Ruf der Kraniche

von

Svenson Björglund

 

 

 

Über den Autor:

 

Svenson Björglund, der in der Einsamkeit des Nordens seinen Ruhestand genießt, traut sich, über das Leben und die Liebe schwuler Männer zu schreiben, offen, anstößig und doch mit erstaunlich großem Einfühlungsvermögen. Er hat        sie beobachtet, mit ihnen gesprochen, sich für ihre Gedanken und Gefühle interessiert und dabei gemerkt, dass die Klischees überhaupt nicht stimmen. Der Autor versucht dies in den verschiedenen Facetten des Lebens in seinen                  Werken darzustellen.

 

 

Weitere Romane im Himmelstürmer Verlag:

„Catwalk Dreams“ Frühjahr 2007

„Gebrochene Flügel“ Herbst 2007

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

E-mail: info@himmelstuermer-verlag.de

www.himmelstuermer.de

Foto: Mark-Andreas Schwieder, www.statua.de

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg

www.olafwelling.de

Originalausgabe, März 2008

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

 

ISBN print: 978-3-934825-97-0

ISBN epub 978-3-86361-430-0

ISBN pdf 978-3-86361-431-7

 

 

 

Vorwort

 

Nachdem der Himmelstürmer Verlag von Svenson Björglund bereits die beiden erfolgreichen Romane „Catwalk Dreams“ und „Gebrochene Flügel“ herausgebracht hat, legt er mit „Ruf der Kraniche“ das neueste Werk dieses Autors vor. Auch hier geht es um besondere Lebensschicksale und die junge Liebe zwischen zwei Freunden, die durch viele Hindernisse ihren gemeinsamen Weg zu finden suchen. Gleichzeitig beschreibt Svenson Björglund ein Stück grausamer Zeitgeschichte, die sich niemals wiederholen darf.

Die Liebhaber und Sprachexperten des wunderschönen ostpreußischen Dialektes mögen es dem Autor verzeihen, wenn er bei den Dialogen wegen zu geringer Kenntnis nicht der offiziellen Schreibweise dieser besonderen Sprache folgt, sondern nur den Versuch einer einfachen Nachschrift wagt. Er tut dies aber auch, damit auch jeder Ungeübte die Dialoge verstehen kann.

 

In Erinnerung an meine Mutter, die mit vier kleinen Kindern unter unsagbaren Entbehrungen und großen Opfern Krieg, Flucht und Neuanfang durchlitten hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Heimat

 

Ein leichter Wind wehte über die weiten goldgelben Kornfelder Ostpreußens und ließ die überreifen Kornähren sich gefährlich zur Seite neigen. Es wurde Zeit, dass die Ernte begann. Der Himmel meinte es seit Wochen übermäßig gut. Auch heute waren nur wenige grauweiße Wolken zu sehen. Sie schienen sich verirrt zu haben, mal zogen sie gehorsam in die Richtung, die ihnen die Ähren vorzeigten, dann wieder schienen sie erstarrt zu verharren, als wüssten sie nicht, in welche Richtung ihre Reise gehen sollte. Die Feldränder sahen wie in einem Bilderbuch festlich bunt geschmückt aus. Fast schon feierlich wirkten die Farbtupfer am Wegesrand. Zwischen den duftenden weißen Kamillestauden und den Margeriten hob sich das intensive Blau der Kornblumen ab, unterbrochen vom feuerrot leuchtenden Mohn. Einige Lerchen schmetterten ihre fröhlichen Loblieder in den tiefblauen Himmel, während sie mit ihren kleinen Flügeln die Luft rastlos zu zerhacken schienen.

Auf den angrenzenden sattgrünen, von vielen Butterblumen und rotviolett blühendem Klee gleichmäßig kunstvoll besprengten Wiesen, tummelten sich einige Dutzend Jungpferde, jedes von ihnen war ein kleines Vermögen wert. Von weit her, aus dem ganzen Großdeutschen Reich und darüber hinaus kamen zweimal im Jahr professionelle Pferdehändler in dieses kleine ostpreußische Gut, das fast schon versteckt zwischen dem berühmten Trakehnen und der Kreisstadt Stallupönen direkt neben der Pissa lag, einem Nebenarm der Pregel, um die berühmten Trakehner aufzukaufen. Dieser Hof hatte sich über Jahrzehnte einen guten Namen erworben, auf den der Besitzer Erich Kowalski stolz war. Er war mit seinen vierzig Jahren ein erfahrener Gutsherr und Pferdezüchter in dritter Generation. Nach ihm würde sein einziger Sohn alles weiterführen. Jan war erst sechs. Er hatte noch viel Zeit, sich einzuarbeiten. Sorgen machte dem Gutsherrn lediglich, dass Jan kein richtiger Junge war, kein richtiger Kerl. Er war das, was Erich früher immer salopp abwertend als „Schwächling“ bezeichnet hatte. Lag es daran, dass der Junge zu sehr verwöhnt wurde? Wie oft musste der Vater eingreifen, wenn seine Frau versuchte, dem Jungen sämtliche Steine aus dem Weg zu räumen und seine Weichheit noch unterstützte. Wie sollte er so das Leben kennen lernen, wie sollte er so zu einem richtigen Mann werden?

Kowalski ging den schmalen ausgefahrenen Feldweg entlang zu seinem Einspänner und prüfte die Körner, die er aus den Ähren mit beiden Handflächen herausgerieben hatte. Ja, das Korn war reif, sehr reif. Er musste unbedingt mit der Ernte beginnen, wenn er keinen Verlust einfahren wollte. Es versprach eine enorm gute Ernte zu werden.

Er band die Zügel vom Wagen los und schwang sich auf den Kutschbock. „Hüh!“ Der braune Zweijährige setzte sich in Bewegung. Nun musste der Gutsherr nur noch zu den anderen Weiden, auf denen die restlichen Trakehner-Pferde weideten. Er musste nachsehen, ob sie auch noch genug Grünfutter hatten und alle Tränken ausreichend mit frischem Wasser gefüllt waren. Eigentlich konnte er sich auf seine Mitarbeiter verlassen.

Der Weg führte ihn durch eine großzügig angelegte Eichenallee, die jetzt zur Mittagszeit angenehmen Schatten spendete. Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. So sollte es auch sein, sie waren alle an ihrer Arbeit. Schon bald würde es hier anders aussehen, wenn erst die Ernte begonnen hatte. Nur gut, dass sie ihren Schwerpunkt auf die Pferdezucht gelegt hatten und nicht auf die Getreideproduktion. Was sie hier ernteten, war nur für den eigenen Bedarf bestimmt.

Als der Gutsherr auf seinen Hof einfuhr, stoben einige Hühner aufgeregt gackernd auseinander. Hasso, der Schäferhund, der sein Herrchen sonst immer auf seinen Touren begleitete, lag faul in der heißen Sonne und schaute nur kurz auf, als er die wohlbekannten Geräusche des Einspänners vernahm. Der junge Stallknecht Martin kam über den mit großen zugehauenen Feldsteinen gepflasterten Hof zum Gefährt gelaufen und nahm dem Gutsherrn die Leine ab.

„Danke, Martin!“

Man konnte es dem fröhlichen Blondschopf nicht sofort ansehen, dass er nicht gesund im Kopf war. Die Leute erzählten, dass sein Vater ihn als Kleinkind immer mächtig auf den Kopf geschlagen haben soll, weil er sich nicht damit abfinden konnte, ein krankes Kind zu haben. Deshalb habe der Gutsherr ihn auch schließlich auf seinen Hof genommen. Genaues wusste aber niemand so richtig. Es war reines Mitleid, soviel jedenfalls war bekannt. Hier konnte er sich nützlich machen und ging keinem auf die Nerven.

Martin kannte sich gut mit Pferden aus, erstaunlich gut sogar. Er hatte den Zweijährigen am Halfter gefasst und ihn, nachdem er ihn vom Wagen losgebunden hatte, in den Stall geführt, um ihn mit einer Handvoll Stroh trocken zu reiben. Sicher würde er ihm sogleich auch einen Eimer mit kaltem Wasser vorstellen. Manchmal hatte der Gutsherr den Eindruck, dass Martin mit den Tieren sogar sprechen konnte. Das würde auch durchaus gut zu ihm passen. Auf ihn war auf alle Fälle Verlass.

„Na Martin, ist Jan auch schon zurück?“

Martin schüttelte den Kopf: „Neji, noch nich, hat noch Schule!“ Er schaute den Gutsherrn dabei nicht an, das tat er grundsätzlich nicht, wenn er mit jemandem sprach, egal, wer es war.

„Dann wird er ja gleich kommen.“ Kowalski stampfte einige Male auf die abgetretene Terrazzotreppenstufe, um die restliche lehmige Felderde von den Lederstiefeln zu klopfen, bevor er in die große Empfangsdiele eintrat. Hier atmete noch alles den Geist der vergangenen Jahrhundertwende. Erich Kowalski liebte dieses traditionsträchtige Gutshaus, barg es doch wie ein riesiger Blumenstrauß tausend Geheimnisse in sich. Hier war er selbst aufgewachsen, hier war sein Sohn Jan geboren, hier verbrachte er sein Leben.

Der ganze Bau zeugte von robuster und zweckmäßiger Architektur, ohne dass der für ein Gutshaus notwendige solide Prunk dabei zu kurz kam. Es waren hohe Räume, großzügig mit barockem Gipsstuck und Deckenornamenten verziert. Die schweren Eichentüren ließen den ganzen Raum irgendwie geheimnisvoll dunkel erscheinen. Die Türgriffe waren so hoch angebracht, dass Jan sie erst seit zwei Jahren selber öffnen konnte. Vorher reichten seine kleinen Hände nicht zu den Türgriffen heran. Ein teurer Kronleuchter hing in der Mitte des Raumes. In einer Ecke stand ein alter Kamin, der den Geruch von abgestandenem Rauch und frischem Birkenholz verbreitete. Er war sorgfältig gesäubert worden. Einige dicke Holzkloben lagen aufgestapelt daneben. Der Fußboden war gespänt. Es war immer eine gewaltige Aktion, wenn das ganze Gesinde unter Leitung der Küchenmagd mit einem Ball aus Stahlwolle die Dielenbretter bearbeitete.

Manchmal, wenn viele Gäste erwartet wurden, wurde auch hier eine lange Speisetafel aufgestellt und es waren meistens die Kinder und das Gesinde, die hier ihre Mahlzeiten einnahmen. Die erwachsenen Gäste saßen dann im Speisezimmer, das durch die vielen Urkunden und Ölgemälde von prämierten Pferden an den Wänden ausgeschmückt war. Es gab weit und breit unter den über fünfzehntausend privaten Züchtern kein Gestüt, das bessere Pferde aufzuweisen hatte als sie. Vielleicht lag es an der Nachbarschaft zu Trakehnen? Zumindest profitierten sie von der einzigartigen und für die Pferdezucht vorzüglichen Bodenbeschaffenheit. Als der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. im 18. Jahrhundert beschloss, ein Gestüt hier in dieser entlegenen und unwirtlichen Gegend im nordwestlichen Teil Ostpreußens zu gründen, war es noch alles Sumpfgebiet. Aber man besann sich der alten Zeiten, als hier noch die Schweiken, jene robusten Urpferde, 1231 im Rahmen der Christianisierung von den Deutschordensrittern als Streitrosse eingeführt, in dieser Gegend erfolgreich gezüchtet wurden. Mit sechshundert preußischen Soldaten wurde in nur sechs Jahren aus dem unbrauchbaren Land bestes Weideland, vermischt mit Kalk und Phosphor, welches den Pferden ihr hartes Knochengerüst gab. Damit begründete Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1732 die Pferdezucht in Trakehnen und Erich Kowalski profitierte immer noch davon. Er war jedes Mal stolz, wenn er einem Fohlen das begehrte Brandzeichen, die siebenzackige doppelte Elchschaufel, auf den linken Hinterschenkel einbrennen lassen konnte. Ja, seine Pferde waren zumindest genauso wertvoll wie die aus dem staatlichen Gestüt Preußens. Einer seiner Hengste war sogar bei den Siegerpferden, die bei der Olympiade 1936 in Berlin drei Gold- und eine Silbermedaille erkämpft hatten. Doch, er war stolz auf seine Pferde.

Es lag noch gar nicht so lange zurück, dass er im schlossähnlichen Landhaus des Landstallmeisters in Trakehnen war, um mit seinem Freund über diesen Erfolg zu sprechen. Er kam dabei auch an dem wunderschönen Denkmal von „Tempelhüter“ vorbei, dem berühmtesten Deckhengst des Gestüts. Voller Ehrfurcht schaute er auf dieses Rassepferd aus gegossener Bronze. Man musste nicht einmal wissen, dass dieser Hengst der Sohn des berühmten englischen Vollbluthengstes ‚Perfectionist’ war, der dem Gestüt ein Vermögen gekostet und sich schon nach drei Jahren wegen eines unglücklichen Sturzes in seiner Stallbox das Becken brach und eingeschläfert werden musste. Wer einen solchen Hengst wie Tempelhüter im Stall hatte, brauchte sich um den Absatz kaum zu sorgen. Der Name war bereits Garantie für Rasse und Qualität.

Es lag stets eine erhabene Ruhe in den Räumen des Gutshauses. Hier wurde weder laut gerufen noch sonst wie unnötig Lärm geschlagen.

Wenn der Hausherr allein war, hielt er sich am liebsten in der Bibliothek auf. Riesige Bücherregale, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, füllten die Wände. Hier stand auch sein schwerer Schreibtisch, der besonders kunstvolle Holzschnitzereien aufwies. Dahinter stand ein hoher Lehnstuhl, der die gleichen Ornamente wie der Schreibtisch hatte, nur, dass er in der Rückenlehne einen kunstvoll geschnitzten Adler mit ausgebreiteten Flügeln zeigte. Jan überkam jedes Mal ein ehrfürchtiger Schauer, wenn er diesen Raum betrat, wie jetzt, als er, nachdem er seine Schultasche auf dem alten Stuhl in der Diele abgestellt hatte, leise an die Bibliothekstür klopfte.

„Ja, mein Sohn, komm rein!“

Jan öffnete die schwere Tür und stellte sich neben den Schreibtisch. Er musste warten, bis sein Vater ihn zuerst ansprach, eine Regel, die er von ganz klein an lernen musste.

„Wie war es in der Schule?“

Sollte Jan jetzt erzählen, dass der Herr Lehrer den Werner, den Sohn vom alten Müller, mit dem Rohrstock tüchtig verdroschen hatte? Sollte er auch sagen, dass er gezüchtigt worden war, weil er seinen Schwamm für die Schiefertafel, der aus dem Ranzen seitwärts hervor hing, zu Hause nicht angefeuchtet hatte? Sicher würde der Vater es gerecht finden. Erich Kowalski hielt sehr viel von Ordnung und Pflichterfüllung. Eine deutsche Tugend sei es, wenn man Pflicht und Disziplin kenne und auch entsprechend handele. Kürzlich gab es bei einem Mitschüler fünf Stockhiebe auf die Innenseite der Finger, weil das Schulbuch zwei große Eselsohren aufwies. Nein, bei Jan würde es sich der Lehrer nicht trauen, ihn zu züchtigen, aber bei den anderen tat er es umso mehr. Martha, die Tochter des Dorfschmieds, kam kürzlich zu spät, sie waren bereits zum Unterrichtsbeginn aufgestanden und sangen die erste Strophe ihres Gesangbuchliedes, als sie mit hochrotem Kopf und verschwitzten Haaren in den Klassenraum hereinstürmte. Sie kam nur wenige Minuten zu spät. Zwei Stunden musste sie deshalb nachsitzen.

Jan saß im einzigen gemeinsamen Klassenzimmer in der ersten Reihe. Vorne saßen immer nur die Kleinsten, dahinter dann die höheren Klassen. Man rückte also automatisch mit jedem Klassenwechsel ein Stückchen weiter nach hinten. Sie waren ohnehin nur höchstens zwanzig Kinder. Jan durfte vorne sitzen bleiben, ein Privileg, dass die meisten anderen Schüler so akzeptierten.

Von hier aus sah er den riesengroßen Wallnussbaum und dahinter die alte Scheune vom Hubert mit dem Storchennest auf dem Wagenrad, das die Männer vor einigen Jahren mit viel Aufsehen dort oben befestigt hatten. „Dagobert“ hatten die Jungs den ersten Storchenvater getauft, der sich dort oben mit seiner Storchenbraut niedergelassen hatte. Seitdem war es schon die dritte Generation, die auf diesem erhöhten Dorfplatz ihr Zuhause eingenommen hatte. Es gab viele Störche im Dorf.

„Ich hab eine Eins bekommen für’s Schönschreiben!“ Jan hatte sein Schulheft schon längst in der Hand und reichte es stolz seinem Vater zur Ansicht hin.

„Sauber, mein Junge. Ja, so soll es sein. Schau, dass du gute Zensuren bekommst, dann wird auch was rechtes aus dir. Du sollst ja einmal hier an meinem Platz sitzen und die Geschicke des Gutes leiten. Dazu muss man viel lernen!“ Wie zum Zeichen, dass nun die Audienz beendet war, reichte der Vater dem Jungen das Heft zurück. Dann wendete er sich seinem großen Journal zu, das geöffnet auf dem Schreibtisch lag. Es füllte fast den halben Schreibtisch aus.

Jan ging zurück in die Empfangsdiele. Im gleichen Moment ging die Tür zur Küche auf. Hilde, die Küchenmagd, hatte den Jungen bereits kommen hören.

„Junge, da bist du ja! Ich hab schon auf dich gewartet.“ Irgendwann, es musste weit zurückliegen, war Hilde als Mädchen aus Sachsen in Stellung nach Ostpreußen gekommen, warum auch immer. Sie nahm den schmächtigen Jungen in ihre starken Arme und drückte ihn an ihren dicken, weichen Busen. Sie trug auch heute wieder ihre weiße Schürze und die kleine Spitzenhaube, die sie als Küchenchefin auszeichnete. Die anderen Leute vom Gesinde machten Späße über sie, über ihren dicken Hintern, über ihre runden Beine. Jan verstand das überhaupt nicht. Er mochte sie, und er mochte auch ihren süßen Schokoladenpudding mit Mandeln, den sie auch jetzt wieder neben dem Teller mit den Bratkartoffeln mit viel Kümmel und gebratenem Speck stehen hatte.

„Wo ist meine Mutter?“, wollte Jan wissen.

„Sie hat sich hingelegt, du solltest sie nicht stören!“

Jan wusste, dass es nichts Schlimmeres gab, als wenn er jetzt seine Mutter aus dem Mittagsschlaf aufwecken würde. „Und wo ist Jenny?“ Wieder schaute Jan die Küchenmagd an.

„Sie is’ jetzt Gänse hüten, seit einer Stunde vielleicht!“

Jenny war Hildes Tochter, gemeinsam bewohnten sie mit den anderen Angestellten das kleine Gesindehaus, gleich neben dem herrschaftlichen Gebäude. Wer Jennys Vater war, blieb stets ein Geheimnis. Jan konnte von seinem Zimmer aus direkt auf ihr Stubenfenster sehen.

Jan beeilte sich mit dem Essen. Er hatte sich mit Christian verabredet. Christian war der Sohn vom Stallmeister, er war ein Jahr älter als Jan und ging schon in die zweite Klasse, genau wie Jenny. Gemeinsam wurden sie von Günter, dem Jungknecht, mit dem Einspänner zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt. Der Weg war viel zu lang, um ihn zu Fuß zurückzulegen. Sie würden zwei Stunden brauchen, ganz bestimmt. Im Winter brauchten sie dann doppelt so viel Zeit, denn es gab immer viel Schnee. Überhaupt waren die Wintermonate grauselig ungemütlich, nicht selten hatten sie dreißig oder manchmal auch vierzig Grad minus. So waren alle über diese Lösung froh.

Die Gänse flogen schnatternd auseinander, als Jan und Christian mit ihren Fahrrädern angeradelt kamen. Sie schlugen wild mit den Flügeln um sich und stürmten davon. Die Jungs radelten zum Endspurt um die Wette. Ihre Schutzbleche klapperten so laut, dass jedes Lebewesen automatisch Gefahr vermutend flüchtete. Jenny schaute ihnen entgegen. Sie mochte ihre beiden Freunde, die doch eigentlich so grundverschieden waren. Christian war für sein Alter recht groß und stämmig. Er hatte blondes, halblanges Haar und blaugraue Augen. Jan dagegen wirkte schwächlich, fast schon mädchenhaft. Er trug sein Haar lang. Immer wieder fielen ihm die Locken ins Gesicht. Sein Blick war verträumt, als würde er immer nebenbei noch zu Besuch in einer anderen Welt sein.

„Hey, kuckt mal, was ich hier hab!“ Jenny hielt ein Marmeladenglas in der Hand, in dessen Deckel große Luftlöcher gestochen waren. Im Glas war eine Handvoll frischer Fliederblätter, die inzwischen halb verwelkt waren. Dazwischen krabbelten einige Maikäfer herum. „Ich hab einen Schornsteinfeger und einen Müller, seht mal.“ Sie reichte das Glas Jan, der es gegen das Licht hielt, um alle drei Tiere zu sehen. „Wir können uns ja heut Abend noch mehr fangen, geht ihr mit?“

Jenny hatte Mühe, die aufgeregten Gänse wieder einzufangen. Sie hatte sich eine Weidenrute abgeschnitten und schlug damit energisch auf den Boden. „Los, ihr Lorrrbasse, jejit ins Wasser!“, rief nun auch Christian und klatschte dabei in die Hände. Sofort rannten die Gänse schnatternd mit langen Hälsen in Richtung Fluss. Schon sprangen sie ins Nass.

„Hast schon in der Bunge nachgesehen?“, wollte Jan wissen.

Vorgestern hatten sie das selbst gebaute Fischfanggerät in der Pissa versenkt. Mit Grausen musste Jan an den Nachmittag denken, als Kossmann ihnen einen alten, stinkenden, halb vergammelten Pferdekopf in einem Eimer vor die Nase stellte. Es bewegten sich sogar einige Maden auf dem vergammelten Fleisch. „Das is jut für die Aale!“ Kossmann, der hier auf dem Hof so etwas wie sein Gnadenbrot bekam, hatte ihnen erklärt, dass sie früher in seiner Heimat Aale immer so gefangen hätten. Die Aas fressenden Fische gruben sich in die Öffnungen des Pferdekopfes ein, und wenn man den dann schnell genug aus dem Wasser herauszog, hingen sie fest. Jan konnte sich das überhaupt nicht vorstellen.

Die Jungs hatten den Pferdekopf gleich neben der Bunge im Wasser versenkt, nachdem sie ihn an einem Strick festgemacht hatten, in der Hoffnung, dass die Aale sich den Weg ohne Rückkehr aussuchen würden. Schon stand Christian auf dem schmalen Steg und suchte nach den Stricken, die beide Fanggeräte festhielten. Die beiden andern standen gespannt am Ufer.

„Nu los, mach schon!“ Jenny war ungeduldig. Das Wasser plätscherte, als Christian den Pferdekopf aus dem Wasser zog. Es hatte sich kein Aal darin verfangen. Es sah ekelhaft aus, als das Wasser an dem verwesten Fleisch herunterlief.

„Igitt, ist das scheußlich!“ Jenny hatte sich vor Ekel abgewandt und hielt die Hände vors Gesicht. „Ich denk, ich geh hier nie wieder baden!“

Inzwischen hatte Christian den Kopf erneut versenkt und zog an dem anderen Strick. Auch in der Bunge hatte sich nichts verfangen, außer einigen wenigen kleinen Krebsen. „Wir missen irjendwas falsch jemacht haben.“ Er warf das Fanggerät wieder zurück ins Wasser.

„Ich jeh nu baden!“ Im Nu hatte Christian sich seine kurze Hose heruntergestreift und stand nackt vor seinen Freunden. Er trug keine Unterwäsche. Das war nichts für Kinder wie er, das war nur was für feine Leute … so wie Jan.

Jenny schaute neugierig zu, wie Jan sich seine weiße, gerippte Unterhose abstreifte. Dann zog auch sie sich aus. „Ich geh aber nich hier ins Wasser, niemals nich!“

Sie tobten alle drei über die Wiese zu der Stelle, wo immer die Pferde in den Fluss geführt wurden. Da war der Boden zwar durch die vielen Pferdehufe sumpfiger und das Wasser nicht so klar, aber das machte ihnen nichts aus. Ungezwungen tobten sie im Wasser herum. Dass sie alle drei nackt waren, störte keinen. Auch die Gänse fühlten sich im Wasser wohl. Von weitem sahen zwei Schwäne flussabwärts zu ihnen herüber. Einige Wildgänse flogen neugierig flach über das Gewässer hinweg. Ihre Flügel gaben einen pfeifenden, schwingenden Ton von sich.

Die drei Kinder sprangen mehrmals von einem mächtigen Baumstumpf aus in den Fluss, der hier eine größere Ausbuchtung hatte. Ihr fröhliches Lachen wurde über das Wasser ins Land getragen. Sie sahen nicht, dass jemand hinter dem Schilfstreifen stand und ihnen beim Baden zusah.

„Los, wir schwimmen um die Wette. Mal sehen, wer als erster an der alten Weide ist.“ Schon paddelten sie los.

Jenny war als letzte angekommen. Sie war enttäuscht. „Ich geh wieder raus.“

Die Jungs folgten ihr. Mit Mühe hatten sie schließlich die Gänse wieder an Land getrieben, denn von ferne zogen dunkle Wolken auf. Es sah nach Gewitter aus. Sie wussten, dass sie sich jetzt beeilen mussten.

„Junger Herr, das Essen ist anjerichtet!“ Günter, der junge Knecht, erschien plötzlich vor Jan.

„Ja, ich komme, danke!“

Bald standen Jan und Jenny in der Empfangsdiele. Warum musste Jan jetzt unbedingt in das herrschaftliche Speisezimmer gehen? Er wäre viel lieber bei Jenny, Hilde, Kossmann und den anderen, es gab doch so viel zu erzählen. Das Gesinde saß aber getrennt von den Herrschaften, das war eben so. Hilde trug das Essen auf. Sie zwinkerte Jan heimlich zu.

„Wir werden heute in der Nacht Zuwachs bekommen.“

Jan schaute interessiert auf seinen Vater, er würde so gerne mal mit dabei sein, wenn ein Fohlen geboren wurde, bisher hatte er es ihm nicht erlaubt. „Das wäre nichts für kleine Kinder!“, war stets die Begründung.

„Du hast morgen schulfrei, sprich das mit dem Stallmeister ab. Ich denke, du bist jetzt alt genug, mein Junge!“

Auch die Mutter war damit einverstanden. Jan hätte laut losjubeln können. Er nahm sich vor, sofort nach dem Essen zu Christian zu laufen, um ihm diese Neuigkeit zu sagen. Jan wusste, dass Christian schon oft bei den Geburten der Fohlen dabei war. Sein Vater hatte ihn häufig zum Helfen mitgenommen.

Das Abendessen dauerte viel zu lange. Jan konnte es kaum abwarten, die Neuigkeit seinem Freund zu erzählen. Schon stand er in der Küche neben Christians Stuhl.

„Christian, ich darf heute Nacht mit beim Fohlen zusehen!“

Der Freund konnte es nicht glauben und schaute seinen Vater fragend an, der dabei war, sich seine gebogene Pfeife zu stopfen. Der Vater nickte, es war mit dem Gutsherrn abgesprochen.

„Hoffentlich machste denn aber auch nich schlapp, Klejiner.“

Jan tat beleidigt. „Ich bin doch kein Baby mehr, was denkst du eigentlich?“

„Hast Jenny jesehen, wir wollen doch eijentlich Maikäfer fangen jehen, hast verjessen?“

Ja, jetzt sah Jan auch, dass Jenny fehlte. Ob sie schon an der großen Scheune auf sie wartete? Daran hatte Jan in der ganzen Aufregung nicht gedacht. Tatsächlich stand Jenny schon draußen auf dem Gutshof.

„Na, wo bleibt ihr denn? Ich hab gedacht, ihr kommt nich mehr.“

Die Jungs brauchten eine Zeit, um sie wieder auf Laune zu bringen. Schon hielten sie die langen Strauchwedel in den Händen. Immer, wenn sich Maikäfer mit ihrem leisen Brummen in ihre Nähe wagten, begannen sie wild nach ihnen zu schlagen. Manchmal war es nicht ganz einfach, die abgestürzten dunkelbraunen Käfer auch zu finden und sie einzusammeln.

Es war schließlich zu dunkel, um noch was zu erkennen. Die drei hatte sich Einweckgläser mitgenommen, die inzwischen schon über die Hälfte mit den krabbelnden Tieren gefüllt waren. Es wuselte in den Gefäßen herum.

„Kommt, wir bringen sie jleich rieber zu die Hiehnerchens“, schlug Christian vor. Jenny lief den Jungs voran.

Das Federvieh rannte zunächst erschrocken in eine Stallecke, als die Kinder plötzlich den Verschlag öffneten. Als aber die Kinder die Krabbeltiere einzeln in den Raum warfen, fielen die Hühner wie wild über die Käfer her, als hätten sie lange nichts zu fressen bekommen. Die drei sahen ihnen vergnügt zu. Christian war Sieger, er hatte die meisten Maikäfer gefangen, es waren genau siebenundvierzig. Jan hatte nur achtunddreißig und Jenny zählte zweiunddreißig.

„Jan, ich hol dich, wenn’s sowejit is, abjemacht?“ Christian schaute zu seinem Freund. Er war gespannt, ob der überhaupt durchhielt.

Jenny hatte das natürlich mitbekommen und wollte wissen, was die Jungs für ein Geheimnis hatten. Klar, sie wollte auch mit dabei sein, sie wollte ihre Mutter fragen.

Eigentlich sei das ja keine richtige „Wejibersache“, meinte Christian, willigte aber dann doch schließlich ein, als sie zu sehr bettelte. Jan war es egal.

Als Christian zu Jan ins Zimmer kam, war der junge Herr längst eingeschlafen und kämpfte im Traum mit mächtigen Aalen und einigen Seeungeheuern, die ständig durch seine Hände glitten und zurück ins Flusswasser fielen. Im Nu aber war er wieder hellwach, als Christian ihn an der Schulter rüttelte:

„Es is sowejit.“

Er zog sich seine lange Hose über, streifte die breiten Hosenträger über die Schultern und rannte hinter dem Freund in den Stall.

Jenny saß neben der Stute, weit genug entfernt, auf einem Strohballen. Sie hatte ihren langen Rock über die Knie gezogen und die Beine mit den Armen umschlungen. Es sah aus, als würde sie frieren. Christians Vater stand am hinteren Ende der Stute, neben ihm stand Günter, der Jungknecht. Auch Kossmann war mit dabei. Er breitete gerade einen Ballen Stroh unter dem Pferd aus. Ab und zu klopfte er beruhigend den Hals der Stute, die inzwischen leicht zu zittern begann. Immer stärker wurde in gleichmäßigen Abständen das Zittern. Die Abstände schienen immer kürzer zu werden.

„So, es jeht los!“ Die Männer hatten sich Gummihandschuhe übergezogen und warteten auf das Fohlen. Jan spürte sein Herz vor Aufregung bis hoch zum Hals klopfen.

Plötzlich kam aus dem Hinterteil der Stute etwas Weißes hervor, wie ein Luftballon aus Haut. Es wurde größer, zerplatzte plötzlich, und spritze eine Menge Wasser raus. Dann sah Jan zwei kleine Pferdehufe. Sie lagen ganz eng nebeneinander und schienen gegen einen Widerstand anzukämpfen.

„Er schafft’s nich allejine, schnell, wir missen helfen.“ Der Stallmeister hatte einen bereitgelegten Strick ergriffen, schlang ihn gekonnt um die beiden dünnen Vorderbeine des Fohlens und begann langsam am Strick zu ziehen. Die Stute gab merkwürdige Laute von sich. Nun griff auch der Jungknecht mit an den Strick. Langsam zogen sie das winzige Fohlen aus dem Leib der Stute heraus. Es klatschte auf den strohbelegten Boden. Sofort begannen die Männer den Schleim und einige Hautfetzen vom Neugeboren abzuwischen, und versuchten das Fohlen weiter vor zur Mutter zu legen. Die Stute schaute sich um, und tat, als hätte sie nichts mit dem Fohlen zu tun.

„Verflext, sie nimmt’s Hietscherchen nech an!“ Der Stallmeister schaute besorgt auf das kleine Lebewesen und wartete darauf, dass die Stute damit begann, es abzulecken. „Es ist auch zu klejin und zu schwach, das wird nichts mit ihm.“

Was bedeutete das jetzt? Jan schaute fragend von einem zum andern. Zuletzt blickte er zu Christian, der sich ja mit so was bereits auskannte.

„Zu schwach hejißt …“ Er sprach den Satz nicht gleich zu Ende. „Wahrschejinlich kommts nich durch“, setzte er neu an.

„Aber was heißt das nun?“ Jan sah, wie das Fohlen erfolglos versuchte, den Kopf anzuheben, es aber immer wieder offensichtlich nicht schaffte. Soviel hatte er jetzt begriffen, das Fohlen hatte wenige Überlebenschancen, wenn es nicht bald aufstand und zu trinken begann.

„Komm, bitte, steh doch auf!“ Jan schaute dem Neugeborenen in die großen, dunkelbraunen Augen, die ihn unverwandt anstarrten, als wenn es ihn anflehte, ihn jetzt ja nicht alleine zu lassen.

„Gut, wir warten also bis morjen, dann sehn wir wejiter. Wenn er dann nich steht, dann tun wir’s wech“, entschied schließlich Christians Vater.

„So, Kinderchens, es rejicht jetzt: jeht ins Bett!“ Der Stallmeister hatte ein Machtwort gesprochen.

„Ich möchte aber bleiben, bitte!“

Kossmann war zu Jan getreten und legte seinen starken Arm über die Schultern des Jungen. „Jungchen, so ist das Leben.“

„Was soll ich jetzt aber machen?“ Jan schaute ängstlich fragend den Altknecht an. „Kann man ihm nicht helfen?“

Kossmann schüttelte leicht mit dem Kopf. „Da muss er allejine durch, Jungchen!“

„Dann bleib ich hier. Ich lass es jetzt nicht alleine.“ Jan legte sich zu dem Fohlen und streichelte über das zitternde, feuchte Fell. Das Pferd schien sich tatsächlich zu beruhigen. Sanft legte sich die Müdigkeit schließlich erbarmend über den Jungen und das Fohlen.

Erschrocken sprang Jan am nächsten Morgen auf, als er neben sich das neugeborene Fohlen vermisste. Es mochte erst um fünf Uhr sein. Hatten sie es abgeholt? Jetzt sah der Junge auch, was ihn geweckt hatte. Der Stallmeister und Kossmann hatten die große Stalltür geöffnet und so ungewollt ein knarrendes Geräusch erzeugt. Jan war darüber aufgewacht.

„Na, wo is denn unser Sorjenkind?“

Es war nichts von dem Fohlen zu sehen. Doch plötzlich machte es sich bemerkbar. Es stand in einer Ecke des Stalls auf seinen dünnen, schwachen Beinen und schwankte noch leicht hin und her. Jan ging sofort langsam hin, um es nicht zu erschrecken, und umarmte es freudig. Er streichelte den langen schlanken Hals. Wie schön dieses Fohlen aussah. Es hatte eine gleichmäßige weiße Zeichnung an der Stirn, die sich von dem rotbraunen Fell scharf absetzte.

„Schön, dass du es geschafft hast. Ich bin dein Freund, schau mich nur an!“

Jan war aufgestanden und machte Kossmann Platz, der das Fohlen begutachten wollte.

„Na, unser Sorjenkind, hast wohl Hunger? Mechst was supen, nech?“

Das kleine schwache Fohlen hatte angefangen, an Kossmanns Finger zu saugen.

„Jan, jeh in die Kiche und hol für das Hietscherchen Milch.

Sofort begriff der Junge, was dies bedeutete. Er rannte in die Küche, wo Hilde bald eine Flasche Milch für das kleine Neugeborene bereitet hatte. Kossmann zeigte dem Jungen, wie er die Flasche halten musste.

Von diesem Tag an waren Junge und Tier unzertrennliche Freunde und es war Jans schönstes Geburtstagsgeschenk, als er zu seinem neunten Geburtstag das Pferd von seinem Vater geschenkt bekam. Er nannte es „Sorgenkind“, obwohl sein richtiger Name „Wolkenwirbel“ war, ausgesucht nach allen Regeln der Ahnenforschung. Wothan war der Vater, deshalb musste sein Name auch mit einem W beginnen.

Einige Jahre waren vergangen.

Jan hatte gerade seinen vierzehnten Geburtstag hinter sich.

„Mechst langsam erwachsen werden, ja?“ Kossmann grinste Jan unverhohlen an.

Mit Sorgen beobachtete Jan tatsächlich schon längst verschiedene Veränderungen an seinem Körper. Die ständig plötzlich aufkommende Erektion seines Gliedes, das unkontrollierte Umkippen der Stimme, die Haare, die in den Achselhöhlen und um den Penis herumwuchsen, das alles zeigte ihm, dass er nun nicht mehr aufhalten konnte, ein Mann zu werden. Aber wollte er das werden? War nicht die ungezwungene Kindheit viel schöner? Und überhaupt, hätte man ihn gefragt, er wäre viel lieber ein Mädchen, eine Frau, geworden. Die hatten es doch in vielen Dingen viel schöner, einfacher, und vor allem interessanter. Er dachte an Jenny. Erst neulich schaute er ihr zu, wie sie sich mit einem schwarzen Buntstift, den sie immer wieder mal mit der Zunge anfeuchtete, die Augenbrauen anmalte. Das gefiel ihm.

„Komm her, ich mach das auch mal bei dir.“

Jan hatte sich bereitwillig vor sie gesetzt und ließ Jenny einfach machen. Schließlich begann sie ihn zu kämmen. Seine hellblonden schulterlangen Haare, die er sonst zu einem gepflegten Pferdeschwanz zusammenband, sahen seidenweich aus. Schon begann sie dem Jungen Seitenzöpfe zu flechten.

„So, wart mal, jetzt musst du nur noch was anderes anziehn.“ Sie ging an ihren Kleiderschrank und brachte ein buntes Sommerkleid hervor. „Zieh das mal an!“

Jan genierte sich. War das jetzt nicht irgendwie albern? Was, wenn Jenny den andern Mädchen in der Schule erzählen würde, dass er Mädchenkleider anzog?

„Komm schon, ich möcht sehen, wie dir das steht.“ Sie streckte dem Jungen das Kleid entgegen.

Wenig später sah er sich selbst im Spiegel. Er war von sich begeistert. Da stand tatsächlich ein hübsches Mädchen vor ihm, in einem Sommerkleid, mit Zöpfen, die am Ende mit großen Schleifen eingeflochten waren. Immer wieder schnitt er Grimassen und betrachtete sich dabei von allen Seiten. Lustig sah das aus.

„Sorgenkind“ war inzwischen ein stattliches Reitpferd geworden, und auch Jan kannte sich in der Pferdeaufzucht schon erstaunlich gut aus. Der Gutsherr begann wider Erwarten auf seinen Sohn stolz zu sein.
Seine Bedenken, dass er viel zu weich für diesen Job sein könnte, schienen zu schwinden. Es war Kossmann, der Jan immer wieder zur Seite stand, wenn es irgendwelche Fragen oder Sorgen gab und der ihm auch zeigte, wie man einzelne Handgriffe auf dem Hof tat.