wegen mein treuer Gefährte habe meine Talente und Abenteuer allzu blumig beschrieben, gebe ich gerne zu, dass er im Hinblick auf einen Schlüsselaspekt stets goldrichtig lag. Es ist viel einfacher, die hehren Bemühungen eines Chronisten zu kritisieren, als selbst etwas zu verfassen. Wie wacker ich mich dabei schlage, mögen Sie, werter Leser, hinterher entscheiden.

 

Sherlock Holmes

The Downs

Sussex, England, 1926

Kapitel 1
Kitty und Porky

 

Die Straße war düster, die Atmosphäre entsprechend unheimlich. Die schmalen Wege und Seitengassen glichen wie gewohnt einem undurchdringlichen Netz, in dem Gesindel seinem abgründigen Gewerbe frönte und leichte Damen auf beschwerliche Weise Geld verdienten.

Hier stolzierte Shinwell Porky Johnson, ein grober, rotgesichtiger Klotz, der vor lauter Sünde ausgezehrt zu sein schien, furchtlos umher, denn dieser Teil Londons, diese Straßen gehörten ihm, wohingegen Bürger, die sich etwas auf ihre Klasse und Kultur einbildeten, kaum wahrnahmen, dass diese Gegend überhaupt existierte. Johnson gehörte zu den außerordentlich abgefeimten Bewohnern dieser Gegend, doch wer genau genug hinsah, dem vermittelten die aufgeweckten dunklen Augen, dass dieser Mann mitnichten zum intellektuellen Bodensatz gehörte, sondern gerissen und brandgefährlich war. Er besaß den Verstand eines Berufsverbrechers.

An einem heruntergekommenen Gebäude hinter einer Kurve überquerte er die Straße und klopfte laut an eine Haustür, die Nummer 67.

„Porky, bist du es?“, fragte leise eine Frauenstimme von drinnen.

„Das weißt du genau, Schätzchen.“

„Gut. Ich habe nicht verriegelt, komm rein.“

Johnson schüttelte fassungslos und leicht verärgert den Kopf. Ein Dutzend Mal hatte er der naiven Braut gesagt: Halte die Tür verschlossen! Schiebe den Riegel vor! Allerdings pflegte sie einen ähnlichen Starrsinn wie er, falls sie nicht sogar noch verbissener war, so unmöglich dies auch erscheinen mochte. Deshalb wusste er, dass sie sich nicht belehren ließ.

Als er behutsam in das kleine Mietzimmer trat, bot sich ihm der ergötzliche Anblick einer liebreizenden Frau. Sie war von flammender Schönheit, hatte eine schmale Taille und ein markantes Gesicht, das auch nach den Misshandlungen, die sie erlitten hatte, noch jugendlich wirkte. Daran wollte er jetzt, während er sich an all jenen Teilen ihres Körpers weidete, die noch frisch und unversehrt aussahen, überhaupt nicht denken.

„Ich weiß“, begann sie geziert. „Du sagst mir ständig, ich soll absperren.“ Sie sprach mit schriller Stimme und einem Cockney-Akzent. „Ehrlich, das mache ich auch, wenn ich es nicht vergesse, Porky, aber eigentlich ist es nach so langer Zeit nicht mehr wichtig, wie ich finde.“

Johnson lächelte. Er konnte nicht anders, denn hartherziger Rüpel hin oder her, er hatte eine Schwäche für Kitty, und sie wusste das. Deshalb galt er ihr schon lange als vertrauter Komplize und nicht selten auch als Freund. Im Zuge der Machenschaften, in die sie sich seit Jahren gemeinsam verstrickten, hatten sie feste Bande geknüpft. Es war eine Art von Partnerschaft, gleichwohl auf gegenseitigem Respekt begründet, doch insbesondere während der vergangenen drei Jahre hatte Porky festgestellt, dass er immer häufiger als Kittys Fürsprecher und Beschützer agierte. Er liebte sie, obschon er es nie eingestanden hätte, geschweige denn geneigt gewesen wäre, ihr seine Gefühle zu offenbaren. Er verstand sich gewissermaßen als ihr heimlicher Geliebter.

„Ich halte es immer noch für … vernünftig.“

„Vernünftig, meinst du?“ Sie lachte vergnüglich und kehrte ihm die hübsche Seite ihres Körpers zu, deren Anmut ihn verzückte. Die Stellen, an denen schlimme Narben zurückgeblieben waren, sah er nicht. Johnson schätzte sich glücklich, Kitty einen kurzen Augenblick lang so betrachten zu dürfen, wie sie früher war, bevor das Elend seinen Lauf genommen hatte. Sie war eine Augenweide, ein feuerrotes Prachtweib, nach dem sich immer noch jeder Mann umsah.

„Mein Gott, hast du dieses Wort heute neu aufgeschnappt? Vernünftig … Du meine Güte!“ Kitty schaute ihn an und lachte.

Johnson seufzte. Zwar musste es arg kommen, um einen ausgekochten Straßenköter wie ihn aus der Reserve zu locken, aber Kitty wusste genau, wie sie dies konnte. „Ich wollte damit nur sagen …“

„Schon klar, Porky, aber jetzt reicht es wirklich. Er ist verschwunden und wieder zu Hause, krank obendrein, wie mir zu Ohren kam. Hoffentlich stirbt er bald, dann wäre die Welt eine bessere. Drei Jahre ist es nun schon her, also Schwamm drüber. Vergessen wir es, wenn es geht. Ich bemühe mich, aber es ist nicht leicht, sondern ein regelrechter Kampf, jeden Tag aufs Neue. Trotzdem muss ich über alles hinwegkommen. Es wird zu meinem Besten sein.“

„Verstehe, dass du ungern darüber nachdenkst“, erwiderte er zärtlich, weil er sich die Schmerzen, die sie durchgestanden hatte, eindrücklich vorstellen konnte. Insgeheim litt sie sicherlich immer noch darunter, ließ sich tagtäglich die Seele davon zermartern.

„Ich möchte es aus meinem Gedächtnis löschen, verstehst du? Du weißt, was ich durchgemacht habe.“ Zuerst schaute sie weg, doch dann suchte sie seinen Blick erneut und lächelte. „Wie dem auch sei, jetzt bin ich wieder auf freiem Fuß und kann meiner Arbeit nachgehen. Schließlich brauche ich Geld.“

Johnson schüttelte noch einmal den Kopf, diesmal eindeutig erzürnt. Darüber hatten sie bereits ausgiebig diskutiert, doch er war bereit, das Thema abermals durchzukauen, falls er sie dadurch umstimmen konnte. „Kitty, du musst dich nicht mehr in diesem Geschäft herumschlagen. Ich habe doch versprochen, für dich zu sorgen.“ Er klang sanftmütig, soweit es seine barsche Stimme zuließ, und meinte es von ganzem Herzen ernst. Seine Worte berührten die Frau durch eine Warmherzigkeit, die zu fühlen sie eigentlich kaum mehr in der Lage war. So distanziert sie geworden war und weiterhin bleiben wollte, empfand sie mehr für Porky. Sie wusste, er würde ihr treu sein. Als sie ihm wieder zulächelte, fragte er: „Du glaubst mir nicht?“

„Sicher glaube ich dir, aber sieh ein, dass nicht alles so laufen kann, wie du es dir ausmalst.“

Johnson wackelte mit dem Kopf. „Das gefällt mir nicht.“

„Mag sein. Aber was, wenn wir so verfahren, wie es dir vorschwebt? Du klaust weiter und riskierst dein Leben für mich. Irgendwann kommt die Polizei mitten in der Nacht und buchtet dich ein. Schlimmer noch, du könntest gehängt werden. Porky, ich verstehe deinen Groll wirklich. Du behandelst mich wie eine Prinzessin, obwohl ich es gar nicht verdiene. Du gehst auch mit niemand anderem so um, der dir entgegentritt.“

„Sag so etwas nicht!“

„Es ist nichts weniger als die Wahrheit. Ich bin eine Hure, Porky, daraus mache ich keinen Hehl, und zwar nicht erst seit gestern. Ich verdiene gutes Geld, Crowns, Sovereigns, nicht wahr?“

Johnson ließ den Kopf hängen, ihm missfielen diese Worte. Er wollte das Kind nicht beim Namen genannt hören, die Wahrheit darüber, wer und was sie beide waren, wozu sie sich heruntergewirtschaftet hatten. Alles nur wegen eines einzelnen Mannes!

„Mach dir keine Sorgen, Porky“, raunte sie. „Es ist mein Job.“

Was war nur aus ihnen geworden? Kitty arbeitete als Prostituierte, und Porky ließ sich zu Vergehen herab, die er für noch verkommener hielt. Er tat es nur für sie, da er ihr den Rücken freihalten wollte, während sie anschaffte. Die feine Gesellschaft und das Pack, das die Fäden in der Hand hielt, sprachen in diesem Zusammenhang von Vermittlung. So nannte man es jedenfalls in vornehmen Kreisen. Doch die Bezeichnungen, die man in diesem Londoner Bezirk dafür verwendete, waren weit geläufiger. Kuppelei und Zuhälterei.

„Sag, was hat er gemeint?“, fragte Kitty neugierig. Sie hatte sich vor dem Spiegel niedergelassen und machte ihr langes Haar zurecht. Es glänzte und war gewellt, aber sie benutzte Pomade und Klammern dazu, um es auf der Seite zu fixieren, damit die Verletzungen in ihrem Gesicht und am Oberkörper weniger auffielen.

„Er steht auf dich“, antwortete Johnson lapidar.

„Ach was? Sprich weiter.“

„Er will einiges lockermachen, falls er heute Abend zum Zug kommt.“

„Wie viel?“

„Fünf Pfund Sterling in Gold.“

„Du machst Sachen! Fünf?“

„In Sovereigns, also kein Papiergeld“, betonte er in der Erwartung, die Aussicht auf handfeste Goldmünzen zaubere ihr ein Strahlen ins Gesicht, weil sie sich auf diese Weise wieder begehrenswert und nützlich fühlen konnte.

„Na dann …“ Sie machte einen spöttischen Knicks. „Ich bin hingerissen, aber wo ist die Kohle?“

Johnson nickte, steckte eine Hand in die Innentasche seines Jacketts und nahm fünf funkelnde Sovereigns heraus. Das Gold klimperte und schimmerte hypnotisch. „Vorkasse oder kein Spaß heute Abend, so habe ich mich seinem Mittelsmann gegenüber ausgedrückt, und er hat zugestimmt und tatsächlich im Voraus bezahlt. Also habe ich schnell zugegriffen, ehe er es sich anders überlegen konnte. Bitte sehr.“

Er reichte Kitty das Geld, die es dankend annahm und noch eine Weile in beiden Händen wiegte. Sie betrachtete jede Münze einzeln und mit Freuden. Ihr Gesicht leuchtete auf wie das Konterfei von Queen Victoria, die auf den Sovereigns prangte.

„Ich fasse es nicht“, murmelte sie. „Gold! Sieh nur, wie es im Licht schillert!“

„Ja“, sprach Johnson zufrieden und schaute zu, wie Kitty die Stücke einzeln prüfte, indem sie auf das Metall biss, um sich seiner Echtheit zu vergewissern. Es war weich, wie nur Gold sein konnte. „Es geht aufwärts mit uns. Lass es jetzt verschwinden, Schätzchen, und behalte es im Auge. Es gibt Kerle, die hauen arme, redlich arbeitende Mädchen übers Ohr, indem sie nicht zahlen, wenn sie mit ihnen fertig sind. Davon bleiben wir diesmal verschont, Kitty.“

„Danke schön, Porky! Was tät ich bloß ohne dich.“

Er lächelte kurz, bevor er das Unausweichliche ansprach: „Brechen wir auf und bringen es hinter uns, was? Ich begleite dich. Wenn man seriös wirken will, sollte man pünktlich sein.“

„Meine Rede, Porky. Sobald ich meine Arbeit getan habe, genehmigen wir uns ein paar Pints, wenn du Lust dazu hast.“ Nachdem sie sich mit einem Arm bei ihm eingehakt hatte, fuhr sie leiser fort: „Und wer weiß, vielleicht kommst auch du noch auf deine Kosten, später in der Nacht, wenn es vorbei ist.“

„Ach Kitty, meine Liebe“, entgegnete er bedächtig. „Ich komme andauernd auf meine Kosten, seit ich dich kenne.“

Sie lachte mit einem matten Gesichtsausdruck. „Na, jetzt hör aber auf! Manchmal redest du wirklich albernes Zeug, Porky.“

Er schwieg, als sie verstohlen eine Träne wegwischte, die unvermittelt an ihrer Wange herablief.

Kapitel 2
Baker Street, eines Tages im Jahre 1905

 

„Ärmel hochkrempeln, Watson! Wenn ich mich zurzeit über eines nicht beklagen kann, dann ist es mangelnde Arbeit.“

„Das sehe ich“, erwiderte mein Freund, der gute Doktor, dem meine Betriebsamkeit in jüngster Zeit nicht entgangen war.

„Das Verbrechen feiert Hochzeiten in London. Nicht weniger als drei schwierige Fälle beanspruchen gegenwärtig meine Aufmerksamkeit“, gab ich an und schenkte ihm ein verschmitztes Grinsen, indem ich auf einen Stoß Papiere verwies, den kürzlich ein Bote gebracht hatte.

„Dann sind Sie ja in Ihrem Element“, befand Watson, meine gute Laune bemerkend. „Mir geht das Herz auf, wenn ich sehe, wie konzentriert und begeistert Sie wieder sind, nachdem Sie eine Zeit lang müßiggehen mussten.“

„Oh ja, solch träge Tage voller Langeweile, an denen alles stillzustehen scheint, bereiten mir Verdruss oder treiben mich gar zur Verzweiflung. Fürwahr, manchmal bin ich deshalb geneigt, einem ungesunden Lebenswandel zu verfallen und finsteren Depressionen nachzugeben. Allein die Kokainspritze oder eine Opiumpfeife vermögen dann, mich zu besänftigen.“

„Nun denn, es freut mich, dass dies jetzt nicht der Fall ist.“

„Davon kann wirklich keine Rede sein, mein Freund. Die laufenden Ermittlungen lassen mich nachgerade aufblühen.“

„Sehen Sie sich bemüßigt, mich einzuweihen?“

„Vorerst nur oberflächlich“, antwortete ich hastig, wie ich es immer tat, wenn ich eine heiße Spur verfolgte oder wenn aufgrund neuer Indizien, die vorangegangenen Mutmaßungen hinfällig wurden. „Der Tatbestand ist außerordentlich interessant. Am vergangenen Wochenende gab es einen mysteriösen Einbruch in Hempstead, bei dem merkwürdigerweise nichts gestohlen wurde. Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich vor einem Rätsel stehe. Irgendetwas Wertvolles muss gestohlen worden sein, ansonsten ergäbe die Tat keinen Sinn.“

„Worum könnte es sich handeln?“

„Diese Frage kann ich leider noch nicht beantworten“, gestand ich erneut mit schalkhaftem Blick, woraufhin Watson enttäuscht seufzte. Ich erkannte, wie es ihn erzürnte, dass ich mir die Einzelheiten aus der Nase ziehen ließ. Doch er kannte meine Methoden und nötigte mich dankenswerterweise nicht zu einer sofortigen Antwort. Ihm war klar, dass er sie erhalten würde, wenn die Zeit reif war.

„Das klingt kompliziert …“

„Warten Sie, bis Sie von den anderen Fällen hören. Zuerst wäre da der Mord an Charlotte Boothe in Kent vor vierzehn Tagen. Sie war eine betuchte Frau, litt jedoch unter Morbus Pick, modern sprach man aktuell von Demenz, weshalb sie zu ihrem eigenen Besten von ihren Angehörigen hinter verschlossenen Türen gehalten wurde. Ihre Zelle hatte nur eine Tür, aber irgendeine Person, wenn ich dies bereits mutmaßen darf, überlistete die Krankenschwester, die nachts sehr gewissenhaft dort wachte, verschaffte sich Zugang und tötete die alte Frau. Dennoch deutet keine einzige Spur darauf hin, dass jemand anderes außer der Schwester, die über jeden Verdacht erhaben ist, den Raum betreten hat.“

„Die Polizei weiß also nicht mehr weiter?“

„Ha! Die Polizei erweist sich wie immer als sehr begriffsstutzig.“

„Demnach können Sie sich endlich wieder ausleben. Sie genießen es, habe ich recht?“

Ich nickte freudestrahlend. „Und wie! Aber das Beste, alter Freund, habe ich bis zum Schluss aufgespart. Die preisgekrönte Bulldogge des jungen Billy Somerset wurde entführt. Pug, so heißt das Tier, könnte verschulden, dass eine der einflussreichsten Familien Englands ihre Peerswürde verliert, falls er nicht bald wieder auftaucht. Ich bin auf dem Sprung zu einem Treffen mit Billy und möchte das Anwesen der Somersets unter die Lupe nehmen. Sie sehen also, Watson, ich habe im Moment eine Menge am Hals, wie man so sagt, und untersuche gleich mehrere Beispiele für das verbrecherische Potenzial unserer Nation.“

„Was hat es eigentlich mit Lestrades Nachricht auf sich?“, wollte Watson wissen.

Ich hatte sie eine Stunde zuvor erhalten und sofort gelesen, bisher aber noch keine Bemerkung dazu abgegeben. „Der Mann hat eine blühende Phantasie.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ständig verzettelt er sich auf die eine oder andere Weise und erwartet, dass ich ihm auf die Sprünge helfe. Diesmal werde ich vermutlich passen.“

„Wie bitte, Holmes?“

Watsons Überraschung war offensichtlich, doch ich hatte damit gerechnet. Es gab mir ein wenig Zeit, bis er eine genaue Erklärung verlangte. „Ich bin einfach zu beschäftigt, um mich mit Lestrade und einem Mord im horizontalen Gewerbe abzugeben.“

„Sind Sie sicher, Holmes?“, hakte der Doktor nach.

Ich tat seine Sorge mit einem nachsichtigen Lachen ab. „Ach, lieber Watson, glauben Sie mir. Obwohl der Sachverhalt zweifellos recht unappetitlicher Natur ist, handelt es sich um einen schnöden Mord, nicht mehr. Für jenen Teil der Stadt ist dies keineswegs ungewöhnlich.“

„Aber immer noch ein Mord, Holmes.“

„Natürlich. Doch in und um London kommt es jeden Tag und jede Nacht zu rund zwanzig Fällen dieser Art. Verlangen Sie von mir, dass ich losziehe und alle im Handumdrehen aufkläre? Werden Lestrade und seine Gehilfen nicht dafür bezahlt?“

Als ich Watson anschaute, stand ihm die Enttäuschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihn so verdrießlich zu sehen, berührte mich unerwartet. Aber so war mein Getreuer eben. Als grundanständiger Mann hätte er die Welt und jeden einzelnen Menschen im Alleingang gerettet, wäre er dazu imstande gewesen. Ich für meinen Teil war im Vergleich etwas realistischer, würde ich sagen. „Ich zeige mich nicht absichtlich kalt oder herzlos, mein Freund, sondern habe praktische Gründe. Leider kann ich mich nicht um jedes Verbrechen und Rätsel in unserer geliebten Stadt und ihrem Umkreis kümmern. Vielmehr muss ich Prioritäten setzen.“

Watson nickte. „Das verstehe ich wohl, aber mir dämmert auch, dass sich Lestrade im Stich gelassen fühlen muss.“

„Gewiss, doch er wird darüber hinwegkommen. Unser Unternehmen fußt auf unverrückbaren Grundsätzen, und es ist schlicht Fakt, dass meine Mittel und Kräfte, Zeit und Wachsamkeit beschränkt sind. Wir können uns nicht jedem Kriminalfall in London widmen. Dieser Mordfall übersteigt Lestrades Handelsvermögen keinesfalls. Er muss sich lediglich konzentrieren.“

„Vermutlich haben Sie recht.“

„Kommen Sie, Watson, wir müssen uns nicht mit solchen Nichtigkeiten aufhalten. Ziehen Sie Mantel und Hut an, wir machen uns unverzüglich auf den Weg zu den Somersets.“

„Jetzt sofort?“

„Jawohl, Watson, jetzt sofort. Von nichts kommt nichts.“ Ich hatte meinen Überzieher bereits genommen und lief die Stufen unseres Hauses in der Baker Street hinunter, als sei mir der Leibhaftige auf den Fersen. Watson heftete sich mit Mantel und Hut in den Händen an meine Fersen. Er musste sich anstrengen, um Schritt zu halten, während er versuchte, beides anzuziehen, bevor wir den Eingangsflur erreichten. Am Fuß der Treppe stießen wir auf unsere Vermieterin Mrs Hudson, die gerade die Haustür geöffnet hatte, um Inspektor Lestrade von Scotland Yard hereinzulassen, der übel gelaunt und sehr erschöpft aussah.

„Ah, Lestrade!“, grüßte ich bemüht freundlich. „Freut mich, Sie zu sehen. Und auf Wiedersehen! Watson und ich sind gerade auf dem Sprung.“

Er baute sich im Türrahmen auf, doch es gelang ihm nicht, mich am Hinausgehen zu hindern.

„Holmes!“, rief er mir nach. „Halt, warten Sie bitte!“

„Tut mir leid, Lestrade“, entschuldigte ich mich kurz angebunden in der Hoffnung, ihn damit abfertigen zu können. Dann richtete ich mich an meinen Begleiter. „Los, Watson, wir haben uns für heute viel vorgenommen.“

Der Inspektor packte meinen Arm und hielt mich vehement zurück. „Ich flehe Sie an, Mister Holmes! Wir brauchen Sie.“

Watson fühlte sich vom Verhalten des Inspektors genauso vor den Kopf gestoßen wie ich. Er wurde sichtlich unruhig, als er den Zorn bemerkte, der wohl kurz in meinen Zügen aufflackerte, weil ich es als beleidigend empfand, auf diese Weise von Lestrade bedrängt zu werden.

Allerdings zügelte ich mich und beschränkte mich darauf, ihn nur argwöhnisch anzustarren. „Bitte, lassen Sie mich los“, verlangte ich in ruhigem, aber entschiedenem Ton von ihm.

„Natürlich, Mister Holmes!“ Der Inspektor löste seinen Griff. „Verzeihen Sie, wenn ich mit der Tür ins Haus gefallen bin.“ Dann fügte er vertraulich hinzu: „Ich möchte Ihre Meinung zu einer sehr ernsten Angelegenheit hören.“

„Dürfen Sie gerne, Lestrade“, beteuerte ich, wenn auch nur ungern, doch ihn plagte offensichtlich ein großes Problem, das ihm über den Kopf gewachsen zu sein schien. Um meinen Worten Gewicht zu verleihen, seufzte ich, bevor ich anbot: „Kommen Sie mit hinauf, dann reden wir in Ruhe darüber.“

„Danke sehr, Mister Holmes.“

Als wir in meine Wohnstube zurückgekehrt waren, legte Watson seine Kleidungsstücke nieder, die anzuziehen er keine Gelegenheit bekommen hatte, und nahm Mantel und Hut des Inspektors entgegen. Dann bedeutete er Lestrade, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Ich machte es mir in meinem angestammten Sessel bequem und harrte der Dinge, die der Inspektor zu erzählen hatte. Unterdessen musterte ich den Mann gründlich. Er war nervös und mit seinem Latein am Ende, so viel stand fest. Irgendetwas musste den armen Kerl völlig aus der Fassung gebracht haben.

„Schießen Sie los, Lestrade!“, rief ich ungeduldig. „Was haben Sie auf dem Herzen? Ohne Zweifel sind neue Beweise aufgetaucht, aber kommen Sie mir bitte nicht mit dem Ripper wie in dem Schreiben, das ich heute von Ihnen erhielt.“

Der Inspektor atmete tief durch. An seiner Miene erkannte ich, dass er aufgekratzt war und sich fürchtete. Er hatte wohl kürzlich etwas erlebt, das ihn verstörte, und wusste nun nicht, wo er anfangen sollte, um es mir zu erklären. Mein Interesse war geweckt, und ich beugte mich im Sessel nach vorn. Ich bin mir sicher, der gute Watson hätte mich in einer seiner Erzählungen für die Massenzeitschriften mit einem erregten Bluthund verglichen, der Beute witterte, darüber alles andere vergaß und loshetzen wollte, sobald er die Fährte aufgenommen hatte. So abwegig wäre eine solche Beschreibung vielleicht auch gar nicht gewesen.

„Hier, nehmen Sie einen Schluck.“ Watson bot dem Inspektor ein Gläschen Brandy an.

„Danke, Doktor.“ Lestrade hielt viel von Abstinenz und schwor dem Alkohol zumindest im Dienst ab, doch jetzt setzte er an und trank die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem Zug.

Watson fragte sich bestimmt, was in aller Welt passiert war, dass der mit allen Wassern gewaschene Polizist so aus der Fassung geriet.

Schließlich zuckte Lestrade mit dem Kopf, als erwache er aus einer Trance. „Ich weiß, Sie beide“, begann der Inspektor unbeholfen, derweil er zwischen uns hin und her schaute, „glauben an den Teufel, denn Sie haben ihn walten sehen. Nun, auch ich kann von mir behaupten, ihn zu kennen. Ich habe die nackte, brutale Boshaftigkeit in dieser Form erst einmal erlebt, und jetzt sitze ich so tief in der Klemme, dass ich alleine nicht mehr hinausfinde. Ich brauche Ihre Hilfe.“

„Wir werden Ihnen, so gut wir können, unter die Arme greifen“, meinte Watson großmütig.

Ich warf meinem Freund einen unwirschen Blick zu, doch er bemerkte zu spät, dass mir seine vorschnelle Antwort missfiel. „Fahren Sie fort, Lestrade!“, verlangte ich barsch. „Die Fakten, bitte! Und beschränken Sie sich auf das Wesentliche.“

Der Inspektor begann mit einem lang gezogenen Seufzer. „Eine junge Lady ist grausam ermordet worden, eine Straßendirne eigentlich, aber das ist völlig unerheblich. Schwerer fällt ins Gewicht, dass ich mir keinen Reim darauf machen kann. Die Tat war extrem abscheulich; die Frau wurde aufgeschnitten und ausgeweidet, Mister Holmes.“