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Paul Keller

Das Geheimnis des Brunnens

 

Saga

Tanz

Rie ist in Deutschland soviel getanzt worden wie unmittelbar nach dem verlorenen Kriege. Abend um Abend, Nacht um Nacht gefüllte Tanzsäle, Flöten und Fiedeln, heulende Saxophone, klirrende Becken und dröhnende Pauken. Zu wüstem Radau, der mit Musik nichts zu tun hatte, wirbelnde Paare in bacchantischer Lust, in fiebernder Lebensgier. — An der einsamen Landstrasse, die von dem Städtchen Mosheim nach dem eine deutsche Meile entfernten Dorfe Brosau führte, lag in einem schönen Waldtale weltabgeschieden Vater Seligers „Gasthof zur alten Linde“. Wochentags kamen wenig Gäste, eben nur ein paar Fuhrleute, einige Holzfäller, der Förster und alle drei Tage einmal der Briefträger. Vater Seliger war ein Menschenfreund, er verlangte nur zweimal in der Woche Briefbestellung und bei schlechter Witterung überhaupt nicht.

Heute war Trubel und Jubel in der „Linde“. Seliger hatte im Kreisblatt grosses Schweineschlachten mit nachfolgendem „vornehmem Tanz“ angezeigt. Da strömte bei dem schönen Wetter das Volk zusammen in Omnibussen, auf Leiterwagen und zu Rade; einige kamen auch zu Fuss.

An einem Tischchen sassen zusammen der alte Hauptlehrer Jüttner, der Bauerngutsbesitzer Hönig und ein hübscher Bursche, namens Berthold Reich.

„Warum tanzest du nicht, Berthold?“ fragte der alte Lehrer.

Finster antwortete der Bursche:

„Ich komme von einem Tanzplatz, da sass der Tod an der Kasse und verteilte die Tanzschleifen. Da brummten ganz andere Bässe, da schrillten ganz andere Schreie, da tanzten und wirbelten die Leichen. Diese wilde Tanzerei gleich nach dem Kriege ist abscheulich; mir ist’s, als trampelten sie auf den Gräbern herum. Einer hat ausgerechnet, wie lang eine Doppelreihe wäre, die aus Gräbern gefallener Deutscher bestünde, das Grab nur zu ein Meter Stirnseite berechnet. Fünfzehn Stunden würde ein D-Zug brauchen, ehe er durch diese schaurige Doppelreihe hindurch wäre, eine Strecke von Berlin bis München, Meter für Meter je ein Grab hüben und drüben. Und da tanzen diese Leute!“

Der alte Lehrer sagte milde:

„Berthold, urteile nicht zu streng. Die Leute sind ausgehungert an Freude, sie schmachten nach Leben, nach Bewegung, nach Tanz und Lust nach all dem Grausigen, Gequälten, das sie haben erleben müssen. Bedenke doch, dass alle diese jungen Leute um fast fünf Jahre ihres Lebens betrogen wurden, um die besten Jahre, um Jugendzeit, die nie wiederkehrt! Von denen, die draussen im Felde waren, will ich nicht reden, deren Schicksal kennst du besser als ich; aber auch hier in der Heimat war es doch schrecklich, das Darben, das Bangesein, das Hungern, die doppelte und dreifache Arbeitslast, die auf den Schultern der Frauen lag — die ganze angsterfüllte Öde des Lebens. Es ist kein Wunder, wenn jetzt das junge Blut sein Recht verlangt, wenn die Jugend lachen, tanzen, toben will. Sperre junge Rosse wochenlang in einen finsteren Stall und dann lasse sie los — wirst sehen, wie sie durchgehen, wie sie das Geschirr zerreissen, die Deichsel zerbrechen, den Wagen umkippen. Das ist ja alles so natürlich!“ Der Bursche antwortete nicht. Mit finsterem Gesicht sah er auf die Tanzenden, starrte er besonders auf seine schöne Schwester Lore. Nun sprach der Bauer Hönig. Er war ein grobknochiger Mann mit robustem Gesicht. Borstig stand ihm das Haupthaar über niederer Stirn; hart stiess das Kinn hervor, roh die Backenknochen; die Augen hatten jenes tückische Lauern, das allen groben Egoisten eigen ist und das sie nicht einmal verstecken oder auch nur wesentlich mildern können, wenn sie versuchen, zu lachen.

„Am besten amüsiert sich wieder der Zöllnerbauer“, sagte Hönig. „Nun, er war immer ein toller Hahn, immer eine Zuckerlecke für die Weiber!“

„Er hat es schwer gehabt im Kriege; zweimal war er verwundet, wie unser braver Freund Berthold hier zweimal verwundet und einmal verschüttet war. Beide tragen mit Ehren das Eiserne Kreuz erster Klasse.“ So sagte der Lehrer.

Hönig liess ein kurzes, meckriges Lachen hören.

„Das Eiserne Erster! Das ist schon was! Zuletzt sollen sie darum geknobelt haben; wer über 15 warf, kriegte eins.“

Berthold sass erst ganz still, dann sprang er auf. Kreideweiss war er und seine Stimme keuchte.

„Hönig, kommen Sie mal mit mir hinaus auf die Strasse!“

„Was soll ich da?“

„Rechenschaft sollen Sie mir geben! Sie wissen, ich bin Offizier!“

„Schulmeister sind Sie!“

„Ich bin Offizier! Sie elender Drückeberger haben eine infame Bemerkung über das Eiserne Kreuz gemacht. Kommen Sie mit mir hinaus auf die Strasse!“

Der alte Lehrer suchte ängstlich zu beschwichtigen. Hönig lachte.

„Mir gefällt’s hier sehr gut. Wenn Sie frische Luft brauchen, gehn Sie doch allein hinaus.“

„Wenn Sie, bis ich auf drei zähle, nicht draussen sind — dann —“

„Dann werde ich eben auch bis fünfzehn oder sechzehn noch hier sein — zählen Sie, soweit Sie wollen!“

„Sie kommen mit hinaus!“

„Nein! Ich will lieber weiter zusehen, wie Ihre Schwester Lore mit dem Zöllnerbauer schmust.“

„Hund! Das wagen Sie zu sagen —?“

„Ja, das sage ich! Das ganze Dorf sagt es. Seht doch nur, wie sie sich an ihn anschmiegt, wie er sie drückt! Der Zöllner ist verheiratet, hat einen siebzehnjährigen Jungen. — Eine Schande ist das.“

Auf einmal schöpfte der junge Offizier schwer Atem; seine Augen verdrehten sich, er griff sich nach dem Herzen. Noch einmal stierte er auf seine Schwester und den Zöllnerbauer, dann fiel er mit dem Kopfe schwer auf die Tischplatte.

„Schande! — Verachtung! — Ist das — ist das berechtigt?“

Es klirrte etwas auf den Fussboden.

Der alte Lehrer bückte sich rasch.

Es war eine Armeepistole. Der Alte steckte sie in die Tasche.

Im Tanzsaale entstand eine kurze Pause. Dem Berthold Reich ist übel geworden. Nun ja, so etwas passierte jetzt häufig. Das waren Nachwirkungen des Krieges. Lore Reich tat ein paar Schritte auf den Bruder zu. Dann blieb sie stehen. „Nein, er gönnt mir kein Vergnügen! Ich lasse es mir nicht gefallen!“

Zwei Minuten später ging der Tanz zu der Radaumusik weiter. Am wildesten tanzte der Zöllnerbauer mit der blonden Lore Reich. —

Der alte Lehrer führte den jungen Mann hinaus. Hönig lachte hinterher:

„Jetzt geht er auf die Strasse, aber ohne mich!“

Am nächsten Tage war Berthold Reich aus der Gegend verschwunden.

Seine Mutter jammerte, dass sie den Sohn, um den sie so bitter und lange im Weltkriege gebangt, nun wieder verloren habe. Gott weiss, wohin er war! Einen Brief hatte Berthold hinterlassen.

„Liebe Mutter, ich gehe weit fort und komme nie wieder. Ich kann die Schande, die Lore mit dem gewissenlosen Zöllnerbauern über uns bringt, nicht ertragen. Selbst solch ein Scheusal wie der Bauer Hönig wagt es, mich zu beschimpfen. Einen solchen Strohkranz vertrage ich nach dem schweren Kriege nicht. Lieber umkommen in der Fremde, wo mich niemand kennt. Meine Braut hat mich aufgegeben; sie schämt sich, eine solche Schwägerin zu bekommen. So bringt mich die Lore um Glück und Ehre. Lebe wohl, liebe Mutter. Sobald ich Geld verdiene, werde ich Dir öfter etwas schicken; aber nie aus dem Orte, wo ich gerade bin. Also forschet nicht nach. Niemand soll nach mir fragen; Lore soll nie wieder meinen Namen aussprechen. Nur Dich, teure Mutter, bitte ich, mich nicht einen einzigen Tag zu vergessen.

Berthold.“

Der „Brunnen“

Wenn man das Dominium des Barons von Guntram nicht in Betracht zog, war der Zöllnerhof bei weitem das grösste und stattlichste Anwesen des Dorfes Brosau. Vierhundert Morgen Ackerland, Wiese und Wald, das sind nach neuer Berechnung hundert Hektar. Ein schönes, fast herrschaftliches Gut. Vornehmes Wohnhaus. Eigene Jagd. —

Die Familie Zöllner sass seit uralter Zeit auf ihrer Scholle; es hiess, seit der Zeit Karls IV., der einen seiner Kriegsleute hier an neuerbauter Strasse als Zöllner einsetzte, der auch den „Brunnen“ entdeckt haben soll, ebenso wie er den Wunderquell des nach ihm benannten Weltbades Karlsbad entdeckt hat. Der Brunnen von Brosau lag auf dem Besitztum des Zöllnerbauern, etwa hundert Meter vom Gehöft entfernt, aber nur fünfzig Schritt von dem Bretterzaun, der den Zöllnerhof von dem benachbarten Anwesen des Bauern Hönig trennte.

Der Brunnen sprudelte in einer Fontäne von drei Meter Höhe heisses Wasser in so reichlicher Menge, dass es nach dem Dorfbach abgeleitet werden musste, der dann oft viele Meter weit dampfte. Dass es ein Heilwasser war, wussten die Leute seit alter Zeit. Die Aussentemperatur tat dem Brunnen nichts an; bei brodelnder Sommerhisse war das Wasser nicht wärmer als in schneidendem Winterfrost, im Winter nicht kühler als im Sommer. Natürlich fror der Brunnen niemals zu.

Sagen und Legenden spannen sich um den Brunnen. Freilich wurden sie in dieser neuen Zeit, in deren grellem Licht die alten Märchengestalten sterben, die Traditionen vergessen werden, die ehrwürdigen Gebräuche aufhören, fast nur noch Kindern erzählt. Da war die heiligste Frau übers heisse Feld gewandert, um armen Leuten beizustehen, und sie war an den Brunnen gekommen, der damals noch kühles, stilles Wasser führte. Dort hat die Heilige getrunken. Dabei ist ihr ihr goldenes Geschmeide in den Brunnen gefallen und liegt da bis heutigen Tages. Der Brunnen aber ist über solch hohe Ehre ganz heiss geworden und springt nun vor Freude gen Himmel, Tag und Nacht, Sommer und Winter.

„Nein“, sagte der Vater Seliger, „das ganze Gegenteil ist wahr; eine Hexe ist’s gewesen, die zu faul war, Wasser zu kochen, da hat sie einen Zauber über den Brunnen gemacht, und nun ist das heisse Wasser da. Die Leute im Zöllnerhofe holen es ja heute noch in grossen Kannen zum Geschirrabwaschen.“

„Alles Unsinn“, lachte dann Fleischermeister Peluschke. „Ihr wisst doch, dass es da so ein Gehänge mit Karl IV. und einem ,Goldenen Bullen‘ hat. Den goldenen Bullen hat der Kaiser, als er noch ein wilder Heide war, immer mit sich auf seinen Reisen herumgeführt wie die Juden das Goldene Kalb. Auf einmal hat er den Götzendienst satt gekriegt und sich am Brunnen taufen lassen. Den ,Goldenen Bullen‘ hat er in den Brunnen stürzen lassen. Der steht nun da unten und sprudelt und schnaubt ganz wütend. Das kann man an den vielen Blasen sehen, die aufsteigen.“

„Peluschke“, belehrte da ein Städter, „Sie sind im Irrtum. Die Goldene Bulle von Karl IV. war kein Rindvieh, sondern ein Gesetz. An dem Pergament des Gesetzes war eine goldene Kapsel befestigt als Siegel. Solch ein Siegel nannte man damals ,Bulle‘. Das ganze Gesetz hiess dann die ,Goldene Bulle‘.“

„Schnickschnack“, sagte Peluschke, „ich habe die Geschichte von meinem Urgrossvater. Der war schon zweiundneunzig Jahre alt. So alte Leute lügen nicht, sondern wissen Bescheid.“ —

Nun, das war Gerede und in der Hauptsache ja doch nur Scherz. Aber der Brunnen stand in hohem Ansehen. Wer am Magen litt, an der Leber oder an der Galle, kam zum Brunnen trinken oder holte sich das Wasser in grossen Flaschen oder gar in Fässern ab.

Die Zöllnerbauern hatten für solche Wassergäste immer einen besonderen Weg zu dem Brunnen durch ihren Garten freigelassen; aber schon der Vater des jetzigen Besitzers hatte ein Schild anbringen lassen: Privatweg. Widerruflich gestattet. In der Nacht wurde der Weg zum Brunnen durch ein Tor abgeschlossen.

Morgen auf dem Lande

Wenn die Stadtleute noch lange in den Federn liegen, wenn selbst die Arbeiter noch nicht daran denken, nach ihrer Fabrik zu eilen, dann brennt in den Bauernstuben schon Licht; dann werden in den Ställen schon die Tiere gefüttert, die Kühe gemolken, die Pferde gestriegelt. Siebenschläfer gibt’s auf dem Lande nicht. Leute, die sich bis um acht oder gar noch länger im „Bette herumsielen“, werden auf dem Dorfe verachtet. Selbst der Herr Pfarrer muss schon um sechs Uhr in der Kirche am Altare stehen. Im Sommer beginnt das Tagewerk um einhalb vier Uhr früh und währt ohne Pause, die kurze Essenszeit abgerechnet, bis zur sinkenden Sonne. Früh um fünf Uhr schläft auf dem Bauernhofe nur noch der Kettenhund; deshalb steht er auch nicht in besonderem Ansehen, sondern gilt als Faulpelz. —

Die Bauersfrau Anna Zöllner kochte in früher Stunde die Morgensuppe für die Leute, Milchsuppe mit grossen Scheiben eingebrockten Brotes; hinterher gab es dann noch Kaffee und Brot mit Butter und Weisskäse oder Schmalz bestrichen. Das ist nahrhaft und schmeckt gut.

Frau Zöllner war eine schmucke, rundliche Frau, Mitte der dreissiger Jahre. Sie war sicher ganz gesund, war arbeitsfreudig und die wohlhabendste Frau des Ortes. Trotzdem war ein leidender Zug in ihrem Gesicht. War es die Kriegsnot, die sie gezwungen hatte, ohne den zum Heeresdienst eingezogenen Mann das riesige Anwesen allein zu bewirtschaften? Mit den Mägden und einigen alten maroden Aushilfsarbeitern hatte sie vier Jahre lang wirtschaften müssen. Knechtsdienste hatte sie getan, hatte in der Erntezeit Getreide gemäht, schwere Garben auf die hohen Fuder gegabelt, war selbst hinter dem Pfluge und der Sämaschine gegangen. War es das? Oder war es etwas anderes, das die kräftige Frau müde und traurig machte? —

Eine Frau trat in den grossen Küchenraum.

„Guten Morgen.“

Sie, Frau Reich? Zu so früher Stunde?“

„Ich komme, um meine Lore abzuholen. Sie ist doch hoffentlich zu Hause?“

„Ich weiss es nicht“, sagte die Bauersfrau leise.

„Sie wissen es nicht? Eine Gutsfrau müsste doch wohl wissen, wo um die fünfte Morgenstunde ihre Leute sind.“

„Das ist richtig — aber ich weiss es nicht.“

„Sie war wieder zum Tanze?“

„Ich habe ihr gestern abend verboten, hinzugehen. Ob sie es doch getan hat, weiss ich nicht. Ich will hinaufgehen und in ihrer. Stube nachschauen.“ Frau Reich sank auf einen Küchenschemel und fing plötzlich an zu weinen.

„Meine Kinder! Meine Kinder! Gut und treu habe ich sie mit meinem seligen Manne erzogen — und nun er tot ist —“

Die Weinende brach ganz in sich zusammen. Die Gutsfrau stand mit unbewegtem Gesicht da und brachte kein Wort hervor.

„Mein Berthold ist fort — mein einziger Sohn! Fort in die weite Welt —— auf Nimmerwiederkehr! Da — da — lesen Sie —“

Sie reichte der Frau am Herde den Abschiedsbrief ihres Sohnes. Diese las ihn mit stieren Augen durch und gab ihn zurück.

„Ja“, sagte sie. Sonst nichts.

Der Milchkessel fing an zu sieden. Die Frau am Herde schob ihn mechanisch vom Feuer.

„Mein Sohn — mein schöner, lieber Sohn! Wie war er brav, wie hat er die Schule durchgemacht, immer als Erster seiner Klasse — immer als Erster — dann im Kriege — wie hat er sich geführt — schon im zweiten Jahr Offizier geworden — das Eiserne Kreuz Erster — zweimal verwundet — einmal verschüttet — durch Gottes Gnade gerettet und genesen — und nun, da der Krieg aus ist — wird er aus der Heimat vertrieben durch die Schande, die Lore über uns bringt; er ertrug es nicht, er war immer still und stolz, es quälte ihn, dass die Leute scheel oder spöttisch auf ihn sahen. Da habe ich die Lore verstossen. Ich habe es ihr geschrieben, in einem Briefe, habe ihr geschrieben, sie solle bleiben, wo sie ist, in ihrem Schmutz und Verderben; ich wollte mich nie wieder um sie kümmern.“

Die Frau brach in ihrem Jammern ab. Ein Weilchen sass sie still, dann sagte sie leise:

„Vier Wochen habe ich es ausgehalten ohne das Mädel. — Jetzt ertrag ich’s nicht mehr — ich habe nur noch dieses eine Kind — und ich bin ja doch eine Mutter. Ich komme, sie von hier fortzuholen. Ich hätte es längst tun müssen.“

Eine Magd trat ein, Frau Zöllner gab ihr auf, das Frühstück weiter zu besorgen; sie habe mit Frau Reich zu sprechen und gehe mit ihr nach der Oberstube. —

Lore Reich war nicht als gewöhnlicher Dienstbote auf dem Zöllnerhof. Sie hatte bessere Schulbildung und war einige Zeit auf einer Handelsschule gewesen. Mit Anfang des Krieges trat sie Frau Zöllner als Stütze zur Seite. Sie arbeitete im Felde und im Hofe nicht mit, dafür war sie zu feingliedrig; aber sie hielt das Geschäftliche in Ordnung. Sie kaufte ein und verkaufte, bezahlte Rechnungen und mahnte Forderungen ein, verhandelte mit der Steuerbehörde, lohnte die Dienstboten ab, schrieb Briefe. Sie war eine Art Verwalterin.

Während die Frauen die Treppe hinaufstiegen, sagte Frau Zöllner:

„Wenn Lore zu Hause ist, kann sie sofort mit Ihnen gehen; es ist auch mein Wille, da ein Ende zu bereiten.“

Sie gingen miteinander einen Gang entlang und klopften an die letzte Tür.

Keine Antwort. Frau Zöllner suchte an einem grossen Schlüsselbunde nach einem bestimmten Schlüssel und öffnete damit die Tür. Das Zimmer war leer, das Bett unberührt.

„Sie ist nicht da — sie ist noch nicht zurück! — Jetzt, früh fünf Uhr, noch nicht zurück! Und Ihr Mann?“

„Der ist auch noch nicht zurück.“

„Die Schande! — Sagen Sie, Frau Zöllner, es wird doch um Gottes Willen nicht wahr sein, was die Leute munkeln — dass Lore — dass meine Tochter —“

„Ich weiss, was Sie meinen; ob das, was die Leute sagen, wahr ist, weiss ich nicht.“

„So geht es hier zu? Ach Gott, ich kenne Sie doch, Frau Zöllner; ich weiss doch, dass alles hier in Ordnung war, als Sie noch allein wirtschafteten. Ich kann mir auch ganz gut denken, wie es in Ihnen aussehen mag.“

Frau Zöllner antwortete nicht, sie seufzte nicht einmal. Sie sprach nur:

„Wir müssen warten, bis sie kommt.“

Auf einmal erschollen vom Hofe her gellende Hilfeschreie.

„Wer schreit so schrecklich? Ist das die Lore? O Gott!“

Sie hafteten die Treppe hinab. Aus dem Dunkel der Nacht, die noch lange nicht vorüber war, tauchten Gestalten auf; alle Stalltüren öffneten sich, Knechte, Mägde stürzten herbei. Vor der matt erleuchteten Haustür lag die Jungmagd Hanne. Sie konnte nicht mehr schreien; sie wimmerte nur noch um Hilfe. Ein entsetzlicher Schrecken hatte das arme Mädchen gelähmt. Man trug sie in die Küche, legte sie auf die grosse Wandbank.

„Hanne, Hanne, was ist dir? Was ist denn geschehen?“ fragte Frau Zöllner. Das Mädchen konnte nur lallen.

„Am Brunnen . . . am Brunnen . . .“

„Was ist am Brunnen?“

„Die Lore . . . die Lore . . .“

„Was ist mit Lore?“

„Tot!“ . . .

Da war das Mädchen bewusstlos. Aber noch eine andere wurde ohnmächtig, das war Frau Reich, Lores Mutter. Sie schrie ein paarmal weh auf, dann brach sie zusammen. Die Knechte und Mägde standen erschüttert da. Die einzige, die gefasst blieb, war die Gutsfrau Anna Zöllner.

„Reibt Frau Reich die Schläfe mit Wasser und auch der Hanne, flösst ihnen starken Kaffee ein, tragt sie nach oben, legt sie auf mein Bett. Emil und Gustav nehmen die Heutrage, kommen mit mir. Gebt mir eine Laterne!“

Nach zehn Minuten brachten sie die Lore getragen. Sie war tot. Ihr Tanzkleid war völlig durchnässt, zum Teil zerrissen, ihre schönen blonden Haare waren zerzaust, am Halse waren rote und blaue Flecken. Schaudernd drückten sich die Leute in die Stubenecke. Die Mädchen schluchzten, selbst die starken Knechte bebten.

„Schickt nach dem Arzt, nach dem Amtsvorsteher und dem Landjäger! Lore Reich ist ermordet worden. Emil und Gustav suchen die Wirtshäuser nach meinem Mann ab.“

So befahl die Gutsfrau.

Emil und Gustav kehrten sofort zurück. Sie hatten den Bauern in einer Türnische gefunden; er war schwer betrunken. Sie stiessen den Torkelnden die Treppe hinauf. Er fluchte über die Lore. Sie brachten ihn zu Bett.

Ein Arzt kam im Auto an. Er konstatierte Lores Tod, eingetreten vor etwa zwei Stunden durch Ertrinken. Der Amtsvorsteher kam, mit ihm der Landjäger. Die Staatsanwaltschaft wurde telefonisch benachrichtigt. Bei anbrechendem Tage kamen die Leute vom Gericht. Alles hatte auf ausdrücklichen Befehl unberührt bleiben müssen.

Eine Stunde später ordnete der Staatsanwalt an: „Die Leiche der ermordeten Lore Reich ist beschlagnahmt — der Gutsbesitzer Stefan Zöllner ist verhaftet.“

Schwurgericht

Es ging um Leben und Tod.

Der Staatsanwalt plädierte auf vorsätzliche Tötung, also auf Mord. Als Unterfrage stellte er: Totschlag.

„Stellen Sie sich vor: der Angeklagte ist wahnsinnig verliebt in seine Hausangestellte, obwohl er eine schmucke, gesunde Frau und einen braven Sohn hat, der schon in der Sekunda des Gymnasiums ist. Stefan Zöllner lief der Ermordeten auf Schritt und Tritt nach, besuchte mit ihr ein Tanzvergnügen nach dem anderen, stellte sich bloss vor der ganzen Gemeinde, brachte sich und das Mädchen in übelstes Gerede. Das stumme Leiden seiner Frau störte ihn in seinen Räuschen nicht; er dachte nicht an die Ehre seines heranwachsenden Sohnes. Ebensowenig scherte sich Lore Reich um die öffentliche Meinung. Dass sie ein leichtsinniges Mädchen war, muss zugegeben werden. Aber nach den Zeugenaussagen, auch nach der Aussage ihrer unglücklichen Mutter, die sie doch schon einmal verstossen hatte, war Lore, bevor Zöllner aus dem Kriege heimkam, ein braves, unbescholtenes Mädchen. Sie wurde verführt, und ihr Verführer, der heute auf der Anklagebank sitzt, wurde ihr Mörder. Was hat dieser Mann verschuldet an seiner Frau, an diesem unglückseligen Mädchen, an deren beklagenswerter Mutter, an ihrem Bruder, der, ein vom Felde der Ehre heimgekehrter makelloser Offizier, die Schande seiner Familie nicht ertrug, der Heimat und Mutter verliess, Verzweiflung im Herzen. Er ist verschollen seit Monaten, es fand sich von ihm keine Spur mehr. Das alles hat der Angeklagte auf dem Gewissen. Nun, was ging dem Morde voraus? Obwohl, wie die Hofgenossen aussagen, Frau Zöllner der Ermordeten den abermaligen Besuch eines Tanzvergnügens streng verboten hatte, entwich Lore Reich zur Nachtzeit aus dem Hause, wahrscheinlich auf Veranlassung und mit Hilfe des Angeklagten. Nun war aber mit dem Mädchen indes eine grosse Veränderung vorgegangen. Von ihrem Brotherrn verführt, war ihr das heilige Gefühl der Frauenehre verloren gegangen. Sie fing an, auch mit anderen Männern zu flirten. Das Dorf hatte militärische Besatzung bekommen, so wie es nach Kriegsschluss ja vielfach üblich war. Die Soldaten hatten nichts zu tun, Disziplin war nicht mehr; so trieben sie eben Unfug. Die Tanzereien nahmen nicht ab, die Mädchen wurden wild gemacht; eine der tollsten war Lore Reich. Sie warf sich den Soldaten an den Hals. Einwandfrei erwiesen ist die ausgebrochene wilde Eifersucht des Angeklagten. In der Mordnacht hat er sich im Tanzraum unbändig benommen, er hat die Lore aus den Armen ihrer Tänzer gerissen, Prügeleien angefangen, hat das Mädchen beschimpft, zuletzt, als er es gar zu arg trieb, hat ihn Lore Reich, die ja sehr temperamentvoll war, ins Gesicht geschlagen und ihm zugerufen: ,Ich mag dich nicht mehr, du alter Kerl!‘ Da hat er geschrien, nun sei ihr letztes Stündlein gekommen, und hat nach seinem Eichenstock gesucht. Das Mädchen ist in Todesangst entflohen, Zöllner ist noch eine Weile festgehalten worden, dann hat er sich losgerissen. Zwei Zeugen, die ihm nachrannten, hat er an die Wand geschleudert; er ist bärenstark. Da hat man von der Verfolgung leider abgesehen, und so ist das Unglück geschehen. Erwiesen ist, dass Zöllner in jener Nacht nicht stark betrunken war; er hat die grausige Tat bei klarem Verstande vollbracht. Dass er nicht betrunken war, geht auch daraus hervor, dass er das Mädchen am Brunnen nicht bloss würgte, sondern imstande war, sie mit dem Kopfe in das heisse Wasser des Brunnens solange zu halten, bis sie tot war. Im allgemeinen dauert es drei Minuten, ehe ein Ertrinkender oder Erhängter tot ist. Lore Reich war feingliedrig, aber doch ein kerniges Mädchen; sie hat sich natürlich mit allen Kräften gewehrt. Das haben die Spuren am Brunnen noch erwiesen. Die Fussspuren des Angeklagten am Tatort sind einwandfrei nachgewiesen, sie waren ganz frisch. Im Garten hat man seinen Hut, sein zerrissenes Halstuch gefunden. Der Angeklagte ist der Ermordeten vom Gasthaus aus nicht auf der Strasse diretzt nachgelaufen, sondern hat einen for genannten Schriemweg, also einen Abkürzungspfad, eingeschlagen. Bei eiligem Laufen ist er dem Mädchen zuvorgekommen. Vor der Tür, die zum Wege nach dem Brunnen führt, hat er sein Opfer erwartet. Er ist ihr durch den Garten nachgeeilt und hat sein Verbrechen vollbracht. Ein klipp und klarer Beweis sind die frischen Fussspuren, ist das abgerissene Halstuch, der Hut, die man bei dem Brunnen fand. Zwei Zeugen, Hönig und Geissler, haben eidlich bekundet, dass sie auf ihrem Heimwege beobachtet haben, wie Zöllner hinter Lore Reich her war. Dass der Angeklagte in dieser Tanznacht anfangs fast ganz nüchtern war, ist erwiesen. Freilich ist er von zwei Hofangestellten erst gegen einhalb sechs Uhr vor seiner Haustür schwer betrunken vorgefunden worden. Neben ihm standen zwei leere Rumflaschen. Den Rum hatte er schon vor seinem Aufbruch aus dem Wirtshause gekauft und in seine Manteltaschen gesteckt. Wahrscheinlich hat er sich erst Mut angetrunken und nach seiner Scheusalstat in erwachendem Gewissensschreck zu der Flasche seine Zuflucht genommen und sich zunächst nicht ins Haus gewagt.“

Damit, sagte der Staatsanwalt, sei der Indizienbeweis geschlossen, und er stellte seine schweren Anträge. — Der Verteidiger sprach sehr schwach. Seine Bemühungen, die Argumente des Anklägers zu erschüttern oder abzuschwächen, scheiterten.

Der Angeklagte sagte als Schlusswort: „Ich habe Lore Reich nicht umgebracht. Prügeln habe ich sie wollen, weil sie sich an die Soldaten wegwarf, und deswegen bin ich vornweg gelaufen. Aber sie ist flinker gewesen als ich. Sie kam nicht. Mein Ärger war so gross, dass ich zur Flasche griff und mich betrank. Weiter weiss ich nichts. Wenn ich verurteilt werde, bitte ich, nicht auf Zuchthaus zu erkennen, das wäre furchtbarer für mich als die Hinrichtung. Den Tod fürchte ich nicht. Der ist ein guter Bekannter von mir aus dem Felde.“ —

Die Geschworenen zogen sich zur Beratung zurück. Der Gerichtsdiener verschloss hinter ihnen die Tür. Drinnen im Beratungszimmer hatte er Bier, Selter, belegte Brote, Zigarren und Zigaretten aufgestellt. Das war ein Nebengeschäft von ihm. Die Geschworenen frühstückten erst, während der arme Teufel und seine Richter draussen auf ihren Spruch warteten; dann wählten sie, wie die Tage vorher, den Rittergutsbesitzer Guntram zu ihrem Obmann. Guntram lehnte diese Wahl schroff ab. Er war der einzige der zwölf Geschworenen, der seine Stimme für Nichtschuldig abgab.

Stefan Zöllner wurde zu zwölf Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust verurteilt.

Im Zeugenraum sass todblass Frau Anna Zöllner. Sie hatte Zeugnis abgelegt für ihren Mann, er sei dieser Tat nicht fähig, aber sie war nicht vereidet worden.

Als das Urteil gefällt war, rief Stefan Zöllner mit lauter Stimme:

„Anna, du allein hast die Wahrheit bezeugt. Ich habe diese Tat nicht begangen. Verzeihe mir, was ich dir angetan habe!“

Dann liess er sich geduldig abführen, ohne auf die Frau, die verzweifelt die Hände nach ihm ausstreckte, auch nur noch einen Blick zu richten.