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Carl Baudenbacher

Das Schweizer
EU-Komplott

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Impressum

2. Auflage 2019

© 2019 Münster Verlag GmbH, Basel

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-907146-45-3

www.muensterverlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abkürzungen

Kapitel 1Die wichtigsten europäischen Verträge der Schweiz

I.EFTA-Konvention

1.Grundzüge

2.Konfliktlösung

3.Rechtsprechung des Bundesgerichts

II.Europäische Menschenrechtskonvention

1.Grundzüge

2.Zugang der Privaten zu einem übernationalen Gericht

3.Der EMRG als Wirtschaftsrechtsgericht

III.Bilaterale Verträge mit der EU

1.Überblick

2.Konfliktlösung durch Gemischte Ausschüsse

3.Der Staat als Vormund der Privaten

4.Ausnahme: Luftverkehrsabkommen

5.Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EuGH

Kapitel 2Distanz zur EWG

I.Traditionelle Abwehrhaltung gegen supranationale Strukturen

II.Zaungast bei der Gründung der EWG 1957

III.EWG-Assoziationsversuch 1961–1963

IV.Freihandelsabkommen mit der EWG 1972

Kapitel 3EU-Begeisterung

I.Zeitenwende am Ende der 1980er Jahre

II.Schlechter Verlauf der EWR-Verhandlungen

III.EU-Beitrittsgesuch aus heiterem Himmel

IV.6. Dezember 1992: EWR-Nein

V.Die Lebenslüge der bundesrätlichen Europapolitik

Kapitel 4Institutionenfreier Bilateralismus als Zwischenschritt

I.EWR-Nein als Auftrag zum EU-Beitritt?

II.Bilaterale I

III.Bilaterale II

IV.«24-Stunden Abkommen»

V.Offene Distanzierung vom EWR

Kapitel 5«Autonomer» Nachvollzug europäischen Rechts

I.Programm

II.Ziele

III.Gesetzgebung

1.Hauptbeispiele

2.Inkonsistenzen

IV.Anwendung des nachvollzogenen Rechts durch die Gerichte

1.Allgemeines

2.Sind Schweizer Gerichte verpflichtet, neuer Rechtsprechung des EuGH zu folgen?

3.Wie sollen Schweizer Gerichte bei Fehlen von EuGH-Rechtsprechung vorgehen?

4.Was, wenn der Gesetzgeber bewusst vom europäischen Recht abweicht?

5.Folgen Schweizer Gerichte der Rechtsprechung des EuGH?

V.Ergebnis

1.Zielkonflikte

2.Zielverfehlung

3.Mangelnde Rechtssicherheit

4.Souveränitätsverlust

VI.Entstehung eines «Schweizerischen Europarechts»

Kapitel 6Auf dem Weg zur Institutionalisierung

I.«Nein zu Europa»

II.Neuer Sprachgebrauch, aber altes Ziel

III.Unveränderte Bedeutung der PNR-Politik

IV.Ab 2008: Die EU drängt auf Institutionen

V.2010–2011: Halbherziges Schnuppern am EWR

VI.2012: Der aussichtslose Versuch, einen Schweiz-Pfeiler zu schaffen

Kapitel 72013–2017: Das «reine» EuGH-Modell

I.Eine Umstrukturierung mit Folgen

II.Kabinettspolitik – Das «Non-Paper»

III.Dynamische Rechtsübernahme

IV.Urteile des EuGH: Nicht bindend oder bindend, aber nicht endgültig?

V.Die sechs falschen Behauptungen über das Funktionieren des EWR

1.Vorbemerkungen

2.Verwechslung von Zuständigkeit und Urteilswirkung

3.Ein Sieg der Schweiz wäre nicht endgültig

4.Die EU bliebe ohne Überwachung

5.Im Gegensatz zum EuGH könnte der EFTA-Gerichtshof die Schweiz verurteilen

6.Andocken bedeutete 100 neue Überwacher

7.EFTA-Gerichtshof muss stets dem EuGH folgen

VI.Der Bundesrat übernimmt die Fremdrichterformel

VII.Fazit: Überhandnahme von Bullshit bzw. Fake News

VIII.Das EuGH-Mandat wird erzwungen

1.Widerstand

2.Bellevue Bar

3.Aussenpolitische Kommission und Kantone werden auf Linie gebracht

IX.2014: Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative»

X.2015–2017: Treten an Ort

1.Verhandeln um des Verhandelns willen

2.Didier Burkhalter wird durch Ignazio Cassis ersetzt

3.Die EU-Kommission spielt mit harten Bandagen

Kapitel 8Britzerland?

I.Das britische Referendum vom 23. Juni 2016

II.Entwicklung der britischen Position

1.Vorbemerkungen

2.Hard Brexit

3.Soft Brexit: Chequers Plan

4.«Norway for Now»

5.Austrittsabkommen und Politische Deklaration

III.Reaktion des Bundesrates: «Mind the gap»

IV.Die Positionen der anderen EFTA-Staaten

V.Eine Chance für die EFTA und die Schweiz

1.Allgemeines

2.Special relationship Schweiz-Grossbritannien

3.Fazit

Kapitel 9Ab 2018: «Schiedsgericht» – das EuGH-Modell im Tarnanzug

I.Ein Beiprodukt des Juncker-Besuchs vom November 2017

II.Die Schweiz am Ziel Ihrer Träume?

1.Ein «Schiedsgerichtsmodell»

2.Dynamische Rechtsübernahme

3.Angebliche Selbstüberwachung der Schweiz

4.Weitere angebliche «Selling Points»: Selbstüberwachung bei den Behilfen und Kooperation Bundesgericht – EuGH

III.Die Realität bei der Streitentscheidung: Ukraine-Modell

IV.Die Linke wendet sich gegen das Rahmenabkommen

V.Der Nicht-Entscheid des Bundesrates vom 7. Dezember 2018

1.Vorgeschichte: Die EU-Kommission tritt aufs Gaspedal

2.Das September-Interview von EU-Kommissar Johannes Hahn

3.Der Bundesrat in der Bredouille

4.Der bundesrätliche Nichtentscheid 7. Dezember 2018

5.Die Reaktion der EU-Kommission

6.Kühle Aufnahme bei den Kantonen

VI.Das «Schiedsgericht» steht trotz allem wieder auf der Tagesordnung

1.Grundsatz

2.Die Schweizer Psychohygiene

3.Folgen der Nichtumsetzung des Erkenntisses des Schiedsgerichts

4.Zwischenfazit: Kaum eigene Kompetenzen des «Schiedsgerichts»

5.Unzulässige Bricolage

6.Schluss: Das ist gar kein Schiedsgericht

VII.Suche nach Alternativen

Kapitel 10Plädoyer für einen Neustart

I.Falsche Grundausrichtung der schweizerischen Europapolitik

II.Angst ist ein schlechter Ratgeber

1.Atemberaubendes Integrationstempo der EU zwischen 1992 und 2007

2.Schwache demokratische Legitimation

3.Sind Referenden in Europafragen sinnvoll?

4.Von der Finanz- und Eurokrise zum Brexit

III.Verhandeln contre coeur funktioniert nicht

IV.Um das Rahmenabkommen ist es nicht schade

V.Exkurs: Der Kampf gegen den «Populismus»

1.Allgemeines

2.Europa- und Weltpolitik

3.Fazit

VI.Ein Wort in eigener Sache

Folgerungen

I.Hidden EU-Agenda muss aufgegeben werden

II.Entscheidungsträger und Volk sind frühzeitig einzubeziehen

III.Festlegung auf den EuGH war ein Fehler

IV.Festlegung auf Scheinschiedsgericht war ein Fehler

V.Vorurteilsfreie Evalution des EWR tut not

1.Grundsätzliches

2.Die Mitbestimmungsfrage

3.Sprechen mit einer Stimme

4.Ersetzung des sektoriellen Ansatzes durch einen generellen Ansatz

5.Überwachung

6.Unabhängigkeit des EFTA-Gerichtshofs

7.Erneuerter EWR oder Europäisches Partnerschaftsabkommen

VI.Vorurteilsfreie Evaluation des Docking tut not

VII.Nachhaltige Lösung ist auch im Interesse der EU

VIII.Eine zweite Struktur für Europa

Literatur

Zeitungsaufsätze, Interviews, Blogs

Erlasse, Abkommen, Entwürfe, Botschaften und Berichte

Vorwort

Das vorliegende Buch fusst auf meinen Erfahrungen als Wissenschaftler und Praktiker. Ich war über 30 Jahre Professor für Europarecht in Deutschland, der Schweiz und den USA. Ab 1990 bis 1994 war ich Hauptberater der Regierung des Fürstentums Liechtenstein bei den multilateralen Verhandlungen betreffend den Abschluss eines Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Von September 1995 bis April 2018 amtierte ich als der von Liechtenstein nominierte Richter am EFTA-Gerichtshof. Während 15 Jahren, von 2003 bis 2017, stand ich dem Gerichtshof als Präsident vor. Ich habe Schweizer und britische Unternehmer, Politiker und Verbandsvertreter in Fragen der europäischen Integration und des europäischen Rechts beraten. Seit Mai 2018 bin ich unabhängiger Berater und Schiedsrichter in der Schweiz und im Vereinigten Königreich.

Die Schweiz nimmt in Europa eine einmalige Stellung ein. Sie gehört weder der EU noch dem EWR an, sondern regelt ihr Verhältnis zur EU mit Hilfe institutionenfreier sektorieller bilateraler Verträge. Während des Kalten Krieges galt eine EWG-Mitgliedschaft als undenkbar. 1961 bezeichneten Mitglieder der EWG-Kommission das Land als das «schwärzeste aller Schafe» unter den EFTA Neutralen (damals Österreich, Schweden und die Schweiz). Über eine EU-Mitgliedschaft wurde, anders als z.B. in Norwegen, auch nie abgestimmt. Mit dem Ende des Kalten Krieges trat allerdings ein fundamentaler Wandel ein. Zwar stand die Bevölkerung einem EU-Beitritt nach wie vor skeptisch bis ablehnend gegenüber. Massgebliche Kreise in Bundesrat und Bundesverwaltung steuerten indes ab 1992 mehr oder weniger offen einen EU-Beitrittskurs. Nach dem EWR-Nein vom 6. Dezember 1992 führte der Bundesrat seine pro-EU-Politik weiter. Den institutionenfreien Bilateralismus sah er nunmehr als Zwischenstadium. Ab 2000 und verstärkt ab 2005 war die Regierung aber gezwungen, das Beitrittsziel zur langfristigen Option zurückzustufen. In der Öffentlichkeit verfestigte sich die Überzeugung, dass eine EU-Mitgliedschaft nicht in Betracht kommt. Von nun an wurde der bilaterale Weg als der Weg der Schweiz bezeichnet. EU-Beitrittsbefürworter verstanden das als taktische Massnahme, ohne dass sie ihr strategisches Ziel aufgaben. Nach dem Brexit-Referendum ist ein Beitritt der Schweiz durch die Vordertür in weitere Ferne gerückt denn je. Das hindert jedoch die Komplotteure in Bundesrat und Bundesverwaltung, welche die Unterstützung bestimmter Wirtschaftsverbände, Medien, Think Tanks und Professoren haben, nicht daran, ihr Ziel mit anderen Mitteln zu verfolgen. Die wichtigste Strategie ist dabei das Setzen von «Points of No Return» («PNR»). Der Begriff stammt ursprünglich aus der Fliegerei und bezeichnet den Punkt, an dem das verbleibende Benzin nicht ausreicht, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, so dass die Maschine weiterfliegen muss. Im übertragenen Sinn hat der Cambridge Dictionary einen PNR umschrieben als

«the stage at which it is no longer possible to stop what you are doing and when its effects cannot now be avoided or prevented».

Das heisst:

die Phase, in der es nicht mehr möglich ist, das zu beenden, was man tut und in der sich die Auswirkungen dieses Tuns jetzt nicht mehr vermeiden oder verhindern lassen.

PNR werden verdeckt angestrebt. Dieser Grundansatz der Europapolitik des Bundeshauses führt notgedrungen zu einem Mangel an Transparenz, ja an Aufrichtigkeit. Das Schaffen von Verwirrung wird zum Mittel der Politik, während Wahrheiten verdrängt bzw. unterdrückt werden. Da die für die Europapolitik Zuständigen ihre eigenen Ziele verfolgen, stehen die Interessen des Landes, so wie sie von der Mehrheit der Bürger verstanden werden, nicht an erster Stelle. Oberstes Bestreben ist, die PNR in einem Vertrag so gut wie möglich zu verbergen, um seine Annahme im Parlament und in einem Referendum nicht zu gefährden. (Vermeintliche) innenpolitische Verkaufsargumente («Selling Points») sind den Handelnden unter Umständen wichtiger als eine sachliche Information.

Das Buch beschreibt im ersten Kapitel die wichtigsten bestehenden europäischen Verträge der Schweiz, die EFTA-Konvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und die bilateralen Verträge mit der EU. Ein Hauptfokus liegt, wie im ganzen Band, auf der Konfliktlösung und auf dem Zugang Privater zu ihr. Kapitel 2 ist der Phase des Distanzhaltens zur EWG gewidmet, die von den 1950er Jahren bis zum Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 gedauert hat. Mit den Ereignissen des Jahres 1989 setzte jedenfalls bei einem Teil der politischen Eliten eine Zeit der EU-Begeisterung ein, auf die in Kapitel 3 eingegangen wird. Das EWR-Abkommen wurde i.W. von EU-Aficionados in Verwaltung und Regierung sabotiert, die auf einen EU-Beitritt der Schweiz hinarbeiteten. Nach dem EWR-Nein vom 6. Dezember 1992 verfolgte der Bundesrat eine Politik des institutionenfreien Bilateralismus, der allerdings nur als Zwischenschritt auf dem Weg in die EU verstanden wurde. Die Kapitel 4 und 5 befassen sich mit den beiden Hauptelementen dieses Modells, der Politik des Aushandelns bilateraler Verträge einerseits, und des sog. autonomen Nachvollzugs von EU-Recht andererseits. Kapitel 6 setzt sich mit dem fundamentalen Wandel auseinander, der mit der im Jahr 2008 aufgestellten und seither regelmässig wiederholten Forderung der EU nach einer Institutionalisierung der bilateralen Abkommen verbunden ist. Institutionalisuerung bedeutet Einrichtung eines Überwachungs- und Gerichtsmechanismus. Nachdem es rund vier Jahre auf Zeit gespielt hatte, optierte das EDA, wie in Kapitel 7 beschrieben wird, im Frühjahr 2013 vollkommen überraschend dafür, dass Konflikte vom EuGH, dem Gericht der Gegenseite, gelöst werden sollten. Die Mehrheit des Bundesrates war – mit Mentalreservation – einverstanden. Einen Vorschlag der EU, an die Institutionen des EFTA-Pfeilers – die EFTA-Überwachungsbehörde und den EFTA-Gerichtshof – anzudocken, lehnte man grossspurig ab. Dass man die Einsitznahme eines eigenen Mitglieds im ESA-Kollegium und eines eigenen Richter am EFTA-Gerichtshof hätte aushandeln können, wurde als bedeutungslos abgetan. Natürlich ging es dem EDA darum, einen PNR im oben angesprochenen Sinn zu setzen.

Die Unaufrichtigkeit des Grundansatzes erreichte dabei einen ersten Höhepunkt: Das EDA verbreitete gebetsmühlenhaft (und mit Erfolg) die aberwitzige These, der EuGH werde die Schweiz ggf. nicht «verurteilen» können. Entscheidungsbefugt werde nur der paritätisch zusammengesetze Gemischte Ausschuss sein wo die Schweiz ein Vetorecht besitze. Auch über das Funktionieren des EWR und des EFTA-Gerichtshofs im Besonderen wurden unhaltbare Behauptungen zuhauf zum Besten gegeben. Vier Jahre bevor Donald Trump US-Präsident wurde, verschrieb sich die offizielle Schweizer Europapolitik dem Konzept des Arbeitens mit «Fake News» bzw. mit «Bullshit» im Sinne des amerikanischen Moralphilosophen Harry G. Frankfurt.

Obwohl die europäische Integration mit dem Brexitentscheid des britischen Volkes einen schweren Schlag erhielt, sah sich der Bundesrat nicht zur geringsten Korrektur seiner PNR-Politik der EU gegenüber veranlasst. Das einzige, was ihm zum Brexit einfiel, war, den Abschluss eines bilateralen Handelsabkommen mit den Briten für die Zeit nach ihrem Austritt aud der EU anzustreben. Dass der Brexit eine Chance für die EFTA sein und dass sich das EWR-Thema in einem neuen Licht stellen könnte, wurde verdrängt. In Kapitel 8 wird das kritisiert. Kapitel 9 ist dem vorläufig letzten – und möglicherweise folgenschwersten – Versuch gewidmet, einen PNR zu schaffen. Nach dem Scheitern des «reinen» EuGH-Modells hat die Schweiz im Frühjahr 2018 informell akzepiert, dass Konflikte aus den bilateralen Abkommen von einem dem EuGH vorgeschalteten «Schiedsgericht» entschieden werden sollen. Da sie sich mit der EU aber über gewisse Modalitäten der Personenfreizügigkeit nicht einigen konnte, entschied der Bundesrat am 7. Dezember 2018, das Rahmenabkommen nicht zu paraphieren. Was das «Schiedsgericht» angeht, so kann niemand bestreiten, dass es praktisch keine eigene Entscheidungsbefugnis hätte. Die Bestrebungen, das Volk hinters Licht zu führen, nehmen hier beträchtliche Ausmasse an. Das 10. und letzte Kapitel enthält ein Plädoyer für einen Neustart in der helvetischen Europapolitik. In den Folgerungen wird vor allem ausgeführt, dass die in Bern seit 25 Jahren unterdrückte Option EWR – allenfalls in angepasster Form – in den Blick zu nehmen ist. Zu prüfen ist insbesondere, ob die Schweiz, zusammen mit Island, Liechtenstein und Norwegen sowie dem Vereinigten Königreich eine zweite Struktur in Europa bilden könnte, eine Struktur, die nicht auf politische, sondern auf wirtschaftliche Integration gerichtet wäre.

Für wichtige Anregungen und kritische Anmerkungen bin ich (in alphabetisher Reihenfolge) meiner Frau, der Luxemburger Verlegerin Dr. Doris Baudenbacher-Tandler, unserer Tochter, der Brüsseler Rechtsanwältin Dr. Laura Melusine Baudenbacher, Professor Dr. Matthias Oesch, Ordinarius an der Universität Zürich, und Professor Dr. Philipp Zurkinden, Rechtsanwalt in Bern und Professor an der Universität Basel, verpflichtet. Es versteht sich von selbst, dass ich die alleinige Verantwortung für allfällige Fehler trage, die dieses Buch enthält.

London/St. Gallen, Januar 2019

Carl Baudenbacher

Abkürzungen

AA

Association Agreement

AB (Jahr) N

Amtliches Bulletin (Jahr) Nationalrat

AB (Jahr) S

Amtliches Bulletin (Jahr) Ständerat

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

AJP/PJA

Aktuelle Juristische Praxis/Pratique Juridique Actuelle (Schweiz)

AZ

Aargauer Zeitung

BAZ

Basler Zeitung

BBC

British Broadcasting Corporation

BDP

Bürgerlich-Demokratische Partei (Schweiz)

BGE

Bundesgerichtsentscheid (Schweiz)

BuzzFeed

US-Amerikanische Mediengesellschaft

CEO

Chief Executive Officer

CHF

Schweizer Franken

CNN

Cable News Network

CVP

Christlichdemokratische Volkspartei (Schweiz)

CVCE

Centre Virtuel de la Connaissance sur l’Europe (Luxemburg)

DCFTA

Deep and Comprehensive Free Trade Area

Economiesuisse

Grösster Dachverband der Schweizer Wirtschaft

EDA

Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten

EFD

Eidgenössisches Finanzdepartement

EFTA

European Free Trade Association

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahé

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht

ELR

European Law Reporter (Luxemburg)

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

ESA

EFTA Surveillance Authority

ETH

Eidgenössische Technische Hochschule

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EURATOM

Europäische Atomgemeinschaft

EVD

Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement

EWGV

Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft

EWR

Europäischer Wirtschaftsraum

EWRA

Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum

EZB

Europäische Zentralbank

FDP

Freisinnig-Demokratische Partei (Schweiz)

FHA

Freihandelsabkommen

FR

Frankfurter Rundschau

FZA

Freizügigkeitsabkommen EU-Schweiz

GATT

General Agreement on Tariffs and Trade

GVO

Gentechnisch veränderte Organismen

HRLJ

Human Rights Law Journal

ILO

International Labour Organisation

KG

Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Schweiz)

LSE

London School of Economics

LVA

Luftverkehrsabkommen EU-Schweiz

MEI

Masseneinwanderungsinitiative

NATO

North Atlantic Treaty Organisation

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

ÖBl

Österreichische Blätter für Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development

OEEC

Organisation for European Economic Co-operation

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

PNR

Point(s) of No Return

RL

Richtlinie (EU)

SECO

Staatssekretariat für Wirtschaft (Schweiz)

SVP

Schweizerische Volkspartei

SP

Sozialdemokratische Partei (Schweiz)

Swissmem

Verband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie

TAZ

tageszeitung (Deutschland)

ÜGA

Abkommen zwischen den EFTA-Staaten zur Errichtung einer Überwachungsbehörde und eines Gerichtshofes

UK

United Kingdom

USA

United States of America

UWG

Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (Schweiz)

WEF

World Economic Forum

WEKO

Wettbewerbskommission

WIPO

World Intellectual Property Organisation

WTO

World Trade Organisation

ZBJV

Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins

ZGB

Zivilgesetzbuch

Kapitel 1

Die wichtigsten europäischen Verträge der Schweiz

I.EFTA-Konvention

1.Grundzüge

Die Schweiz war im Jahr 1960 Gründungsmitglied der Europäischen Freihandelsassoziation. Am 4. Januar 1960 unterzeichnete sie zusammen mit Österreich, Dänemark, Norwegen, Portugal, Schweden und dem Vereinigten Königreich die multilaterale EFTA-Konvention in Stockholm. Der Schritt war eine Reaktion der genannten sieben Staaten auf die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG und der Europäischen Atomgemeinschaft durch die Benelux-Staaten, Deutschland, Frankreich und Italien im Jahr 1957. Man sprach damals von den «Inner Six» und den «Outer Seven». Finnland, das auf die Sowjetunion Rücksicht nehmen musste, wurde 1961 assoziierter EFTA-Staat und 1986 EFTA-Vollmitglied. Island trat der EFTA am 1. März 1970 bei. Das Zustandekommen der EFTA war keine Selbstverständlichkeit. Die österreichische Wirtschaft hatte sich für den Beitritt zur EWG ausgesprochen, aber da das Land erst wenige Jahre zuvor seine Souveränität wiedererlangt und sich dabei im sog. Staatsvertrag zur Neutralität nach Schweizer Vorbild verpflichtet hatte, war das politisch nicht möglich. Die Briten hatten eine Teilnahme an der EWG geprüft, sie aber mit Rücksicht auf ihre Commonwealth-Verbindungen und ihre Landwirtschaft verworfen. In der Schweiz hat man lange Zeit den damaligen Direktor der Eidgenössischen Handelsabteilung und späteren Bundesrat Hans Schaffner als «Vater der EFTA» bezeichnet. Auch wenn Schaffner’s Verdienste unbestritten sind, so darf man aber den britischen und den skandinavischen Beitrag nicht übersehen.

Die EFTA war von Anfang an als zweiter Kreis ausserhalb der EWG gedacht. Der dänische Aussenminister und spätere Premier Jens-Otto Krag sagte im April 1960 in einem Gespräch mit dem deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel»:

«Ich möchte betonen, wie sehr ich meinesteils die EWG als sehr wichtigen, sehr mutigen Schritt in der europäischen Geschichte betrachte. Meiner Ansicht nach muß die EWG unter allen Umständen als ein europäischer Kern existieren. Ebenso aber sollte man, was die Efta angeht, unserer Absicht vertrauen, daß wir die Spaltung nicht vertiefen, sondern beseitigen wollen.»

Die Ziele der EFTA waren viel bescheidener als die der EWG. Die EWG strebte, basierend auf supranationalen Strukturen, die Schaffung eines Gemeinsames Marktes an, der als Mittel zum politischen Ziel einer Einigung Europas gesehen wurde. Der Begriff Supranationalismus umschreibt ein System, bei dem die Macht an Instanzen übertragen wird, die über den Mitgliedstaaten stehen. Der Gegenbegriff ist Intergouvernamentalismus. Hier haben die Mitgliedstaaten bei der Schaffung neuen Rechts das Sagen. Die EFTA war (und ist) eine Freihandelszone, welche die Zölle auf Industrieerzeugnisse im Inneren abgeschafft hat. Aber jeder EFTA-Staat behielt seine Aussenhandelssouveränität und hat daher seine eigene Zollregelung gegenüber Drittländern. Die EFTA-Mitgliedschaft war ohne weiteres mit der Neutralität vereinbar. Die Freihandelsassoziation hat keine Gesetzgebungskompetenz, es gibt keine gemeinsame Überwachung und kein gemeinsames Gericht, und die Mitgliedschaft kann leicht gekündigt werden (Artikel 57 EFTA-Konvention). In der Botschaft des Bundesrates vom 5. Februar 1960 wurde das Fehlen von Supranationalität besonders hervorgehoben. Dass die EFTA-Konvention keine Freizügigkeit vorsah und eine Ausnahme für die Landwirtschaft enthielt, erleichterte die Mitgliedschaft weiter. Der Beitritt zur EFTA war nicht Gegenstand des fakultativen Referendums. Die Freihandelsassoziation war ein sofortiger wirtschaftlicher Erfolg.

Die EFTA hat eine wechselvolle Geschichte und der Mitgliederbestand hat sich relativ häufig geändert. Eine grundlegende Neuausrichtung wurde nach 1995 notwendig, als die Assoziation als Folge des EU-Beitritts von Finnland, Österreich und Schweden von sieben auf vier Mitgliedstaaten verkleinert wurde. Drei von ihnen, nämlich Island, Liechtenstein und Norwegen, waren (und sind) über das multilaterale EWR-Abkommen («EWRA») mit der Europäischen Union verbunden und nehmen am Binnenmarkt teil. Der vierte EFTA-Staat, die Schweiz, hat zahlreiche sektorielle bilaterale Abkommen mit der EU abgeschlossen, die ihrer Industrie weitgehenden Zugang zum Binnenmarkt verschaffen. Andere Sektoren, vor allem die Banken und Versicherungen, besitzen diesen Zugang aber nicht.

Ein neues EFTA-Übereinkommen wurde am 21. Juni 2001 in Vaduz unterzeichnet und trat am 1. Juni 2002 in Kraft. Die wichtigste Neuerung war die Integration von Regeln und Grundsätzen des EWRA und der bilateralen Abkommen zwischen der EU und der Schweiz in die EFTA-Konvention. Die Vorteile der privilegierten Beziehungen, welche die drei EWR/EFTA-Staaten einerseits und die Schweiz andererseits gegenüber der Europäischen Union erlangt hatten, wurden damit auf ihre eigenen internen Beziehungen übertragen. Gleichzeitig hat die revidierte Konvention eine verbesserte Plattform für den Ausbau der Handelsbeziehungen der EFTA mit Nicht-EU-Staaten geschaffen. Der EFTA-Rat aktualisiert die Vaduzer Konvention regelmässig, um neue Entwicklungen im Rahmen des EWRA und der EU-Verträge umzusetzen.

Die Schweiz ist heute als EFTA-Staat Teil eines weltweiten Systems bilateraler Freihandelsabkommen. Vielfach konnte die EFTA solche Abkommen vor der Europäischen Union abschliessen. In bestimmten Fällen, in denen die vier EFTA-Staaten Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein unterschiedliche Interessen hatten, hat die Schweiz solche Abkommen ausserhalb der EFTA geschlossen. Die wichtigsten Beispiele sind die Freihandelsabkommen mit Japan und mit China.

2.Konfliktlösung

Die ursprüngliche EFTA-Konvention sah in ihrem Artikel 31 lediglich ein allgemeines Konsultations- und Beschwerdeverfahren beim EFTA-Rat vor. Nur sechs Fragen wurden dem Rat im Rahmen dieses Verfahrens vorgelegt, die letzte im Jahre 1967. Der Lausanner Professor Andreas R. Ziegler hat dazu bemerkt:

«While the EC had already a fully fledged court in place for the settlement of disputes among its members, the EFTA relied on a very traditional GATT-oriented model not even including classical arbitration

«Während die EG bereits über ein vollwertiges Gericht für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen ihren Mitgliedern verfügte, stützte sich die EFTA auf ein sehr traditionelles GATT-orientiertes Modell, das nicht einmal die klassische Schiedsgerichtsbarkeit umfasste.»

Das trifft zwar zu, aber es beschreibt nur die halbe Wahrheit. Wichtiger als die Möglichkeit der Mitgliedstaaten der EWG gegeneinander Klage zu erheben, waren die Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen einen Mitgliedstaat und das Vorabentscheidungsverfahren, bei dem nationale Gerichte der Mitgliedstaaten direkt an den EuGH gelangen konnten. Damit hatten auch Private und Unternehmen von Anfang an Zugang zur europäischen Justiz.

Die Vaduzer Konvention enthält neue Vorschriften zur Konfliktlösung. An erster Stelle stehen nach Artikel 47 Kooperation und Konsultation. Der EFTA-Rat, in welchem die Mitgliedstaaten durch Minister oder Beamte vertreten sind, hat die Aufgabe, eine gütliche Lösung zu suchen. Wenn die Sache nicht bereinigt werden kann, so kann sie an ein Dreier-Schiedsgericht verwiesen werden. Die Parteien ernennen je einen Schiedsrichter und die Parteischiedsrichter ernennen einen Präsidenten. Das Schiedsgericht entscheidet endgültig und mit verbindlicher Wirkung. Ein Mitgliedstaat, der nicht Konfliktspartei ist, hat das Recht, sich am Verfahren zu beteiligen. Wenn der unterliegende EFTA-Staat den Spruch des Schiedsgerichts nicht umsetzt, so können Ausgleichsmassnahmen ergriffen werden. Angesichts der Vorliebe der Schweiz für Schiedsgerichte darf man davon ausgehen, dass diese Neuerung auf ihr Drängen hin geschaffen wurde. Das ändert aber nichts daran, dass Private und Unternehmen keinen Zugang zur Konfliktlösung haben. Es sind im-Übrigen keine Fälle bekannt, in denen ein Schiedsverfahren eingeleitet wurde.

3.Rechtsprechung des Bundesgerichts

Einen gemeinsamen supranationalen Gerichtshof gibt es in der EFTA, wie gesagt, nicht. Das schliesst aber nicht aus, dass sich Bürger und Unternehmen vor den nationalen Gerichten der EFTA-Staaten auf die Konvention berufen. Das Bundesgericht hat dazu eine sehr fortschrittliche Rechtsprechung entwickelt. In der Rechtssache Banque de Crédit international entschied die Zweite öffentlichrechtliche Abteilung am 13. Oktober 1972, dass das in Artikel 16 Absatz 1 EFTA-Konvention enthaltene Diskriminierungsverbot unmittelbar anwendbar ist (BGE 98 Ib 385, Erw. 2 b.). Die Vorschrift garantiert das Niederlassungsrecht. Einem britischen Staatsangehörigen, der für eine Bank in Genf arbeiten sollte, war eine Aufenthaltsgenehmigung verweigert worden. In Übereinstimmung mit seiner ständigen Rechtsprechung stellte das Bundesgericht fest, dass die von der Bundesversammlung genehmigten internationalen Verträge Teil des Bundesrechts werden und dass die mit ihnen geschaffenen Rechtsnormen für die Behörden verbindlich sind. Eine Person kann sich daher gegenüber der Verwaltung und den Gerichten auf einen Vertrag berufen, wenn dieser hinreichend genaue Rechtsnormen enthält. Obwohl das Diskriminierungsverbot in Artikel 16 Absatz 1 der EFTA-Konvention nur ein bedingtes Recht auf Arbeit einräumte, stellte das Bundesgericht fest, dass es jedem Mitgliedstaat eine Verpflichtung auferlegte, Personen aus anderen Mitgliedstaaten ein Recht auf Nichtdiskriminierung zu gewähren.

II.Europäische Menschenrechtskonvention

1.Grundzüge

Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten wurde 1950 vom Europarat ins Leben gerufen und trat 1953 in Kraft. Der 1949 gegründete Europarat fördert die Menschenrechte, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit. Gründungsstaaten waren Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen und Schweden. Der Europarat war der erste politische Zusammenschluss in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Konvention war durch die UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 inspiriert. Sie sieht die Einrichtung eines gemeinsamen Gerichtshofs der Mitgliedstaaten, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte («EGMR»), vor. Die Schweiz war kein Gründungsmitglied des Europarates. Obwohl es die Werte der Vertragsstaaten im Wesentlichen teilte, zögerte das Land, die mit dem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention einhergehende internationale Verrechtlichung des Menschenrechtsschutzes zu akzeptieren. Erst als sich herausstellte, dass die Aktivitäten des Rates eher unpolitisch und seine Konventionen für die Mitgliedstaaten nicht bindend sind, beschloss die Schweiz 1963, 14 Jahre nach der Gründung, den Beitritt. Der Bundesrat nutzte ein klassisches Argument, um die Mitgliedschaft im Europarat für die Öffentlichkeit verständlich zu machen: Er betonte, dass der Rat über keine supranationalen Entscheidungsstrukturen verfüge, so dass die Souveränität der Mitgliedstaaten unberührt bleibe. Ebenso hätten die Beschlüsse des Rates nur den Charakter von unverbindlichen Empfehlungen.

Bis die Schweiz der Europäischen Menschenrechtskonvention beitrat, dauerte es noch einmal zehn Jahre. Das Übereinkommen ist für die Schweiz seit dem 28. November 1974 verbindlich. Mit diesem Schritt ging ein eher peinlicher Alleingang zu Ende. Der Politologe Dieter Freiburghaus von der Universität Lausanne hat eine weitere Funktion der Schweizer Mitgliedschaft im Europarat und im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschrieben: Das Gefühl, trotz fehlender EWG-Mitgliedschaft «Teil Europas» zu sein. Damit erlangte die Schweiz auch das Recht, einen Richter/eine Richterin am EGMR zu stellen.

2.Zugang der Privaten zu einem übernationalen Gericht

1959 wurde der EGMR in Strassburg errichtet. Er hat die Aufgabe, die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten des Europarates erklärten sich bereit, an die Urteile des EGMR gebunden zu sein. Private hatten allerdings zunächst keinen direkten Zugang zum Gerichtshof. Sie mussten sich vielmehr mit Beschwerde an die 1954 eingesetzte Kommission für Menschenrechte wenden und auch das war nur möglich wenn der betreffende Mitgliedstaat dieses Recht anerkannt hatte. Der EGMR war auch kein ständiges Gericht.

Durch zahlreiche Änderungen ist dieses System über die Jahre und Jahrzehnte sukzessive verbessert worden. Die Kommission wurde abgeschafft und der EGMR ist seit 1998 ein ständiger Gerichtshof. Private haben nunmehr direkten Zugang. Nach Artikel 1 EMRK sichern die Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der Konvention genannten Rechte und Freiheiten zu. Diese Vorschrift verleiht jedem Einzelnen das Recht, sich vor den nationalen Gerichten auf die Konvention zu berufen. Nach den Artikeln 34 and 35 EMRK kann der EGMR grundsätzlich von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe mit einer Beschwerde befasst werden, sofern die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft wurden.

3.Der EMRG als Wirtschaftsrechtsgericht

Ursprünglich zielte die EMRK darauf ab, die klassischen Menschenrechte wie das Recht auf Leben, auf Privatsphäre oder auf freie Meinungsäusserung zu schützen. In den letzten Jahrzehnten hat die Rechtsprechung des Strassburger Gerichtshofs aber ein hohes Mass an wirtschaftlicher Relevanz erreicht. Die wichtigsten Beispiele finden sich in Bereichen wie dem Kartellrecht, dem Recht des unlauteren Wettbewerbs, dem Immobilienrecht, dem Tarif- und Arbeitskampfrecht, dem Immaterialgüterrecht und dem öffentlichen Vergaberecht.

III.Bilaterale Verträge mit der EU

1.Überblick

Die Schweiz hat mit der EU ein Netz von sektoriellen bilateralen Abkommen abgeschlossen. Der erste grosse und wohl bis heute wichtigste Vertrag ist angesichts des hohen wirtschaftlichen Integrationsgrades der Schweiz das Freihandelsabkommen von 1972 («FHA»). Es wurde im Hinblick auf den Übertritt des Vereinigten Königreichs und Dänemarks von der EFTA in die EWG eingegangen. Zusammen mit der Schweiz schlossen auch die übrigen Rest-EFTA-Staaten solche Verträge mit der EWG ab. (Genau genommen wurden zwei Verträge geschlossen, einer mit der EWG und einer mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS.) Damit wurden tarifäre Handelshemmnisse (Ein- und Ausführzölle und Kontingente) für industrielle Erzeugnisse abgebaut.

Daneben kamen zahlreiche bilaterale Abkommen von weitaus geringerer Bedeutung zustande. Als eine Art Meilenstein betrachteten die Berner Verhandler das Abkommen von 1989 über die Direktversicherung mit Ausnahme der Lebensversicherung, das nach 16-jährigen Verhandlungen unterzeichnet wurde. Diesen Vertrag schloss die Schweiz im Alleingang. Der Mann, der ihn aushandelte, war der spätere Chefunterhändler bei den EWR-Negoziationen Franz Blankart. Wenn man sich mit Franz über das Verhältnis Schweiz-EU unterhält, so kommt das Gespräch früher oder später auf das Versicherungsabkommen.

Nach dem EWR-Nein von 1992 kam eine zweite Generation von bilateralen Abkommen mit der EU zustande, die im Wesentlichen in zwei Pakete unterfallen, die «Bilateralen I» und die «Bilateralen II». Am 21. Juni 1999 wurden sieben Verträge in den Bereichen Personenfreizügigkeit, Luftverkehr, Landverkehr, Agrarhandel, gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungungen, öffentliches Beschaffungswesen und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit unterzeichnet (Bilaterale I). Mit Ausnahme des Luftverkehrsabkommens, bei dem die Schweiz die Zuständigkeit des EuGH akzeptierte, funktionieren alle diese Verträge ohne supranationalen Überwachungs- und Gerichtsmechanismus. Neun weitere bilaterale sektorielle Abkommen (Bilaterale II) wurden am 26. Oktober 2004 unterzeichnet. Das zweite Paket umfasst insbesondere Abkommen über die Besteuerung von Zinserträgen und den Beitritt der Schweiz zu den Systemen von Schengen und Dublin über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz, Polizei, Asyl und Migration.1

2.Konfliktlösung durch Gemischte Ausschüsse

Konflikte, die aus den bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU entstehen, werden seit jeher durch die Mittel der Diplomatie und nicht durch übernationale Gerichte gelöst. Diese paritätisch besetzten Ausschüsse können aber nur mit Einstimmigkeit entscheiden. Die Schweiz hat also ein Vetorecht. Formal gesehen ist es der Bundesrat, der darüber entscheidet, ob die Schweiz einer Konfliktlösung zustimmt. Vertreten ist die Schweiz aber durch Angehörige der Verwaltung. In der Praxis sind es hohe Beamte. Das EDA spielt dabei naturgemäss eine bedeutende Rolle.

Als Beispiel möge das FHA dienen. Basierend auf den Artikeln 29 und 30 FHA wurde ein Gemischter Ausschuss aus Vertretern der EWG und der Schweiz geschaffen, der für die ordnungsgemässe Umsetzung des Abkommens zuständig ist. Nach Artikel 31 Absatz 2 FHA tritt das Gremium mindestens einmal jährlich zusammen, um die allgemeine Funktionsweise des Abkommens zu überprüfen. Es versammelt sich ferner auf Antrag einer Partei so oft wie nötig. Der Gemischte Ausschuss handelt im Konsens. Seine Beschlüsse werden von den Vertragsparteien nach ihren eigenen Regeln umgesetzt. Kann der Ausschuss keine Lösung für ein Problem finden, so kann die geschädigte Partei Handelssanktionen verhängen (Art. 22 Abs. 2 FHA).

Aus der Sicht der Bundesverwaltung hat ein solches Konfliktlösungsmodell erhebliche Vorteile. Da man vor allem die Fälle im Auge hat, in denen die Schweiz möglicherweise ihre Pflichten aus einem Abkommen verletzt, wird die Möglichkeit, eine Lösung mittels Veto zu blockieren, als positiv angesehen. Dass gleichzeitig zahllose Fälle der Diskriminierung von Schweizer Unternehmen unsanktioniert bleiben, bleibt bei dieser Nabelschau unberücksichtigt.

3.Der Staat als Vormund der Privaten

Dieses Konfliktlösungsmodell, bei dem die Bundesverwaltung alles und die betroffenen Unternehmen und Bürger nichts zu sagen haben, ist ein Ausfluss einer traditionellen völkerrechtlichen Rechtsfigur, die sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat: des Prinzips des diplomatischen Schutzes. Damit wird ein Verfahren bezeichnet, mit dem ein Staat einen Anspruch gegen einen anderen Staat geltend macht, weil dieser einen seiner Staatsangehörigen völkerrechtswidrig behandelt hat.

Diplomatischer Schutz wurde zunächst hauptsächlich von kapitalexportierenden Ländern (d. h. westeuropäischen Ländern und den Vereinigten Staaten) gegen kapitalimportierende Länder (d. h. hauptsächlich Länder Lateinamerikas) ausgeübt. Das Recht des diplomatischen Schutzes und seine Entwicklung wiederspiegelt aber auch den Strukturwandel des Völkerrechts selbst. Dieses hat sich von einem Rechtsgebiet, das die Beziehungen von Staat zu Staat regelte, zu einem Feld entwickelt, das den Schutz des Einzelnen stärker in den Vordergrund stellt.

Konzeptuell ist der diplomatische Schutz ein Recht des Staates, nicht des betroffenen Einzelnen. Er beruht allerdings auf einer Fiktion: Die Schädigung einer Person wird so behandelt, als stellte sie eine Schädigung des Staates der Person dar, was den Nationalstaat berechtigt, den Anspruch geltend zu machen. Durch die Verletzung des Rechts des Einzelnen entsteht der Anspruch des Staates auf diplomatischen Schutz. Die Fiktion ist nur ein Mittel zum Zweck, dem Einzelnen Schutz zukommen zu lassen. Der Staat ist also der Vormund der Privaten.

Ein angewandtes Beispiel diplomatischen Schutzes ist das Streitbeilegungsverfahren der Welthandelsorganisation WTO. WTO-Mitgliedstaaten können frei darüber entscheiden, ob sie ein Streitbeilegungsverfahren einleiten und damit ihren Wirtschaftsakteuren entsprechenden Schutz zukommen lassen wollen. Sie sind nicht verpflichtet, solchen Schutz zu gewähren. Aus der Sicht der Privaten und Unternehmen hat das vier gravierende Nachteile:

(1)Sie müssen sich zunächst Zugang zu den zuständigen nationalen Bürokraten verschaffen und diese davon überzeugen, ihren Fall aufzugreifen. Das ist ein zeit- und ressourcenaufwendiger, intransparenter Prozess, dessen Ausgang unsicher ist.

(2)Hat ein Staat für einen seiner Untertanen einen Fall aufgenommen, so ist er in den Augen des zuständigen internationalen Gerichts alleiniger Kläger. Der Bürger bzw. das Unternehmen gibt jede Kontrolle ab. Ob Bürger- bzw. Unternehmensperspektiven Berücksichtigung finden, die sich von der Position der Regierung unterscheiden, ist offen.

(3)Der diplomatische Schutz bietet nur Teillösungen: Im Wirtschaftsrecht steht er nur nationalen Unternehmen zur Verfügung, typischerweise in Bezug auf nationale Produkte. Für ein transnationales Unternehmen, das grenzüberschreitende Operationen durchführt, ist es nicht immer einfach, eine Staatsangehörigkeitsbeziehung mit einem Staat herzustellen.

(4)Ob der Fall verfolgt wird, wird anhand von politischen Faktoren bewertet, die für die wirtschaftlichen Interessen der Individuen und Unternehmen nicht relevant sind. Regierungen zögern, Argumente zu unterstützen, die sie in späteren Verfahren binden, parallele politische Verhandlungen untergraben oder sonst unerwünschte präjudizielle Wirkungen haben.

Historisch ist die Tatsache, dass die bilateralen Abkommen auf dem Gedanken des diplomatischen Schutzes fussen, ohne weiteres erklärbar. Die ersten Verträge wurden in den 1950er Jahren mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS geschlossen. Auch die Freihandelsabkommen, welche die Schweiz im Jahr 1972 mit der EWG und der EGKS vereinbarte, wurden durch einen Gemischten Ausschuss administriert. Gleiches galt für die Freihandelsabkommen zwischen EWG/EGKS und den übrigen damaligen EFTA-Staaten.

Heute ist die Schweiz allerdings das einzige namhafte europäische Land, das seinen Bürgern und Unternehmen den direkten Zugang zu einem europäischen Gericht verweigert. In der EU und im EWR haben Individuen und Unternehmen die Freiheit, selber darüber zu entscheiden, ob sie in einem Fall den Gang vor ein europäisches Gericht anstreben wollen oder nicht. In der EU ist das der EuGH, in der EWR/EFTA der EFTA-Gerichtshof. Die 28 EU-Staaten sind im EuGH, die drei EWR/EFTA-Staaten im EFTA-Gerichtshof mit je einem Richter vertreten. In der Schweiz können sich Private indes lediglich an die Bundesverwaltung wenden mit der Bitte um diplomatischen Schutz. Das passt schlecht zur vielgepriesenen Schweizer Freiheit. Bundesrat und Bundesverwaltung wollen auch für die Zukunft an dieser Prärogative festhalten. Die Parlamentarier und die Kantone kennen nichts anderes und nehmen diesen Zustand als gottgegeben hin. Die Vertreter der Wirtschaftsverbände sind befangen, da sie einen privilegierten Zugang zur Bundesverwaltung haben.

4.Ausnahme: Luftverkehrsabkommen

Das Luftverkehrsabkommen ist das einzige bilaterale Abkommen zwischen der Schweiz und der EU, in dem die Rechtsdurchsetzung in den Händen einer Überwachungsbehörde und eines Gerichtshofs liegt: Es sind die Institutionen der Gegenseite, die Kommission und der EuGH. In Artikel 18 Absatz 2 Satz 1 heisst es:

«In Fällen, die sich auf die nach Kapitel 3 zu genehmigenden Flugdienste auswirken können, verfügen die Organe der Gemeinschaft über die Befugnisse, die ihnen nach den Bestimmungen der im Anhang ausdrücklich als anwendbar bestätigten Verordnungen und Richtlinien übertragen sind.»

in fine