Gebrochene Flügel

von

Svenson Björglund

 

 

 

 

 

 

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

Part of Production House GmbH

E-mail: info@himmelstuermer.de

www.himmelstuermer.de

Foto: Mark-Andreas Schwieder, www.statua.de

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg

www.olafwelling.de

Originalausgabe, August 2007

E-book Ausgabe: Juli 2014

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

 

ISBN print: 978-3-934825-80-2

ISBN Epub: 978-3-86361-428-7

ISBN pdf: 978-3-86361-429-4

 

 

 

Dieses Buch widme ich meinem Freund Alexej und allen tapferen kleinen und großen Straßenkindern auf der ganzen Welt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort

 

Jeder Schwedentourist sollte Skansen kennen lernen, jenes Freilichtmuseum in Stockholm, das erste der Welt überhaupt, das bereits 1891 gegründet wurde und seitdem viele Besucher geheimnisvoll anlockt. Wir Schweden sind stolz auf Skansen. Es ist voll mit prallem Leben. Jedes Gebäude, ja jeder kleinste Gegenstand erzählt Geschichte und Geschichten. Ich verbringe hier oft meine freie Zeit.

Genau hier, an diesem denkwürdigen Ort, lernte ich auch Alexej kennen. Er kam direkt aus Deutschland, ohne Gepäck, aber mit einer riesigen Menge an Erlebnissen und Erfahrungen. Wir freundeten uns sehr schnell an und genossen die drei Tage, in denen er in unserem Haus zu Gast war. Hier erfuhr ich seine Geschichte, die ich dem werten Leser nicht vorenthalten möchte.

Man mag mir nachsehen, dass ich in meinen Ausführungen streckenweise sehr offen bin, fast schon anstößig in der Wortwahl. Dies ist aber nötig, um die Situation möglichst echt wiederzugeben und nichts zu beschönigen oder zu verharmlosen.

 

1.Kapitel

 

In dieses russische, gottverlassene Dorf, unweit von St. Petersburg, verirrte sich garantiert kein Fremder. Hier war noch alles im Urzustand, wie es bereits der unselige Bombenattentäter des Zaren Alexander des Zweiten, Ignatij Grinewizkij, nach seiner erfolgreichen Tat vor einhundertdreißig Jahren gesehen hatte. Die Hütten waren alt und verfallen, die Grundstücke ziemlich verkommen, nur die Schule und das Haus des Dorfsowjets waren noch in Ordnung und sogar ans Stromnetz angeschlossen. Wer aufs Klo musste, der ging über den Hof, wo hinter einem Bretterverschlag ein großer Eimer für die Fäkalien bereitstand, umgeben von riesigen Fliegenschwärmen. Es war immer schlimm, wenn vergessen wurde, ihn rechtzeitig zu entleeren.

Irgendwann kam das erste Telefon ins Dorf. Es hatte immer noch diesen großen Trichter und man musste laut schreien, um überhaupt verstanden zu werden. Alexej, der Sohn des Dorfsowjets Jewgeni Lenin Natschenko, wurde jedes Mal wach, wenn der Vater mit seinen Genossen in St. Petersburg oder Moskau telefonierte. Manchmal stritten sie dann auch, weil für Gladowskoje keine Gelder bereitgestellt wurden, um wenigstens die einzige Dorfstraße einigermaßen planiert zu bekommen. Jewgeni verstand es dann anschließend regelmäßig, den Dorfbewohnern klarzumachen, dass zuerst in Moskau, dort wo der Genosse Generalsekretär des Zentralkomitees wohnte, die Straßen gebaut werden mussten, und dass sie deshalb, um des Sieges des Kommunismus willen, auch mal warten sollten.

Oft kamen auch andere Leute aus dem Dorf zu ihnen, um ihre Angelegenheiten zu klären. Manchmal klang es wirklich so, als würden sie sich streiten, weil sie mit den Entscheidungen des Komsomol nicht einverstanden waren.

 

Anna war mit Jewgeni in dieses Dorf gekommen, um hier eine gute Parteiarbeit aufzubauen. Sie war noch jung und voller Tatendrang. Kein Ort im geliebten Mütterchen Russland sollte ohne den Segen der Partei bleiben, auch Gladowskoje nicht. Sie würde an der Seite ihres Mannes dafür sorgen, dass auch in diesem Kaff der Kommunismus seinen Sieg behielt. Sie war damals nicht gerne hierher gekommen. Jewgeni hatte sie schließlich von der Notwendigkeit überzeugt. Doch das war lange her, nun war Jewgeni weg.

Gerade hatte sie die gestrige Zeitung gelesen, als der Postbote Ivan Sergejowic an die ungestrichene, rohe Holztür pochte, die nur leicht angelehnt war und unter dem Druck der starken Hände sofort nachgab.

„Mütterchen, ich hab hier einen Brief, einen wichtigen Brief für deinen Sohn Alexej Konstantin.“

Er hielt den Brief wie ein Herold aus der Antike in der Hand und gab ihn ihr mit dem Nachtrag: „Aus Deutschland ist der, aus Deutschland!“ Er schaute dabei die Frau ernst und gewichtig an, die in früheren Zeiten niemals einen Brief oder irgendetwas anderes aus dem verhassten Feindesland in die Hand genommen hätte. Zu sehr lag die Vergangenheit, die sie selbst gottlob nicht hatte miterleben müssen, aber die durch die Schulungen immer wieder gegenwärtig gehalten wurde, noch in ihrem Kopf.

„Wo ist es denn überhaupt, dein Söhnchen? Ich darf ihm diesen Brief nur persönlich übergeben. Sieh hier, hier steht es.“

Obwohl der alte Ivan die Stempel mit den ungewöhnlichen Buchstaben überhaupt nicht entziffern konnte, zeigte er mit seinem dicken Zeigefinger auf den Abdruck.

„´Nur persönlich überreichen´, steht da geschrieben“, erklärte er mit einem echten Amtston in der vom vielen Wodka angerauten Stimme.

Anna schaute sich den Umschlag an und konnte mit Mühe „Express!“ entziffern, obwohl sie dieses Wort auch nicht verstand.

„Schau, Väterchen, ich schreib hier meinen Namen drauf und dann ist es so, als würdest du ihn meinem Sohn persönlich überreichen“, schlug sie vor.

Sie schrieb mit großen Buchstaben ihren Namen auf den Umschlag und steckte ihn zwischen ihre Bluse und ihren mächtigen Busen. Ivan Sergejowic war zufrieden. Ja, so hatte alles seine Ordnung, auch wenn er das jetzt nicht so richtig verstanden hatte.

 

Als Anna Natschenkowa den Brief aus dem fernen Deutschland wieder in den Händen hielt, begannen ihre Hände zu zittern. Sie hielt ihn lange unter die für ihre füllige Figur viel zu kleine Nase, umso vielleicht etwas vom geheimnisvollen Inhalt zu erspüren. Ihn aufzumachen traute sie sich nicht. Das Papier roch nach Gefahr, nach unermesslichem Verlust, nach drohender Einsamkeit.

Die Zeit damals vor ihrer Trennung von Jewgeni war sorgenlos und schön gewesen. Sie brauchte auf nichts zu verzichten. Sie war die Frau des Dorfsowjets, das öffnete jede Tür und alle wirtschaftlichen Tore. Die Dorfbewohner erhofften sich Vorteile, wenn sie Gemüse, Obst, Eier und auch Geflügel zu ihrem Dorfvorsteher ins Haus brachten.

Wie oft waren Anna und Jewgeni in ihren besten Zeiten nach St. Petersburg gefahren, hatten sich die wunderbaren, traditionsreichen Gebäude angeschaut, zu der Zeit, als noch die Genossen das Land mit eiserner Hand zusammenhielten, und den Revolutionsplatz, den sie ja später in den Troitskaja-Platz umbenannt hatten, ein Unsinn, den Anna wohl niemals begreifen würde, sowie den ruhmvollen Kreuzer Aurora, auf dem im Februar 1917 erstmals die rote Fahne gehisst und am Abend des 7. Oktober der Blindschuss abgefeuert wurde der den Start für die Eroberung des Winterpalais gab.

Ihr Jewgeni hatte es ausgezeichnet verstanden, die alte Geschichte wieder in ihr hochkommen zu lassen, die sie ja bis ins Detail von der Schule her kannte.

Jetzt war sie zweiundvierzig. Was hatte sich inzwischen nicht alles verändert! Aus Petrograd wurde Leningrad, dann kamen diese Unseligen mit den neuen Begriffen wie Glasnost und Perestroika, als wenn die Leute nicht auch vorher glücklich gewesen wären. Sie war es jedenfalls, sie und auch ihr Alexej. Wie sehr sehnte sie die alte Zeit wieder zurück, die aber nie zurückkommen würde, das wusste sie nur zu gut.

Ihr Jewgeni konnte nach dem Zerfall des Mütterchen Russland nicht schnell genug das Dorf verlassen und sich mit anderen Weibern in St. Petersburg und Weiss-Gott-nicht-wo herumtreiben. Einen Puff soll er aufgemacht haben, ein richtiges Freudenhaus. Soll er nur! Sie kam mit Alexej durch, auch ohne ihn.

In Anna kam erneut der ganze Zorn auf Jewgeni hoch. In ihrem Kopf kurvten wieder, zum tausendsten Mal, die schwermütigsten Gedanken herum. Wie oft hatten sie ihr schon den Schlaf geraubt und sie zur Flasche greifen lassen. Ja, sie hatte angefangen zu trinken, wer wollte es ihr auch verdenken?

Wieder schaute sie auf den Brief in ihrer immer noch zitternden Hand. Sie sollte ihn wegwerfen, sollte ihn einfach vernichten, vielleicht sogar verbrennen. Alexej würde es nicht merken.

Sie drehte das Kuvert um und suchte vergeblich einen Absender. Dann begann sie den Poststempel zu entziffern. Es waren Zahlen und einige Kürzel. Den Rest konnte sie nicht lesen, obwohl er deutlich genug auf das Papier gedruckt war. Die lateinischen Buchstaben, für sie ungewohnt, waren sehr klein. Ihre Augen ließen das Bild vor ihr immer wieder verschwimmen. Oder lag es daran, dass ihr Alkoholpegel vom vielen Wodka wieder recht hoch war?

Anna war ratlos. Sie wusste, dass Alexej schon früher versucht hatte, nach Deutschland auszuwandern. Schon als Junge träumte er von westlichen Ländern. Was hatte sie nicht alles versucht, ihm das auszureden. Was wäre auch aus ihnen geworden, wenn jemand etwas von diesen geheimen Wünschen des Sprösslings mitbekommen hätte, damals? Immerhin sah sie den Kampf gegen den Klassenfeind im Westen als ihre Lebensaufgabe an, das war sie ihrem Genossen Lenin und seiner Ideologie schuldig, ihm, der nichts anderes kannte als die Durchsetzung des Kommunismus. Wie konnte ihr einziger Sohn nur immer wieder ausbrechen wollen? Für Alexej war der Westen der absolute Inbegriff maßlosen Reichtums, grenzenloser Freiheit, einer erstrebenswerten Zukunft. So ein Unsinn!

Hoffnung auf eine solche Zukunft hatten die anderen zweiundsechzig Einwohner des kleinen Ortes Gladowskoje im abgeschiedenen Russland schon lange nicht mehr, das wusste Anna Natschenkowa inzwischen auch. Sie brauchte ja nur in ihre von der Zeit und von Wind und Wetter geprägten Gesichter zu blicken. Spätestens als Jewgeni, dem alle zutiefst vertraut hatten, sie so schmählich verraten und verlassen hatte, war alle Hoffnung dahin. Und sie, Anna Natschenkowa und ihr Alexej, mussten alles ausbaden.

Früher waren sie im Dorf eine eingeschworene Gemeinschaft unter Leitung ihres Genossen Jewgeni Natschenko. Klar, als Jewgeni nach der unseligen Perestroika sie quasi über Nacht verlassen hatte, waren sie zunächst alle geschockt und für lange Zeit in ihrem Denken gelähmt. Den meisten klangen noch die Reden am 9. Mai zum „Tag des Sieges“ in den Ohren, wo er den Klassenfeind so wunderbar bildlich darzustellen vermocht hatte und auch die Grausamkeiten, die ihnen in ihrem Mütterchen Russland erspart blieben dank der Genossen in Moskau, die alles taten, um sie vor diesem Abschaum der Menschheit zu bewahren. Selbst die uralten Veteranen in ihren ordenbehängten Uniformjacken nickten ihm damals bei jedem Satz zufrieden zustimmend zu.

Nun war er selbst zu einem Teil des Klassenfeindes geworden. Wie sollte man das auch verstehen? Anna wurde wieder erregter. Sie begann laut vor sich hinzuschimpfen.

„Schuld waren doch nur diese Konterrevolutionäre: dieser Chruschtschow, Gorbatschow und jetzt dieser Putin.“ Anna hatte sich so in Wut geredet, dass sie wieder den Drang verspürte, erst einmal einen Schluck aus der noch halb gefüllten Wodkaflasche zu nehmen.

„Warum hat nicht alles so bleiben können, wie es war, warum nur?“

 

Alexej war mit seinen Freunden wie fast jeden Nachmittag auf dem Bolzplatz, gleich hinter dem Clubhaus. Viele Freunde hatte er nicht. Eigentlich hatte er nur einen richtigen Freund, Iljuschka, ein groß gewachsener, blond gelockter Junge, der nun schon ewig lange mit seinem Stimmbruch zu tun hatte. Wenn er etwas sagte, überschlug sich seine Stimme in verschiedene Tonhöhen, was natürlich vor allem die Mädchen zu albernen Lachsalven veranlasste.

Iljuschka war der einzige, der auch nach dem Weggang von Jewgeni Lenin Natschenko noch zu Alexej stand.

Die beiden Jungs mochten sich. Irgendwann, Alexej konnte sich nicht mehr an den genauen Zeitpunkt erinnern, aber an die Tatsache erinnerte er sich sehr gerne, hatten sie sich Blutsbrüderschaft geschworen. Sie hatten sich nach dem Schwur mit erhobener Hand eine schwarze Nacktschnecke, die die alten Frauen des Dorfes auch zum Wegmachen von Warzen verwendeten, über ihre nackte Brust kriechen lassen. Sie hatte unsichtbar die Herzen der beiden Jungs miteinander verbunden, mit ihrem glitschigen Schleim verschweißt sozusagen, auf immer und ewig. Und wenn sie wie jetzt miteinander Fußball spielten, dann waren sie immer in derselben Mannschaft, das war gar nicht anders denkbar.

Alexej war immer noch außerordentlich fasziniert von den Fernsehübertragungen der Fußballweltmeisterschaft, die er mit seinen Kumpels gemeinsam im Dorfclubhaus, dem einzigen Raum mit einem Fernseher, angeschaut hatte. Ein riesig leuchtender roter Stern, wie auf dem Kreml im fernen und doch von den Genossen so sehr geliebten Moskau, nur etwas kleiner, viel kleiner sogar, zeigte die Wichtigkeit des Gebäudes.

Der Saal war an jedem Abend übervoll. Den Jungs wurde hier eine Welt präsentiert, die ihnen wie das reinste Schlaraffenland vorkam. Die Leute, die sie dort auf dem kleinen Bildschirm zu sehen bekamen, trugen ganz andere Klamotten als sie. Sie hatten auch nicht die Frisur, die ihnen hier im Dorf der bärtige Kolja, wenn er denn mal Zeit hatte und nicht gerade zum Schlachten oder Schafescheren oder anderen Einsätzen im Dorf unterwegs war, in regelmäßigen Abständen verpasste. Oft war er dabei so besoffen, dass die Jungs um ihre abstehenden Ohren bangten. Es war eine einfache Frisur, die von allen Jungs getragen wurde, egal, ob sie sechs oder sechzehn waren.

 

Wieder kam der Fußball angeflogen. Alexej, der im Tor stand, konnte ihn gerade noch abwehren und bekam reichlich Anerkennung von seinen drei Mannschaftsmitgliedern, besonders von seinem Freund Iljuschka. Sie waren nur zu siebt. In seiner Mannschaft spielte auch noch der kleine Kostja mit, aber der verstand überhaupt nichts, der hatte keine Ahnung von Fußball und auch sonst verstand er nichts. Die Großen erzählten, dass er es im Kopf hätte, weil seine Mutter zu viel Schnaps zu sich genommen habe, als Kostja „unterwegs“ war. Manche sprachen auch von Inzucht, ein Wort, das die Jungs nicht verstanden.

Die Jungs kamen gut mit Kostja zurecht, auch wenn er niemals das machte, was sie wollten. Er war eben anders als sie, basta. Zur Schule ins Nachbardorf brauchte er auch nicht zu gehen, obwohl er schon vierzehn war, vielleicht war er ja auch froh darüber. Sicher war er das. Alexej wäre jedenfalls froh.

Sergei hatte mit voller Wucht in Richtung Tor geschossen und dabei Alexej so unglücklich erwischt, dass er den Ball voll in die Magengegend bekam. Er bäumte sich auf und fiel im nächsten Moment zusammen wie ein Luftballon, aus dem die Luft ausströmte. Schmerzverzerrt hielt er sich den Bauch. Mann, das war doch kein Fußballspiel, das war doch nur noch Klotzen. Alexej hatte keine Lust mehr. Sollten die doch allein weiterspielen. Er hatte die Schnauze gestrichen voll. Immer noch hielt er seinen Bauch, ihm war kotzübel.

„Du kannst doch jetzt nicht abhauen?“

Sie schauten Alexej fragend an, als der sein graues Unterhemd, das als Begrenzungsmarke auf dem Rasen lag, an sich nahm.

„Doch, kann ich sehr wohl. Wollt ihr es sehen?“

„Ja, klar, machst es wie dein Alter: Wenn’s brenzlig wird, hauste ab.“

Alexej verspürte wieder die Wut in sich hochsteigen, die er schon seit langem in sich trug. Was konnte er dafür, wenn seine Alten Mist bauten? Was würde er darum geben, aus diesem gottverdammten Kaff entfliehen zu können. Er ertrug diesen Dorfmief immer weniger. Waren die hier wirklich alle so bescheuert? Erst kürzlich hatte es diese Sache mit Ivan gegeben. Sie hatten auch ihn fortgeekelt. Kaum jemand wusste so richtig, was genau gewesen war, und die es wussten, die schwiegen darüber. Die Jungen grinsten, wenn das Gespräch im Dorf wieder mal auf Ivan kam, und die Alten schlugen nach altorthodoxer Weise das Kreuz, um das Böse nicht an sich herankommen zu lassen. Denn es konnte nur der Böse persönlich gewesen sein, der es fertig gebracht hatten, den guten Ivan, den eigentlich alle sehr mochten, von seiner jungen Frau Ludmila weg zu einem Mann zu verführen. So jedenfalls sagten es die alten Dorfmütterchen, und die kannten sich am besten in den heiligen Dingen aus. Tatsächlich hatte sich der junge, schlanke Ivan in den neuen Dorfschullehrer verknallt. Er suchte jede Gelegenheit, um in seine Nähe zu kommen. Ivans Frau zeterte jedes Mal, wenn er sich an der Dorfschule herumdrückte. Manchmal sah man die beiden Männer auch in der alten Dorfkneipe ganz hinten in einer halbdunklen Ecke sitzen, wenn sie sich einen Wodka genehmigten. Was sie allerdings dazu trieb, sich splitterfasernackt auf dem Heuboden ins duftende Heu zu legen und ihre Körper gegenseitig zu streicheln, blieb zumindest den Alten ein Rätsel. Ivan sprach von Liebe, und er meinte auf keinen Fall seine Ludmila, die seine Eltern für ihn als Eheweib ausgesucht hatten.

Ausgerechnet der Postbote Ivan Sergejowic hatte die beiden da oben entdeckt, und er war es auch, der dafür gesorgt hatte, dass der Dorfschullehrer schon eine Woche später das Dorf wieder verlassen musste. Ivan war mit ihm gezogen. Für die Kinder war das okay, sie hatten notgedrungen Ferien. Bei vielen jungen Erwachsenen aber waren Zweifel entstanden, ob dies alles so auch richtig war. Warum sollten die zwei sich nicht lieben?

 

Alexej nahm sein Unterhemd und schwang sich auf das Fahrrad. Es klapperte mächtig, als er die Dorfstraße entlang fuhr und erfolglos versuchte, den Schlaglöchern auszuweichen, in denen sich das Regenwasser angesammelt hatte. Einige Hühner sprangen aufgeregt gackernd zur Seite, als er bedrohlich nahe an sie heranfuhr.

Wenig später schob er das Rad unter den windschiefen Verschlag neben dem Haus. Sie sollten sich mal aus dem Dorfmagazin die Zuteilung an Nägeln besorgen, damit sie die losen Bretter wieder festnageln konnten. Er öffnete die Küchentür und betrat den Raum, der ihnen beiden neben dem Kochen außerdem als Schlaf- und Wohnraum diente, denn im angrenzenden Zimmer, das eigentlich für Wohnzwecke gedacht war, regnete es durch die Decke. Deshalb standen dort zwei Ziegen und eine Handvoll Hühner, die nur spärlich Eier produzierten. Sie hatten sich, warum auch immer, ihre Federn selbst herausgezupft und liefen teilweise wie Frischfleisch umher. Sie sollten sie in den Kochtopf tun.

„Kommst du endlich nach Hause, ja? Es wird ja auch Zeit.“

Alexej merkte sofort, dass die Mutter wieder zu viel getrunken hatte. Er ging zum Küchentisch und warf die leere Wodkaflasche wütend durch die noch offene Tür.

„Was soll das? Du weißt genau, dass es uns beide ruiniert. Reicht es nicht, was Vater uns angetan hat? Musst du jetzt auch noch alles andere kaputt machen, ja?“ Alexej war ratlos, er hätte losheulen können.

„Du machst uns völlig fertig. Du bist keine Mutter. Du bist eine Versagerin! Ich hab die Schnauze gestrichen voll, ich hau ab, irgendwohin. Sieh du doch zu, wie du klar kommst.“

„Das kannst du doch nicht machen, Alexej, mein Söhnchen, mein Alles!“

„Klar, und wie ich das kann.“ Wie oft hatte Alexej gehofft, dass die Mutter mit dem Trinken aufhören würde. Wie oft auch hatte sie es ihm unter Schwur versprochen. Er hatte ihr jedes Mal geglaubt. Und immer wieder gab es diese Enttäuschungen. Nein, er hielt es nicht mehr lange aus. Doch was sollte er machen?

Er ging entschlossen an die alte Holzkommode und entnahm ihr seinen Pass, der immer dort bereit lag für den Fall, dass er sich plötzlich ausweisen musste, was in letzter Zeit häufig vorkam. Er wollte ihr zeigen, dass er es ernst meinte. Er steckte ihn sich in die Hosentasche und rannte hinaus auf den Hof, damit die Mutter nicht seine Tränen sah. Sie schaute ihm mit verschwommenem Blick nach.

„Was soll ich denn machen? Hilf mir doch! Ich bin doch auch verzweifelt.“

Alexej hatte es nicht mehr gehört. Er jagte mit seinem Fahrrad durch den angrenzenden Wald. Hier kannte er jeden Weg und jeden Stein, der sich auf diesem Weg befand. Erschrocken flatterten einige Vögel hoch, die nicht auf solche Ruhestörer eingestellt waren.

 

Als Alexej sich nach Stunden beruhigt hatte und langsam das Rad zurück über die Dorfstraße schob, waren noch erstaunlich viele Dorfbewohner unterwegs. Es musste schon fast Mitternacht sein. Die Straße und die alten Häuser lagen im Halbdunkel. Einige Alte, die vor den Häusern miteinander aufgeregt diskutierten, verschwanden plötzlich, als sie Alexej kommen sahen. Was war denn jetzt los? Sonst war um diese Zeit total tote Hose im Dorf.

Von einer unguten Ahnung getrieben, schwang er sich aufs Rad und fuhr so schnell er konnte seinem Haus entgegen. Die Küchentür stand weit offen. Eine Kerze stand auf dem Küchentisch. Einige Nachbarn standen vor dem Haus. Einer von ihnen trat auf Alexej zu, um ihn am Eintreten zu hindern. Der Junge riss sich los, stürmte in den Raum und sah seine Mutter neben einem riesigen dunklen Fleck auf dem Boden liegen. Nicht weit entfernt lag das große Küchenmesser, das sie immer unter Verschluss gehalten hatte, weil es besonders scharf war. Jewgeni hatte es aus Moskau als Souvenir mitgebracht.

Alexej schnürte es den Hals zusammen. Er brachte kein Wort heraus. Um ihn herum begann die Welt sich wie eine wilde Spirale zu drehen. Nur von fern vernahm er Stimmen. Was wollten die jetzt nur alle von ihm? Die Mutter war das Letzte, was ihm noch geblieben war. Merkwürdigerweise konnte er nicht weinen.

Er rannte wieder aus dem Haus und lief in die Nacht. Erst jetzt, als er ganz alleine in der Einsamkeit war, schrie er laut und weinte bitterlich. Er hatte seine Mutter umgebracht. Ja, er war schuld, dass seine Mutter sich das Leben genommen hatte, er ganz allein, niemand sonst. Er hätte Verständnis für ihre Not haben müssen. Ja, er hätte bei ihr sein müssen, dort bleiben müssen, als es ihr so schlecht ging. Er war schuld, er ganz alleine!

Immer noch rannte er durch den Wald, obwohl ihn seine Beine fast nicht mehr zu tragen vermochten. Er stolperte immer wieder und fing sich doch. Schließlich brach er kraftlos zusammen. Er krallte beide Hände in das Moos und schluchzte all seine Trauer und Verzweiflung laut heraus.

Jetzt war er allein, mutterseelenallein. Was sollte er noch auf dieser Welt? Er warf sich auf den Rücken und streckte alle Viere von sich. Vielleicht kam ja ein wildes Tier, es sollte hier ja Wölfe und Bären geben, dann hätte er es geschafft. Sollten sie nur kommen. Er war bereit, er würde sich auch nicht wehren, nicht nach Hilfe schreien. Langsam schlief er ein.

 

Die Sonne blinzelte durch die hohen Nadelbäume und schickte ihre wärmenden Strahlen auf die Erde. Erst langsam wurde Alexej klar, was da gestern passiert war. Die Mutter hatte sich seinetwegen umgebracht. Wie sollte es denn jetzt weitergehen? Zurück ins Haus, wo er seine Mutter in ihrem eigenen Blut hatte liegen sehen, das wollte er um keinen Preis. Zu seinem Vater gehen, der ihn so schmählich verlassen hatte? Nein, auch das kam nicht in Frage. Er war jetzt fast achtzehn, er würde allein durchkommen.

 

 

2. Kapitel

 

Wie lange war er schon durch den Wald geirrt, ohne zu wissen, wo er sich inzwischen überhaupt befand? Wie einsam die Gegend plötzlich war. Alexej verspürte Hunger, entsetzlichen Hunger. Wo sollte er nur hingehen? Ziellos lief er über die endlosen Waldwege, die sich alle erbarmungslos ähnelten. Wenn es Abend wurde, suchte er sich an den Wurzeln der wohl tausendjährigen Eichen einen Platz zum Schlafen, um dann nach dem Erwachen am nächsten Tag weiterzuziehen. Wie viele Tage und Nächte war er so schon unterwegs? Er wusste es nicht. Nirgends traf er auf einen Menschen. Völlig ermattet sackte er am Wegrand zusammen. Schlafen, er wollte nur noch schlafen.

 

Als Alexej wieder wach wurde, lag er auf einem Pferdewagen. Durch das Rütteln war er aus dem tiefen Schlaf zurückgekehrt. Er schaute sich vorsichtig um. Zunächst sah er nur zwei prall gefüllte Leinensäcke vor sich. Daneben standen zwei Kisten, in denen einige weiße Hühner unruhig hin und her liefen. Dann stand da noch ein Korb mit kleinen Kohlrüben. Alexej traute sich nicht, sich zu rühren. Sein Kopf arbeitete dafür umso mehr. Wo war er? Was war inzwischen passiert?

Auf dem Kutschbock saß ein Typ mit einem enorm breiten Hintern in einer dreckigen, geflickten Hose. Alexej konnte es nur undeutlich erkennen. Der Mann mochte um die vierzig sein. Er knallte mit der Peitsche über die Rücken der Pferde, um sie in einen Galopp zu bringen. Der Wagen rüttelte und schaukelte noch mehr, und dies brachte die Leinensäcke bedrohlich in Alexejs Nähe. Was, wenn diese umkippten? Der Junge kroch ein wenig zu Seite. Der Fremde musste es bemerkt haben.

„Na, wieder unter den Lebenden?“

Alexej verstand nicht. Wo war er hier überhaupt? Er schaute sich ängstlich um.

„Na los, komm her, kannst dich zu mir setzen.“

Alexej hatte wahnsinnigen Hunger. Es war ihm nicht nach Kutschfahrt. Langsam griff er zu den Kohlrüben hinüber und biss in eine harte Frucht. Der Fremde schaute ihm breit grinsend zu.

„Hast wohl Hunger?“

Für Alexej war diese Frage blanker Hohn. Klar hatte er Hunger, und wie er Hunger hatte!

 

Der Pferdewagen fuhr in einen verwahrlosten Hof ein. Es hätte auch durchaus in Gladowskoje sein können. Nein, Alexej kannte hier niemanden, das hier war nicht sein Dorf. Er versuchte aufzustehen und brach wieder zusammen. Erst beim zweiten Versuch blieb er auf den Beinen stehen. Sein ganzer Körper zitterte.

„Komm mit in die Küche, dass du was zwischen die Zähne kriegst.“

Der Fremde hatte nicht weiter auf Alexej gewartet, der eigentlich viel zu schwach war, um alleine abzusteigen. Er ließ sich einfach mit einem leisen Schmerzschrei vom Wagen rutschen. Dann richtete er sich auf und torkelte zum Haus hinüber.

Als er in die Küche trat, saß der Fremde bereits am Tisch und ließ sich von seiner Frau bedienen. Alexej sah nur den verrußten Blechtopf auf dem massiven Tisch stehen und den großen Holzlöffel daneben liegen. Ohne zu fragen ergriff er ihn und begann aus dem Topf zu löffeln. Er traute sich nicht, die andern am Tisch anzusehen.

„Na, du haust ja ganz schön rein!“ War das jetzt Anerkennung oder Kritik? Egal. Der Fremde hatte aufgehört zu essen und beobachtete neugierig seinen Findling.

„Den hab ich in der Försterlichtung gefunden. Hat geschlafen. Weiß auch nicht, was los ist. Kann uns ja helfen.“

Ob der immer so abgehackt sprach? Der Junge tat, als hätte er nicht zugehört.

Seine Frau schaute zu Alexej hinüber.

„Das ist doch noch fast ein Kind. Was sucht der hier im Wald? Sei vorsichtig, Ivan, du weißt nicht, was du dir da ins Haus holst. Sollte der aus dem Jugendlager sein, dann kriegste Ärger. Du musst das melden.“

„Unsinn, Weib, den behalten wir erstmal. Kann uns helfen. Melden können wir ihn immer noch.“

Der Fremde legte den Löffel zur Seite und ließ einen kräftigen Rülpser von sich. Alexej fuhr erschrocken zusammen, das kannte er von zu Hause nicht.

„Leg dich erst mal hin und ruh dich aus, Söhnchen“, wandte sich die Bäuerin an Alexej. „Ich zeig dir gleich mal deinen Platz.“

Dem Jungen taten diese freundlichen Worte unwahrscheinlich gut. Er ging hinter der wohlbeleibten Bäuerin her und legte sich sofort auf die Strohmatratze, die in dem Zimmer gleich neben der Küche lag. Im Nu war er eingeschlafen.

Ein ungewöhnliches Geräusch hatte Alexej aus dem Schlaf gerissen. Er konnte dieses Stöhnen und Keuchen nicht einordnen. Er bewegte sich nicht und lauschte angestrengt auf die ihm fremden Laute. Langsam wandte er seinen Kopf zur Seite und sah im Mondlicht den Bauern beim Beischlaf mit seiner Frau. Sie hatte sich auf den Rücken gelegt und die Beine weit auseinander gespreizt. Der Typ lag dazwischen und hob und senkte seinen Unterleib. Immer wenn er ganz tief unten war, stöhnte die Frau laut auf. Wie ein Uhrwerk stieß er in sie ein. Der Junge traute sich nicht, sich zu bewegen. Sollten sie doch glauben, dass er schlief. Die Geräusche wurden immer lauter. Nun begann auch der Bauer zu schnaufen, als würde er Schwerstarbeit verrichten. Plötzlich war es auf einen Schlag still. Man hörte nur noch tiefes Atmen. Dann rollte sich der Bauer vom fülligen Leib seiner Frau herunter, drehte sich auf die Seite und war im Nu eingeschlafen. Alexej lag noch lange wach. Ob seine Eltern das auch so mechanisch und ohne jegliches Schmusen gemacht hatten? Er konnte es sich nicht vorstellen.

 

Der nächste Morgen begann schon ganz früh. Kaum, dass die Sonne sich neugierig am Horizont hervorgewagt hatte, stand der Bauer in der Küche und rief nach Alexej. Es ging in den Wald.

„Kannst bleiben. Kost und Logis hast du frei, wenn du was leistest. Ansonsten kannste wieder verschwinden, klar? Wer hier was zu essen haben will, muss auch was dafür tun. Das ist nun mal so.“

„Klar!“ Alexej wagte nicht zu widersprechen. Er nahm die schwere Axt, die ihm der Bauer hingehalten hatte, und legte sie sich über die Schulter.

Bald waren sie in der Schonung. Der Förster hatte die abzuholzenden Bäume gekennzeichnet. So weit Alexej sehen konnte, waren die Bäume mit einem weißen Ring markiert. Es gab also genug zu tun. Mit einem tiefen Seufzer nahm der Junge dies zur Kenntnis.

Der Bauer hatte am ersten Baum mit Wucht eine Kerbe in das nasse Holz geschlagen und setzte die lange Schrotsäge an. Alexej kam damit überhaupt nicht klar. Immer wieder schob er das Sägeblatt nach, sodass es sich in sich bog, und jedes Mal kam umgehend die Kritik: „Ziehen sollst du, nicht schieben, ziehen! Kapierst du das denn nicht?“ Gleichmäßig fraß sich das Sägeblatt in das Holz. Es dauerte lange, viel zu lange, bis der Baum krachend zu Boden fiel. Wie viele Bäume mussten noch gefällt werden? Alexej wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war diese schwere Arbeit überhaupt nicht gewohnt, und es begannen ihm schon jetzt alle Glieder zu schmerzen. Nein, lange würde er dies nicht durchhalten. An den Innenseiten seiner Hände bildeten sich bereits Wasserblasen, die höllisch zu brennen anfingen. Und wieder ermahnte ihn der Bauer.

„Mann, schlaf nicht ein, musst was tun, wenn du bei uns bleiben willst.“

Langsam zweifelte Alexej daran, ob er das auch wirklich selber wollte. Nein, er würde bei der erstbesten Gelegenheit abhauen. Aus einem Gespräch zwischen den beiden hatte er herausgehört, dass St. Petersburg nicht mehr weit entfernt sein konnte. Der Bauer fuhr dort regelmäßig auf den Markt, um frisches Gemüse zu verkaufen. Alexej nahm sich vor, in der kommenden Nacht zu türmen.

 

Er hatte sich seine wenigen Sachen in die Tasche gesteckt und wartete darauf, dass die beiden gleichmäßig und tief im Schlaf atmeten. Nur gut, dass sie nicht jede Nacht miteinander Sex hatten, sonst hätte es ganz sicher eine lange Nacht werden können.

Draußen hörte Alexej einen Uhu schreien. Er kannte diese Laute nur zu gut. Mit Iljuschka hatte er manchmal versucht, diese Laute nachzumachen. Es gelang ihnen auch ganz gut. Die Vögel jedenfalls hatten bald auf ihre Rufe geantwortet.

Langsam warf Alexej die stinkende Wolldecke zur Seite, die ihn beim Schlafen in der Nacht warmhalten sollte, und versuchte, möglichst geräuschlos aufzustehen. Das Stroh raschelte in der Unterlage. Der Bauer bewegte sich kurz und drehte sich auf die andere Seite. Bald hörte der Junge wieder das gleichmäßige tiefe Atmen. Er fand sich bereits gut in der Wohnung zurecht, so dass er an keinen Gegenstand stieß. In der Küche schaute er sich noch rasch nach etwas Essbarem um. Ein angeschnittener Laib Brot und ein halber Schinken lagen noch vom Abendessen auf dem Küchentisch. Alexej packte beides schnell in einen Rucksack, den er gleich neben der Tür an einem Nagel hängen sah, und schlich sich lautlos aus dem Haus. Für einen kurzen Augenblick blieb er an der Tür stehen und atmete die kalte Nachtluft in seine Lungenflügel hinein. Er musste sich beeilen, damit er weit genug vom Hof wegkam, bevor die beiden aufstanden und seine Abwesenheit bemerkten.

 

War er wirklich den ganzen Tag durchgewandert? Schon wieder ging die Sonne blutrot am Horizont unter. Alexej wusste nicht, wie weit der Weg war, den er zurückgelegt hatte. Es war ihm auch egal, Hauptsache, er kam bald in St. Petersburg an. Von dieser Stadt hatte er viel gehört. Seine Eltern hatten ihm, als sie noch eine heile Familie waren, viel von dieser Zarenstadt erzählt, von der ersten Hütte, dem „Domik“, die in nur drei Tagen für Peter den Großen am Ufer der Newa errichtet worden war, als in dieser Stadt noch der Amtssitz der russischen Regierung war, bevor man dann nach Moskau ging. Und immer wieder schwärmten sie von dem wunderschönen Winterpalast.

Der Gedanke an seine Eltern machte den Jungen traurig. Warum nur musste alles so kommen? Und immer wieder sah er seine Mutter dort in der Küche liegen, umgeben von ihrem eigenen Blut. Hätte er sich um sie kümmern müssen, hätte er ihr wenigstens die letzte Ehre erweisen müssen? Alexej spürte wieder die Tränen, die sich langsam in seine Augen drängten.