Karl Emil Franzos: Die Hexe

 

 

Karl Emil Franzos

Die Hexe

Eine Novelle

 

 

 

Karl Emil Franzos: Die Hexe. Eine Novelle

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Mykola Yaroshenko, Zigeunerfrau, 1886

 

ISBN 978-3-7437-0110-6

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-724-5 (Broschiert)

ISBN 978-3-86199-725-2 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck in »Junge Liebe«, Breslau, 1879.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

1.

Ich war lange nicht mehr in meiner Heimat gewesen, in Podolien. Ich war nach ausgiebiger Sturm- und Drangzeit an deutsche Hochschulen gekommen und hatte mich da ehrbar deutscher Professorenweisheit beflissen und weniger ehrbar deutscher Studentenlust. Aber über beiden hatte ich nicht der alten, lieben Heimat vergessen, der Stätte meiner Knabenjahre.

Ja, ich dachte ihrer, gern und viel. Ich dachte des ärmlichen Städtchens, in dem ich geboren, und der einsamen Heide, über die ich geschritten, und der stillen, tiefdunklen Weiher, an denen ich geruht. Und vor allem der düsteren Klosterschule, da mir die Patres Dominikaner unter guten Worten und bösen Schlägen das Geheimnis der Buchstaben und Zahlen erschlossen.

Und wenn ich daran dachte, so wurde mir eigen zumute, trüb und heiter zugleich, so recht, recht wehmütig. Dann tauchte wohl auch ein Antlitz vor meinem Blick empor, ein liebes, trotziges Knabenantlitz mit teuren, wohlbekannten Zügen. Die braunen Locken fielen wirr um die Stirne, und die blauen Augen blitzten und die Lippen lachten übermütig:

»Ich habe den Pater Marcellin in seiner Zelle eingeschlossen, und bis zum Abend kommt niemand in den Korridor. Komm ... die großen Pflaumen sind reif ... der Baum bei der Kapelle! ... Hei! Wie wird der Dicke klopfen! ...«

Ich muß noch heute lächeln ...

Wir waren ein sonderbares Paar, Graf Henryk Kornicki und ich. Wir waren die wildesten und übermütigsten Burschen in der Schule und machten dem dicken, schwerfälligen Marcellinus am meisten zu schaffen – das war das Gemeinsame. Sonst waren wir in allem verschieden und insbesondere: er ein Grafensohn und ich ein armer Junge. Aber was fragt die Jugend nach solchen Unterschieden! Henryk Kornicki war mein braver Kamerad. Wir blieben unzertrennlich durch die drei Jahre, da Marcellin über unseren Seelen waltete und leider auch über unseren Ohren. Es war eine heiße, fast törichte Knabenfreundschaft.

Wir hatten uns während der Zeit sehr ins Freie gesehnt – ins freie, offene Leben, in die freie, offene Welt. Aber es war uns doch bitter zumute, als die Abschiedsstunde schlug. Das war an einem Julimorgen – im Klostergarten dufteten die Blumen, die Sonne schien und die Vögel sangen. Wir aber standen unter der Buche im Hofe und weinten bitterlich.

Dann bezog ich ein österreichisches Gymnasium und er ein Genfer Erziehungsinstitut für Söhne des polnischen Adels. Wir hatten natürlich mit heißen Schwüren gelobt, einander recht häufig zu schreiben. Nun – das wäre nichts Merkwürdiges. Aber merkwürdig war, daß wir unser Gelöbnis hielten.

Unsere Briefe sahen einander sehr ähnlich, das kam wohl von der alten Sympathie. Wir fanden beide, daß der Karzer eine schlechte Erfindung sei und daß die Griechen und Römer sehr boshafte Leute gewesen, weil sie in so ausgesucht schwierigen Konstruktionen gedichtet und philosophiert. Und vor allem fanden wir, daß Alter keinen Menschen vor Torheit schütze, auch k.u.k.-österreichische und Genfer Professoren nicht.

Darauf die Zeit der ersten Liebe. Seine Flamme war eine blonde, sanfte, langweilige Engländerin am Leman, und die meine ein braunes, stolzes, rätselhaftes Mädchen am Pruth. Das war aber auch der einzige Unterschied – sonst waren wir beide gleich töricht, gleich unglücklich und unsere Verse gleich schlecht.

Zwei Jahre später hatte er die hohe Schule des Leichtsinns in Paris bezogen und ich die hohe Schule der Wissenschaft in Deutschland. Von da ab schrieb er seltener – er war so beschäftigt, der arme Junge ...

Da erhielt ich plötzlich wieder einmal – es war im August, und zwölf Jahre waren seit jener Abschiedsstunde verflossen – einen Brief von Henryk aus Paris. Er wolle mir einen Antrag machen. Er sei nun volljährig, habe die Verwaltung des Majorats übernommen, und da schreibe man ihm vom Schlosse Gonisko, daß unter vielen anderen Dingen auch die Bibliothek sehr verwahrlost sei. Ob ich nicht das Ordnen übernehmen und für zwei Monate aufs Schloß kommen wolle? ... »Du bist ja immer ein Bücherwurm gewesen, und es soll da sehr interessante Manuskripte geben. Und dazu die alte Freundschaft! Ich komme zu gleicher Zeit nach Hause, das heißt, wenn ich abkommen kann ...«

Wenn ich abkommen kann! Ob ihn eine Grisette des Jardin Mabille an Paris feßle oder eine Herzogin des zweiten Kaiserreichs – das schrieb Henryk nicht. Nun – ich entschloß mich kurz, ich sagte »Ja« und sandte umgehend die Zusage ab.

Es war ein Sonntagmorgen, da ich von Heidelberg abreiste. Hei! Wie fuhr sich's so fröhlich durch die gesegnete deutsche Landschaft – mir war's, als müßte ich immer singen und pfeifen. Aber allmählich wurde ich schon müder und schließlich ganz still.

Am Mittwoch war ich am Bahnhofe von Stanislawow. Mein Herz hatte geklopft, als ich am Morgen aus dem Fenster des Coupés zuerst wieder die weite, weite Ebene erblickte. Was ich da sah, war nicht schön, nicht fruchtbar, nicht reizend, aber – es war die Heimat. Ich hatte mich vorgebeugt und starr hinausgesehen, bis mir der Wind die Tränen in die Augen getrieben.

Oder war es nicht der Wind? ...

Am Bahnhof der Kreisstadt Stanislawow war viel Leben. Denn hier hält der Zug um zwölf Uhr, und es wird zu Mittag gespeist.

Ich drängte mich mühsam durch die Halle und trat in den Hof, selbstverständlich unter zahlreicher Gefolgschaft der Herren Lohndiener und Kutscher. Da standen ihre überaus vortrefflichen Wagen, die leider auch überaus schmutzig waren. Doch – schon wollte ich den ersten besten besteigen, als ein auffallender Ton an mein Ohr drang.

Abseits nämlich stand ein Reisewagen mit zwei schönen starken Pferden bespannt. Und vor dem Gefährt ein junger Bauer mit ganz unbeschreiblich dummem Gesicht. Dieser Mensch nun stieß unablässig einige Silben aus, die entfernt wie mein Name klangen.

Ich ging auf den Wagen zu. »Was wollen Sie mit dem?« jammerte hinter mir der hebräische Chorus. »Der wartet auf einen Schlachziz.« Aber ich ließ mich nicht irremachen.

»Was rufst du da?« fragte ich den Burschen.

Der sah mich ängstlich forschend an. »Ach!« seufzte er dann. »Sie sind doch nicht der Richtige!«

Ich mußte hell auflachen – das Gesicht war zu komisch. »Vielleicht bin ich's doch?«

»Nein!« versicherte er. »Sie sind's nicht, Sie sind jung.«

»Gut! Aber was hast du da gerufen?«

Er wiederholte seinen Ruf – es war unzweifelhaft mein Name. »Ja«, sagte ich, »so heiße ich – du bist von Gonisko?«

»Freilich«, rief er mit freudigem Grinsen. »Also sind Sie's doch?! ... Ich warte schon seit dem frühen Morgen.« Er öffnete den Schlag. »O, was für eine Freude ich habe! Wenn ich den gnädigsten Herrn verfehlt hätte, so hätten sie gewiß wieder alle gesagt: dieser Janko ist ein Esel! – So – aber jetzt! ...«

Mein Gepäck wurde aufgeladen, wir fuhren aus dem Bahnhof und links von der Stadt ab auf die Heerstraße gegen Osten. Aber mein guter Janko konnte sich noch nicht beruhigen. Er brachte die Pferde in raschen Trab, dann wandte er sich um, setzte sich bequem zurecht, musterte mich aufmerksam, betastete vorher meinen Reisekoffer und schüttelte den Kopf ...

Ich mußte wieder lachen: »Was wundert dich, Janko?«

»Hm, daß alles so natürlich ist! Und dann« – er kratzte sich – »der gnädigste Herr haben sich so jung gemacht. Man sieht kein einziges von Ihren grauen Haaren!«

»Wa–as?« machte ich erstaunt. »Wer hat dir gesagt, daß ich alt bin?«

»Alle«, versicherte er eifrig. »Alle haben es gesagt – der Josef und die Katherina und der Gregor und der Herr Ökonom auch. Es kann ja auch gar nicht anders sein – bei Ihrem Stande!«

»So – was habe ich denn für einen Stand?«

Janko blinzelte mich mit schlauem, vertraulichem Lächeln an. »O! Ich weiß es – wenn der gnädigste Herr lügen wollen, so nützt es nichts! ... Wir alle wissen es, der gnädigste Herr sind ein ...« Er fuhr wild mit den Armen in der Luft herum und machte dann ein Kreuz.

»Was heißt das? Was bin ich?«

Janko sah mich mit einem durchdringenden Blicke an. »Ein Hexenmeister sind Sie – ein Zauberer, das heißt das!«

»Hahaha!« Ich lachte laut auf und zehn Minuten fort. Janko sah mich zuerst verdutzt an, dann stimmte er lustig ein.

»Janko!« fragte ich ihn, als ich wieder sprechen konnte, und wischte mir die Tränen aus den Augen. »Janko, wer hat Euch das erzählt?«

»Niemand!« erwiderte dieser stolz. »So klug sind wir schon selber! Wir wissen, daß die Zaubereien und die Hexenkünste in den Büchern stehen; Sie haben alle Bücher gelesen und kommen jetzt zu uns, um auch die unsrigen zu lesen, die im ›gelben Saal‹. Das hat aber niemand nötig als ein Hexenmeister. Und alle Hexenmeister sind alt, der vor zwanzig Jahren auf dem Schlosse war, war auch alt. Unserem Herrn Ökonom hat er zum Abschied einen Wetterteufel zurückgelassen ...«

»Was?«

»Einen Wetterteufel. Man kann ihn nicht sehen: er steckt in einer dicken weißen Milch. Hinaus kann er nicht, dieser dumme Teufel – der Zauberer hat ihn hineingefoppt in eine Glaskugel mit einer Glasröhre dran. – Wenn ihm heiß ist, so streckt er sich aus, wenn ihm kalt ist, so zieht er sich zusammen. Der Herr Ökonom braucht ihn für die Landwirtschaft – ja! Und – also – was ich sagen wollte: alle Hexenmeister sind alt. Sie müssen ein großer sein, denn Sie können sich jung machen.«

»Heilige Einfalt!« seufzte ich.

Aber Janko erwiderte ernst: »Eine solche Heilige kenn' ich nicht. Übrigens halte ich von jeder Heiligen nicht viel. Bleibt doch immer so ein Weibsbild. Da ist mir mein Schutzpatron, der heilige Johannes, ein anderer Kerl – auf den kann man sich verlassen, sag' ich Ihnen. Der war auch mein Trost, wie ich gehört habe, daß Sie zu uns kommen.«

»Fürchtest du dich denn vor mir?«