101 Gedanken an Tom 

Ein frecher Frauenroman

 

Gabriele Hasmann

 

 





Copyright © 2020 by Gabriele Hasmann

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum


Deutsche Erstausgabe
Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

Cover: Michael Schubert
Lektorat: Karla Seedorf

  

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

  

ISBN E-Book: 978-3-95835-510-1

  

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.



Mädchen, kannst du ewig hassen?

Verzeiht gekränkte Liebe nie?


Friedrich von Schiller (1759–1805, deutscher Arzt, Philosoph, Historiker, Dramatiker und Lyriker. Aus: »Don Carlos«, Drama, 1787. 4. Akt, 15. Auftritt, Don Carlos zur Prinzessin von Eboli)

Einleitung

 

Vielleicht kennen auch Sie solche oder ähnliche Situation, um die es in diesem Buch geht: Sie wurden von Ihrem Freund wegen einer anderen Frau verlassen und sind einerseits tieftraurig über den Verlust Ihres Partners, zugleich aber auch voller Hass auf das neue Glück der treulosen Kanalratte – und auf die Tussi, die es gewagt hat, eine vermeintlich funktionierende Beziehung zu zerstören.

Doch in der folgenden Geschichte geht es nicht um Sie, sondern um eine junge Frau namens Jerry, die nach der Trennung von Tom unter entsetzlichem Liebeskummer leidet und alles dafür tun würde, um den mittlerweile verabscheuten Mann zu vergessen.

Begleiten Sie Jerry auf ihrer Reise und erleben Sie mit ihr eine total verrückte Zeit und das größte Abenteuer ihres Lebens.

Genießen Sie die Zeit mit Jerry und ihren Freunden – so wie ich beim Niederschreiben dieser verrückten Story!

 

Herzlichst,
Ihre Gabriele Hasmann

Tag 13: Ein Morgen wie jeder andere der zwölf davor

 

Scheiße, denke ich im ersten Moment; im zweiten, dass ich üblicherweise nicht sofort nach dem Aufwachen fluche – weder laut noch stumm.

Mein Name ist Jule, Spitzname Jerry. Ich bin 27 Jahre alt, von Beruf Journalistin und wurde vor zwölf Tagen und … Moment, ich muss auf die Uhr schauen … elf Stunden von meinem Freund verlassen. Thomas, Rufname Tom, 32 Jahre alt, war scharf gewesen auf eine schlanke Blondine mit riesigem Silikonbusen und prallem Hinterteil und damit so ziemlich das Gegenteil von mir. Und dieses lebende Klischee hat ihn nach dem Seitensprung noch in derselben Nacht mit ihrem Liebesgesäusel um den Finger gewickelt und zum Bleiben überredet. Ihren Namen wollte ich nie wissen, habe ihn dann aber doch versehentlich erfahren: Fabienne!

Keine Sorge, Sie müssen jetzt kein Bild im Kopf malen, auf dem ich im Bett neben mich greife in der flüchtigen Hoffnung, mein Freund läge wieder neben mir und alles wäre nur ein böser Traum gewesen. Ebenso wenig brauchen Sie sich vorzustellen, wie ich mit hängenden Mundwinkeln und steiler Falte zwischen den Augenbrauen auf die Stelle starre, wo Tom noch bis vor Kurzem das Laken wärmte. Ich beginne auch nicht zu weinen, sobald der Phantomschmerz einsetzt, weil mir die pelzige Männerbrust an meiner Seite fehlt. Wir sind doch nicht in Hollywood!

Kennen Sie auch diese Filmszenen, in welchen die Hauptdarstellerin nach der ersten gemeinsamen Liebesnacht beim Herumtasten auf der anderen Matratzenhälfte mit dämlich-verklärtem Gesichtsausdruck eine dornenlose Rose und eine Nachricht vorfindet? Diese symbolträchtige Geste bedeutet: Die Frau kann fast sicher sein, dass der Mann nur frische Brötchen holen gegangen ist und nicht das letzte Mal das Bett mit ihr geteilt haben wird. Die weit ungünstigere Ausgangssituation besteht beim Auffinden eines Zettels mit den hastig darauf gekritzelten Worten: Du hast einen Besseren verdient, daher muss ich gehen. Im Falle einer solchen Situation sieht die Dramaturgie vor, dass sich die betreffende Schauspielerin kurz darauf gemeinsam mit ihren besten Freunden in ihr kleines rotes Auto quetscht, mühelos das Taxi mit ihrem Liebsten an Bord ausfindig macht, es in halsbrecherischer Geschwindigkeit – dabei jedes Ampelrot und sämtliche Einbahnstraßen ignorierend – bis zum Flughafen verfolgt, um den Typen dann in letzter Sekunde abzufangen, bevor der eine Maschine nach Rio de Janeiro besteigt und für immer aus ihrem Leben verschwindet.

Also, ich würde nie … Sie etwa? Aber ich habe ja auch kein rotes Auto … und außerdem eine Heidenangst vor Verkehrsunfällen.

Doch zurück zum fehlenden warmen Körper. Der meines Ex-Freundes liegt seit genau zwölf Nächten nicht mehr bei mir, sondern neben zwei Gummititten. Und wäre derselbe mittlerweile schon kalt und steif, würde mich das nicht weiter tangieren. Natürlich, ohne dass ich diesen Zustand verursacht hätte, denn zum Morden habe ich kein Talent. Ich bin furchtbar ungeschickt, rutsche ständig ab und aus, schütte mir regelmäßig diverse Flüssigkeiten über die Kleidung – was im Moment von Toms Exekution alles schiefgehen könnte, will ich mir gar nicht erst vorstellen.

Meine Mutter sagt häufig: »Kind, konzentriere dich auf das Positive, auch in deinen schlimmsten Momenten!« Sind Sie auch so ein gnadenloser Optimist? Der selbst, wenn er sich vor Wut ankotzen möchte, noch der Sonne entgegenlächelt und sich freut, dass nicht er, sondern andere Menschen eine tödliche Krankheit in sich tragen? Der froh ist, genug zu essen zu haben, während woanders Kinder verhungern?

Schön, ich kann ja einmal versuchen, dem gegenwärtigen Dilemma zumindest einen Vorteil abzugewinnen … Ich hab’s: Es riecht jetzt nicht mehr in meinem, sondern im Schlafzimmer der Kontrahentin jeden Morgen so käsig wie nach Sex mit Micky Maus. Darüber hinaus kann ich wirklich froh sein, dass mein Ex-Freund aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen und bei der Plastiksexpuppe für Geizkragen eingezogen ist – mehr Platz für mich! Blöd nur, dass ich jetzt die Miete allein aufbringen muss, aber das Fehlen von Toms schalem Morgenatem gleich nach dem Aufwachen hat eben seinen Preis.

Vom Gedankenwälzen im stillen Selbstgespräch bin ich dreizehn Minuten nach dem Aufwachen schon wieder müde. Trotzdem beschließe ich, aufzustehen. Nach fünfzehn Stunden Schlaf am Stück ist das vermutlich das Beste. Wie Tom mir den Buckel hinunter kann, rutsche ich langsam in meinen bunten Einhorn-Socken Richtung Bad, eine handfeste Depression mit mir herumschleppend. Lasse ich den Kopf noch weiter absinken, radiert vermutlich meine Nase über den Boden. Typischer Morgenkater, nur ohne Alkohol. Anders ausgedrückt, ich bin stocksauer auf mein Schicksal und habe eine beschissene Laune.

Missmutig, um eine weitere Umschreibung für meinen Istzustand zu strapazieren, ändere ich die Richtung und schlurfe mit fast geschlossenen Augen in die Küche. In den eigenen vier Wänden kann ich mich dankenswerterweise auf meinen Orientierungssinn verlassen, in fremden Wohnungen verlaufe ich mich im Normalfall sogar auf dem Weg zum WC – jedenfalls spätestens nach dem dritten Bier. Und fragen Sie mich bitte nicht, wie es mir in einem großen und verwinkelten Lokal geht, wo ich jedes Mal am liebsten wie Gretel Brotkrumen streuen würde, um ohne Umwege von den Toiletten zurück zu meinen Freunden zu finden.

Ich schalte die Kaffeemaschine ein und höre anstatt des üblichen gemütlichen Brummens ein hektisches Surren, so als würde das Gerät jeden Moment wie eine aufgeregte Drohne von ihrem Standplatz abheben.

»Nur die Ruhe, Schwester«, krächze ich mit meiner schönsten Morgenstimme und tätschle das auberginefarbene Gehäuse. »Zick jetzt bloß nicht herum, sonst tausche ich dich aus!«, warne ich es anschließend böse grinsend. Bei diesem plumpen Einschüchterungsversuch handelt es sich dennoch um keine leere Drohung. Tatsächlich schlummert in den Tiefen meines Küchenkastens eine zweite Maschine, identisch mit der, die nach einem leisen Zischen endlich gluckernd meinen Morgenkaffee produziert. Ich habe die Angewohnheit, wenn etwas gut und billig ist, diesen Gegenstand sofort ein zweites Mal zu kaufen.

Tom hat mich auch einfach ausgetauscht, assoziiere ich, dabei funktioniere ich noch einwandfrei.

Der herbe Duft eines koffeinstarken schwarzen Ethiopia Abaya zieht durch den Raum, und ich erinnere mich daran, wie sehr mein Ex-Freund den Geruch von frischem Kaffee liebte. Verdammt, schon wieder so ein unseliger Flashback, der fünfte seit dem Aufwachen. Ich komme mit Sicherheit auch heute wieder, so wie jeden Tag der zwölf davor, auf zehn bis fünfzehn Gedanken, die meinen Ex-Freund betreffen und unnötigen Speicherplatz im Gehirn belegen.

Kein Wunder, dass er mich sogar nachts verfolgt, denke ich. Die Träume handeln von Reue, Vergebung und wiederhergestellter Harmonie – offenbar lässt es mein Unterbewusstsein nicht zu, im Schlaf ein Blutbad anzurichten. In meinen Visionen tagsüber hingegen funktioniert das fabelhaft!

Ich klebe meinen umherschweifenden Blick auf eine mit Affenkopfmagneten am Kühlschrank befestigte Zeichnung. Die beiden Strichmännchen, gezeichnet von der Tochter einer Freundin, stellen Tom und mich dar. Die kleine Elena hat das Bild beim letzten Grillabend angefertigt, vor drei Wochen, als ich noch nicht wusste, dass mein Ex-Freund längst Hand an eine andere Frau gelegt hatte. Das Mädchen hat es geschafft, mich mit ein paar wenigen geraden Linien und einigen Punkten wie ein Junge aussehen zu lassen. Keine Titten, null Hüfte und Akne im Gesicht.

Gierig schlürfe ich den Ethiopia Abaya, als handle es sich um ein jungbrunnenähnlich wirkendes Lebenselixier, ziehe dann mit einer ruckartigen Bewegung die Zeichnung unter dem an der Tür des Kühlschranks haftenden Affenkopf hervor und versenke sie im Altpapierkorb. Sorry, Elena.

Die nächsten Schritte, die ich nun tun muss, damit ich nicht komplett meine Selbstachtung verliere, sind die ins Badezimmer.

Während ich die Beißerchen aus Angst vor Karies niemals vernachlässigen würde, ist es dem Rest meines Körpers in den letzten Tagen weniger gut ergangen. Aufgrund momentan nicht verpflichtend notwendiger sozialer Integration – ich habe frei, muss also nicht in die Redaktion, und besitze außerdem ausreichend Lebensmittel auf Vorrat – sehe ich recht speckig aus. Das Haar klebt in fetten Strähnen am Kopf und mein Gesicht glänzt wie traniger Fisch, der Blick in die Augen meines Spiegelbilds ist leer. Der Pyjama verströmt ein muffiges Geruchsgemisch, das ich, müsste ich es benennen, als Schweißkäsemoder bezeichnen würde. Haben Sie es jetzt auch in der Nase?

Eine Generalsanierung muss vorgenommen werden, zumindest eine des Körpers, sonst lässt sich dieser jämmerliche Zustand womöglich nicht mehr ändern und ich kann nie wieder unter Menschen gehen. Zudem will ich nicht riskieren, dass die neugierige Nachbarin glaubt, in meiner Wohnung verwest etwas. Auf meinen vernachlässigten Geist kann ich derzeit keine Rücksicht nehmen – hoffentlich verblöde ich nicht komplett. Und die Seele wird noch schlimmer verdrecken, als sie es aufgrund des Unrats aus meiner Kindheit ohnehin schon ist. Danke, Tom, du Wichser, für dieses Elend!

Ich wasche, shampooniere und rasiere, steige wenig später lavendelduftend und mit rund einem Drittel weniger Haare am Körper aus der Dusche und wickle mich in mein flauschigstes Badetuch. Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich ein bisschen wohl. Trotz des verbalen Abschusses vor zwölf Tagen – mitten ins Herz: »Jerry, ich habe mich in eine andere Frau verliebt.«

Was werde ich heute tun? Soll ich wieder einmal den Computer starten? Sicher quillt mein Mailkasten vor elektronischen Briefen schon über. Und im sozialen Netzwerk meines Vertrauens haben mir reelle und virtuelle Freunde während der Kommunikationsstoßzeit unmittelbar nach der Trennung von Tom – dieser Gedanke zählt jetzt aber eindeutig nicht, denn es handelt sich ausschließlich um eine Feststellung – wahrscheinlich bereits Hunderte Posts hinterlassen. Darunter befinden sich vermutlich zahlreiche sinnleere Fragen wie Lebst du noch *lol*? Oder, noch schlimmer, Trostparolen à la Andere Mütter haben auch hübsche Söhne. Vermutlich haben die besonders empathischen Personen sogar ein paar laientherapeutische Maßnahmen nach dem Motto Wir gehen raus und lassen es krachen! Also melde dich! vorgeschlagen. Übrigens habe nicht ich das Aus der Beziehung unserer gemeinsamen Online-Community verkündet, sondern Tom. Und der Gedanke gilt auch nicht!

Ich will den PC gar nicht hochfahren und im Posteingang nachsehen, habe keine Lust, mich zu rechtfertigen, weil ich noch lebe, nicht an andere hübsche Söhne denken mag – außer, sie würden sich in genau diesem Moment nackt und voller Sehnsucht nach mir in meinem Bett wälzen – oder zwangsbespaßt werden möchte. Da meine Aufmerksamkeitsspanne, sobald ich das Interesse auf andere Menschen richten muss, etwa der eines Regenwurms entspricht, wäre ich auch kein guter Kommunikationspartner.

Und bei Ego-Floskeln in Richtung »Weißt du, auch mir wurde schon einmal das Herz gebrochen …« würde ich spontan den Wunsch verspüren, mich zu entleiben. Deshalb gehe ich nicht ans Telefon.

Geduscht und geföhnt marschiere ich erst mal in die Küche zurück. Früher habe ich einen Kaffee und eine Zigarette gefrühstückt, doch das Rauchen hat mir Tom abgewöhnt.

Gedanke Nummer acht an den Scheißkerl seit dem Aufstehen. Sollte ich wieder damit beginnen, an mit getrocknetem Kraut gefüllten, brennenden Papierröllchen zu nuckeln? Weil’s schmeckt! Oder aus Trotz. Oder einfach deshalb, weil es keinen Weltfrieden gibt. Wen interessiert schon der Grund? Was meinen Sie? Zunächst einmal beschließe ich, Tabakpflanzenschützerin zu bleiben und meinen Drogenkonsum auf Kaffee zu beschränken.

Tag 13: Makabre Gedanken und eine Barbie für Arme

 

Wie werde ich den heutigen Tag verbringen? Wie oft im Laufe der quälend langsam verstreichenden Stunden meinen Ex-Freund verfluchen? Und wie häufig werde ich ihn und seine neue Freundin im Geiste massakrieren und vor dem inneren Auge dahinscheiden sehen? Meine Fantasie in Bezug auf diese in der Vorstellung recht abwechslungsreich gestalteten Doppelmorde als blühend zu bezeichnen, wäre ironisch – meine destruktiven Visionen hinterlassen nur verbrannte Erde, in der garantiert nichts mehr gedeiht. Und ich genieße sie, meine geistig zelebrierten Bluträusche, in denen Kettensägen, Glasscherben und ätzende Säuren keine unwesentlichen Rollen spielen, ebenso wie mich reuevoll um Vergebung anflehende Opfer, die im Finale des Vergeltungsakts qualvoll verrecken.

Aber die noch viel wichtigere Frage neben der, wie oft ich in meiner Vorstellung zur Zeugin, Richterin und Henkerin in einer Person werde, ist: Wie oft würde ich heute wieder daran denken, nicht nur das Leben anderer Personen, sondern auch mein eigenes zu beenden? In den letzten zwölf Tagen geschah dies bestimmt zwanzigmal! Mindestens zehn von rund fünfzig mir eingefallenen Möglichkeiten, Selbstmord zu begehen, habe ich ernsthaft in Erwägung gezogen, die anderen vierzig könnte man als masochistische Hirnwichserei bezeichnen. Doch die verbliebenen Varianten sind durchaus praktikabel, um sich aus dem Spiel zu nehmen und vom Diesseits ins Jenseits zu befördern, auch wenn sie sicherlich nicht häufig vorkommen. Bei etwa der Hälfte davon wird das Duell mit dem Sensenmann einsam ausgetragen, die verbliebenen Versionen eignen sich dafür, als öffentliches Spektakel inszeniert zu werden.

Aber vielleicht murkse ich mich letztendlich doch mittels einer der gängigeren Arten ganz seriös ab: Ich lege zuerst die Vinylscheibe (ja, ein paar von denen existieren noch außerhalb eines Museums) mit dem Song »Gloomy Sunday« auf den Plattenspieler (ja, ich besitze so ein Ding) und mich dann in die mit warmem Wasser gefüllte Badewanne. Anschließend schneide ich mir die Pulsadern an den Handgelenken auf – klar, der Länge nach, ich bin doch kein Amateur – und blute langsam aus, bis mein Körper nur noch eine blasse Hülle ist und sich die Seele hoffentlich auf einem psychedelischen Ritt ins Universum befindet. Doch zuvor würde ich jede Menge Maiskörner essen – für die Party danach, wenn mein Leichnam, wie von mir gewünscht, in den Verbrennungsofen geschoben wird. Plopp, plopp, plopp! Übrigens, falls Sie es nicht wissen: Bei »Gloomy Sunday« handelt es sich um ein im Jahr 1933 komponiertes Lied des ungarischen Pianisten Rezső Seress, auch bekannt als »Lied der Selbstmörder«. Obwohl der melancholische Titel, den bis heute über fünfzig verschiedene Musiker interpretiert haben, von staatlicher Seite nie verboten wurde, weigerten sich früher viele Radiosender, dieses Lied zu spielen.

Doch zurück zur Entleibung. Befremdlich finde ich die Aussage mancher Suizidaler, mit ihrem Freitod niemanden belasten zu wollen. Ich denke, sogar eine Ameise würde mit ihrem Selbstmord andere Ameisen verdrießlich stimmen … Wie sollte es dann einem Menschen gelingen, von der Trauer der Angehörigen und Freunde einmal abgesehen, niemanden in Mitleidenschaft zu ziehen? Was ist mit den Leuten, welche die Leichenteile der von Dächern gesprungenen Personen aufsammeln und später zusammenpuzzeln oder nach einem Kopfschuss Blut und Hirnmasse der Lebensüberdrüssigen von den Wänden kratzen müssen? Auch wenn es zum Berufsrisiko zählt: Emotional wenig erfreulich ist der Anblick eines qualvoll gestorbenen Menschen in jedem Fall. Und unaufdringliche Todesarten, die keinen zerfetzten, von diversen Körperflüssigkeiten besudelten oder aufgeblähten Leichnam hinterlassen, sind selten. Mir fiele zur Entlastung der involvierten Personen nur ein: sich in einer kühlen Aufbahrungshalle mit Spucklätzchen um den Hals und Windel in der Hose vergiften und im Augenblick des Todes versuchen, die schrecklichen Schmerzen zu ignorieren und einen glücklichen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Auf diese Weise belastet man womöglich so wenig Mitmenschen wie möglich. Ansonsten … schwierig, schwierig, meinen Sie nicht auch?

Und dann wäre da noch das Testament, dessen Aufsetzung ein kniffliges Unterfangen darstellt. Ich könnte mich niemals einfach so aus dem Staub machen und mein Nachleben ungeregelt hinterlassen – so wie ich es auch nicht fertigbrächte, in den Urlaub zu fahren, ohne vorher meine Wohnung aufzuräumen. Ordnung muss sein.

Natürlich müssten in diesem Dokument nicht nur die Vererbungsanweisungen, sondern auch die Bestattungs- beziehungsweise Kompostierungswünsche meiner sterblichen Überreste festgehalten werden. Da ich mich nicht als Wurmfutter sehe, lasse ich mich in den Ofen schieben und pulverisiert irgendwo aufstellen oder eingraben. Und beim Brennen … Sie erinnern sich: plopp, plopp, plopp!

Worüber ich mir neben Selbstmordvarianten, Hinterlassenschaftsregelungen und Verfahrensvarianten mit meiner Leiche so meine Gedanken mache, sind Wiedergeburt und karmische Altlasten. Ich verspüre wenig Lust darauf, noch ein weiteres Mal einen Fuß auf diese Welt zu setzen, auf der es sich höchst unsicher existiert, man jederzeit von einem Meteoriten erschlagen, einer Springflut ersäuft oder einem Terroristen erschossen werden kann und nur die Erdanziehungskraft verhindert, dass einen das Weltall in seine unendlichen Weiten saugt. Noch dazu, wo man gar nicht weiß, als was man wieder in das irdische Leben befördert wird, womöglich als Hausstaubmilbe oder Blobfisch. Na, vielen Dank auch! Hätten Sie darauf etwa Lust? Seit Jahren versuche ich, nur noch leichtfüßig durch die Gegend zu tänzeln, damit ich nicht versehentlich einen Wurm zertrete. Keine Lust auf mieses Karma!

Ich stelle fest, dass ich immer noch in der Küche sitze und schon eine halbe Stunde lang nicht mehr an Tom gedacht habe … okay, jetzt schon … und mittlerweile kalten Kaffee schlürfe, obwohl ich die Schönheit jetzt auch nicht mehr brauche.

Es ist fast Mittag. Soll ich mich ins Wohnzimmer schleppen und mich vom Fernseher anplärren lassen? Bin ich schon dazu in der Lage, endlich den Artikel über die Vor- und Nachteile von Online-Dating aus der Sicht einer Frau zu verfassen, auf den Gregor, mein Redaktionschef, wartet? Wenn ich nur daran denke, diese Thematik zu betexten, möchte ich mich über die Klomuschel hängen und kotzen oder vom Balkon stürzen. Nein, ich bin eindeutig noch nicht so weit, über Flirts, Liebe und Sex zu schreiben. Vielleicht morgen. Vielleicht. Ein bisschen Zeit gibt mir mein Vorgesetzter sicher noch, außerdem bin ich offiziell bis Ende der Woche im Urlaub.

Seufzend schütte ich den Rest des Kaffees weg und stehe danach unschlüssig herum. Welchen Weg werde ich einschlagen? Den nach rechts ins Wohnzimmer oder nach links geradewegs zurück ins Bett?

Das Handy läutet. Es ist meine Mutter, die hören will, ob ihre Tochter immer noch in Selbstmitleid badet oder schon darin ertrunken ist. Wenn ich nicht rangehe, steht sie womöglich in einer halben Stunde vor der Tür, räumt mich – meine Einwände und das ausgesprochene Zutrittsverbot ignorierend – beiseite und dann im Anschluss vermutlich die Wohnung auf. Dabei würden garantiert Worte wie »Rücksichtslosigkeit«, »Saustall« und »Katastrophe« fallen, gemurmelt selbstverständlich, damit man im Fall der Fälle abstreiten kann, so etwas jemals gesagt zu haben. Im schlimmsten aller Szenarien hätte sie eine Schüssel mit gelblichgrauer Flüssigkeit in ihrer riesigen Altfrauentasche und würde mich mit Plattitüden wie »Hühnersuppe heilt Körper und Seele« foltern. Zudem kenne ich ihre Kochkünste: Ich würde angeekelt vor der gesund und daher fettarm produzierten Plörre sitzen und feststellen, dass mehr Augen in den Teller hinein- als herausschauen.

Angesichts dieser Horrorvision gehe ich ans Telefon und melde mich mit einem fröhlichen »Hallo!«. Meine Mutter wartet etwa drei Sekunden lang, bevor sie antwortet – ich hoffe, die Pause ist nicht aus der Überraschung heraus entstanden, dass ich noch lebe.

»Kind!«, ruft sie, ebenfalls betont munter. »Wie geht es dir?« Bevor ich antworten kann, beginnt sie wie eine im Zeitlupentempo feuernde Maschinenpistole, die Eckdaten ihrer Erlebnisse der letzten beiden Tage herunterzurattern: Tante Elisabeth getroffen, Laub gerecht, Vater zum Arzt gefahren … »Und wann kommst du endlich bei uns vorbei?«, endet sie nach einer gefühlten Stunde, ohne wissen zu wollen, wie es mir geht. »Du willst doch nicht, dass Papa und ich uns noch mehr Sorgen machen, als wir das ohnehin schon tun!«

»Mama, bitte!«, entgegne ich, der Demoralisierung angesichts dieser Aussage, die als Feststellung formuliert war, nicht als Frage, trotzend.

Sie lässt einen Seufzer hören, der von einer höheren Macht Anteilnahme für dieses undankbare Kind einfordert und mir zusätzlich ein schlechtes Gewissen machen soll – erfolglos natürlich. Dort, wo andere Töchter ein sensibles Gespür für die Stimmungen ihrer Mütter entwickelt haben, existiert bei mir nur emotionale Hornhaut.

Nach dem Gespräch lege ich mit einem roten Ohr und schwachem temporären Tinnitus auf, froh, das Telefonat ohne weitere Schramme auf meiner angeknacksten Psyche hinter mich gebracht zu haben.

Aber: Ich war wieder zwanzig Minuten lang von meinem Kummer abgelenkt und musste nicht an Tom denken. Dafür ist er jetzt wieder umso raumfüllender in meinem Kopf.

Nach erledigter Arbeit und damit einhergegangener Bekämpfung des Schamgefühls für die Müllorgie – ich hatte beispielsweise eine Deponie von rund hundert tränenfeuchten und rotzklebrigen Taschentüchern zu entsorgen – stelle ich mich ans Fenster und starre in die Tagverdunkelung. Witzig, dass die Bäume vor meinem Wohnzimmerfenster bei einbrechender Finsternis kollektiv einen Schritt nach vorne zu schreiten scheinen, als wollten sie das Haus stürmen. Der böige Herbstwind fegt durch die Landschaft, feuchte Blätter vor sich hertreibend und eines davon direkt vor meiner Nase an die Scheibe klatschend. Gleich darauf ist es mucksmäuschenstill, fast endzeitmäßig, wie vor einem jeden Moment über die Erde hereinbrechenden Inferno – ich höre nur noch, wie die Uhr an meinem Handgelenk die Sekunden aus meinem Leben tickt. Während anschließend die ersten im Mondlicht silbern schillernden Regentropfen zu Boden fallen, versuche ich, mich darauf zu konzentrieren, was in meinem Leben gut, schön und unproblematisch ist. Wirklich viel fällt mir im Moment nicht ein, was an meiner negativen Grundhaltung und Leckt-mich-alle-am-Arsch-Stimmung liegen mag.

Seit Tom weg ist, ist alles irgendwie nur halb, bemerke ich in einem Anfall von Sentimentalität. Um nicht zu sehr zu vergeistigen, beschließe ich, ab sofort die Gedanken an meinen Ex-Freund – so wie ich es heute ohnehin schon den ganzen Tag mache, ohne es mir vorgenommen zu haben – zu zählen. Erstens ist es irgendwie tröstend, zweitens habe ich dann mehr Stoff für einen Psychiater, sollte ich jemals das Bedürfnis verspüren, einen aufzusuchen. Heute waren es zwölf, stelle ich fest.

Anschließend wende ich mich vom Fenster ab, einem körperlichen Bedürfnis zu und gehe zu Bett – natürlich nicht, ohne vor dem Einschlafen ein weiteres Mal an Tom und seine Barbie für Arme denken zu müssen.

Tag 14: Körbchengröße Fingerhütchen und ein Pudding

 

Als ich erwache, sticht die Sonne ihre Strahlen durchs Fenster direkt in mein Gesicht. Scheiße, kann bitte jemand diese Helligkeit abstellen! Depressive Menschen bevorzugen die Dunkelheit, lieben den Geruch nach Moder und hassen Knoblauch. Um Himmels willen, ich bin zum Vampir mutiert! Danke, Tom!

Was ist denn heute überhaupt für ein Tag, wissen Sie das vielleicht?

Ich stehe schnell auf, wobei der Vorgang dank instabilen Kreislaufs und schlafsteifer Glieder dann doch gut zwei Minuten dauert, und schlingere Richtung Küche. Kaffee, bitte! Und es ist Montag, wie ich bei einem Blick auf meinen Kalender eruiere, an dem ich jeden Tag seit der Trennung durchstreiche. Mit Augenlidern auf halbmast greife ich nach dem schwarzen Stift und zeichne mit quietschenden Linien ein weiteres großes X aufs Papier. Es steht für: Nix ist es geworden mit der großen Liebe und glücklichen Zweisamkeit bis ans Lebensende – weil mein Ex-Freund sich benehmen musste wie ein hormongesteuerter Neandertaler, der seine familiären Gene ausstreut wie der Landwirt die Saat. Na, hoffentlich fällt die nicht auf unfruchtbaren Boden, denke ich gehässig (Tom wünscht sich eine große Familie).

Bei einer lustlosen Inspektion des Kühlschranks stelle ich fest, dass er dringend wieder einmal gefüllt werden sollte. Da Verhungern nicht auf meiner Liste der fünfzig möglichen Varianten, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, steht, werde ich einkaufen gehen müssen.

Nach einer Stunde und unzähligen vergeblichen Versuchen, wie eine Frau auszusehen, die nicht vor dreizehn Tagen von ihrem Freund verlassen wurde, befinde ich mich auf dem Weg zum Supermarkt. Ob die Leute um mich herum wohl ahnen, dass ich ein Vampir bin? Ich halte mein Gesicht in den aufkommenden Wind und hoffe, damit einen gewissen Straffungseffekt hinsichtlich meiner Zornesfalten erzielen zu können.

Unheil naht! Da die Nervenzellen in meinem Körper in der Lage sind, drohenden Ärger seismografisch zu erfassen, bin ich vorgewarnt, als sich ein Beben ankündigt.

Und tatsächlich, ich entdecke meinen Ex-Freund in der Menge der Fußgänger, die mir mit muffeligen Montagsgesichtern und Wochenbeginn-Stress im Blick entgegenkommen. Zum Glück ist er allein, die blonde Tussi hat er daheim gelassen. Schlagartig fühle ich mich wie eine brillentragende, pickelgesichtige Pfadfinderin mit dicken Zöpfen und Körbchengröße Fingerhütchen, die zum ersten Mal ohne Streichholz Feuer gemacht hat: hässlich, aber stolz! Doch dem relativen Hochgefühl folgt in Sekundenschnelle ein tiefer Sturz in ein vollgeschissenes Plumpsklo – so jedenfalls fühlt es sich an.

Toms Blick ruht erkennend in meinem, bevor er mich lächelnd begrüßt. Ich stemme mich gegen den Wind und lausche seinen Worten, bevor die nächste Böe sie sich greifen und forttragen kann.

»Hallo, Jerry! … Ich … es … wie geht es dir?«, beendet er sein Gestammel mit einer trivialen Frage, in der sich Mitleid, Beschwichtigung und die Bitte um Verständnis mischen. Arschloch, du brauchst dich nicht nach meinem Befinden erkundigen, du nicht. Du elender Hurensohn, ich hasse dich aus tiefstem Herzen, ich wünschte, du würdest verrecken, jetzt gleich, hier auf der Straße, vor meinen Füßen.