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Titel der amerikanischen Originalausgabe:

The Way of Splendor

Rowman & Littlefield Publishers, INC, Maryland 20706

© 2007 Edward Hoffman

Deutsche Ausgabe:

1. Auflage 2020

© Crotona Verlag GmbH & Co.KG

Kammer 11

83123 Amerang

www.crotona.de

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Astrid Ogbeiwi

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

ISBN 978-3-86191-187-6

Zum Gedenken an meine Großeltern

Inhalt

Vorwort zur Jubiläumsausgabe

Vorwort

Einführung zur Jubiläumsausgabe

Einführung

Kapitel Eins

Jüdische Mystiker: Sucher der Einheit

Kapitel Zwei

Wir sind der Kosmos

Kapitel Drei

Die heilige Welt des Körpers

Kapitel Vier

Techniken für inneren Frieden

Kapitel Fünf

Die Ekstase wecken

Kapitel Sechs

Rückkehr zum Ursprung: Träume und Musik

Kapitel Sieben

Die jenseitige Dimension

Kapitel Acht

Leben und Tod: Die unsterbliche Seele

Kapitel Neun

Das neue Land des Geistes

Glossar

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

VORWORT ZUR JUBILÄUMSAUSGABE

Rabbi Zalman M. Schachter-Shalomi

Es ist mir noch sehr gut in Erinnerung, wie ich dieses wichtige, bahnbrechende Buch von seinem Verfasser erhalten habe, denn es macht deutlich, welchen Wert Kabbala für die heutige Psychologie hat. Dieses uralte, bedeutsame System jüdisch-mystischen Denkens kann viel zum Verständnis tiefgreifender und schwer verständlicher Prozesse in der menschlichen Psyche beitragen. Damals fanden Bücher über Yoga, Zen-Buddhismus, Taoismus, Sufismus und die Weisheit der amerikanischen Ureinwohner in der westlichen Kultur völlig zu Recht großen Zuspruch – und weckten die Aufmerksamkeit von Wegbereitern in den Geisteswissenschaften. Doch kurioserweise wurde das Judentum von diesen Denkern offenbar fast vollständig ignoriert. Es war gleichsam so, als hätte unsere große Tradition nichts über Bewusstseinserweiterung und die Welt des Visionären zu sagen. Doch als chassidisch ausgebildeter Rabbiner, der am Hebrew Union College in Cincinnati in „Human Relations” promoviert wurde und zuvor an der Boston University unter Howard Thurmans inspirierender Leitung seinen Master in Seelsorge gemacht hatte, wusste ich sehr wohl um die Relevanz des Chassidismus für unsere Zeit.

Seit über zweihundert Jahren begleitet die Galaxie seiner Rebbes Männer und Frauen, die um geistlichen Rat ersuchen, in so zeitlosen Fragen wie Gesundheit, Lebensunterhalt, Familie und Gemeindeleben. Tatsächlich gehörten zu dieser Begleitung schon seit Langem Techniken zur Weiterentwicklung und Befreiung der Seele, die die „offiziellen“ Gebiete der Psychologie und Psychotherapie noch gar nicht erkannt hatten und die daher auf ihren Karten der menschlichen Seelenlandschaft noch nicht verzeichnet waren.

In breit gefächerten Gesprächen mit dem Theoretiker Abraham Maslow von der Brandeis-University zeigte sich mir deutlich, inwiefern die Kabbala den Blickwinkel sowohl der humanistischen als auch der transpersonalen Psychologie erweitern kann – jenen boomenden Gebieten, auf denen Maslow in den 1950ern und 1960ern Pionierarbeit geleistet hatte. Doch der Prozess einer intellektuellen „Verbindung der Punkte“ zwischen der jüdischen Mystik und psychologischen Visionären wie William James, Carl Gustav Jung, Alfred Adler, Fritz Perls, Wilhelm Reich und eben Maslow war noch nicht vollzogen. Das heißt, bis dies Dr. Edward Hoffman mit Wir sind der Kosmos überzeugend gelang.

Für mich war sofort erkennbar, dass sein umfassendes Verständnis sowohl der jüdischen Spiritualität als auch der heutigen Psychologie zu einer Glanzleistung geführt hatte. Genau genommen war mein Gedanke: „Endlich ist das Buch geschrieben, das so lange gefehlt hat!“ Jetzt konnte die Kabbala nicht mehr als irrelevant für die wissenschaftliche Spitzenforschung über unsere höheren Potenziale abgetan werden. Der Chassidismus konnte nun nicht mehr im akademischen Papierkorb veralteter Theologien und Philosophien landen. Die humanistische und die transpersonale Psychologie, die Gebiete erschlossen hatten, zu denen die akademische Psychologie keinerlei Verbindung hatte, konnten diese heiligen Bestandteile des Judentums nun als wichtige Beiträge annehmen, die des Studiums, der Reflexion und der praktischen Anwendung wert sowie zur „Neuformatierung“ in unserem hoch technisierten Zeitalter geeignet waren.

Daher sehe ich mit großer Freude, dass anlässlich des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums von Wir sind der Kosmos diese Ausgabe erscheint. Ihr Inhalt ist auch heute noch für grundlegende Interessen in Psychologie und Seelsorge sowie auf verwandten Gebieten in höchstem Maße relevant. Themen wie Meditation, Traumarbeit, Gipfelerlebnisse, Willenskraft und Intentionalität, altruistisches Verhalten, Kreativität und seelisches Wohlbefinden haben heute in der therapeutischen Arbeit und in der Persönlichkeitsbildung allemal zentralere Bedeutung erlangt als je zuvor.

Auch zeigt das weltweit wieder aufflammende Interesse am Studium der Kabbala, dass ihre Lehren die Seele des Menschen nach wie vor inspirieren und beflügeln. Ich bin mir sicher, dass dieser ermutigende Trend anhält und noch wachsen wird. Dieses Buch ist auch heute, da auf diesem Gebiet bereits vieles erschienen ist, noch ein Grundlagenwerk, das seinen Leserinnen und Lesern eine bedeutende Hilfe zum Verständnis einiger jüngerer Werke über Kabbala und Chassidismus sein kann.

Seit der Erstausgabe dieses Buches haben Edward Hoffman und ich an vielen Schriften zusammengearbeitet, unter anderem an unserem Buch Sparks of Light: Counseling in the Hassidic Tradition. Es ist meine Hoffnung, dass dieses Buch in ähnlicher Weise bei psychologisch orientierten Leserinnen und Lesern auf der ganzen Welt zu Synergien führt. Möge sich kraft dieser Energie die glanzvolle Vision der Kabbala in unserer Zeit wahrhaft erfüllen.

Boulder, Colorado

VORWORT

Die Kabbala, der esoterische Zweig des Judentums, hat jahrhundertelang viele Menschen aller Glaubensrichtungen in ihren Bann gezogen. Sie bietet eine detaillierte, umfassende und schlüssige Weltanschauung über das Wesen des menschlichen Daseins und unsere Beziehung zum Kosmos. Ihr kraftvoller, poetischer Blick hat in fast jedem Land der Erde die Fantasie von Juden und Nichtjuden gleichermaßen angeregt. Doch in moderner Zeit wird diese faszinierende Tradition vielen Menschen erst ansatzweise wieder bewusst.

Meine eigene Auseinandersetzung mit diesem weitläufigen und provokativen Thema hat sich mit den Jahren stetig vertieft. Da ich als Kind eine orthodoxe Jeschiwa (eine hebräische Ganztagsschule) besucht habe, faszinieren mich die visionären Aspekte des Judentums seit ich denken kann. Meine Lehrer hielten natürlich keinen formellen Kabbala-Unterricht ab. Das wäre verboten gewesen. Außerdem hätten wir die komplexen Feinheiten der jüdischen Mystik in unserem zarten Alter ohnehin nicht begreifen können. Doch durch das Nacherzählen von Legenden und Geschichten eröffneten sie uns einen verlockenden Einblick in eine andere Welt. Mein Großvater mütterlicherseits war jahrelang ein führender amerikanischer Kantor; und obwohl ich erst fünf Jahre alt war, als er starb, hatte er mir doch ein Bewusstsein für die Kraft des jüdischen Geistes zur Überwindung der Beschränkungen der verbalen Sprache eingeträufelt.

Später dann, in den 1960er Jahren, näherten sich meine religiöse und meine säkulare Bildung wieder an, als die uralten asiatischen Traditionen wie eine Flutwelle über den Westen hereinbrachen – und zunächst die Studenten sowie innerhalb weniger Jahre auch breitere Gesellschaftsschichten erfassten. Ich erinnere mich, dass ich mitten im Abschluss meines Grundstudiums der Psychologie an der Cornell University mit beträchtlicher Erregung Martin Bubers aufrüttelnde Werke über die jüdische Mystik und den Chassidismus las. Auf ihre Art erschienen sie mir als eine eigentümliche Ergänzung zu den völlig anderen Schriften über Yoga, Hinduismus und Buddhismus, die ich ebenfalls verschlang.

Aber ich gestehe, dass ich mich erst sieben Jahre später, als ich an der University of Michigan meine Dissertation in Psychologie abschloss, wieder der kabbalistischen Tradition zugewandt habe. Gershom Scholems maßgebliche Bücher über die Geschichte der Kabbala waren nicht für Psychologen gedacht, beschrieben aber dennoch offenbar klar umrissene Theorien über die menschliche Psyche. Seine tadellos dokumentierten Hinweise auf das kabbalistische Interesse an Träumen, Meditation und veränderten Bewusstseinszuständen weckten meine Neugier. Die Symbolik war zwar tatsächlich verworren, doch vielleicht übersah die neue Sorte der humanistischen und transpersonalen Psychologen – in ihrer voreiligen Asien-Begeisterung – ein äußerst relevantes, vergessenes Erkenntnissystem.

Ich befasste mich eingehender mit den wichtigsten Werken der Kabbala und entdeckte, dass meine Vorahnung richtig gewesen war. Die jüdisch-visionäre Tradition war beileibe nicht das Sammelsurium mittelalterlicher Ängste und abergläubischer Vorstellungen, als das sie oft dargestellt wurde, sondern offensichtlich ein riesiges – wenn auch zunächst verwirrendes – Schatzhaus psychologischer Erkenntnisse und Spekulationen. Im Sommer 1978 fasste ich meine ersten Entdeckungen in einem Aufsatz mit dem Titel „The Kabbalah and Humanistic Psychology“ für die Jahrestagung der American Psychological Association zusammen. Von den Reaktionen sehr ermutigt, erweiterte ich meine Beobachtungen zu einem Artikel, der kurz darauf im Journal of Humanistic Psychology erschien. Wenig später gelang es Freunden und Kollegen, mich zu einer noch umfassenderen Darstellung dieser Ideen zu überreden. Diese Aufgabe war eine äußerst erfreuliche.

Hier ist es mein Ziel, die psychologischen Erkenntnisse der Kabbala einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen, die mit den Feinheiten jüdischer Philosophie und Mystik nicht vertraut ist. Dieses Buch soll eine Brücke zur eigentlichen kabbalistischen Überlieferung sein; es ist nicht als Ersatz für die ursprünglichen Quellen angelegt, sondern vielmehr als ein Führer durch deren oft komplexes und schwieriges Gelände. Zu diesem Zweck stütze ich mich ganz wesentlich auf wichtige kabbalistische Schriften und verwende, wo immer dies passend scheint, direkte Zitate.

Wenn ich auch aus meinem beruflichen Blickwinkel heraus schreibe, so möchte ich doch unbedingt betonen, dass dieses Werk die Kabbala keineswegs auf die Begriffe der modernen Psychologie reduzieren will. Einen solchen Ansatz halte ich überdies für wenig sinnvoll oder gar wünschenswert. Was unsere innere Struktur und unsere höheren Potenziale anbelangt, haben die kabbalistischen Denker uns heute sehr viel zu bieten. Vor allem aber umfasst das jüdisch-esoterische System eine religiöse Dimension, und letztlich muss man ihm in dieser Sphäre begegnen. Wenn es diesem Buch irgendwie gelingt, die Großartigkeit dieser Tradition zu erhellen, dann hat es seinen Zweck erfüllt.

EINFÜHRUNG ZUR JUBILÄUMSAUSGABE

In dem Vierteljahrhundert seit ich Wir sind der Kosmos geschrieben habe, hat es in der Psychologie und in unserer gesamten Kultur viele spürbare Veränderungen gegeben. Unter Therapeuten und Seelsorgern regte sich damals zwar ein erstes professionelles Interesse an Spiritualität, doch größtenteils schlief es noch. Die Kabbala selbst war außerhalb jüdischer Gelehrtenkreise und vereinzelter chassidischer Gemeinden kaum bekannt. Für die meisten gebildeten Menschen war sie eine Tradition, die sich mit verworrenen Ideen und überkommenen Praktiken verband. Diese Sicht hat sich dramatisch gewandelt. In zunehmendem Maße empfinden innovative Denker in helfenden und Gesundheitsberufen die jüdische Mystik als einen Urquell des Wissens. Seit dieses Buch erstmals erschienen und dabei auf breites Interesse gestoßen ist, wurde unmissverständlich deutlich, dass kabbalistische Adepten schon seit Langem wertvolle Erkenntnisse zur spirituellen Bereicherung unseres Alltags – und zu einem effektiveren Umgang mit den Herausforderungen in Beziehung und Familie, bei Fragen des Lebensunterhalts und des körperlichen Wohlbefindens – bieten. Deshalb gibt es heute überall in den Vereinigten Staaten Kurse über die jüdisch-mystische Lehre und Praxis.

In einer Art und Weise, die noch vor nicht allzu langer Zeit völlig unwahrscheinlich erschienen wäre, stößt auch die Kabbala weltweit auf wachsendes Interesse. Nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa und Asien ist das Interesse an jüdischer Mystik stetig gewachsen. Menschen unterschiedlicher spiritueller Herkunft und Zugehörigkeit wenden sich auf der Suche nach psychologischen Erkenntnissen und praktischer Anleitung zu mehr Lebensfreude der Kabbala zu. Solche Motive sind selbstverständlich nicht an geographische oder nationale Grenzen gebunden. Als ein Beispiel für diesen bedeutsamen Trend sind jüngst Wir sind der Kosmos sowie eine große Martin-Buber-Anthologie in einer japanischen Ausgabe erschienen. Die Übersetzer, die ich persönlich als intellektuelle Kollegen kenne, betrachten die jüdische Spiritualität als universell bedeutungsvoll und relevant. Eine solche Auffassung steht natürlich in exakter Übereinstimmung mit der traditionellen kabbalistischen Ansicht, wonach die Essenz der Menschenseele grenzenlos ist.

Wenn das Interesse an jüdischer Mystik weiterhin international wächst, welche Entwicklungen mögen dann vor uns liegen? Es ist faszinierend, aber auch lohnend, darüber zu spekulieren, denn wie die Kabbala lehrt, ist die Fantasie eine kostbare und nützliche Kraft, um eine wünschenswerte Realität in die Tat umzusetzen. Aufgrund realistischer Beobachtungen und meiner Intuition komme ich zu folgenden durchaus verlockenden Vorhersagen:

Erstens, ich bezweifle nicht, dass die umfangreiche kabbalistische Literatur aus allen Zeiten heutigen Leserinnen und Lesern in immer größerem Umfang zugänglich gemacht werden wird. Schon viel zu lange liegen diese Schriften – aus pulsierenden jüdischen Siedlungen vom Mittelmeer bis nach Osteuropa – im staubigen Dunkel. Eine neue Gelehrtengeneration ist bereits dabei, längst vergessene Schriften wieder ins Licht heutiger Aufmerksamkeit zu rücken. In ähnlicher Absicht verfassen Historiker neue Werke über das Leben jüdischer Mystiker, wie zum Beispiel über das des Baalschem, des Begründers des Chassidismus – oft unter Verwendung bisher unzugänglichen Primärquellen-Materials. Solche Wissenschaft bietet neue Einblicke in spirituelle Bewegungen, Trends und Aufbrüche, die für unsere dynamische Zeit höchst relevant sein könnten.

Zweitens wird es wahrscheinlich mehr interdisziplinäre Forschung geben, und sei es nur deshalb, weil sie früher so selten war. Bemühungen, scheinbar so disparate Gebiete wie Psychologie und Geschichte – oder sogar Psychologie und Religion – miteinander zu verknüpfen, verliefen oft ineffektiv und sogar irreführend. Das schlimmste Beispiel aus moderner Zeit sind wohl die fehlgeleiteten Versuche von Freudianern, erhabenes religiöses Denken und religiöse Kreativität auf kleinliche Motive und dunkle unbewusste Triebe zurückzuführen. Glücklicherweise geriet diese entgeistigte und reduktionistische Sicht so gründlich in Misskredit, dass endlich neue Gelegenheit zu sinnvoller interdisziplinärer Forschung besteht. Die humanistische Psychologie mit ihrem Schwerpunkt auf unseren ungenutzten Potenzialen, Gipfelerlebnissen und höheren Fähigkeiten erscheint als ein besonders geeigneter Partner für ein solches Unterfangen.

Drittens wird die jüdische Mystik infolge kulturübergreifender gegenseitiger Befruchtung wahrscheinlich selbst auf neue authentische Art und Weise wachsen. Die in unserer Zeit aufgekommenen neuen Technologien, etwa das Internet, sowie globale Reiseerleichterungen ermöglichen in einem in der Menschheitsgeschichte bisher ungekannten Umfang, dass uralte spirituelle Traditionen sich direkt begegnen und voneinander lernen können. So steckt zum Beispiel ein echter nachhaltiger Dialog zwischen Buddhismus und Kabbala immer noch in den Kinderschuhen. Es ist faszinierend zu spekulieren, welche dynamischen Erkenntnisse über Mensch und Welt aus diesem Austausch hervorgehen könnten. Ähnlich könnten auch aus der sich abzeichnenden Begegnung zwischen der Kabbala und den Neurowissenschaften (die heute scheinbar zu den unspirituellsten Gebieten zählen) bemerkenswerte Entdeckungen über unsere Innenwelt hervorgehen – etwa zu Eigenwahrnehmung und Träumen, Gefühlen und Intentionalität, Meditation, Intuition und ekstatischen Bewusstseinszuständen. Es ist durchaus möglich, dass die Erforschung der jüdischen Mystik auf neue wissenschaftliche Gebiete hinausläuft, die es heute noch gar nicht gibt – vielleicht zu Aspekten von Zeit und Raum.

Wenn überhaupt etwas sicher ist, dann dass die jüdische Mystik viele aufregende Geheimnisse enthält, die nur darauf warten, von uns entdeckt zu werden. Wir können unsere Suche an praktisch jedem beliebigen Ausgangspunkt beginnen; je stärker er die eigene Lebenserfahrung widerspiegelt, desto besser. Wenn diese Neuausgabe von Wir sind der Kosmos dazu beiträgt, das Interesse an derartiger Forschung zu wecken, dann hat sie ihren Zweck erfüllt.

EINFÜHRUNG

Die Kabbala war zwar lange Jahre dem Vergessen anheimgefallen, doch heute erlebt das Interesse daran offenbar eine wahre Renaissance. Bereits in den 1960er Jahren wurde mit der Wiederentdeckung der Bedeutung vieler alter spiritueller Traditionen auch der Reiz der Kabbala erneut spürbar. Immer mehr Menschen aus vielen verschiedenen Glaubensrichtungen fühlten sich zu diesem uralten Zweig des Judentums hingezogen. Auf der ganzen Welt findet zunehmend eine Auseinandersetzung mit diesem Fundus verborgener Weisheit statt. Für diesen ermutigenden Trend sind ganz offensichtlich mehrere interessante Entwicklungen verantwortlich.

Vor allem gilt die Beschäftigung mit dem lose als „jüdische Mystik“ bezeichneten Gebiet inzwischen als weitaus weniger zweifelhaft oder despektierlich. In weiten Teilen des 19. und 20. Jahrhunderts hätten jüdische Akademiker und andere Experten dieses Thema nicht angerührt – aus Angst, in den Ruf eines okkultistischen Dilettanten zu geraten. Vielleicht waren sich diese Wissenschaftler ihrer erst kürzlich und unter großen Mühen erworbenen Zulassung in die heiligen Hallen westlichen Universitätslebens noch nicht ganz sicher. Daher wollten sie auf gar keinen Fall öffentlich mit anscheinend abergläubischen, unwissenschaftlichen Inhalten in Verbindung gebracht werden. Zum Beispiel wissen wir heute, dass Freud kein geringes Interesse an der Kabbala hatte, seine Beschäftigung damit jedoch ein Leben lang absichtlich unter Verschluss hielt. Vom unverhohlenen Spott einiger jüdischer Rationalisten abgesehen, haben westliche Denker der Moderne diese Tradition komplett ignoriert.

In neuerer Zeit beginnen jedoch überall auf der Welt Wissenschaftler mit erkennbar beeindruckenden Referenzen, sich intensiv um dieses Forschungsgebiet zu bemühen. Mit einer bisweilen an Verehrung grenzenden Hochachtung arbeiten sie daran, die längst vergessenen Schriften zu entdecken, zu analysieren und zu übersetzen. Auch wenn – wie die Forscher klar erkannt haben – die beeindruckenden Lehren der Kabbala nicht zum üblichen modernen Denken passen, sind es ihre Ideen trotzdem wert, ernst genommen und beachtet zu werden.

Eine Folge moderner wissenschaftlicher Auseinandersetzung ist, dass das kabbalistische System dem heutigen Publikum nach und nach besser zugänglich gemacht wird. Manuskripte, die jahrzehntelang in staubigen Archiven abgelegt waren, werden jetzt im technischen Zeitalter wieder ans Licht gehoben. Zum ersten Mal können nun einige, wenngleich gewiss nicht alle, der wichtigsten kabbalistischen Schriften ohne jahrelange mühevolle religiöse Ausbildung gelesen werden. Dass an amerikanischen Colleges seit Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre das Fach „Judaistik” Einzug hielt, hat die Neugier auf diese uralte jüdische Strömung weiter befördert. Angeleitet durch die Bücher von Martin Buber und Gershom Scholem, begannen Studenten, diesen faszinierenden Ansatz in seiner Tiefe und Tragweite zu erforschen. Auf diese Weise konnte das Studium der Kabbala bis in etablierte Intellektuellenkreise vordringen. Ein positiver Indikator hierfür ist, dass inzwischen seit etlichen Jahren an großen Universitäten Dissertationen über verschiedene Aspekte der kabbalistischen und der chassidischen Bewegung angenommen werden, und zwar auf Gebieten, die von der Literatur bis zur Psychologie reichen. Mehr noch, gegenwärtig räumen mehrere Fachzeitschriften diesem zuvor verunglimpften Thema regelmäßig Platz ein, und ihre „Dachorganisationen“ fördern Vorträge über dieses Thema bei nationalen Kongressen.

Tatsächlich übt die Kabbala heute zunehmend Anziehungskraft auf Menschen aus, die sowohl das menschliche Bewusstsein als auch die sich anbahnende Synthese zwischen Wissenschaft und Mystik besser verstehen wollen. Im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre haben Forscher in den alteingeführten spirituellen Traditionen wiederholt erstaunliche Erkenntnisse über unsere seelische und körperliche Struktur entdeckt. So erschienen zum Beispiel noch bis vor kurzem Geschichten über indische Yogis, die Puls, Atemfrequenz oder Körpertemperatur willentlich beeinflussen konnten, geradezu absurd. Doch in den heutigen Biofeedback-Labors und Praxen erlernen ganz normale Menschen ähnliche Leistungen manchmal innerhalb weniger Wochen. Auch die östlichen Meditationsformen zugeschriebene Heilwirkung galt als abergläubische Übertreibung. Doch heute verschreiben Ärzte und Heilpraktiker auf der ganzen Welt Patienten mit einem breiten Spektrum chronischer Krankheiten – wie etwa kardiovaskulärer Erkrankungen, Bluthochdruck und sogar Krebs – mit großem Erfolg Varianten der klassischen Meditation. Daher erscheinen die uralten spirituellen Disziplinen mit jedem Tag weniger praxisfern.

Viele, die sich für die spannende Suche nach unserem höchsten Potenzial interessieren, kennen die Kabbala bis jetzt nur vage. Dennoch bietet uns die jüdisch-visionäre Tradition einen tiefen Einblick in das grundlegende Wesen des menschlichen Bewusstseins. So ist zum Beispiel ihre Sicht der Träume annähernd siebenhundert Jahre älter als die moderne Psychologie und doch in mancher Hinsicht heute etablierten Auffassungen um einiges voraus. Die kabbalistische Betonung von Gesang und Tanz als wirksamen Instrumenten der Heilung nimmt die heutige Musiktherapie vorweg. Ähnlich steckt in ihrem Modell alltäglicher und veränderter Bewusstseinszustände eine verblüffende Voraussicht der neuesten Theorien über die Funktionsweisen des menschlichen Geistes. Selbst da, wo sie scheinbar höchst spekulativ ist – etwa wenn es um das Wesen von Prophetie und Hellsichtigkeit, innere Vorgänge in der „Todesstunde“ und den Fortbestand unseres Bewusstseins nach dem physischen Tod geht – werden ihre Aussagen von vielen innovativen Forschern zunehmend ernst genommen.

Zugleich kommt heute ein wesentlicher Einfluss für die Verbreitung der Kabbala aus den Reihen des Judentums selbst. In der Gründungszeit Israels erläuterte der Großrabbiner für Palästina, Abraham Isaak Kook, viele Jahre lang Themen der jüdischen Mystik. Er erachtete die Sehnsucht nach dem Transzendenten für ein menschliches Grundbedürfnis und dessen Erfüllung für unser höchstes Ziel. Bis zu seinem Tod im Jahr 1935 predigte er außerdem die Einheit unseres körperlichen, emotionalen und spirituellen Selbst und sagte dabei zum Beispiel: „Die Melancholie verbreitet sich als bösartiges Leiden überall in Körper und Geist.“1 In den kommenden Jahren werden seine Lehren – von denen einige in neuerer Zeit ins Englische übersetzt und von seinem Sohn Zwi Jehuda Kook in Israel veröffentlicht wurden – die Kabbala zweifellos breiteren Kreisen verständlich machen.

Chassidische Gruppen, insbesondere die Chabad-Lubawitsch-Bewegung, haben in den letzten Jahren gemeinsame Anstrengungen unternommen, die Juden zu erreichen, die auf der Suche nach einer gefestigteren spirituellen Identität sind und die der verbreitete, rein kulinarische „Bagels and Lox [Mohnbagel mit Frischkäse und Räucherlachs]“-Zugang zum Judentum unbefriedigt lässt. Chassidische Organisationen sprechen anscheinend Menschen, die bereits verschiedene östliche Meditationsformen praktiziert haben, besonders stark an. In den Chabad-Zentren (Chabad ist die formelle Bezeichnung der Lubawitscher Chassidim) der meisten großen nordamerikanischen Städte finden zunehmend öfter Kurse in „jüdischer Meditation“ und esoterischer Psychologie statt. Ihr Schwerpunkt liegt in diesem Fall auf den Lehren ihres Gründers Rabbi Schneur Salman von Ladi, der Ende des 18. Jahrhunderts gelebt hat. Andere Programme verlangen weniger Hingabe als die der Lubawitscher, betonen aber in ähnlicher Weise die Einheit zwischen dem visionären Weg und gängigen jüdischen Werten.

Die Kurse greifen in unterschiedlichem Ausmaß auf die Originaltexte zurück, haben aber alle zum Ziel, ihre Schüler in der Meditation nach klassischen kabbalistischen Methoden anzuleiten. Auch von offizieller jüdischer Seite wird inzwischen stellenweise eine Verbindung hergestellt zwischen jüdischer Esoterik und dem heutigen Wissensdurst in Bezug auf ekstatische Erfahrungen und unsere inneren kreativen Zustände. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet die jüdische Reformbewegung, die sich vor nahezu zweihundert Jahren erhoben hat, um die – wie sie meinte – Rückständigkeit der Tradition zu bekämpfen, nun das Bedürfnis verspürt, der kabbalistischen Sicht wieder den ihr zustehenden Platz im Judentum einzuräumen. Ausdrücklich anerkennend, wie attraktiv autoritäre Sekten für manche junge Juden heute wirken, loben die Rabbiner jetzt die transzendenten Offenbarungen, die die Kabbala zu bieten hat. Noch vor einem Jahrzehnt wäre dies undenkbar gewesen.

Kurzum, mehr denn je im technischen Zeitalter zeigen heute Menschen – sowohl in der säkularen Welt als auch in etablierten jüdischen Kreisen – Bewusstsein und Respekt für dieses uralte Wissenssystem. Seinen vollen Anschluss an die breitere jüdische Kultur oder an die innere Sehnsucht des Westens, der Zen-Buddhismus, Yoga und eine Unzahl östlicher Zugänge zur höheren Natur menschlicher Fähigkeiten bereitwillig aufgenommen hat, hat es jedoch noch nicht gefunden. Daher gibt es zwar buchstäblich Dutzende Bücher, die die genannten Disziplinen mit moderner Psychologie verbinden, doch kein einziges, das sich auf diese Weise mit der Kabbala beschäftigt.

Das Hauptaugenmerk von Wir sind der Kosmos: Jüdische Mystik und moderne Psychologie liegt daher auf den psychologischen Aspekten der Kabbala; denn zu den Erkennungszeichen der jüdischen Mystik zählt auch die Betonung der Alltagsrelevanz der visionären Erfahrung. Wie zahlreiche Wissenschaftler festgestellt haben, will dieser Weg als eines seiner grundlegenden Ziele die Eingeweihten lehren, das göttliche Element ins alltägliche Tun und Lassen einzubringen. Nach einem Blick auf die historische Entwicklung und die metaphysischen Thesen der Kabbala werde ich mich mit Themen wie der kabbalistischen Sicht der menschlichen Gefühle, der Beziehung zwischen Körper und Geist, der Beschaffenheit unseres Bewusstseins und unseres Potenzials zur Selbsttranszendenz auseinandersetzen. Zum Schluss werde ich meine Erkenntnisse über kabbalistische Auffassungen zu so spannenden Fragen wie Parapsychologie, Leben nach dem Tod und Reinkarnation darlegen.

Ein Hauptthema, das sich bei der Arbeit an diesem Buch herauskristallisiert hat – und in diesem Fall noch dazu zunächst völlig unbeabsichtigt war – ist die offensichtlich gegebene erstaunliche Übereinstimmung zwischen der Kabbala und anderen alten spirituellen Traditionen. Natürlich sind sehr wohl Unterschiede zwischen diesen weltweiten Disziplinen festzustellen, weitaus auffälliger erscheinen jedoch ihre Gemeinsamkeiten. Wenngleich sie sich in ihren Ideen zweifellos gegenseitig befruchtet haben, bin ich dennoch überzeugt, dass dieses Phänomen auch ein Hinweis auf die Möglichkeit zur Verallgemeinerung und Relevanz der Schlussfolgerungen ist, die in diesen Wissenssystemen vorzufinden sind. Außerdem war ich immer wieder beeindruckt von dem Optimismus und dem Vertrauen zum Unternehmen Mensch, die diesen jahrhundertealten Herangehensweisen gemeinsam ist. In einer schwierigen und verwirrten Zeit rückt die Bedeutung der uralten spirituellen Traditionen für die Menschheit immer drängender ins Bewusstsein.

Mit ihrem grundsätzlichen Glauben an die Heiligkeit des Lebens, mit ihrer Betonung des Höheren in uns allen und mit ihrer unerschütterlichen ethischen Verankerung im Judentum enthält die Kabbala eine universelle und zeitgemäße Bedeutung.

KAPITEL EINS

Jüdische Mystiker: Sucher der Einheit

Der Jude hat den Vorteil, die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins in seiner Geistesgeschichte vorweggenommen zu haben. Ich meine damit die … Kabbala.

Carl Gustav Jung

Wo die Philosophie endet, dort beginnt die Weisheit der Kabbala.

Rabbi Nachman von Bratzlaw

Der Begriff „Kabbala“ geht auf das Mittelalter zurück und kommt von der hebräischen Wortwurzel für „empfangen“. Die Kabbala enthält ein umfassendes, detailliertes und schlüssiges Bild unserer Beziehung zur Welt. Metaphysische Abhandlungen von ungeheurer Kraft werden mit besonderen Methoden kombiniert, mit deren Hilfe wir über unsere alltägliche weltliche Geisteshaltung hinausgelangen können. Ihr eigentlicher Ursprung ist jedoch in den Ruinen des Altertums verloren gegangen, denn es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass das Judentum schon seit seinen ersten Anfängen vor etwa viertausend Jahren eine esoterische Seite besessen hat. Zuweilen sank dieser Zugang zum Göttlichen tief in den Untergrund des jüdischen Bewusstseins und übte seine Kraft auf verborgene, kaum erkennbare Weise aus. Zu anderen Zeiten in der jüdischen Geschichte gelangte sie zu voller Blüte und zog praktisch ganze Generationen in ihren Bann.

Historiker bezeichnen die erste Phase dieser schriftlich fixierten Disziplin im Allgemeinen als die Merkaba- oder „Wagen“-Epoche. Sie umspannte die Zeit vom 1. Jahrhundert v.u.Z. bis zum 10. Jahrhundert u.Z. und hatte ihr Zentrum im nacheinander von verschiedenen Weltmächten beherrschten Palästina. Obwohl diese Tradition über einen langen Zeitraum andauerte, handelte es sich dabei um einen mehr oder weniger geschlossenen Wissensfundus, zusammengehalten von einem integrierten Bestand an Lehren und Techniken bezüglich höherer Bewusstseinszustände. Die Merkaba-Mystik wurde von einigen der angesehensten Rabbiner ihrer Zeit entwickelt und gilt als der unmittelbare Vorläufer der später entstehenden eigentlichen Kabbala.

Die Quellen deuten darauf hin, dass die Anhänger dieses Systems in ihren Studien vorwiegend zwei Richtungen folgten: Ma’asse Bereschith (das Werk der Schöpfung) und Ma’asse Merkaba (das Werk des Göttlichen Wagens). Ersteres war eher theoretisch und befasste sich mit der Erschaffung der Welt sowie den ersten göttlichen Offenbarungen. Das Ma’asse Merkaba basiert auf der Beschreibung des Himmelswagens durch den Propheten Hesekiel und ist ein Erkunden unserer Verbindung zur Gottheit. Beide Wege waren geheimnisumwittert, blieben im Verborgenen und wurden nur den frommsten Juden ihrer Zeit zugänglich gemacht. Viele große Weise, die an der Erstellung des Talmud arbeiteten (der wichtigen Schrift, die das jüdische Gesetz, Kommentar und Bibelexegese enthält und um das Jahr 500 u.Z. fertiggestellt wurde), kannten diese geheime Überlieferung, auch wenn nicht alle geneigt waren, sie zu praktizieren. Denn selbst damals warnten die Eingeweihten vor den sehr konkreten Gefahren für Körper und Geist, die jene erwarteten, die zu schnell in diesen metaphorischen Garten vordrangen, so aufrichtig ihre Ziele auch sein mochten.

Die archetypische Legende, mit der dies unterstrichen werden sollte, erzählt, vier große jüdische Weise – Ben Azai, Ben Zoma, Ben Abuja und Rabbi Akiba – hätten diesen Weg bis an sein äußerstes Ende verfolgt. Von den vier Männern – alle hoch angesehene Gelehrte zur Zeit der zweiten Zerstörung des Jerusalemer Tempels, im 1. Jahrhundert u.Z. – ging nur Rabbi Akiba unbeschadet aus der Erfahrung hervor. Die übrigen erwarteten Tod, Wahnsinn oder der Abfall vom Glauben. Um zu verhindern, dass andere ein ähnliches Schicksal ereilte, gaben die Adepten die Lehren weitgehend nur mündlich sowie vom Meister an auserwählte Schüler weiter. Als die Inhalte schließlich in schriftlicher Form zugänglich gemacht wurden, waren diese für die Masse der Juden praktisch immer verboten. Diese Haltung wahrt das Rabbinat bis zum heutigen Tag.

Die Eingeweihten der visionären Tradition nannten sich die Jorde Merkaba („die in den Wagen Hinabsteigenden“), weil sie immer tiefer in die verborgenen Winkel ihres Bewusstseins hinabstiegen. In den tiefsten Welten der Meditation, so hieß es, liege der ätherische Wagen verborgen und warte darauf, den Schüler durch alle Bewusstseinsebenen zu erheben, bis Hesekiels himmlisches Bild geschaut würde. In den Hechaloth-Traktaten (Hechaloth = Himmlische Hallen) kartierten die Meister dieses Systems nach Art erfahrener Kartographen das schwierige innere Gelände, das die Schüler auf ihrer Suche durchqueren mussten. Sie schilderten, welche Anblicke und Empfindungen den Eingeweihten erwarteten. Zum Beispiel hieß es, die sechste Himmelsebene ähnele einer endlosen grellen Spiegelung wie von Meereswellen. Bei jedem weiteren Schritt nach innen seien verwirrendere, ja sogar erschreckendere Visionen zu erwarten, so ihre Schilderung. In einem typisch symbolischen Fragment aus dem 4. oder 5. Jahrhundert u.Z. bemerkt dessen anonymer Verfasser: „Von Machon bis Arabot ist es eine fünfhundert Jahre lange Reise. … Was ist darinnen? Das Schatzhaus des Sehens, der Speicher des Schnees, der Speicher des Friedens, die Seelen der Gerechten und die Seelen der noch Ungeborenen, die entsetzlichen Strafen, die den Frevlern vorbehalten sind.“1

Doch die Weisen betonten auch, letztendlich seien solche Bilder dem Bewusstsein des Schülers unterstellt. Deshalb rieten dieselben Schriften dem Praktizierenden auch, sich von den Erscheinungen nicht überwältigen zu lassen. Wenn er durch die vorangegangenen Übungen ausreichend vorbereitet sei, werde er zur rechten Zeit die richtigen Worte sprechen und damit die Visionen bannen können, die seine Seele zerschmetterten, erklärten die Weisen. Typischerweise wurde der Eingeweihte durch Fasten, besondere Atemübungen und rhythmische Gesänge in einen veränderten Bewusstseinszustand versetzt. Interessanterweise gibt es auffallende Parallelen zwischen dieser Herangehensweise an ein höheres Bewusstsein und der etlicher anderer spiritueller Traditionen. So werden zum Beispiel auch im Tibetischen Buddhismus die Schüler ermahnt, „die Visionen der Gottheiten im Bardo“ [nicht-körperlichen Zustand] seien „die Widerspiegelung spiritueller Prozesse und Erfahrungen aus diesem Leben“.2

Die zweite große esoterische Strömung im Judentum zu jener Zeit war spekulativer und konzentrierte sich auf den Aufbau des Kosmos sowie unsere Verbindung dazu. Die wichtigste Schrift war das Sefer Jezira (Buch der Schöpfung), von dem man glaubte, es sei das erste schriftlich verfasste jüdisch-metaphysische Werk. Es wurde anonym im 3. und 6. Jahrhundert verfasst, um jene Zeit also, in welcher der Talmud seine endgültige Form erhielt. Trotz seiner ungeheuren Wirkung ist das Sefer Jezira recht kurz; es umfasst in jeder Ausgabe weniger als zweitausend Wörter. Es ist keine ekstatische oder meditative Abhandlung, sondern bietet – im Format einer kurzen Zusammenfassung – eine knappe, aber atmosphärisch dichte Beschreibung der verborgenen Mechanismen der Welt.

Im Buch der Schöpfung werden zweiunddreißig geheime Wege zur Gottheit besprochen (eine Anzahl, die interessanterweise exakt der Hälfte der vierundsechzig kosmischen Situationen entspricht, die das asiatische I Ging oder Buch der Wandlungen kennt). Diese Kanäle werden durch die zehn sogenannten Urzahlen – die Sefirot oder Energie-Essenzen – sowie die zweiundzwanzig Buchstaben des hebräischen Alphabets symbolisiert. Alle Aspekte des Kosmos, auch die Natur von Raum und Zeit sowie unser Zusammenwirken damit, werden durch das konstante Wechselspiel dieser Schwingungskräfte aufrechterhalten, so heißt es. Die Vorstellung von den zehn Sefirot wurde zur Grundlage der späteren Kabbala, die diese Auffassung zu einem unter der Bezeichnung Baum des Lebens bekannten formellen System weiterentwickelt hat.

Mit seinem präzisen und deduktiven Stil stieß das Sefer Jezira seit seiner ersten Verbreitung bei jüdischen Visionären auf großes Interesse. Es bildete die Grundlage für die spätere kabbalistische Erforschung unseres Aufbaus als einer Energiematrix sowie unserer Beziehung zu den Energien in der Welt um uns. Im Laufe der Jahre wurden viele Kommentare zum Sefer Jezira verbreitet, und es war vielleicht das meiststudierte jüdisch-esoterische Werk vor Erscheinen des Sohar (Buch des Glanzes) im 13. Jahrhundert in Spanien.

In dieser Zeit beantworteten die Themen des Buches der Schöpfung und der Merkaba-Schule die zentralen Fragen der Juden, die nach höherem Wissen strebten. Über das Leben oder auch nur die Beweggründe ihrer Anhänger weiß man wenig. Sicher waren sie größtenteils rabbinische Gelehrte, die eine Sehnsucht nach etwas verspürten, das sie in den Gesetzen des Talmud und in den üblichen Disputen über die Bibel nicht finden konnten. Sie selbst betrachteten sich als Anhänger einer erhabenen Tradition, die sie auf die Propheten und sogar auf Abraham, den angeblichen Verfasser des Sefer Jezira, zurückführten. Den Autoren dieser Schriften ging es weitaus mehr darum, ihre Botschaft zu verbreiten, als Ruhm zu erlangen; daher existieren nur äußerst vage Mutmaßungen darüber, wer diese Dokumente tatsächlich erstellt hat. Zu dieser Zeit spielten außerdem sowohl die Lehren islamischer Sufis als auch die christlicher Mystiker mit hinein; so ähnelt zum Beispiel das klassische jüdische Werk Lehrbuch der Herzenspflichten, von Bachja ben Josef Ibn Pakuda aus dem 11. Jahrhundert, sehr stark Schriften von Sufis aus jener Zeit.

Mit dem Erscheinen des anonym verfassten Sefer Bahir (Buch des hellen Leuchtens) um 1175 in der südfranzösischen Provence, wurde die eigentliche Zeit der Kabbala eingeläutet. Der Titel dieses faszinierenden Werkes ist dem einleitend zitierten Bibelvers „Nun aber sieht man nicht das Licht, leuchtet es in den Himmeln“3 entnommen. Seine zentrale Prämisse lautet, dass es hinter dem, was wir üblicherweise im Alltag erleben, eine große jenseitige Ordnung gibt. Vielleicht spiegelt es ihre Einschätzung die Lage der unterdrückten Juden im Mittelalter wider, wenn diese frühen Kabbalisten wiederholt die verborgenen Aspekte der Gottheit betonen. Menschen, „die den König sehen wollen und nicht wissen, wo der König ist“, so besagt das Buch des hellen Leuchtens, „fragen … zuerst nach dem Haus des Königs und sodann fragen sie: Wo ist der König?“4

Da das Buch Bahir also eine Abhandlung und ein Handbuch zur Entdeckung der Herrlichkeit hinter der gewöhnlichen Welt umfasste, verbreitete es sich rasch in der gesamten jüdischen Welt. Bei einigen der darin beschriebenen Methoden zur Erlangung eines höheren Bewusstseins geht es darum, eine Lebensenergie, die durch den menschlichen Körper fließen soll, zu kanalisieren – eine Auffassung, die sich auch in anderen Traditionen, wie etwa dem Kundalini-Yoga, findet. Zum ersten Mal, wenngleich noch sehr langsam, erreichten esoterische Vorstellungen ein breiteres Publikum unter den Juden. Bis zum Jahr 1200 hatten die Kabbalisten eine klare Identität erlangt, insbesondere in bestimmten Regionen Südfrankreichs und Spaniens. Zahlenmäßig waren sie nicht bedeutend, aber das Ansammeln einer Bewegung lag ihnen fern; ihr Ziel war es, Einzelne, nicht große Gruppen, in die Lage zu versetzen, sich über das Unglück, das unter den Juden jener Zeit weit verbreitet war, zu erheben. Deshalb bemerkte Rabbi Abraham ben David (Rabed) in einer der ersten veröffentlichten kabbalistischen Schriften, dass alle diese esoterischen Lehren nur „von Mund zu Mund“ weitergegeben wurden.5

Etwa um dieselbe Zeit trat unter den nordeuropäischen Juden, insbesondere in Deutschland, eine gewissermaßen parallele Entwicklung ein. Etwa von 1150 bis 1250 übte eine unter der Bezeichnung Chassidim (die Frommen) bekannte und nicht mit der osteuropäischen Bewegung des 18. Jahrhundert zu verwechselnde Gruppe anhaltenden Einfluss auf die deutschen Juden aus. Das wichtigste literarische Werk dieses Kreises war das Sefer Chassidim (Buch der Frommen), eine Zusammenstellung verschiedener Schriften aus dieser Zeit und Region.

Die deutschen Chassidim konzentrierten ihre Spekulation auf das „Geheimnis der Einheit Gottes“ und eine esoterische Analyse der Thora. Sie glaubten – wie auch die späteren Kabbalisten – dass jeder Abschnitt und sogar jedes Wort des Pentateuch (der fünf Bücher Mose) eine geheime, verborgene Bedeutung habe. Außerdem erforschten sie bemerkenswert detailliert die Natur veränderter Bewusstseinszustände, etwa des Phänomens des automatischen oder spontanen Schreibens. Darüber hinaus befasste sich diese Gruppe intensiv mit Träumen als Tor zu höherer Erkenntnis. Anders als die meisten jüdischen Visionäre traten sie allerdings für eine asketische Lebensweise als Mittel zur Befreiung von den Enttäuschungen des irdischen Lebens ein. Sie lebten in einer für das schiere Überleben der Juden äußerst beklemmenden Atmosphäre und betonten daher, körperliche Selbstverleugnung sei die beste Methode, um zur wahren Erkenntnis über den Sinn unseres Daseins in der materiellen Welt zu gelangen.

Abraham Abulafia: Prophetische Kabbala und „jüdisches Yoga“

Abaraham ben Samuel Abulafia (1240-ca. 1292) war einer der wichtigsten Kabbalisten und ist vielleicht eine der interessantesten Gestalten der gesamten jüdischen Geschichte. Er hatte tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der prophetischen Kabbala im Allgemeinen sowie auf die größte Blütezeit der Kabbala in Palästina dreihundert Jahre später. Die Einzelheiten seines Lebens – voller Intrigen, religiöser und politischer Verschwörungen, einem Beinahetod und scheinbar wunderbarem göttlichen Eingreifen – ergeben eine Lektüre, die mindestens so provokativ ist wie jeder historische Roman. Doch in den meisten zeitgenössischen Berichten über jüdische Philosophie oder Geschichte wird er kaum erwähnt, zweifellos aufgrund seiner einzigartigen und umstrittenen Ideen.

Der im spanischen Saragossa geborene Abulafia war ein intelligenter und sehr belesener junger Mann. Anders als die meisten Kabbalisten seiner Zeit, verfügte er jedoch nur über eine geringe formelle rabbinische Bildung. In seiner Jugend reiste er viel und ließ sich schließlich in Barcelona nieder. Dort versenkte er sich tief in die Kabbala sowie in Maimonides‘ Führer der Unschlüssigen. Diese Schrift des jüdischen Denkers aus dem 12. Jahrhundert ist ein Klassiker intellektuellen Denkens. Im Alter von einunddreißig Jahren erlangte Abulafia eigenen Angaben zufolge die Erleuchtung, was mit verschiedenen medialen Gaben einherging. Abulafia verkündete seine prophetischen Visionen auf seinen Reisen durch mehrere Länder, darunter Spanien, Italien und Griechenland. Zwar verließ er sich zur Verbreitung seiner Methoden zur Erlangung eines höheren Bewusstseins hauptsächlich auf mündliche Anweisungen, doch er verfasste auch spezielle Handbücher über den esoterischen Weg und brach damit zugleich mit der kabbalistischen Tradition. Da er eine anhaltend starke Wirkung auf andere Kabbalisten ausübte, betrachtete er sich allmählich als eine messianische Gestalt. 1280 brachte Abulafia die Chuzpe oder Kühnheit auf, keinen Geringeren als den fanatisch antisemitischen Papst Nikolaus III. zum Judentum bekehren zu wollen.

In der Verurteilung Abulafias als unnötigem Unruhestifter machte das jüdisch-religiöse Establishment gemeinsame Sache mit den christlichen Kirchenoberen. Mit seinem übereifrigen Bemühen, die Kabbala an die Spitze der christlichen Welt zu bringen, könnte er seine weniger visionären Mitjuden in große Gefahr bringen. Daher erließ das Rabbinat eine Depesche, mit der es dieses Unterfangen sowie alle weiteren Abenteuer, die noch folgen sollten, ablehnte. Tatsächlich liegt einer der Gründe für das historische Unbehagen der jüdischen Orthodoxie mit der esoterischen Disziplin darin, dass diese oft zu messianischen Bewegungen oder zu überhöhten jüdischen Hoffnungen auf eine radikale Wende ihres irdischen Status als Volk geführt hat.

Unterdessen bereiteten sich Abulafia und seine Jünger wochenlang auf ihre Aufgabe vor. Sie beteten, fasteten und vollzogen geheime meditative Rituale, wie etwa Permutationen des hebräischen Alphabets, damit ihre Mission gelänge. Doch noch bevor Abulafia Rom erreichte, verurteilte ihn der Papst zum Tode. Der Scheiterhaufen wurde bereits für ihn errichtet. Als der leidenschaftliche Visionär an den Toren der Stadt ankam, erfuhr er, dass Papst Nikolaus III. in der Nacht plötzlich verstorben war. Die Franziskaner nahmen ihn gefangen, ließen ihn jedoch, offensichtlich hingerissen von seiner charismatischen Persönlichkeit, bald wieder frei.

Nach diesem Zwischenfall nahm Abulafia seine Wanderungen wieder auf. In Italien setzte er sein Lehren und Schreiben fort und trug Methoden vor, durch die seiner Meinung nach jedermann paranormale Fähigkeiten erlangen konnte. Für ihn lagen solche Kräfte sowie die dazugehörigen ekstatischen Zustände für jeden Menschen im Bereich des Möglichen. In bissigem Ton warf er dem Rabbinat eine Überbetonung des talmudischen Gesetzes bis zum Ausschluss einer unmittelbaren Kommunion mit den höheren Kräften im Universum vor. Er war tolerant gegenüber anderen Glaubensrichtungen und stand in freundschaftlichem Verhältnis zu christlichen und islamischen Mystikern, denen er begegnete. Ähnlich wie die Meister des Kundalini-Yoga, empfahl Abulafia bestimmte Körperhaltungen, Formen veränderter Atmung und die Kontemplation in der Einsamkeit als Pfad zum Göttlichen. Ebenso warnte er vor einem „Feuer“, das sich bei intensiver Konzentration aus dem Körper erheben könne. Parallel zu östlichen Lehren riet auch er seinen Schülern, nicht zu schnell voranschreiten zu wollen, damit sie nicht womöglich verheerende geistige und körperliche Folgewirkungen erlebten. „Reinige den Körper und suche dir ein einsames Haus, wo keiner deine Stimme hört“, schrieb er. „Dort sitze … und enthülle dein Geheimnis keinem Menschen.“6

Nach aus der Literatur weithin bekannten fehlgeschlagenen Bemühungen, sich als den Messias darzustellen, floh Abulafia 1290 auf die Insel Comino bei Malta. Dort soll er um 1292 gestorben sein. Er hinterließ ein Vermächtnis von sechsundzwanzig kabbalistischen Handbüchern und zweiundzwanzig prophetischen Werken, wovon die meisten seit Langem verschollen sind. Viele seiner Meditationsführer sind jedoch noch vorhanden und bei Kabbalisten bis heute beliebt.

Der Sohar: die zentrale kabbalistische Schrift

Zur selben Zeit, als Abulafia seine kühnen Prophezeiungen verkündete und heftige Auseinandersetzungen mit dem Rabbinat führte, erschien im Spanien der 1280er oder 1290er Jahre ein bemerkenswerter Band mit jüdisch-visionären Überlieferungen. Er wurde unter dem Titel Der Sohar (Buch des Glanzes) von Moses de Leon (1250-1305) herausgegeben und trug den Namen des großen Rabbi Simeon bar Jochai, der kurz nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem gelebt hatte. Der in einem erhabenen aramäischen Sprachstil verfasste Sohar enthielt eine faszinierende Mischung aus Metaphysik, mythischer Kosmogonie und esoterischer Psychologie. Unter Kabbalisten wie Nicht-Kabbalisten löste er sofort Begeisterung aus. Auf die Frage, wie der exotische Band in seinen Besitz gekommen war, schwor de Leon, er sei mit einem besonderen Boten gekommen, gesandt von dem Weisen Nachmanides in Palästina, der ihn zufällig gefunden habe. Heute sind sich nahezu alle Gelehrten einig, dass de Leon das Buch des Glanzes Anfang der 1280er Jahre selbst verfasst hat. Wenige Jahre später stellte ein anonymer Autor die letzten Bücher des Sohar zusammen, nämlich das Ra’ja Mehemna („der treue Hirte“) und Tikkune Sohar (wörtlich „Verbesserungen zum Sohar“, tatsächlich ein neuer Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der Thora).

Über de Leons Leben ist wenig bekannt, aber er stand in enger Verbindung mit Abraham Abulafias Verwandten und studierte bei einem seiner glühendsten Verehrer. Doch es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Begründer der prophetischen Kabbala und der „Verfasser“ des Sohar einander tatsächlich begegnet sind, auch hat keiner den anderen je schriftlich erwähnt. De Leons Werke, die unter seinem eigenen Namen veröffentlicht wurden und erstmals 1286 erschienen, waren hochspekulativ und beschäftigten sich mit dem verborgenen Sinn der biblischen Geschichten. Beides ist auch im Sohar