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Für Walter Kuhn,

der nur im Kopf tanzen konnte

8

Ich bin müde vom Seufzen,

ich schwemme mein Bett die ganze Nacht

und netze mit meinen Tränen das Lager.

Mein Auge ist trüb geworden vor Gram

und matt, weil meine Bedränger so viele sind.

(Psalm 6)

Montag

Das Klingeln an der Haustür weckte mich.

Verdammt, schoss es mir durch den Kopf, konnte Ellis Vater nicht einfach aufschließen und in die Wohnung kommen, um seine Tochter zu wecken? Sicher hatte er einen Schlüssel, und ich war schließlich nicht sein Privatportier.

Ohne auf die Etikette zu achten, stieg ich aus dem Bett und ging in Unterhosen an die Wohnungstür. Die Klinke in der Hand, gähnte ich noch einmal ausgiebig, dann drückte ich sie und öffnete.

Vor mir stand der Inspektor und musterte mich verwundert von oben bis unten. Offensichtlich hatte er mit einem anderen Outfit gerechnet.

»Was ist mit Max?«, fragte ich.

»Mit dem geht’s aufwärts. Ich habe heute schon im Krankenhaus angerufen.«

»Super!« Endlich einmal eine gute Nachricht.

»Außerdem war ich gestern noch bei diesem Günther. Vom Krankenhaus bin ich direkt zu ihm hin gefahren.«

Ohne sich um meine spärliche Bekleidung zu kümmern, trat Huber über die Schwelle. Ich schloss die Tür hinter ihm.

»Der hat ein Alibi für gestern Nachmittag. Er war die ganze Zeit mit seiner Freundin zusammen, und sie hat seine Aussage bestätigt.«

»Er könnte sie dazu gezwungen haben«, meinte ich und kratzte mich am Hinterkopf.

»Möglich«, nuschelte Huber und steuerte in die Küche. »Könntest du mir vielleicht einen Kaffee machen? Ich bin seit zwei Stunden auf den Beinen. Im Klo am Hauptbahnhof hat sich ein junger Kerl den goldenen Schuss gesetzt.« Er ließ sich auf den erstbesten Stuhl fallen. »Ich kann mich an den Anblick der armen Schweine einfach nicht gewöhnen. Keine Ahnung, was im Hirn von jemandem vorgeht, der glaubt, er könnte seine Probleme mit ein paar Gramm weißem Pulver lösen.«

Huber streckte die Beine weit von sich und schüttelte den Kopf.

»Ist das nicht Sache des Rauschgiftdezernats?« Ich überlegte, wie viel Kaffee ich machen sollte.

»Freilich, aber ich habe die Kollegen gebeten, mich über die Vorkommnisse in der Szene auf dem Laufenden zu halten.«

»Warum?«

»Weil ich die Schnauze davon voll habe, im Trüben zu fischen«, sagte Huber trotzig.

Ich füllte Wasser in den Kessel und stellte ihn auf den Gasherd. Dann spülte ich die Kaffeekanne, in der noch Reste von gestern waren, holte einen Filter aus der Anrichte und kippte fünf Löffel Kaffeepulver hinein. Bis das Wasser kochte, sagte Huber kein Wort. Er musste sich erholen.

Ich deckte den Tisch für vier Personen, denn Ellis Vater würde sicher auch bald auftauchen. Es gab Brot, Butter und Marmelade. Zum Bäcker zu gehen, hatte ich keine Lust. Als Huber sich eine Zigarette anstecken wollte, bat ich ihn, es zu lassen, bis wir gefrühstückt hatten. Sogar Elli wartete mit ihrer ersten Kippe, bis ich etwas im Magen hatte.

Während ich Huber den Kaffee einschenkte, überlegte ich laut: »Ich glaub, dass es der Günther war. – Wer sonst? Der Günther hat dem Max versprochen, dass er ihm den Kinnhaken heimzahlt. Er war im Knast wegen Körperverletzung, und jeder weiß, wie jähzornig er ist.«

»Möglich. Auf das Alibi seiner Freundin gebe ich nicht viel.« Der Inspektor nahm vorsichtig einen kleinen Schluck aus der Kaffeetasse. »Aber es könnte natürlich auch jemand anderer gewesen sein. Die Vorkommnisse in letzter Zeit passen einfach nicht zusammen.«

Da hatte er allerdings recht: Zuerst der tote Horst, dann die Erpressung, anschließend die durchwühlte Wohnung und jetzt der Anschlag auf Max.

»Sie glauben, dass die Sache gestern mit den anderen Geschichten zusammenhängt?« Ich strich mir dick Butter aufs Brot. Das ist gut für die Nerven.

»Möglich.« Huber nahm auch eine Scheibe und bedeckte sie mit Marmelade. Butter sei für ihn tabu, meinte er. Wegen der vielen Kalorien. In einer unglaublichen Geschwindigkeit, die ich ansonsten nur von Internatsschülern kannte, verspeiste er fünf kalorienarme Marmeladenbrote. Dazu drei Tassen Kaffee. Anschließend gönnte er sich eine Verdauungszigarette.

Es klingelte an der Wohnungstür. Dem Läuten nach konnte es nur Ellis Vater sein. Ich stand auf, ging zur Tür und öffnete. Inzwischen war ich angezogen.

Herr Guthor schleuderte mir ein fröhliches »Guten Morgen« entgegen und stürmte in die Wohnung. Anstatt zum Zimmer seiner Tochter ging er gleich in die Küche. Wahrscheinlich dachte er wegen des frischen Zigarettenrauchs, sie wäre schon auf.

»Wer ist das?«, fragte mich Guthor. Er war an der Küchentür stehen geblieben und betrachtete den Inspektor.

Ich stellte die beiden einander vor, und Guthor machte keinen Hehl daraus, dass es ihm nicht passte, den Polizisten hier in der Wohnung zu sehen.

»Die Polizei darf mit meiner Tochter nur reden, wenn ich dabei bin«, stellte er klar. »Das ist mit Kommissar Hastreiter abgesprochen. Lisbeth sagt oft unüberlegte Dinge, und ich möchte nicht, dass ihr daraus ein Strick gedreht wird.«

»Mit Ihrer Tochter habe ich doch gar nicht geredet.« Hubers Feuerzeug klickte. Er hatte sich schon wieder eine angezündet.

»Was machen Sie dann hier?«, raunzte Guthor.

»Ich habe den Kaspar besucht und mich mit ihm unterhalten.« Huber nahm einen tiefen Zug, entließ den Rauch routiniert durch seine Nasenlöcher und betrachtete den Rechtsanwalt mit kalten Augen.

»Worüber?«

»Das geht Sie nichts an.« Huber lehnte sich zurück und schlug die kurzen Beine übereinander, sodass ein Stück der haarlosen rechten Wade unter der Hose herausspitzte.

Guthor trat einen Schritt vor. »Ich werde jetzt meine Tochter wecken. Und wenn ich mit ihr zurückkomme, möchte ich das Frühstück gerne ohne Ihre werte Anwesenheit einnehmen, Herr Inspektor.« Er machte eine kleine, wohlüberlegte Pause. »Falls Sie mit mir oder mit meiner Tochter sprechen wollen, können wir jederzeit einen Termin in meinem Büro vereinbaren.« Er wandte sich um. »Sie haben kein Recht, ohne triftigen Grund in die familiäre Intimität dieser Wohnung einzudringen. – Wir haben uns verstanden.«

Schon war er draußen und zog die Küchentür, die sonst immer offen stand, hinter sich zu.

»Ganz schön nervös, der Herr Anwalt.« Huber blies den Zigarettenrauch Richtung Küchenfenster, das ich geöffnet hatte und von dem aus kalte, feuchte Luft in die Küche strömte. »Ich darf also die familiäre Intimität dieser Wohnung nicht stören.« Mit einem Schlag verschwand alle Freundlichkeit aus Hubers Gesicht. »Er hat Dreck am Stecken, der Herr Anwalt. Der Kerl will mir Angst machen, um mich aus den Ermittlungen rauszuhalten. Da frag ich mich, warum!«

Huber erhob sich so dynamisch, wie man es ihm bei seinem Übergewicht nicht zugetraut hätte. Dann bedankte er sich für das Frühstück und verschwand, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie er weiter vorgehen wollte.

Eine Viertelstunde später saßen Elli und ihr Vater am Frühstückstisch.

Elli war sehr blass, doch ihr Gesicht entspannte sich, als ich ihr mitteilte, dass es mit Max aufwärts gehe.

»Nach den Vorlesungen am Vormittag werden wir ihn besuchen«, schlug sie vor. Dann erzählte sie ihrem Vater von der gestrigen Messerattacke.

Guthor hörte zu, den linken Ellbogen am Tisch aufgestützt und das Gesicht in die Hand gelegt. Er sagte kein Wort, bis Elli fertig war.

»Wer ist Max?«, wollte er zunächst wissen.

»Ein Freund«, antwortete Elli ausweichend.

Guthor nickte. »Und dieser Huber hat noch keine Spur?«, fragte er in meine Richtung.

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich bitte euch: Geht heute Vormittag nirgendwohin.« Guthor erhob sich und küsste seine Tochter auf die Stirn.

»Warum?«, fragte ich.

»Weil ihr kein Risiko eingehen sollt.« Der Anwalt schluckte, denn das war keine akzeptable Erklärung.

»Welches Risiko?« Schön langsam reichte es mir. »Sagen Sie mir endlich, was hier gespielt wird.«

Auch ich stand auf und ging drei Schritte um den Tisch herum auf Guthor zu.

»Seit ich diese Wohnung betreten habe, werde ich angelogen. Es spielen sich die unglaublichsten Dinge ab, und alle tun so, als hätten sie keine Ahnung, was los ist. – Das nehme ich Ihnen aber nicht ab! Ich will eine Erklärung. Die sind Sie mir schuldig.«

Ich war laut geworden und fixierte den groß gewachsenen Mann. Er wich meinem Blick aus. Das erste Mal.

»Sie haben recht, Herr Spindler.« Guthor versuchte, die Augen zu heben, aber es gelang ihm nicht. »Doch ob Sie es mir glauben oder nicht, ich weiß selbst nicht, ob und wie die einzelnen Ereignisse zusammenhängen. Ich muss heute Vormittag verschiedene Leute anrufen und sehen, was ich herausfinde. Möglicherweise bekommen Sie Besuch von einem meiner Geschäftspartner, einem Italiener. ­Möglicherweise muss ich heute noch eine Reise antreten und bin dann mehrere Tage weg.«

»Wo willst du hin?«, fragte Elli.

»Das kann ich dir nicht sagen, mein Liebling.« Guthor ging zu seiner Tochter, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie ein zweites Mal. Das hatte er noch nie getan. Dann drehte er sich um und verschwand aus der Wohnung.

»Was machen wir jetzt?«, fragte ich Elli, die an einem Stück Brot herumnagte.

»Am besten das, was mein Vater gesagt hat.« Sie legte den Brotkanten zurück auf ihren Teller. »Ich habe ihn noch nie so ratlos gesehen.« Sie schaute auf. »Er hat Angst.« Sie biss sich auf die Lippen. »Eine Scheißangst hat er.«

»Wovor?«

»Wenn ich das wüsste.« Elli setzte ihren Rollstuhl in Bewegung und fuhr an mir vorbei aus der Küche in ihr Zimmer. Dort knallte sie die Tür hinter sich zu.

Ich räumte das Geschirr weg und fühlte mich mit einem Mal todmüde. Also ging ich in mein Zimmer, zog mich aus und legte mich voller unguter Gedanken ins Bett. Ich hätte mich ohrfeigen mögen für meine Blödheit. Wie konnte ich nur in eine solche Situation geraten?

Gut. Ich hatte mich auf Elli eingelassen, weil sie mir leidgetan hatte und weil ich auf die sturmfreie Bude scharf gewesen war. Aber Karin würde nie wieder hierher kommen, und ohne sie konnte ich genauso gut wieder ins Studentenwohnheim ziehen.

Ich musste weg hier. Ich hatte die Nase gestrichen voll von Ellis Lügen und den undurchsichtigen Warnungen, ob sie nun von Max kamen oder von Ellis Vater.

Warum war Horst umgebracht worden? Dazu die Erpressung und der Einbruch. Und gestern zu allem Überfluss noch der Überfall auf Max.

Den Kopf voller Sorgen, schlief ich ein.

»Kaspar, steh auf«, hörte ich Ellis Stimme neben meinem rechten Ohr und spürte eine Hand, die mich an der Schulter rüttelte. »Wir haben Besuch.«

Ich öffnete die Augen und sah sie neben meinem Bett im Rollstuhl sitzen.

Ich war sofort wach.

»Wer …« Ich stockte. »Wer ist gekommen?«

»Der Freund meines Vaters, der Italiener. Du hast ihn gesehen, als wir in der Kanzlei waren.«

Ich brauchte nur einen Augenblick nachzudenken, um mich an den kleinen, elegant gekleideten Herrn zu erinnern, der für seine Freunde noch ›Weiße Wurste‹ besorgen wollte.

»Und was sucht er hier?«

»Das wird er uns gleich erzählen.« Elli drehte den Rollstuhl Richtung Tür. »Also komm!«

Ich schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Dann schlüpfte ich in die Jeans und zog das Hemd von gestern wieder an. Heute würde es schon noch gehen, obwohl es nicht mehr nach Veilchen roch. Ich konnte für den Italiener kein neues Hemd opfern. Im Schrank waren nur mehr zwei ungebrauchte, und frühestens am kommenden Wochenende würde ich mir von zu Hause frische Wäsche holen können.

Barfuß tappte ich aus dem Zimmer über den Gang zur Küche, wo der Mann neben Elli am Tisch saß und mir mit seinen schwarzen Augen entgegensah.

»Gute Tag«, sagte er und deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an. »Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss. Aber ich denke, es ist notewendig.«

Ich nickte zur Begrüßung, zumal ich nicht wusste, wie ich ihn anreden sollte.

»Mein Name ist Dottore Luca Begoni. Ich bin Avvocato und komme aus Mailand.« Er sprach wie alle Italiener, die so viel Freude an den Vokalen haben und sie dehnen, als stünden sie permanent auf einer Opernbühne. »Ich soll eine Papier an mir nehmen, damit es nicht in – come si dice – falsche Hände fällt.«

»Was habe ich mit diesem Papier zu tun?«, fragte ich. Mir gefiel die Art nicht, wie er mich ohne Scheu musterte. Ich beschloss aber, mich von diesem mageren Männlein nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Also lehnte ich mich lässig ans Küchenbuffet.

»Wieso ist dieses Papier so wichtig?«, setzte Elli nach, und Herr Begoni wandte ihr ohne Hast seinen Blick zu. Doch er machte den Mund nicht auf.

Warum sagt der Kerl nichts, wenn er etwas von uns will? Warum sitzt er bloß da und betrachtet abwechselnd Elli und mich? Natürlich wollte er uns nervös machen, und ich spürte, wie die Schweißflecken unter meinen Achseln größer wurden.

»Was steht auf dem Zettel?«, wiederholte Elli ihre Frage sinngemäß. Sie bemühte sich um eine entspannte Körperhaltung und warf das rechte Bein über das linke. Dann fügte sie mit ironischem Unterton hinzu: »Ist es eine Todesliste der Mafia? – Von solchen Sachen habe ich schon gehört.«

Elli war raffinierter als ich. Sie ließ sich auf Psychospielchen nicht ein, sondern lockte ihren Gast aus der Reserve.

»No, no«, sagte Begoni leise, und ein kleines Lächeln deutete sich im knochigen Gesicht des Italieners an. »Keine Todesliste. – So etwas gibt es nur in schlechten Romanen. In Wirklichkeit ist niemand so pazzo, so verruckt, die Namen der Leute auf einen Zettel zu schreiben, die sterben mussen.«

Das freundliche Gesicht des Mannes zu diesem unfreundlichen Thema irritierte mich.

»Worum geht es dann?«, wollte Elli wissen.

»Ich suche eine Ergebnis von eine Analisi, einer Untersuchung.« Er lehnte sich zurück und legte beide Zeigefinger an seine Unterlippe. »Eine einfache Sache.«

Ellis Augen wurden schmal. »Und wegen einer solch einfachen Sache sind Sie eigens aus Italien hierher nach München gekommen?«

»Si.« Das Gesicht des Avvocato wurde verschlossener. Er hatte offensichtlich keine Lust, weitere Einzelheiten her­auszurücken.

Damit sollte er aber bei Elli nicht durchkommen.

»Warum ist das Untersuchungsergebnis so wichtig?«, fragte sie.

»Es geht um Geld«, meinte der Avvocato. »Viel Geld.«

»Wie viel?«

»Millionen!«, flüsterte der Italiener und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

»Und wie können wir Ihnen in dieser Angelegenheit helfen?«

»Ich brauche die Papier.« Er wandte sich Elli zu und hielt die gefalteten Hände vor die Nase wie ein kleiner Junge bei der Erstkommunion. Jetzt drehte er den Kopf in meine Richtung. »Der Dokument muss hier sein. Herre Orst hat es gestohlen.«

Ich musste einen Augenblick überlegen, wen der Italiener mit »Herre Orst« meinte, doch es konnte sich bloß um Horst handeln.

»Und wo hat er es gestohlen?«, wollte ich wissen.

Der Italiener sah zur Decke, offensichtlich fragten wir ihm zu viel. Doch ich war nicht bereit, weiterhin den Trottel zu spielen. Ich wollte erfahren, was los war.

»Im Buro von Avvocato Guthor.«

»Und wie hat er das geschafft?«

»Herre Orst war ein bell’ ragazzo und hat gemacht – sagen wir – schone Auge mit Fraulein Muller im Buro. Sie hat ihm die Papier gezeigt.«

»Und dann?«

»Dann hat Herre Orst die Papier mitgenommen. – Allora«, fuhr der Italiener fort. »Der Dieb ist morto und die Papier ist verschwunden. Das ist schlecht, denn wir brauchen sie. – Urgente! Dringend!«

»Haben Sie den Horst umgebracht?«. Ich traute dem zurückhaltenden Mann ohne Weiteres einen Mord zu. Doch wahrscheinlich machte sich ein Avvocato die Hände nicht selbst schmutzig, also verbesserte ich mich. »Oder umbringen lassen?«

»No, no«, lachte Herr Begoni und winkte ab. »Schauen Sie mich an! Sehe ich aus wie ein – come si dice – Dummekopf?« Er beugte sich vor und sprach jetzt viel leiser. »Kein vernunftiger Mensch bringt jemanden um, von dem er etwas erfahren oder bekommen will.« Er hob die Brauen. »Nicht, bevor er nicht hat, was er wollte.«

»Wer war’s dann?«

Begoni hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, und es ist mir ehrlich gesagt auch egal.«

»Das soll ich Ihnen glauben?«

Begonis Gesicht wurde zur Maske. »Signore Guthor hat Herre Orst Geld gegeben, damit er die Papier wieder bekommt. Viel Geld für ein Stuck Papier. Signore Guthor war fur die Papier verantwortlich, es durfte auf keinen Fall in die falschen Hände kommen. Er wollte es ohne Ärger zuruckhaben. Signore Guthor ist troppo simpatico, er will nie Ärger.«

»Wie viel hat er bezahlt?«, fragte ich.

Herr Begoni machte mit der linken Hand eine Geste, die eine große Summe andeutete.

»Wie viel?«, setzte ich nach.

Der Italiener überlegte einen Augenblick. »Zwanzig­tausend.« Er verschränkte die Arme.

»Vor drei Tagen wurde hier in der Wohnung eingebrochen«, fuhr ich fort. »Waren Sie das?«

Er neigte den Kopf etwas zur Seite: »Möglich.« Er nickte. »Gut möglich.«

»Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?«

Der gut gekleidete Mann verzog das Gesicht, als hätte er gerade auf etwas Bitteres gebissen. Er sah mich an, als hätte er mich für klüger gehalten. »Caro amico. – Wäre ich hier, wenn wir gefunden hätten, was wir gesucht haben?«

Er machte bei diesem komplizierten deutschen Satz mit Konjunktiv Plusquamperfekt keinen Fehler. Auch sein Akzent war kaum mehr zu erahnen. Er konnte hervorragend Deutsch und sprach nur dann fehlerhaft, wenn er es wollte. Dieser Mann war ungewöhnlich intelligent, so viel stand fest. Und überaus gefährlich, das spürte ich.

»Stecken Sie hinter der Messerattacke auf meinen Freund Max?«, war meine letzte und auch wichtigste Frage.

»No«, entgegnete Signor Begoni und erhob sich langsam. »Damit habe ich nichts zu tun.«

Umständlich kam er um den Tisch herum, drückte Elli die Hand und blieb dann einen Augenblick vor mir stehen. »Ich habe gehört, dass Ihr Freund schwer verletzt ist. Das tut mir sehr leid. Ich weiß, wie wichtig echte amici sind.« Er legte mir die Hand auf meine rechte Schulter. »Aber glauben Sie mir: Wenn es einer von unseren Leuten gewesen wäre, dann wäre Ihr Freund nicht mehr am Leben.«

Er deutete eine Verbeugung an und ging zur Tür. Dort blieb er stehen und drehte sich noch einmal um.

»Suchen Sie bitte nach dem Dokument. Und geben Sie mir Nachricht, wenn Sie es gefunden haben. Fraulein Muller hat meine Telefonnummer.«

Er überlegte, dann fuhr er fort: »Signore Guthor ist so lange an einem sicheren Ort. Auch er denkt daruber nach, wo die Papier sein könnte.«

Beinahe geräuschlos öffnete er die Tür und war verschwunden.

Sein herbes Rasierwasser stand noch eine Weile in der Luft wie eine Warnung.

Ich öffnete das Küchenfenster, auch wenn es draußen immer noch regnete und saukalt war.

»Dieser reizende Herr ist ein Freund deines Vaters?«, fragte ich Elli, während ich in den Regen hinausstarrte.

»Ich glaube nicht, dass die beiden Freunde sind«, meinte sie und zündete sich eine Zigarette an. »Menschen wie mein Vater und dieser Begoni haben keine Freunde. – Solche Leute trauen niemandem. Vor allem dann nicht, wenn sie Angst haben.«

»Der Italiener hat nicht ausgeschaut, als hätte er Angst.«

»Aber mein Vater! Er hat sich immer schon vor diesem Begoni gefürchtet«, stellte Elli nüchtern fest. »Früher hat er ihn oft zu uns nach Hause eingeladen. – Der feine Herr Begoni hat dann im Speisezimmer gesessen, den Duft des neuesten Eau de Toilette aus Mailand verbreitet und in aller Ruhe eine riesige Portion Osso buco verspeist. Mir ist beim Zuschauen schon schlecht geworden.«

»Warum?«

Elli sah zum Fenster, das ich inzwischen wieder geschlossen hatte. »Er hat nur Fleisch gegessen, der Herr Avvocato. Keinen Salat, kein Gemüse. Nur Fleisch, und zwar unglaubliche Mengen. Wie ein Raubtier.«

Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber und überlegte, ob ich jemanden kannte, der nur Fleisch aß. Mir fiel niemand ein.

Dafür kam mir eine andere Sache in den Sinn. »Du hast am Freitagabend nach diesem Papier gesucht?«

»Ich hoffte, die Einbrecher hätten etwas übersehen«, meinte Elli.

»Du hast also von dem Zettel gewusst?«

Elli nickte.

»Und warum hast du uns nichts davon erzählt?«

Sie hob die Achseln.

»In diesem Haus wird mehr gelogen als auf der Beerdigung eines Politikers!«, stieß ich hervor. Ein unglaublicher Zorn packte mich. »Der Horst ist tot, und der Max ist knapp mit dem Leben davongekommen«, schrie ich Elli an. »Ich möchte endlich wissen, was hier gespielt wird. Die Wahrheit sollst du mir sagen, und zwar nicht nur scheibchenweise.«

Sie saß mit eingesunkenen Schultern auf ihrem Rollstuhl und schwieg. Doch je länger ich sie ansah, desto mehr tat sie mir leid. Die schwarzen Haare hingen in ihr trauriges Gesicht, doch sie weinte nicht. Möglicherweise wäre es leichter gewesen, wenn sie geweint hätte.

»Gestern im Krankenhaus wolltest du mir erzählen, was am Montagabend wirklich passiert ist.« Ich hatte mich wieder beruhigt.

»Das war gestern«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf, ohne ihn zu heben. »Glaub mir: Die Wahrheit hilft niemandem. – Komm, wir fahren zum Max.«

»Dein Vater hat gesagt, wir sollen das Haus nicht verlassen«, entgegnete ich.

Elli zündete sich mit zittrigen Fingern eine weitere Zigarette an, sog den Rauch tief ein und stieß ihn wieder aus.

»Mein Vater! Der kann mich mal. – Schließlich ist er schuld an dem ganzen Schlamassel.«

Die Besuchszeiten im Schwabinger Krankenhaus waren auf eine Stunde nachmittags zwischen 16 und 17 Uhr beschränkt. Ich hatte Elli bereits am Parkplatz darauf hingewiesen, doch sie meinte, dass derartige Vorschriften möglicherweise für andere Leute galten, aber nicht für uns. Ich würde gleich sehen, wie so etwas läuft.

Ich dürfe bloß nicht freundlich sein, zu niemandem! Also setzte ich ein mürrisches Gesicht auf und schob Elli die Rampe zur Krankenhauspforte hinauf. Bevor wir das Krankenhaus betraten, ließ mich Elli an dem großen Schild anhalten, auf dem die leitenden Ärzte der einzelnen Abteilungen aufgelistet waren. Sie prägte sich einige Namen ein, dann ging es weiter zum Empfang.

Dem Pförtner erklärte sie mit leiser, leidender Stimme, sie habe einen Termin mit Doktor Fleischer von der Chir­urgie. Dieser Name war leicht zu merken, zumal er doch ausnehmend gut zur Tätigkeit seines Inhabers passte.

»Doktor Fleischer operiert jeden Vormittag«, meinte der Pförtner nüchtern. »Da hat er sicher keine Zeit für Sie.«

Elli richtete sich ohne Eile in ihrem Rollstuhl auf, ihre gelben Augen funkelten. »Glauben Sie, dass ich zum Spaß von Bayreuth hierherkomme?« Sie gab dem armen Kerl nur einen Augenblick zum Überlegen, dann fuhr sie mit scharfem Ton fort: »Ich habe einen Termin bei ihm, und Sie sagen mir sofort, wo ich ihn finde, sonst kriegen Sie Ärger.«

»Aber …«

»Ich warne Sie!« Ellis Stimme wurde lauter. »Mein Vater hat mit seinem alten Freund Professor Urban gesprochen, und der hat den Termin heute Vormittag arrangiert. Falls Sie Zicken machen, wende ich mich direkt an die Krankenhausleitung.«

Der Pförtner wurde blass und überlegte. Schließlich gab er Auskunft: »Doktor Fleischer ist im Parterre links hinter den Operationsräumen zu finden. Aber er hat wirklich keine Zeit. Er operiert, das habe ich Ihnen doch gesagt.«

Elli warf dem armen Kerl ein arrogantes, kaum hörbares »Danke« hin und rollte nach links in den Teil der Klinik, wo wir gestern schon gewesen waren. Jetzt hieß es die Augen offen halten nach einer der Krankenschwestern, die gestern bei der Operation dabei gewesen waren. Glücklicherweise trafen wir auf dem Gang vor dem OP die Oberschwester mit dem Boxergesicht. Sie freute sich sogar, uns zu sehen.

»Ich muss Ihnen danken«, sagte Elli und hielt ihr die Hand entgegen. »Ohne Sie wäre unser Freund nicht mehr am Leben.«

»Bitte«, entgegnete die Schwester und wurde verlegen.

»Können wir zu Max?«, fragte Elli.

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Herr Stockmeier darf keinen Besuch empfangen. Strenge Anweisung von oben.«

»Ich muss ihn sehen«, stieß Elli hervor.

»Wenn’s aber nicht geht!« Nervös sah sich die Schwester um. »Heute Morgen war schon ein Polizist hier. Der durfte auch nicht mit ihm sprechen.«

Elli beugte sich nach vorne und flüsterte: »Sie sagen mir einfach seine Zimmernummer, und alles andere überlassen Sie mir.« Elli hob die rechte Hand. »Ich schwöre: Kein Mensch erfährt, woher wir den Tipp haben.«

Die kleine Krankenschwester versicherte sich, dass niemand in der Nähe war, dann flüsterte sie: »Erster Stock, Zimmer 104. Ich sollte ihm einen Krimi besorgen. Ihm sei todlangweilig, sagte er mir vor einer halben Stunde.«

Elli griff nach hinten und zog aus der Tasche hinter der Rollstuhllehne den Neuesten von Patricia Highsmith heraus. »Den hat er sicher noch nicht gelesen.«

Die Schwester nickte und machte sich davon, bevor sie zusammen mit uns gesehen wurde.

Elli holte nun ein hellgrünes Krankenhaushemd aus derselben Tasche und schlüpfte hinein, so gut es ging. Für mich hatte sie einen weißen Kittel mitgebracht. Anscheinend hatte sie immer noch einiges Equipment zu Hause. Im Zusammenspiel mit der Tatsache, dass sie im Rollstuhl saß, sorgte unsere Verkleidung dafür, dass wir auf dem Weg in den ersten Stock als Patient mit Pfleger wahrgenommen wurden und uns frei bewegen konnten.

Nach kurzer Suche standen wir vor Max’ Zimmer. Ich klopfte leise. Nichts rührte sich. Also öffnete ich die Tür, und nachdem ich Elli in den Raum geschoben hatte, schloss ich sie gleich wieder.

Max war alleine im Zimmer, er schlief. Sein Gesicht war immer noch blass, doch es hatte nicht mehr den porzellanartigen Schimmer von gestern. Er atmete ruhig. Zögerlich tropfte eine durchsichtige Flüssigkeit in einen Infusionsschlauch, der in seinem rechten Arm steckte.

Elli rollte langsam zum Bett. Zuerst berührte sie seine Beine, die sich unter der dünnen weißen Decke abzeichneten. Dort ließ sie ihre Hand liegen und begann zu weinen.

Sie weinte still vor sich hin. Kein Seufzen, kein Laut.

Ich war neben der Tür stehen geblieben. Mir reichte, dass Max noch am Leben war und bald wieder auf die Beine kommen würde. Dann würde es dem Drecksack, der ihn überfallen hatte, an den Kragen gehen. Darauf konnte sich das Schwein verlassen.

Plötzlich begann Max seinen Mund zu bewegen. Dann öffnete er langsam die Augen, erst das rechte, dann das linke. Schließlich blinzelte er ein paar Mal und sah zu uns her.

Hastig wischte sich Elli über die Augen, Max durfte ihre Tränen nicht sehen. Mit belegter Stimme meinte sie, er solle nicht reden. Das würde ihn zu sehr anstrengen.

»Ein bisserl matt bin ich schon«, krächzte Max. »Aber ich freu mich, dass ihr hier seid.« Er kniff für einige Momente die Augen zusammen, dann begann er erneut: »Wie seid ihr eigentlich reingekommen? Ich darf heute noch keinen Besuch kriegen, haben die Schwestern gesagt. Sie bewachen mich wie Fort Knox.«

Elli zog eine Schnute und versuchte einen unschuldigen Gesichtsausdruck. »Davon haben wir gehört.«

»Und wie habt ihr es bis hierher geschafft?«

»Wir haben uns den Weg freigeschossen.«

Max verzog sein Gesicht zu einem mühsamen Lächeln.

»Wer war’s?«, fragte ich und kam näher an sein Bett heran.

»Keine Ahnung.« Max schluckte, und ich hatte den Eindruck, dass ihm das Schlucken wehtat. »Es ist alles so schnell gegangen, und der Kerl hatte eine Kapuze über dem Gesicht. Plötzlich war er dagestanden, und ich habe versucht, ihm das Messer wegzuschlagen.« Max stockte. »Das hat nicht besonders gut geklappt, wie ihr seht.«

»War’s der Günther?«, setzte ich nach.

Max versuchte, die Schultern zu heben, doch das tat ihm weh, und er stöhnte leise. »Die Größe würd passen, aber …«

»Hat er was gesagt?«

»Nein, kein Wort. Er war plötzlich dagestanden. Ich habe das Messer in seiner Hand gesehen und versucht, ihm auszuweichen. Dabei bin ich weggerutscht, nach vorne gefallen und hab den Stich gespürt. Mehr weiß ich nicht.«

»Hat er mit Absicht zugestochen?«, fragte ich.

»Keine Ahnung.«

»Vielleicht hatte er es auf mich abgesehen? Schließlich warst du mit meinem Regenmantel draußen.«

Max hob den rechten Unterarm, streckte den Zeigefinger und bewegte ihn verneinend hin und her. »Unmöglich, uns zwei zu verwechseln.« Wieder schluckte er. »Schließlich bin ich größer als du und außerdem viel hübscher.«

Kaum hatte er fertig geredet, da ging die Zimmertür auf und eine große, schwere Frau in Schwesterntracht kam her­ein.

»Der Patient darf noch keinen Besuch empfangen«, fuhr sie uns an. »Nicht mal von seinen Eltern. Die habe ich vor einer halben Stunde heimgeschickt.«

Sofort hatte ich mein Unschuldsgesicht aufgesetzt, das half immer.

»Verlassen Sie sofort das Zimmer!« Der Ton der Schwester wurde schärfer.

Elli hatte eine andere Taktik. »Schreien Sie nicht so rum! Ich bin nicht taub.« Sie drehte den Rollstuhl auf frontalen Angriff und sah die Matrone giftig an.

»Es wird immer noch schöner! Erst einen schwerkranken Patienten stören, und dann auch noch frech werden!«

»Mit Ihnen«, Elli wandte ihr Gesicht ab, »mit Ihnen möchte ich nicht streiten. Streit ist nämlich schlecht für die Gesundheit.« Mit hoch erhobenem Kopf fuhr sie an der Schwester vorbei zur Tür. » Schauen Sie mich an: Vor drei Monaten habe ich mir die linke Arschbacke verstaucht und mich so drüber geärgert, dass ich heute gar nicht mehr laufen kann.«

Wenige Minuten später standen wir vor Ellis VW-Bus. Sie zündete sich eine Zigarette an. Es hatte aufgehört zu regnen, doch immer noch war es schweinekalt.

»Wer war’s?«, fragte ich Elli.

»Der Günther, wer sonst«, sagte sie. »Der Kerl ist aggressiv und total unberechenbar. Manchmal wirft er auch LSD ein und anderes Scheißzeug.«

»Aber das Alibi.«

Elli schnaubte. »Seine Freundin würde es nicht wagen, ihm zu widersprechen. – Günther kann richtig grob werden. Er war nicht umsonst im Knast.«

»Vielleicht hat er auch den Horst auf dem Gewissen«, mutmaßte ich.

»Nein.« Elli schüttelte langsam den Kopf und richtete dann die schönen dunklen Haare nach hinten. »Dem Horst hätte Günther nie was getan.«

»Warum?«

»Günther mochte den Horst wahrscheinlich mehr als seine Freundin. Er war geradezu verliebt in ihn.«

Die Nachricht traf mich wie ein Keulenschlag. »Ist er schwul?«

Das passte nicht zusammen, noch nie hatte ich von einem schwulen Schläger gehört.

Elli wiegte den Kopf hin und her. »Nicht direkt. Ich würde eher sagen, er kann sich nicht recht entscheiden.«

»Und der Horst? War der auch verliebt in den Günther?« Die Sache wurde immer interessanter.

»Pffff«, machte Elli und verdrehte die Augen. »Der Horst hat den Günther im Knast ein bisschen rangelassen, aber nur bis zu einem bestimmten Grad. Dafür hat Günther dort auf ihn achtgegeben, wenn irgendwelche Typen ihm an die Wäsche wollten. Hübsche Jungs leben im Knast gefährlich. – Immer schön mit dem Hintern zur Wand schlafen, hat der Horst gesagt. Und die Arschbacken fest zusammenkneifen, wenn das Licht ausgeht!«

Elli holte den Tabak aus der Seitentasche und begann sich eine weitere Zigarette zu drehen.

»Und wer steckt hinter der Erpressung?«, fragte ich.

Elli leckte das Zigarettenpapier, rollte die Kippe zusammen und zupfte den überstehenden Tabak ab. Dann zündete sie die Zigarette in aller Ruhe an. »Lass die Erpressung weg! Sie hat mit den anderen Geschichten nichts zu tun.«

Dasselbe hatte der Inspektor gesagt.

»Was ist mit dem Zettel, den der Horst deinem Vater gemopst hat?«

Elli verdrehte die Augen. »Damit hat der ganze Scheiß angefangen.« Sie nahm einen tiefen Zug und wiederholte wie ein heiseres Echo: »Mit dem blöden Wisch hat alles angefangen.«

»Was hat angefangen?«

»Horst wurde plötzlich unausstehlich. Er sagte, er würde nicht mehr lange in München sein. Er wollte nach Indien, mit seiner Schwester. – Seine Mutter war natürlich stocksauer. Sie wollte nicht allein bleiben. Nicht nach allem, was sie schon mitgemacht hatte. Mit ihrem Mann, der ständig blau war. Mit ihrem Sohn, der nicht viel taugte, außer wenn es um Frauen ging. Und vor allem mit ihrer Tochter, die sie kaum einen Augenblick aus den Augen lassen konnte, seit sie ein kleines Kind war.« Elli zog den Rotz in der Nase hoch, holte schließlich ein Tempo aus der linken Tasche ihres Rollstuhls und schnäuzte sich gründlich. »Außerdem hat sie Schulden.«

»Hatte Horst sonst noch mit jemandem Ärger?«, fragte ich.

Elli kniff die Augen zusammen und sah mich konzentriert an. »Mit meinem Vater natürlich, und mit der Müller, seiner Sekretärin.«

»Warum?«

»Horst hat das Papier mitgehen lassen, während er sie bezirzte. Der Begoni hat uns doch haarklein davon erzählt.«

»Dein Vater hat anschließend zwanzigtausend Mark für den Zettel bezahlt?«

Elli nickte.

»Aber er hat das Papier nicht zurückbekommen?«

Sie nickte. »Bloß eine gut gemachte Kopie. Horst kannte vom Knast her einen erstklassigen Fälscher.«

»Da stimmt doch was nicht«, meinte ich und hatte gute Lust, auch eine zu rauchen.

Elli überlegte, wie sie mir das Folgende am besten erklären könne. »Du solltest meinen Vater nicht überschätzen. Er ist nicht so toll, wie er immer tut. Braucht er auch nicht, denn mit seinem selbstbewussten Auftreten nimmt er seinem Gegenüber gleich den Wind aus den Segeln. Vor allem vor Gericht macht er eine unglaublich überzeugende Figur.«

»Aber bei Horst hat das nicht geklappt?«, fragte ich.

»Zuerst schon.« Elli grinste. »Horst war schwer beeindruckt, als ihn mein Vater bei seiner Verhandlung vertrat. Papa konnte alle Anklagepunkte entkräften.«

»Welche Punkte genau?«

»Rauschgiftbesitz und ‑handel.«

»Und das hat nicht gestimmt?«, fragte ich.

»Horst hat sich früher nicht besonders für Drogen interessiert. Nur für Frauen.« Elli rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. »Manchmal hat er ein paar Gramm gekauft, gelegentlich einen Joint geraucht und auch mal was weiterverkauft. Der Freund von einem Mädel, dem Horst den Kopf verdreht hatte, wusste davon und zeigte ihn bei der Polizei an. Horst wurde festgenommen. Den Rest kennst du.«

»Erzähl es mir noch mal, ich möcht es ganz genau wissen.«

»Also pass auf.« Elli schnaufte tief durch. »Die Sache mit dem Besitz stand für die Beamten fest, sie hatten ein paar Gramm bei ihm gefunden. Rauschgifthandel wurde ihm aufgrund der Aussage des verschmähten Liebhabers auch noch unterstellt. Horsts Pflichtverteidiger war eine Pfeife. Der konnte nicht mal klar darlegen, dass bei seinem Mandanten gar keine Fluchtgefahr bestand. Also ist der arme Kerl in Untersuchungshaft gewandert. Dort lernte er den Günther kennen. Nach ein paar Wochen durfte er wieder raus und sollte in Freiheit auf seinen Prozess warten. Er hat sich bei mir vorgestellt, und ich habe ihn genommen. Mein Vater vertrat ihn vor Gericht. Der hat den Ermittlern gleich mal ein paar Verfahrensfehler um die Ohren gehauen und den Rauschgifthandel ad absurdum geführt. Auf Anraten meines Vaters sollte Horst behaupten, ihm wäre das Rauschgift in die Jacke gesteckt worden und er hätte nichts davon gewusst. Papa war die Wahrheit egal. Er hatte den Auftrag, Horst rauszuhauen.«

»Und das hat geklappt?«, fragte ich ernüchtert.

»Natürlich!« Elli streckte den hübschen Kopf nach vorne. »Wovon, glaubst du, leben Leute wie mein Vater? – Von der Wahrheit?« Sie lachte. »Die Wahrheit ist meinem Vater scheißegal. Es geht um Geld, wenn er in die Schlacht zieht, um nichts anderes.«

»Aber warum hat er den Horst verteidigt, der hatte doch kein Geld?«

»Weil ich ihn drum gebeten habe.«

»Und dann klaut der undankbare Typ deinem Vater ein wichtiges Dokument. Ein gutes Motiv, den Kerl um die Ecke zu bringen.«

»Es war Horsts einzige Chance, an ein bisschen Kohle zu kommen«, verteidigte Elli den Toten.

»Du kannst das akzeptieren?«

»Natürlich. Mit dem Dealen hat er kaum was eingenommen, und mit den paar Kröten, die er bei mir verdiente, wäre er nie weggekommen. Die Chance war einmalig: Das Fräulein Müller hat sich an den Horst rangemacht. Sie zeigte ihm das Papier, und er klaute es bei der nächsten Gelegenheit. Von meinem Vater hat er Geld bekommen, er hat ihm aber bloß die Kopie zurückgegeben.«

»Hat dein Papa den Horst umgebracht?«

Elli winkte ab. »No, no, signore«, ahmte sie Begonis Tonfall mit den breiten Vokalen nach. »Papa mio ist nicht così stupido, dass er tötet Herre Orst, bevor er nicht at, was er will.« Sie beendete ihren Ausflug ins Italienische. »Außerdem bringen Leute wie mein Vater niemanden um. Dafür sind sie viel zu gerissen.«

Ich überlegte. »Mit wem hatte Horst sonst noch Ärger?«

»Mit mir natürlich.« Elli sah mich mit großen, honigbraunen Augen an. »Seine Pläne passten mir überhaupt nicht. Er wollte nicht nur weg aus Deutschland, wo es ständig regnet und saukalt ist. Nicht bloß weg von seiner Mutter, die ja wirklich keine angenehme Erscheinung ist.« Sie drehte den Kopf zur Seite und zog die Augenbrauen zusammen, dass sich zwei vertikale Falten bildeten. »Er wollte auch mich nicht mehr sehen.« Ihre halb gerauchte Kippe landete auf der Straße und rollte in Richtung VW-Bus.

»Hast du ihn umgebracht?«, fragte ich, während ich die Schienen aus dem Wagen holte, auf denen ich sie ins Auto schieben konnte.

»Nein«, lachte sie. »Ich war’s wirklich nicht. – Wie hätte ich das auch anstellen sollen?«

Ich überlegte. Jemand hatte Horst von hinten niedergeschlagen. – Elli konnte es nicht gewesen sein. Sie saß zu weit unten, um ihm eine über den Hinterkopf zu ziehen. Das war plausibel, zumindest auf den ersten Blick.

Doch während der Heimfahrt fiel mir der Weber-Wacki aus Deining ein, ein kleiner, krummbeiniger Dackelmischling. Er hatte es zu einiger Berühmtheit gebracht, da er stets verschwand, sobald im Umkreis von zehn Kilometern eine Hündin läufig war, und erst nach Tagen wieder heimkehrte. Er hatte im Laufe seines Lebens jede Menge kleiner Mischlingsbälger mit krummen Beinen gezeugt und damit seine fragwürdige Genetik im Landkreis weiter gestreut als jeder stattliche Schäferhundrüde.

Es hieß, dass er tagelang die Heimstätte der Hundedame belagerte und sich weder mit bösen Worten noch mit Holzscheiten vertreiben ließ. Er wartete geduldig auf seine Chance, und im entscheidenden Augenblick zeigte er eine Geschicklichkeit, die man dieser mickrigen Kreatur nicht zugetraut hätte.

Auf unseren Fall übertragen hieß dies, dass Elli sehr wohl einen ausgewachsenen Mann niederschlagen konnte. Er brauchte sich bloß so weit zu bücken, dass sie ihm mit einem Prügel oder Totschläger eine drüberziehen konnte.

Ich erzählte Elli von dem kleinen Hund und der daraus entwickelten Theorie. Sie hörte stumm zu.

»Du bist nicht dumm, Kaspar«, sagte sie nachdenklich. »Natürlich hätte ich ihn niederschlagen können, wenn er sich gerade zu mir runterbückt. – Doch ich hätte dem Horst nichts tun können. Dafür mochte ich ihn zu sehr.«

»Viele Verbrechen werden aus Liebe begangen. Oder aus Enttäuschung«, meinte ich.

»Das schon«, erwiderte Elli. »Aber ich habe ihn nicht geliebt.« Sie suchte die richtigen Worte. »Wir hatten sehr viel Spaß miteinander, das kannst du mir glauben. – Aber Liebe?« Sie schüttelte den Kopf. »Darunter stell ich mir schon was anderes vor.«

Wir wollten zur Uni, um am Basisseminar Griechisch teilzunehmen. Doch das Gebäude war beinahe leer, und am Schwarzen Brett stand, dass in dieser Woche aufgrund der Grippeepidemie sämtliche Lehrveranstaltungen ausfallen.

Also fuhren wir nach Hause und verschwanden auf unsere Zimmer. Ich hatte einiges nachzuholen, auch wenn es die nächsten Tage keine Vorlesungen gab.

Elli hatte recht: Mein Wortschatz war eine Katastrophe, sowohl in Latein wie in Griechisch. Also setzte ich mich an den Schreibtisch und wiederholte etliche Kapitel. Es tat mir gut, einige Stunden an etwas anderes zu denken als an den toten Horst und an Max, der im Krankenhaus lag. Ihn zu besuchen, kam heute nicht mehr infrage, denn sicher waren inzwischen seine Eltern aufgetaucht, und denen wollte ich nicht gerne über den Weg laufen. Ich hätte ihnen erklären müssen, was vorgefallen war.

Abends war Elli nach einem Bad. Also ließ ich die Wanne volllaufen und schüttete ein exquisites Badeöl dazu. Nachdem ich sie in die Wanne gehoben hatte, stellte ich ein Tischlein mit allen möglichen Fläschchen und Tinkturen daneben. Sie wolle sich mal wieder aufpeppen, sagte sie, als ich das Badezimmer verließ.

»Mach dir Locken, sonst bleibst du hocken«, trällerte sie fröhlich.

Kurz vor acht läutete es. Wer war das schon wieder?

Ich drückte auf den elektrischen Toröffner und staunte nicht schlecht, als ein Rollstuhl in den Hausgang fuhr, dem ein zweiter folgte. Hinter den beiden tappte ein etwa zwanzigjähriges rothaariges Mädchen her, das ein käsiges, desinteressiertes Gesicht zur Schau trug.

»Was bist denn du für einer?«, fragte mich der erste Rollstuhlfahrer aus wenigen Metern Entfernung. Er hatte lange blonde Haare, die ihm bis über die breiten Schultern fielen.

»Hat Elli den Zivi gewechselt?«, fragte der zweite. Er war dunkelhaarig und hatte einen gewaltigen Vollbart. Wäre ich nicht zur Seite getreten, der Kerl wäre mir eiskalt über die Zehen gefahren, als er an mir vorbei in die Wohnung rollte.

Ehe ich mich’s versah, waren die beiden in der Küche und hatten ihre Rollstühle links und rechts an der Längsseite des Tisches in Position gebracht. Ellis Platz an der Stirnseite blieb frei. Das Mädchen folgte den beiden und ließ sich stumm in einen Stuhl fallen.

»Wo ist die Elli?«, fragte der Blonde.

»Sie badet«, sagte ich, erstaunt über die Dreistigkeit, mit der die drei in die Wohnung gekommen waren. Sie taten gerade so, als wären sie hier zu Hause.

»Sie macht sich also hübsch für uns.« Der Blonde deutete mit dem Zeigefinger über den Tisch auf mich. »Sag ihr, das ist nicht nötig. Ich will nur ihr Geld, nicht ihren Körper.«

Der Bärtige lachte gutmütig, während das rothaarige Mädchen die Augen verdrehte, ein Buch aus ihrer Jutetasche zog und zu lesen begann.

»Der Zimmerservice hier stimmt immer noch nicht. Gott sei Dank hab ich ein bisserl Wegzehrung mitgenommen«, brummte der Blonde und zog zwei Bierflaschen aus der Tasche hinter der Lehne seines Rollstuhls. Er knallte sie auf den Tisch und machte dann eine Handbewegung, die bedeuten sollte, dass er einen Öffner brauchte. Als ich einen aus der Schublade holte und ihm hinhielt, fragte er, ob ich auch ein Bier wolle.

Ich nickte und streckte die Hand nach der Flasche aus.

Als ich das Etikett sah, wurde ich mit einem Schlag sentimental. Es war ein Dunkles vom Bräu in Wolfratshausen. Wie es ihm und seiner Frau wohl ging? Augenblicklich überkam mich ein schlechtes Gewissen. Ich hatte die beiden nicht angerufen. Bei meinem letzten Besuch in Wolfratshausen hatte ich mir anhören müssen, ihr Leben wäre verpfuscht, nachdem Max sich entschlossen hatte, in Heiligenbeuern zu bleiben. Und jetzt lag er schwer verletzt im Krankenhaus.

»Was wollt ihr eigentlich hier?«, fragte ich den Blonden.

»Wir kommen alle vierzehn Tage und spielen Schafkopf miteinander. Hat Elli nie von uns erzählt?«

Ich schüttelte im Aufstehen den Kopf, ging ins Bad und berichtete Elli von den beiden Kerlen, die in der Küche auf sie warteten.

Sie saß mit einer weißen Gesichtsmaske in der Wanne und hielt den Kopf so steif nach oben wie eine Gottesanbeterin, die sich innerlich darauf vorbereitet, ihr Männchen zu fressen.

»Die zwei habe ich glatt vergessen.« Sie bemühte sich, das Gesicht beim Reden möglichst wenig zu bewegen. »Ich brauche aber noch ein bisschen Zeit, bis meine Feuchtigkeitsmaske eingezogen ist. Stell ihnen was zu essen hin, dann geben sie Ruhe. In einer Viertelstunde bin ich fertig.«

Ich wandte mich zum Gehen.

»Halt«, rief Elli mir nach. »Kannst du schafkopfen?«

Natürlich konnte ich schafkopfen. Im Internat hatten wir ganze Nächte durch gespielt.