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SIGRID WOHLGEMUTH

 

Ein Stück Süden für Dich

 

Roman

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Cover: Jacqueline Spieweg

Bildlizenzen: shutterstock

Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann

Verantwortlich für den Inhalt des Textes ist die Autorin Sigrid Wohlgemuth

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH

 

ISBN 978-3-96050-151-0

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

 

Copyright © 2019 Franzius Verlag GmbH, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

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INHALT

Kloster Toploú & Vaí

Entrissen

Griechenland – Kreta Urlaub

Stéfanos und Sofías Zuhause

Beginn einer Freundschaft

Markttag

Tholos Strand

Lebendig halten

Max, bist du es?

Das kleine Schiffchen

Unerwarteter Besuch

Das Urlaubshaus

Für Lily

Allein nach Ierápetra

Die Vergangenheit in der Gegenwart

Wieder endet ein Tag ohne Max

Die Zwillinge melden sich

Max‘ Fischfang

Stéfanos‘ Angst

Sofías Trauerbewältigung

Auf in die Lassíthi Hochebene

Kehrtwendung

Ein Stück Mythologie

Fortsetzung

Sofía vermisst Max

Sofía und Max allein auf Inseltour

Es ist gut, so wie es ist

Gesprächsstoff

Ein Geheimnis

Die Lichterkette

Maria bittet Sofía um Hilfe

Die Leprainsel Spinalónga

Sofías Verhalten ängstigt Stéfanos

Der Notartermin

Geheimnistuerei

Ein Gewitter liegt in der Luft

Explosion

Sofía möchte Lily nicht verlieren

Der uralte Olivenbaum

Das Foto

Alltagsleben

Réthymnon bei Hitzewelle

Verdammt Max!

Die Tour geht weiter – El Greco

Das Ende des aufregenden Ausflugs

Einschreiben aus Wien

Mátala statt Vaí

Sofía bucht einen Flug nach Wien

Taverne Monastiráki

Das Geheimnis findet sein Ende

Lass Max gehen!

Abschied

Neues Kapitel des Lebens

Karte mit Ausflugtipps der Autorin

Gut zu wissen

Das griechische Alphabet

Liebe Leserinnen und liebe Leser,

DANKE

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin bei FRANZIUS

Novitäten Frühjahr 2019 im Franzius Verlag

 



Unterschiedliche Charaktere

aus verschiedenen Ländern

setzen Gefühle

um

ganz nah und nicht nur fern zu sein.

 

Für

Elsa, Günther &

Μιχαήλ

 

Kloster Toploú & Vaí

 

»Max, das ist verboten«, flüsterte Lily ihrem Mann zu.

Ich bekam es mit, noch waren sie nicht weit ins Innere der Klosterkirche vorgedrungen. Max ließ sich davon nicht beeindrucken und fotografierte die kostbaren Ikonen aus Hüfthöhe. Er beugte sich nah zu seiner Frau.

»Das fällt keinem auf, ich hebe die Linse ja nicht vors Auge.«

»Und das Auslösen? Denkst du, das hört niemand?«

»Dann huste ich eben jedes Mal.« Er lächelte, räusperte sich und ging zur nächsten Sehenswürdigkeit.

Meine Freunde befanden sich in der Kirche des Klosters Toploú, im Osten der Insel Kreta. Lily faszinierten die Wandmalereien.

»Max, mach von denen ein Bild.«

»Ach ja, ich denke das darf man nicht?« Er zwinkerte mir zu, hüstelte.

Ich wandte mich ab. Vor der Tür wartete ich auf die beiden und konnte an ihren Gesten verstehen, worum es ging, kannte und liebte ich doch die Gegend seit Jahren. Ließ mich im Schatten der Steinmauer nieder, die mir Kühle spendete. Die Temperatur lag bei fünfunddreißig Grad.

Max hatte sich den Ausflug zum Palmenstrand von Vaí gewünscht, mit der Bitte um einen kurzen Aufenthalt an diesem heiligen Ort. Das Kloster Toploú, das einer mittelalterlichen Burg glich, lag einsam inmitten der Felsküste, einer kargen Gegend. Eine beliebte Sehenswürdigkeit. Im Gegensatz zu anderen Klöstern hatte Toploú zahlreiche Ländereien vorzuweisen. In der abgelegenen Region waren die Mönche damals auf sich allein gestellt gewesen, immer auf der Hut vor Piraten oder den Türken. Mit massiven Toren, die Kanone schussbereit und Wachposten auf dem Glockenturm, waren sie gegen jegliche Eroberer gewappnet gewesen. Ein Erdbeben im sechzehnten Jahrhundert hatte das Kloster zerstört, die Türkenherrschaft Plündereien mit sich gebracht. Trotz all der Rückschläge war es den Äbten gelungen, große Ländereien zu erwerben, die eine solide wirtschaftliche Grundlage boten.

»Endlich«, seufzte ich, als meine Freunde auf mich zukamen.

»Stell dir vor, Max hat Fotos gemacht.« Lily schaute sich um, ob auch niemand unser Gespräch mitbekam.

»Ich habe es gesehen. Dabei hast du das Schild zuvor gelesen, auf dem gebeten wird, keine ...«

Besucher kamen, darum sprach ich den Satz nicht zu Ende. An Max' schelmischem Gesichtsausdruck erkannte ich, er hatte verstanden und machte sich nichts daraus. Hauptsache die Aufnahmen waren im Kasten. Er zupfte an seinem Ziegenbärtchen.

»Möchtet ihr in dem kleinen Café am Eingang etwas trinken gehen?« Ich ging voraus.

»Wie spät ist es? Bleibt genügend Zeit, zum Strand zu fahren?«, fragte Lily.

Ihr Mann schaute auf die Uhr. Als Einziger von uns trug er eine. »Ist noch früh, erst gegen zwölf. Geht vor, ich komme gleich nach. Ich schaue beim Souvenirladen rein und mache einen Fotorundgang im Innenhof.«

Schon verschwand er aus unserem Blickfeld. Wir Frauen gingen zum Klostereingang, wo sich die Taverne befand.

»Hast du Hunger?« Ich reichte Lily die Karte.

»Zu heiß. Ich trinke einen Frappé mit Milch«, gab sie zur Antwort und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Dass es heute so brütend heiß wird ... Für Ende September finde ich das heftig. Kein einziges Lüftchen weht.« Mit der Speisekarte fächerte sie sich Luft zu.

Eine Frau, gekleidet in Schwarz, mit einem Kopftuch und sicherlich seit Jahrzehnten im Rentenalter, trat an den Tisch und nahm die Bestellung auf. Ihre Augen leuchteten jung, keine Schweißperlen auf der Stirn, als würde ihr die tropische Hitze nichts ausmachen. Die Palmen rund um die Taverne spendeten Schatten. Auf der Mauer standen Töpfe mit unterschiedlichen Kakteenarten. Manche trugen rote, andere gelbe Blüten. Alle Tische waren belegt. Geruch von Sonnenmilch mit Kokosnussaroma schwebte in der Luft.

»Schau mal.« Lily zeigte in Richtung Hofmitte.

Ich drehte mich um. Max stand in einem der Wachtürme, die Kamera zeigte in unsere Richtung. Er winkte kurz, dann tauchte er im Inneren des Turms unter.

»Das wird eine lange Nacht für Max.« Lily schlürfte den Rest des Eiscafés durch ihren Strohhalm.

»Wieso?«

»Er wird jedes Bild bearbeiten wollen.«

»Na, ihr beiden. Habt ihr mir etwas zu trinken bestellt?« Max setzte sich seiner Frau gegenüber mit Blick zum Klostereingang und machte Porträtfotos von uns.

»Hör auf damit. Unsere Haare kleben und wir sind ungeschminkt.« Lily hielt sich die Hand vors Gesicht.

»Ihr stellt euch an ...«, murmelte er.

»Was möchtest du trinken oder essen, dann gehe ich rein und hole es dir«, bot ich ihm an.

»Lass mal.« Max stand auf. »Das mache ich selbst, vielleicht gibt es drinnen etwas Interessantes für meine Linse.«

Kurz darauf kam er mit einer Literflasche Wasser und einem Glas griechischem Eiskaffee zurück. Bis zum Tisch hatte er bereits die Hälfte des Frappés getrunken. Er wischte sich über den Schnauzer: »Köstlich! Sofía, du musst mir zeigen, wo ich dieses Frappé-Pulver finde, damit ich mir in Wien den Kaffee auf diese Art zubereiten kann.«

Ich schaute auf meine Freunde, gerne verbrachte ich meine Zeit mit ihnen: Max, der sich mit der Kamera beschäftigte, und meine Freundin, die eine Zigarette rauchte, dabei die Gäste am Nebentisch beobachtete.

»Zeig mal her.« Lily rückte näher an Max heran.

Er zog die Kamera weg und drückte ein paar Tasten. Lilys Stirn legte sich in Falten.

»Warum reagierst du so heftig?« Sie blickte ihren Mann an.

»Nix.«

»Was ist das denn für eine Antwort?«

»Na eben nix.«

»Du hast wohl ein Geheimnis vor deiner Frau.« Mein aufkommendes Lachen unterdrückte ich.

Max sprang auf, wie von der Tarantel gestochen, und schrie: »Lass das mal ganz meine Sorge sein. Und misch´ dich nicht ein!«

Hatte ich in ein Wespennest gestochen?

Lily schüttelte den Kopf, sie schien sein Ausrasten nicht einordnen zu können. Wir liefen ihm hinterher.

Max marschierte geradewegs zum Parkplatz. Im Auto hieß uns eine stickige Hitze willkommen. Max öffnete alle Türen, damit Luft durchwehte. Bei Windstille ein vergebliches Unterfangen. Ich traute mich nicht, ihn auf sein Verhalten anzusprechen, und er überspielte es, indem er zur Tagesordnung überging.

»Lass die Klimaanlage laufen, damit es kühler wird.« Er warf mir einen bittenden Blick zu. Ich schüttelte den Kopf.

»Das geht nicht.«

»Wieso?«, fragte Lily, die sich abseits in den Schatten eines Olivenbaumes gestellt hatte.

»Hier direkt vor dem Kloster lasse ich den Motor nicht laufen. Umweltverschmutzung. Außerdem finde ich es in dieser idyllischen Gegend störend.«

»Einverstanden. Also, alle Mann in die heiße Kiste und ab nach Vaí zum Palmenstrand.«

Max rückte auf den Beifahrersitz. Meine Freundin legte sich ein Handtuch auf die Rückbank, bevor sie Platz nahm.

Ich bereute schnell meine Entscheidung. Mich überkam das Gefühl, ich würde mir am Lenkrad Brandblasen holen. Verkrampft biss ich die Zähne zusammen, schloss die Tür und startete. Sofort sprang die Klimaanlage an.

»Achtunddreißig Grad!« Max deutete auf die Temperaturanzeige. »Wird Zeit, dass wir ins Wasser kommen. Ich brauche dringend eine Abkühlung.«

Bis zum Palmenstrand wollte Max gefühlte zehn Mal anhalten, um Bilder von der kargen Landschaft aufzunehmen oder einem Adler beim Segelflug zuzuschauen. Ein anderes Mal stoppten wir, weil zwei schwarze Ziegen mitten auf der Straße standen. Jedes Mal, wenn er ausstieg, wischte er sich Schweißperlen von der Stirn. Hob kurz seine langen Haare hoch, die er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.

»Wo die Ziegen wohl herkommen«, sagte Max.

»Die gehören sicherlich zum Kloster«, meinte ich. »Die Ländereien reichen fast bist nach Vaí. Übrigens, schau mal, die haben auch ein Ziegenbärtchen.«

»Danke fürs Lästern.« Max schnitt eine Grimasse.

Einige Aufnahmen später bogen wir auf die Straße zum Strand. Auf einem großzügig angelegten Parkplatz stellte ich den Wagen ab. Max sprang hinaus, griff sich die Kameratasche und marschierte Richtung Eingang.

»Max, komm zurück und hilf die Badesachen tragen«, rief Lily ihm hinterher. Ohne sich umzudrehen winkte er ab und ging unbeirrt weiter.

»Ob der sauer ist? Was war denn an deinem Geheimniswitz so schlimm?«, meinte Lily.

»Frag ihn, ich weiß es nicht. Vielleicht hat er es eilig, ins Wasser zu kommen«, hoffte ich und hievte die Kühltasche mit Proviant aus dem Kofferraum. Am frühen Morgen hatte ich Kleinigkeiten für ein Mittagessen zubereitet.

»Mit der gesamten Fotoausrüstung, das glaubst du doch nicht wirklich, oder? Der ist entweder stinkig oder auf Bildfang.« Sie legte sich die Tragetasche über die Schulter, nahm Max’ Schnorchel.

Holzpaletten waren über den heißen Sand gelegt, sodass wir gut zu den Liegen gelangten. Die meisten waren belegt, erst im hinteren Teil fanden wir unter einer riesigen Palme freie Plätze. Noch bevor wir unsere Handtücher ausbreiten konnten, stand ein junger Mann bereits vor uns, um die Gebühr für die Liegen zu kassieren. Ich zückte meine Geldbörse, zahlte. Er reichte mir einen Beleg. Von Max weit und breit keine Spur.

»Wo der wohl hin ist?«

Lily legte die Hand vor die Stirn und schaute sich um. Max winkte ihr zu. Er stand auf einem Berg rechts von uns und machte wilde Zeichen, wir sollten zu ihm kommen. Meine Freundin schüttelte den Kopf, holte die Sonnenmilch aus der Tasche und rieb sich ein.

»Da laufe ich garantiert nicht hoch. Schau mal, wie viele Stufen das sind, da ist mir der Hitzschlag gewiss. Max scheint die Hitze nichts auszumachen.«

»Ich bewundere ihn. Er schleppt nicht nur die ganze Ausrüstung mit sich, sondern er hat ja selbst genug auf den Rippen. Alle Achtung, da ziehe ich den Hut.« Ich breitete die Handtücher aus und ließ mich auf der Liege nieder.

»Da stimme ich dir zu. Bin stolz auf ihn, dass er sich nicht hängen lässt und rumjammert, weil alles bei den Temperaturen besonders anstrengend ist«, meinte Lilly.

Die Arme hinter dem Kopf verschränkt blickte ich entspannt aufs Meer. Dort tummelten sich Urlauber und Einheimische aller Altersgruppen. Wenigstens dadurch kam das Wasser ein wenig in Bewegung. Mir war nach einem Nickerchen.

»Kommst du mit ins Wasser?«

»Später«, säuselte ich mit bereits geschlossenen Augen. Das Gemurmel der anderen Gäste drang sanft an mein Ohr.

»Hör auf, Max! Kein Foto von mir, wenn ich im Badeanzug bin!«

Ich schreckte auf und schluckte trocken. Musste blinzeln, die Sonne stach mir in die Augen.

»Ist was passiert?«, fragte ich verdattert. Ich schien wohl fest eingeschlafen gewesen zu sein.

»Max hat mich im Bikini fotografiert und dich, wie du pennst.« Lily warf ihrem Mann einen bissigen Blick zu.

»Nee, Max, oder?«

Max hob die Schultern, setzte eine unschuldige Miene auf.

»Du weißt, wir hatten ausgemacht, nicht wenn wir unbekleidet sind.«

»Meine Güte, ihr seid weder nackt noch hässlich. Immer dieses leidige Thema.« Er nahm sich das Display vor und tat, als würde er die Bilder löschen. »Zufrieden?«

Beide nickten wir.

»Ganz schön viele Touristen. Ist der Strand von Vaí so besonders?« Max sah sich um.

»Ja. Es ist ein Hain von Palmen, den du sonst auf Kreta nicht in dieser Größe vorfindest. Die Erzählung besagt, dass die Manen des Sarazenen-Herrschers Abu Hafs Omar den Hain angelegt haben. Heimlich führten die Eroberer Datteln mit, deren Kerne sie achtlos in der Gegend ausspuckten.«

»Piraten waren am Werk«, meinte Lily.

»Na ja, in Wahrheit hat diese Palmenart bereits in der minoischen Zeit existiert«, gab ich zur Antwort.

»Genug Geschichtsunterricht. Kommt jemand mit? Ich schmeiß mich in die Fluten.« Max sah uns an.

»Ich.« Lily reichte ihrem Mann die Hand und so liefen sie zum Wasser.

Schon bald waren sie abgetaucht, bespritzten sich gegenseitig. Mit einem Lächeln sah ich ihnen zu und dachte, wie schön es war, Freunde zu haben, mit denen man sich gut verstand, Spaß hatte und solche Augenblicke im Leben teilen konnte. Obwohl mich sogleich ein ungutes Gefühl beschlich, ausgelöst durch Max' unerklärliches Verhalten als Reaktion auf das Wort »Geheimnis«. Er, sonst ein ruhiger Geselle, hatte niemals auf irgendetwas derart reagiert. Auf der einen Seite war ich neugierig, auf der anderen traute ich mich nicht, ihn darauf anzusprechen.

 

Image

 

»Erde an Sofía.«

Sie schrak zusammen. »Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du hinter mir stehst.«

»Das habe ich gemerkt. Wo warst du mit deinen Gedanken?«, fragte Stéfanos, Sofías Ehemann.

Sie atmete tief durch. »Ich habe den Anfang von meinem neuen Roman geschrieben. Mit Erzählungen über Max, Lily und unsere Freundschaft zu ihnen.«

Sofía schloss den Laptop, stand von ihrem schattigen Platz unter dem alten Olivenbaum auf.

»Bist du dir sicher, dass dir das guttut?« Stéfanos schaute besorgt.

»Es bereitet mir Freude.« Gemeinsam gingen sie ins Haus.

 

Entrissen

 

Kreta – Anfang September, achtundzwanzig Grad, windstill. Aus dem Olivengeäst erschallte durchdringendes Zirpen, bevor die Sonne rot schimmernd untertauchte, sich von diesem Teil des Planeten verabschiedete und die Zikaden verstummten. Der Halbmond eroberte langsam seinen Platz am Himmel.

Normalerweise hätte Sofía jetzt in Heráklion am Flughafen gestanden, um ihre Freunde abzuholen. Neben dem Gebäude, genau dort, wo die Wartenden einen Blick aufs Rollfeld erhaschen konnten. Heißer Dunst würde in der Luft schweben, abgestrahlt von den bereits gelandeten Maschinen. Sofía stand jedes Mal mit heftigem Herzschlag dort, ihr Atem flog, die Augen richtete sie starr auf den Punkt, wo der Flieger Richtung Terminal drehte. Die Überlegung: Würde es dieses Mal ein Flugzeug der Austrian Airlines oder der rote Flitzer von Lauda Air sein? Und dabei schluckte sie immer Tränen der Vorfreude. Aufgeregte Erwartung auf Besuch von Lily und Max aus Österreich. Seit einigen Jahren kamen sie jeden September auf die Insel; am Anfang für zwei, später für drei Wochen Urlaub.

Doch anstatt die Wiener in Heráklion zu erwarten, lag Sofía zu Hause auf der Couch, den Laptop auf ihren Beinen. Lilys Mail leuchtete im Posteingang auf. Sofía scheute sich, sie zu öffnen, wissend, was sie erwartete. Um das Kommende hinauszuschieben, klickte sie sich durch die anderen eingegangenen Nachrichten. Im Bewusstsein, keine Chance zu haben, der Realität mit ihrem Vorgehen auszuweichen.

Mit dem Öffnen der E-Mail begrub sie ihr Wunschdenken. Das Geschehene war existent und nicht rückgängig zu machen. Tränen verschleierten ihr die Sicht auf den Bildschirm. Sie lud den Anhang herunter, das Schreibprogramm öffnete sich.

Schwarze Schrift auf braunem Hintergrund. Eine Möwe flog der Sonne entgegen. Das Bild vermittelte das Gefühl, als schienen Sonnenstrahlen aufs Papier, die das Dunkle zu erhellen versuchten. Das Meer darunter ruhte. Stille.

Sofía lauschte. Die Zikaden hatten ihren Tagesgesang beendet. Ihr Blick glitt über das Dokument. Max’ Todesanzeige.

 

Letzter Blick aufs Meer

und in den weiten Himmel,

das wilde Sehnen ist vergangen

in Wochen voller Schmerz

still wurde es in dir

und du gingst gern.

 

Lilys liebevoll verfasste Worte sagten alles aus. Kurz, schmerzlich. Max’ Krankheit, die ihn rasend schnell in den Griff genommen, ihn seinen Mitmenschen entrissen hatte.

Griechenland – Kreta Urlaub

 

Bereits im Januar hatte Max den Flug gebucht. Auf seine geliebte Insel Kreta, die den Wiener beim ersten Besuch in ihren Bann gezogen, ihn nicht wieder losgelassen hatte. Ständig schwärmte er davon, den Lebensabend auf ihr zu verbringen, gemeinsam mit seiner Ehefrau Lily. Pendeln zwischen Wien und Kreta. Er baute im Netz eine Seite auf. Postete: »Griechenland-Kreta, Urlaub vom 02. September bis 24. September.« Ein Zähler, der die Tage, Stunden und Sekunden wiedergab bis zum zweiten September zwanzig Uhr vierzig, dem Zeitpunkt der Landung. Max hatte Sofía den Link im Februar zugeschickt.

Zwar war der Link bei ihr nicht in Vergessenheit geraten, doch sie hatte geglaubt, durch einen Computerabsturz im Frühjahr wäre er ihrer Datenbank verloren gegangen. Per Zufall, weil Sofía nach einem Kreta-Forum suchte, hatte sie ihn unter »Favoriten« wiedergefunden. Sollte es Schicksal sein, dass sie ihn ausgerechnet heute wiederentdeckte? Die Uhr lief, die Zeit schrumpfte Sekunde um Sekunde. Schnell rief Sofía die Webseite der Fluggesellschaft auf.

»OS 9021 Abflugzeit in Wien: 17.05 Uhr. Gestartet: 17.16 Uhr. Voraussichtliche Ankunft: 20.34 Uhr.«

Neun Minuten früher als geplant. Ein Klick auf den Zähler. Sechsundvierzig Minuten, zwölf Sekunden.

Sofía ging in die Küche. Bereitete Rinderleber für ihre beiden Rüden Don und Benji sowie für die Katzenfamilie zu, bestehend aus Kater Tassos, Mutter Antonella mit ihren fünf Jungen, Serefina, Molly, Tria, Alex und Tiger. Die Tiere streckten schnuppernd ihre Näschen in die Höhe. Ein bettelndes Miauen erklang.

Beim letzten Urlaub hatten ihre Freunde Kater Tassos auf der Hauptstraße in der Nähe einer Mülltonne gefunden. Seiner Magerkeit nach zu urteilen schien er ausgesetzt worden zu sein. Lily nahm den Kleinen mit und bat die Freundin, ihn zu behalten. Von der Größe her schätzten sie Tassos auf drei Monate. Nachdem er seinen Hunger an dem für Lily gedachten knusprigen Hähnchenschenkel gestillt hatte, blieb er den ganzen Abend bei seiner Retterin liegen und holte sich Streicheleinheiten ab. Für Lily blieb Okra in Tomatensoße, denn sie verzichtete gerne auf das Fleisch zugunsten des Ausgehungerten.

Sofía hielt den Hunden Tassos zum Schnüffeln entgegen, damit sie seinen Geruch aufnahmen. Der Kater wurde geimpft, entfloht und bekam eine Wurmtherapie. Bei Lilys Abreise überreichte diese Sofía einige Euro für sein weiteres Futter und die medizinische Versorgung. Obwohl Sofía ablehnte, setzte Lily ihren Willen durch. Sie wollte den Kater nicht mit nach Wien nehmen, obwohl sie sich auf Anhieb in seine treu schauenden Augen verliebt hatte. Tassos sollte frei umherstreunen können, seinem Jagdinstinkt folgen, statt sich eingesperrt in einer Etagenwohnung zu langweilen.

Im folgenden Jahr fand Tassos eine Gefährtin. Antonella gesellte sich zu ihm. In der Zwischenzeit waren die beiden Eltern geworden. Obwohl Nachbars Kater als Vater auch in Betracht kam, denn eines der Kleinen war, bis auf die schwarzen Flecken am Schwanz, schneeweiß. Sehnsüchtig wartete Lily darauf, Tassos Nachkommen kennenzulernen, nachdem sie die kleinen Kätzchen auf einem Foto per Mail zu sehen bekommen hatte. Einen Tag bevor Max ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte er angerufen.

»Für das Kuckuckskätzchen übernehme ich die Patenschaft. Gebt ihm den Namen Alex. Stellt sich heraus, es ist ein Mädchen, dann Alexa.«

Der Zähler lief stumm weiter. Die Leber köchelte, sie würde am nächsten Tag in die Näpfe kommen. Heute fütterte Sofía die Katzen mit Fisch, den Stéfanos ihr für die Tiere gegeben hatte. Die Rüden bekamen ein Bratwürstchen unters Trockenfutter gemischt. Danach steckte sie die Hundedecken in die Waschmaschine, obwohl diese erst vor drei Tagen gewaschen worden waren. Krampfhaft versuchte sie eine Beschäftigung zu finden. Innerlich sah sie sich gespannt aufs Rollfeld schauen. Ihre Freunde, die dort landeten ... Nein, das würden sie eben nicht! Sie lief ins Wohnzimmer. Gelbe Zahlen auf schwarzem Hintergrund zeigten verbleibende sieben Minuten, vierzig Sekunden an, bis der Zähler auf Null stehen blieb. Zu dem Zeitpunkt stand die Landung der Maschine bereits fest. Um zwanzig Uhr neunundzwanzig.

Sofía ging in Gedanken den Ablauf durch. Aus der Maschine heraus, in den Bus, der die Freunde zum Fluggebäude bringen würde, am Kofferband warten, das Gepäck entgegennehmen und dann endlich durch die Schiebetür hinaustreten. Tiefes Ein- und Ausatmen bei Max, der nach alter Gewohnheit dabei die Lippen vibrieren lassen würde. Die obligatorische feste Umarmung mit den Worten: »Endlich wieder auf Kreta.«

Die Realität sah anders aus. Auf dem Dach stritt des Nachbars weißer Kater mit Tassos ums Revier. Ihr grelles Miauen störte in der sonst ruhigen Gegend. Mit Adleraugen achtete Antonella darauf, dass ihren Kleinen nichts geschah. Der Collie-Mischling Benji bellte den Eindringling an. Tassos jagte ihn auf den Olivenbaum. Darunter in Warteposition Don. Er stand auf einem Stein, die Vorderpfoten am Stamm, angespannt bis in die Schwanzspitze.

Derweil lief die Zeit ab. Sofía sah die letzten sechs Sekunden, sie näherten sich dem Ende. Sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null …, zählte sie lautlos mit. Mit Vehemenz traf es Sofía, ein Hammerschlag; sie legte die Hand aufs Herz, spürte es rasen. Der Fernseher flimmerte nebenher. Fußball. Deutschland – Österreich. Um sich zu beruhigen, zappte sie durch die Programme. Rein gar nichts fand ihr Interesse. Einzig und allein der Blick auf die Laptopuhr und die Überlegung, was sie jetzt gerade machen würde, wenn Max’ Tod sich nicht dazwischen gedrängt hätte.

Sofía würde das Auto vom Flughafenparkplatz holen, damit ihre Freunde das Gepäck nicht weit zu schleppen bräuchten. Im Halteverbot anhalten, während Lily eine Kippe austrat. Nachdem sie aus dem Flieger gestiegen war, brauchte sie immer einen kleinen Nikotinschub. Alles einladen, losfahren Richtung Osten. Knappe zwei Stunden Fahrzeit lag vor ihnen. Auf dem Beifahrersitz Max, der ständig aufseufzen würde, weil seine Füße über kretischem Boden schwebten. Auf dem Rücksitz seine Frau, die sich eine weitere Zigarette ansteckte, während sie das Fenster herunterkurbelte. Glücklich aus dem Fenster in die Landschaft schauen, auch wenn die Dunkelheit bereits Einzug hielt. Die Lichter der entgegenkommenden Autos blendeten, da viele vergaßen, ihr Fernlicht auszuschalten. Aus Gewohnheit hätte Sofía darüber hinweggesehen und über Max‘ wiederkehrende Flüche wegen der kretischen Fahrweise gelächelt. Die Städte lagen beleuchtet an der Küstenstraße. In Malia fing langsam das Nachtleben an. Die Tavernen waren gut besucht. Die Urlauber schlenderten sommerlich bekleidet an den zahlreichen Geschäften vorbei. Barkeeper schüttelten ostentativ die Cocktails. Im Schneckentempo hätten sie die Hauptstraße passiert. Jugendliche auf Motorrädern, Rollern und Quads ignorierten den nachfolgenden Verkehr, weil sie auf Partymachen auswaren. Sie fuhren kreuz und quer, um die perfekte Location anzusteuern. Auf der darauffolgenden freien Strecke würde Sofía Gas geben, um die verloren gegangene Zeit aufzuholen.

Aber die Zeit konnte nicht zurückgeholt werden und gehörte der Vergangenheit an. Zur Ablenkung schaute Sofía eine Episode ihrer Seifenoper-Serie, die gerade startete. Der Film lief nebenbei, während es vor der Tür schepperte. Sie stand auf, schaute hinaus. Immer nachdem die Katzenbabys, nun schon sicherer auf ihren Pfoten, die Gegend erforscht hatten, fanden sie Gefallen daran, mit den Besenborsten zu spielen. Erst wenn der Stiel zu Boden krachte, schreckten sie auf, machten einen Buckel, die Haare am Schwanz standen hoch. Löste sich der Stock beim Fallen vom Besen, brachte Tria seinen Sieg zum Ausdruck, indem er sich auf den Besen legte. Irgendwie schien der Kampf ein abenteuerliches Erlebnis für die Kleinen zu sein.

Sofía hob die Kehrgeräte auf, lehnte sie an die Wand. Alles ging automatisch vonstatten. Darüber nachdenken funktionierte sowieso nicht, da ihr Gehirn blockierte. Sie ging zum Kühlschrank, holte die Form mit dem Pastítsio heraus. Schnitt ein Stück zurecht, legte es auf einen Teller. Den Nudelauflauf mit der Hackfleisch-Tomatenfüllung und der leckeren Béchamelcreme obenauf aß Sofía kalt. Um das Gericht aufzuwärmen, fehlte ihr der Sinn, doch der Magen signalisierte Hunger. Beim Essen schweiften die Gedanken erneut ab. Ein Blick auf die Uhr.

Jetzt hätten sie sich auf der Straße zwischen Neàpoli und Àgios Nikólaos befunden. Von den Ereignissen der letzten Tage berichtet, Witze gemacht. Das Wiedersehen genossen.

Deutschland gewann gegen Österreich mit sechs zu zwei. Antonella lag mit den Kleinen auf einer weichen Decke in der Gemüsekiste. Tassos saß aufrecht auf der Mauer, mit hervorragender Sicht über den Vorgarten, falls sein Widersacher erneut auf der Bildfläche erschien, der zuvor die Flucht ergriffen hatte. Zurück übers Dach, um dem wartenden Don zu entkommen. Sofía brachte den Teller zum Spülbecken, setzte sich auf die Stufen in Nähe der Hundehütten. Sie streichelte die Rüden.

»Max wird euch niemals mehr verwöhnen.«

Die zehn Meter lange Lichterkette, Max’ Mitbringsel im Vorjahr, erhellte den Platz. Sie brannte seit jener Nacht, in der er heimgegangen war. Ein Auto näherte sich, die Hunde spitzten die Ohren. Stéfanos, Sofías Ehemann. Er ließ sich auf der Hollywoodschaukel nieder, die im Vorgarten stand. Erzählte vom erfolglosen Fischfang.

»Jetzt würden wir dich im Dorf abholen. Dann Lily und Max gemeinsam zu ihrer Unterkunft bringen.«

Eigentlich konnte Stéfanos sich eine Erwiderung sparen, sein Blick sprach bereits Bände. »Unglaublich! Max wird niemals mehr hier sein.«

Tränen stiegen bei Sofía auf. Sie dachte an Max’ Todesanzeige, die ihr Wunschdenken, es handele sich bloß um einen Albtraum, zerschlagen hatte. Die schriftliche Todesnachricht hatte es zur unabänderlichen Wirklichkeit werden lassen.

 

Stéfanos und Sofías Zuhause

 

Einen Kilometer vom Ortskern des Fischerdorfes entfernt lebten Sofía und Stéfanos am Rande ihres viertausend Quadratmeter großen Olivenhains. 1889 hatte Stéfanos Urgroßvater ein vier mal fünf Meter großes Ein-Zimmer-Haus mit dicken Außenwänden erbaut. Mit seiner Frau und den beiden Kindern bewohnte er den Raum, bis er verstarb. Die Tochter heiratete und zog in die Stadt, die Mutter blieb mit ihrem Sohn dort, bis sie ihrem Mann folgte. Die Wohnstätte überlebte beide Kriege. Stéfanos‘ Opa zog es nach der Heirat in ein Bergdorf. Danach stand das Haus jahrelang leer, bis Stéfanos‘ Vater mit seiner Frau und den vier Kindern einzog. Der Vater zimmerte einen Kamin, damit sie im Winter nicht draußen im Kühlen zu kochen brauchten, baute Etagenbetten. Einen Unterstand für die Ziegen und Hühner errichtete er direkt daneben. Verlegte Schläuche vom Brunnen bis zum Haus. Petroleumlampen spendeten Licht. Eine Übergangslösung, denn sie wollten in der Nähe der Baustelle sein: An der Hauptstraße errichtete Stéfanos‘ Vater ein größeres Haus für die gesamte Familie. Als Stéfanos neun Jahre alt war, siedelten sie um. Nachdem er seine Schule beendet hatte und begann, seinen Beruf als Fischer auszuüben, bat er den Vater, ihm das alte Haus zu überschreiben. Er bevorzugte es, in der Natur zu leben statt an einer Durchgangsstraße. Stéfanos ließ das Grundstück vermessen, auf seinen Namen eintragen und beschaffte sich eine Baugenehmigung. Die Stadt schloss ihn an den Wasserverteiler an, Strom wurde verlegt. Über mehrere Jahre, ganz seinen Fischereieinkünften entsprechend, erweiterte er den Wohnraum. Schlaf-, Wohn- und Gästezimmer sowie eine geräumige Küche kamen hinzu. Nachdem Stéfanos und Sofía sich das Ja-Wort gegeben hatten, richteten sie von den Geldgeschenken zur Hochzeit die Küche ein.

Seit achtundzwanzig Jahren lebten sie zusammen. Ihre Zwillinge Ioánna und Stella waren zuhause zur Welt gekommen, weil keine Zeit blieb, um ins Krankenhaus zu fahren, das fünfundvierzig Minuten entfernt lag. Die Nachbarin hatte bei den Geburten geholfen. Längst verband die Familien eine innige Freundschaft. Im Alter von fünf bekamen die Zwillinge jeweils ihr eigenes Zimmer. Aus Urgroßvaters Ein-Zimmer-Haus war ein beachtliches Anwesen geworden. Ein Paar in Stéfanos Alter baute parallel gegenüber auf dem Berg. Gegenseitig wurde mit Material ausgeholfen. Weitere Grundstücke waren in der näheren Umgebung nicht erschlossen worden.

 

Sofía durchlebte eine unruhige Nacht. Stéfanos hatte ihr vom bevorstehenden Wetterumschwung erzählt. Sie träumte davon, am kommenden Mittwoch nicht mit dem Schiff hinausfahren zu können. Dem Tag von Max’ Beisetzung. Zeitgleich, wenn in Wien sich die Trauergäste um seinen Sarg sammelten. Sturm würde Sofía und ihren Mann davon abhalten, aus dem Hafen auszulaufen. Dabei wollten Stéfanos und sie Max auf dem Meer symbolisch zu Grabe tragen. Max’ Herz hatte für Wien und Kreta geschlagen. Den kretischen Freunden war es daher ein besonderes Anliegen, Max hier gebührend zu verabschieden.

Sofía schrak entkräftet aus dem Albtraum auf. Ihr Kreislauf spielte verrückt, Schwindel drückte sie zurück ins Kissen. Sie trank eine halbe Flasche Wasser, legte die Beine hoch. Nachdem sie Besserung verspürte, stand sie auf. Das Telefon klingelte in dem Moment, als sie gerade ins Bad ging. Lily. Sofía freute sich, ihre Stimme zu hören. Obwohl, viel lieber wäre Sofía zu deren Unterkunft gegangen, in dreihundert Meter Entfernung, wo sie normalerweise bei ihren Besuchen auf Kreta lebten, um mit ihr und Max persönlich zu plaudern. Den Tag, nach dem Versorgen der Tiere, gemeinsam langsam anzugehen.

»Deine Post ist angekommen«, sagte Lily. »Leider fallen langsam die Blüten ab, drum habe ich den Strauß zum Trocknen aufgehängt. Ich weiß nicht, ob ich den Sand auf den Sarg in der Halle streuen kann.«

»Später ins Grab.«

»Ich werde sehen; die Olivenästchen mit dem Bougainvilleazweig versuche ich auf den Sarg zu legen.«

»So, wie du fühlst.«

»Hoffentlich schaffe ich die Trauerrede. Ich werde meine ganze Kraft dafür zusammennehmen müssen. Max hat mich gerne vorlesen gehört. Über seine Liebe zu Kreta werde ich erzählen.«

Schnell beendete Lily das Gespräch. Sofía merkte an Lilys belegter Stimme, dass der Freundin das Sprechen über Max’ Beerdigung schwerfiel. Bei Sofía kam ein Gefühl auf, als ob Lily sich von ihr zurückzöge.

 

Seit einigen Jahren übte Lily ihr Hobby als Beruf aus. Als Autorin verfasste sie Lyrik und Prosa und konnte zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien vorweisen. Gewann Literaturpreise und erhielt Auszeichnungen. Ihr erster eigener Lyrikband »Schattenrisse« war im Vorjahr erschienen. Lily befürchtete, dass niemand an ihrem Werk interessiert sein würde, doch die Leserschaft blieb nicht aus. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung wurden Buchhandlungen in Wien, Graz, München und Berlin darauf aufmerksam, fragten Lily um eine Lesung in ihren Räumen an. Eine Lese-Tour wurde organisiert. Schnell platzierte sich der Band unter die ersten hundert auf der Bestsellerliste.

Als die Ärzte versucht hatten, Max’ Zuckerwerte in den Griff zu bekommen, las er ihr Buch. Bis dahin hatte er dies immer vor sich hergeschoben, bis zum Urlaub warten wollen. Begeistert schwärmte er Sofía davon bei einem der fast täglichen Telefonanrufe vor. Max gehörte nicht zu den Menschen, die gerne Bücher in die Hand nahmen, um stundenlang zwischen den Zeilen zu versinken. Schon gar nicht, um sich danach mit Lily oder jemand anderem darüber auszutauschen. Mit Sofía über Lilys Werk zu reden, war eine einzigartige Ausnahme. Max, sicherlich kein Leser und Diskutierer, hörte Lily dennoch bei ihren Vorträgen hingebungsvoll zu. Ihm selbst lag die Technik mehr am Herzen. Besonders von Computern, dies nicht nur beruflich. Seine Fotografien zeugten von seinem Können. Seine handwerkliche Begabung stand außer Frage.

 

Sofía schob ein Hähnchen mit Kartoffeln in den Ofen. Beides hatte sie zuvor mit Zitronenöl übergossen. Eines von Max’ Lieblingsgerichten. Sofía hatte sich vorgenommen, die eigentlich geplanten Urlaubstage der Wiener bewusst zu erleben. Im Niederschreiben der gemeinsamen Erlebnisse. Die Vergangenheit zur Gegenwart werden zu lassen. Während das Huhn vor sich hinbrutzelte, fuhr sie den Laptop hoch.

Vor zwei Jahren hatte ihr alter Rechner einen Stromschlag abbekommen, was bei den extremen Stromschwankungen auf der Insel häufiger vorkam, trotz Ausgleichsregler. So manches elektronische Gerät hatte auf diese Weise den Geist aufgegeben. Sofía gehörte zu den Hobbyautorinnen. Zu Anfang verfasste sie kleine Anekdoten, die im täglichen Leben passierten. Lily ermunterte sie dazu, längere Geschichten zu verfassen. Vor drei Jahren fing Sofía mit einem Romanprojekt an. Einem Thriller, der in einem Bergdorf spielte, in dem Drogen das Tagesgeschehen beherrschten. Max, der selbst zu Hause miterlebte, wie seine Frau bei einem PC-Absturz verrücktspielte, wollte nicht, dass Sofía ohne Handwerksmaterial dastand. Eine Woche nach dem Totalabsturz schneite ein Paket ins Haus. Ein nagelneuer Laptop, ein Geschenk zum Geburtstag. Nicht ganz ohne Widerspruch nahm sie das großzügige Präsent an. Später im September, beim Besuch der Freunde, war ein Hintergrundbild hochgeladen worden. Dies kam nun beim Hochfahren zum Vorschein. In einer Reihe standen sie dort. Links Max, dann Lily, Sofía und Stéfanos, vor einem uralten Olivenbaum, in der Nähe von Kavoúsi, dessen Alter auf dreitausendvierhundert Jahre geschätzt wurde. Aus den Zweigen waren für den Frauenmarathon der Olympischen Spiele 2004 in Athen die Siegerkränze geflochten worden.

Vier Vertraute vor dem alten Baum. Sofía schluckte. Das Bild sollte auf keinen Fall gelöscht werden. Bei dem Anblick zog jedes Mal ein Lächeln über ihre Lippen. Das sollte immer so bleiben! Max hätte nie und nimmer gewollt, dass Lily oder seine kretischen Freunde sich unwohl fühlten, ihnen schwer ums Herz war. Seine Lebenslust hatte angesteckt, Max’ Augen Wärme ausgestrahlt und Sofía verspürte keinen Schmerz, wenn das Bild erschien. Eher zauberte es Zeiten herauf, in denen sie zusammensaßen, gefeiert, Ausflüge unternommen und genüsslich gespeist hatten. Schnell öffnete Sofía das Schreibprogramm, um weitere Zeilen über das Alltagsleben auf der Insel zu verfassen.

Gegen Mittag; das Hähnchen längst gegart. Wären die Wiener nun auf der Insel gewesen, hätte es einen Salat gegeben. Kein allzu mächtiges Gericht, denn am ersten Inselabend fand traditionell das große Willkommensfischessen statt. Fangfrischer Fisch, um die Ankunft des Besuchs gebührend zu feiern. Damit Sofía den Abend nicht am Herd verbrachte, reservierte ihr Mann immer einen Tisch in der Taverne Ta Kochilia. Stéfanos‘ Fisch wurde dort in der Küche zubereitet.

Doch stattdessen gab es Zitronenhähnchen zuhause. Die Hunde wollten in den Garten, damit sie sich auf dem getrockneten Gras herumwälzen konnten. Sie kratzten bereits am Türrahmen. Sofía ließ sie raus. Beide stürmten durch den Vorgarten, sprangen über Tassos, der im Schatten ruhte. Wirbelten dabei heftig Staub auf. Der Kater öffnete kurz ein Auge, bewegte sich aber keinen Millimeter von der Stelle. Wahrscheinlich dankbar über die kurze Windböe bei der Hitze. Schnell schloss Sofía die Tür, damit die Staubwolke nicht ins Haus zog. Sie machte sich daran, den Tisch zu decken.

Am frühen Abend graute es Sofía davor, mit den Hunden spazieren zu gehen. Jeden Tag kam sie dabei nah an der Urlaubsunterkunft der Freunde vorbei. Nach dreihundert Metern war die Hausrückseite erkennbar. Ging sie am Meer eine kleine Anhöhe hoch, konnte sie auf die Balkons sehen. Dieses Mal traute Sofía sich auf dem Hinweg nicht, dorthin zu schauen. Auf dem Rückweg blieb ihr keine andere Wahl. Außer sie hätte den Kopf gesenkt und krampfhaft zu Boden geschaut. Niemand stand dort, keiner winkte ihr zu. Und die Wiener Freunde machten sich nicht bereit, aus dem Zimmer zu kommen, um sich mit ihr auf halber Strecke zu treffen, damit sie gemeinsam zu Sofías Haus gingen.

Mit schwerem Herzen kam sie heim, band die Hunde vor deren Hütten an ihre Leinen. Setzte sich auf die letzte Treppenstufe und streichelte sie, während sie Tränen ihren Lauf ließ. Sie konnte sich Zeit lassen, niemand hetzte sie. Kein zügiges Versorgen der Tiere, unter die Dusche Springen, Anziehen, ein wenig Lippenstift Auftragen und Wimpern Tuschen. All dies brauchte sie jetzt nicht zu machen, denn niemand ginge am Abend mit ihr in die Taverne. Nicht einmal der Fischfang war an diesem Tag geglückt. Für das feierliche Einläuten der gemeinsamen Wochen hätte Sofía Lambucca-Fische aus dem Gefrierschrank nehmen müssen, um die Freunde damit zu erfreuen. Das hätte ihnen nichts ausgemacht, aber es wäre das erste Mal gewesen, seitdem die beiden ihren Urlaub auf Kreta verbrachten. Max hätte überbackene Aubergine mit Zaziki vorweg gegessen. Lily einen Tomatensalat, mit reichlich Zwiebeln und Oliven. Hin und wieder sich vom Zaziki nehmen, während Max ihr murrend vorschlüge, sich ein eigenes zu bestellen. Längst waren viele Dinge in der Freundschaft zur Gewohnheit geworden. Schlagartig, von heute auf morgen, gehörten sie der Vergangenheit an.

Fortwährend streichelte Sofía die Rüden. Sie hatte es geschätzt, wenn Max sich um Benji und Don kümmerte, während sie das Abendessen zu Hause zubereitete. Die meisten ihrer Freunde hatten Angst vor Hunden. Max konnte das nicht nachvollziehen. Spielte mit den Rüden, streichelte sie und verwöhnte sie mit Kauknochen. All dies würde niemals mehr so sein. Dafür jagten die fünf Katzenbabys wild im Vorgarten um den Hibiskus herum. Sofía lächelte. Im Frühjahr bereits hatte sie den Strauch in den Müll tragen wollen. Mickrig sah er aus mit den teilweise braunen Blättern. Sofía besaß keinen grünen Daumen, sonst hätte sie längst einen Gemüsegarten angelegt. Bei jedem Versuch, Tomaten, Gurken oder Zucchini zu ziehen, scheiterte sie. Entweder wuchsen die kleinen Pflänzchen nicht an oder sie gaben keine Ernte ab. Sie bevorzugte, auf dem Markt das Gemüse einzukaufen, statt sich täglich über ihre Unfähigkeit als Bäuerin zu ärgern. Das Talent für einen Ernteerfolg war ihr nicht in die Wiege gelegt worden. Ihre Eltern bewirtschafteten außerhalb von Àgios Nikólaos ein großes Stück Land, verkauften den Ertrag an ihre Nachbarn. Sofía hatte es nicht übers Herz gebracht, den Hibiskus zu entsorgen, wollte ihm und ihr eine Chance geben. Er berappelte sich und stand seit zwei Monaten täglich in Blüte. Apricotfarben leuchteten die Blüten in der einbrechenden Dunkelheit.

Noch lange saß Sofía dort und dachte an die schöne Zeit, die sie gemeinsam mit Stéfanos und den Freunden verbracht hatte.

Die Nacht brach an und die Lichterkette brannte.

Beginn einer Freundschaft

 

Der Wecker schellte. Gerne wäre Sofía liegen geblieben, sie schlief seit Tagen schlecht. Sie musste auf, um mit den Hunden eine Runde zu laufen. Ihr Mann war bei Sonnenaufgang hinausgefahren, sonst hätte sie ihn gebeten, mit den Rüden spazieren zu gehen.

Sofía zog gerade ein leichtes Kleid über, als ihr Mann zurückkam. Auf dem Meer wurde es zu stürmisch, er hatte bereits Schwierigkeiten gehabt, in den Hafen einzufahren. Zwei Fische hatte er gefangen, die würde Sofía zum Mittagessen grillen. Stéfanos ließ sich von seiner Frau überreden, mit den Hunden ans Meer zu spazieren. Sie bereitete in der Zwischenzeit das Frühstück vor, versorgte die Katzenbande.

Nach zwei Tassen Kaffee und belegten Käsebroten hielt es Stéfanos zuhause nicht mehr aus. Er wollte zum Hafen, um die Ankerleinen zu überprüfen, bevor ein stärkerer Wind aufzöge. Sofía setzte sich an den Laptop, dachte über die Vergangenheit nach, verfasste neue Zeilen. Aus der Zeit, als alles begonnen hatte.

 

Lily kannte sie seit einigen Jahren, aus einem Hobby-Schreibforum. Sofía war zweisprachig aufgewachsen, somit schrieb sie einen Teil ihrer Geschichten in Deutsch, um die Sprache nicht zu vergessen. Gegenseitig kommentierten sie ihre Texte. Als Lily aus der Gruppe ausschied, um sich mehr ihren eigenen Werken zu widmen, hielten sie weiterhin Kontakt. Eines Tages wurde Max darauf aufmerksam, dass Lilys Schreibkollegin auf Kreta lebte. Nachdem er sich Informationen über die Insel aus dem Netz herausgesucht hatte, kontaktierte er Sofía. Nur kurze Zeit später fand Max Gefallen daran, sich mit Stéfanos über Fischfang auszutauschen. Es waren kurze Mails, da Max nicht gerne schrieb. Ihm reichte oft aus, nach dem Wetter zu fragen und ob Stéfanos reichlich Fisch an Land gezogen hätte. Eines Tages landete eine Nachricht in Sofías Postfach, die eine Wendung in der sonst lockeren Bekanntschaft mit sich brachte.

»Ich möchte Lily zum 50. Geburtstag eine Reise nach Kreta schenken«, schrieb Max.

Sofía fühlte sich auf der einen Seite freudig überrascht, auf der anderen unwohl. Gerade hatte sie eine besonders schmerzhafte Erfahrung gemacht, wie eine Internetbekanntschaft, die über die Jahre zur persönlichen Freundschaft gewachsen war, aus unzähligen Missverständnissen zu Bruch ging. Sie sagte sich selbst, sie habe Freunde im Dorf und ihre Nachbarin Maria, auf die konnte sie sich seit Jahrzehnten verlassen. Neu gewonnene Freunde, ganz besonders aus dem Netzwerk, sollten keinen Platz mehr in ihrem Leben haben. Sich hin und wieder mit ihnen auszutauschen, fand sie interessant, mehr sollte daraus nicht werden.

Doch Max, ein Mann der Tat und weniger der Worte, setzte sich durch. Auch wenn er wusste, wie Sofía über Freundschaften dachte, es hielt weder ihn noch Lily davon ab, ihre damals erste Reise nach Kreta anzutreten.