Marie Petersen: Prinzessin Ilse

 

 

Marie Petersen

Prinzessin Ilse

Ein Märchen aus dem Harzgebirge

 

 

 

Marie Petersen: Prinzessin Ilse. Ein Märchen aus dem Harzgebirge

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

ISBN 978-3-7437-0159-5

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-897-6 (Broschiert)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: 1852

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Das Märchen an die liebe Leserin

Liebe Leserin,

vor allen Dingen möcht' ich Dich bitten, mich nicht mit der Sage von der schönen Prinzessin Ilse zu verwechseln, die mit ihrem Schloss und ihren Schätzen vor langen, langen Jahren unter den Ilsenstein versunken ist und noch immer in früher Morgenstunde herauf steigt, in der Quelle zu baden, wie Dein Führer dir erzählen wird, wenn Du auf sicherem Maultier über den Ilsenburger Schlossberg nach der schönen Klippe hinauf geritten bist, welche den Namen der Prinzessin und der Quelle trägt, die unten das Tal durchströmt.

Ich bin nicht die Sage, bin blos das Märchen, schlicht und arm, ohne jegliche Berechtigung auf Deine Gunst, liebe Leserin, kann mich weder auf Tradition stützen, noch das in unseren Tagen so hoch gepriesene Verdienst der Volkstümlichkeit für mich in Anspruch nehmen.

Die Sage ist eine weitläufige Cousine von mir, viel vornehmer, als ich; und die Verwandtschaft mit mir und meinesgleichen ist ihr nie recht genehm gewesen. – Seit ihr nun gar in neuester Zeit die hohe Ehre widerfahren, von einem gottgesegneten Manne, dem größten Meister dieses Jahrhunderts und vieler Jahrhunderte, auf die Wand eines wunderherrlichen Kunsttempels abkonterfeit zu werden, wird sie mich gar nicht mehr ansehen. Wenn Du, liebe Leserin, vielleicht zufällig in der prächtigen Königsstadt wohnest, oder doch gewesen bist, wo ein edler, kunstsinniger Monarch jenen Tempel aufbauen lässt, so wirst Du nicht versäumt haben, was Keiner versäumt: das entstehende Wunderwerk zu beschauen, und wirst also auch meine weitläufige Cousine kennen, wie sie da sitzt und auf die Raben horcht, die ihr in die Ohren schreien, und mit ihrem Stab in Schutt und Moder wühlt, Kronen und Menschenknochen und altertümliche Waffen zu Tage fördert. Sie braucht solche Raritäten, um sich bei den Menschen zu legitimieren, um ihren alten Adel und ihre Glaubwürdigkeit zu beurkunden. – Ich kann mich nun gar nicht legitimieren, bin nicht adlig und nicht einmal glaubwürdig, – und dennoch würde es mich bitter weh tun, wenn Du mich eine kleine Lügnerin schelten wolltest, liebe Leserin. Ich möchte Dir so gerne auch die Wahrheit erzählen, und gebe mir alle Mühe; aber da ich nur eine kleine Landstreicherin bin, ohne jede ästhetische Erziehung, ja selbst ohne die allernotdürftigste Schulbildung, – wo soll da was Gescheutes herkommen? – Du musst es mir also schon nachsehen, liebe Leserin, wenn ich nicht sehr historisch bin, wenn ich geographische, geologische, chronologische und andere Schnitzer mache. Gelernt habe ich gar nichts, und wissen tu ich folglich auch nichts. Wie es gleich nach der Sintflut im deutschen Vaterland ausgesehen, das hab' ich mir von den Steinen erzählen lassen, die's erlebt haben wollen; – und da Du nicht dabei gewesen bist, liebe Leserin, und ich auch nicht – und überhaupt kein Mensch der's aufgeschrieben hätte, so können wir die Aussage der Steine hier wohl einmal gelten lassen.

Ich lauf durch das Land und schau' mich um, – und wo mir eine Blume gefällt, oder ein altes Mauerwerk, ein Fels, oder ein Baum, – da klopf ich an und spreche »Du! Erzähl mir, was Dir passiert ist«, und drauf setz' ich mich nieder und schlafe ein; – und im Traume kommt's denn auf mich herabgerieselt, die bunten Bilder, eins nach dem anderen, wie ich sie Dir hier vorführe. Hab' ich vor dem Einschlafen recht herzinnig zum lieben Herrgott gebetet, so fallen wohl bisweilen ein paar Körnlein Wahrheit hinein in das luftige Gespinnst; und das sollte mich am meisten freuen, liebe Leserin, wenn Du die auch heute bei der kleinen Ilse auffinden könntest. – Ich kann aber nichts dazu tun und nichts verantworten; – ich bin ein kleines, dummes Ding, und darum, liebe Leserin, stell' mich nicht zur Rede und frag' mich nicht aus; – denn ich hab' keine Antworten für kluge Leute.

Nimm mit mir fürlieb, wie ich eben bin. Auf Deine gute Meinung kommt viel an, liebe Leserin; – d'rum, wenn's Dir möglich ist, so hab' mich bischen lieb.

Mit aller Demut und Hochachtung

Dein treu ergebenes

Märchen.

 

Prinzessin Ilse

Bei der Sintflut, wo alle Wasser der Erde zusammen gelaufen waren, die Gebirge erstiegen hatten und ihre wilden Wogen über die höchsten Berggipfel dahin fluten ließen, da gab es eine gräuliche Verwirrung unter den Gewässern; und als der Herr sich endlich der armen Erde erbarmte, das klare Himmelslicht die graue Wolkendecke durchbrechen ließ, und den Wassern gebot, von einander zu scheiden und den Heimweg in ihre Täler zu suchen, da hätte wohl kein Bach und kein Strom sein altes Bett wieder gefunden, wären nicht Scharen von guten Engeln auf die Erde herab gestiegen und hatten sie sorglich auf den rechten Pfad geleitet. –

So wie die langen Züge der Hochgebirge aus der Flut empor tauchten, so kamen die Engel auf ihre Gipfel herab und stiegen von allen Seiten langsam in die Täler, die Wasser vor sich her treibend. Und wie sie tiefer und tiefer herab kamen, so ordneten sie den Lauf der Ströme und Bäche, steckten dem Meer seine Gränzen ab, und schlossen die See'n fest ein in zackige Felsenketten, oder in grüne Wald- und Wiesengürtel. Mit breiten Windfegern und Bürsten von Sonnenstrahlen hantierten sie dann auf der nassen Erde herum, bürsteten den Schlamm aus dem Grase, trockneten das schwere Laub der Bäume und waren so geschäftig drüber her, dass der viele Wasserstaub, den sie aufgestört, wie duftige Nebelschleier in den Klüften des Gebirges hing.