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Kristian Köchy

Biophilosophie zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Für Heike und Hannah

Junius Verlag GmbH
Stresemannstraße 375
22761 Hamburg
Im Internet: www.junius-verlag.de

© 2008 by Junius Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Florian Zietz
Titelbild: Ernst Haeckel, Stammbaum
E-Book-Ausgabe September 2018
ISBN 978-3-96060-054-1
Basierend auf Printausgabe
ISBN 978-3-88506-650-7
1. Auflage 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner

Dieter Thomä

Cornelia Vismann

Inhalt

0. Warum eine Philosophie der Biologie?

1. Biologie und Philosophie

Was ist Biophilosophie?

Die biologische Dimension der Philosophie

Philosophie und Biologie bei Aristoteles

Philosophie und Biologie bei Kant

Die philosophische Dimension der Biologie

2. Gegenstand und Methode

Formalobjekte und Labororganismen

Resistenzen und Reaktionen im Labor

3. Beobachtung und Darstellung

Beobachtung als Praxis

Beobachtungsbedingungen

Bildhafte Darstellung

Mechanische Darstellung

Abstrakte Darstellung

4. Modelle

Modellorganismen

Organismusmodelle

5. Experimente

Separation und Ganzheit

Manipulation und Selbstorganisation

Kontrolle und Autonomie

Distanz und Nähe

Wiederholbarkeit und Einzigartigkeit

Homogenisierung und Vielfalt

6. Theorien

Individuelle Begriffe

Populationsmodelle

Fortpflanzungsgesetze

Evolutionstheorien

7. Verantwortung

Lebewesen als moralisch Betroffene (moral patients)

Forscher als moralische Akteure (moral agents)

Anhang

Literatur

Über den Autor

Vorüberlegung

Diese Einführung ist mit dem Ziel verfasst worden, die maßgeblichen Aspekte der aktuellen Diskussion zur »Biophilosophie« einführend wiederzugeben. Zugleich ist sie Ausdruck einer durchaus persönlichen Auffassung vom Forschungsfeld und spiegelt ein spezifisches Forschungsinteresse des Autors wider. Angesichts der schier unübersehbaren Fülle aktueller Literatur zu den unterschiedlichen Themen der Biophilosophie nimmt sie bestimmte Schwerpunktsetzungen vor. Notwendige Auslassungen in anderen Bereichen sind die Folge.

Die Überlegungen dieses Buches erfolgen vor dem Hintergrund eines bestimmten Verständnisses von Wissenschaftsphilosophie. In Abgrenzung von den Vorgaben der Logischen Empiristen versteht es Wissenschaftsphilosophie als Fusion von Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Wissenschaftssoziologie. Nicht so sehr die klassische Frage nach der Bewertung von Theorien steht im Vordergrund, sondern der Versuch, das Gesamt der inner- und außermethodologischen Bereiche dieser Fachdisziplin darzulegen. Die Philosophie der Biologie wird somit als Theorie, als Geschichte und als Soziologie der biologischen Forschung verstanden. Diese Vorgehensweise stellt die Analyse unter kontextualistische Vorzeichen. Nicht allein die formale Bestimmung innermethodologischer Aspekte der Biologie ist ihr Ziel, sondern eine Darstellung und Erklärung unter Einbeziehung inhaltlicher Aspekte sowie unter Berücksichtigung mannigfaltiger außermethodologischer Rahmenbedingungen. Zugleich fächert diese Einführung das Spektrum der methodologischen Elemente auf: Beobachtungsweisen, Darstellungstechniken, Experimentalanordnungen, Modellierungsverfahren und Theoretisierungsansätze werden in ihrer Bedeutung für die Biologie gewürdigt. Mit dieser Art der Darstellung soll der spezifische Denkstil der Biologie – genauer die wechselnden Denkstile unterschiedlicher biologischer Subdisziplinen und Forschungsprogramme – dargelegt werden. Es geht darum, die Besonderheiten der Biologie im Sinne einer differenzierten Wissenschaftstypologie hervortreten zu lassen. Dies geschieht unter steter Einbindung von Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Biologie. So ergibt sich eine Möglichkeit zur konsistenten Wiedergabe der Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Feldern der biologischen Methodologie, die zugleich ihre Wechselwirkung deutlich macht. Mit der gegenüber der analytischen Wissenschaftstheorie erweiterten Perspektive können zudem klassische philosophische Positionen in die Darstellung integriert werden und müssen nicht mehr als sinnlose Metaphysik ausgeklammert werden. Zugleich wirft die kontextualistische Betrachtung die Frage nach der Verantwortung der Biowissenschaften insgesamt auf – und ermöglicht so einen Übergang von der theoretischen Biophilosophie zur Bioethik und zur Biopolitik.

Für wichtige Hinweise, weiterführende Anregungen und konstruktive Kritik zu früheren Versionen meines Textes bin ich Gottfried Heinemann, Nicole C. Karafyllis, Hans-Dieter Mutschler, Martin Norwig und Dirk Stederoth dankbar. Mein Dank gilt auch dem Junius Verlag für die Aufnahme des Bandes in die Reihe »Zur Einführung« sowie speziell Steffen Herrmann für die umsichtige Betreuung.

0. Warum eine Philosophie der Biologie?

Warum ist eine spezifische philosophische Erörterung der Biologie überhaupt notwendig? Welche Gründe gibt es, heute eine Philosophie der Biologie zu fordern, und welcher Anspruch sollte mit dieser Forderung verbunden sein? Ein nahe liegender Grund für die gewachsene Aufmerksamkeit der Philosophie auf die Biologie ist die in den letzten Jahrzehnten angestiegene öffentliche Resonanz biowissenschaftlicher Erkenntnisse und Verfahren. Für diesen Effekt lassen sich verschiedene Motive anführen, deren nähere Betrachtung bereits etwas über die Biologie aussagt, aber auch über den angemessenen Stil ihrer philosophischen Erörterung.

Ein erstes Motiv für die öffentliche Resonanz der biologischen Forschung wird bereits in den späten 1960er Jahren erkennbar. Es ist dies die im Zuge von Ökologiedebatte und Naturschutzfrage deutlich werdende Suche nach fachwissenschaftlichen Lösungen für drängende Umweltprobleme. Neben explizit interdisziplinären (Baumgärtner, Becker 2005) oder wissenschaftspolitischen Strategien (Küppers et al. 1978) gab es schon früh Versuche, gerade der biologischen Binnendisziplin Ökologie die Kapazität zur Lösung neu auftretender Probleme zuzusprechen. So behauptet August Thienemann (1956, 31), einer der Gründerväter der modernen Systemökologie, angesichts der kulturellen Eingriffe des Menschen in die Natur dränge sich die Frage auf, welche Folgen solche Eingriffe für den Haushalt der Natur hätten. Die Zusammenschau dieser Vorgänge gehöre ebenso in den Aufgabenbereich der allgemeinen Ökologie als »Wissenschaft vom Haushalt der Natur« wie die Aufgabe, »entsprechend zu raten und zu handeln«. Dementsprechend findet man in vielen Standardlehrbüchern der Ökologie nicht nur eine Darstellung des fachwissenschaftlichen Stands der Forschung, sondern auch explizite Verweise auf die gesellschaftliche und anthropologische Bedeutung der Disziplin (etwa Odum 1980, Xf.). Für die Philosophie stellen sich hier sowohl theoretische als auch praktischmoralische Fragen. Von Anfang an war also die philosophische Naturdebatte durch wissenschaftsphilosophische, naturphilosophische und umweltethische Diskussionen bestimmt (Köchy in Köchy, Norwig 2006, 11f.). Angesichts des zu klärenden komplexen Problemgefüges wurden alsbald die Grenzen der »reinen« Wissenschaftstheorie erkennbar, und die externen sozialen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen wurden in die Wissenschaftsphilosophie integriert (Küppers et al. 1978).

Ein zweites Motiv für die gesellschaftliche Bedeutung der Biologie, das sich im Unterschied zum ersten sowohl aus Hoffnungen als auch aus Ängsten speist, bildet die Diskussion über die zunehmend technisch und damit auch ökonomisch werdende Biologie. Aufmerksamkeit erzeugt vor allem die Tatsache, dass es vorrangig die elementaren Strukturen und Funktionen lebender Systeme sind, auf die sich die neuen technischen Gestaltungsmöglichkeiten der Biologie erstrecken. Auch diese »Biotechnik«, wie sie insbesondere in Molekularbiologie, Gentechnologie, Biotechnologie oder Nanobiotechnologie zum Tragen kommt, ist erst wenige Jahrzehnte alt. Mittlerweile hat eine Fülle von Innovationen und instrumentellen Neuerungen nicht nur großtechnische Anwendungen erlaubt. Vielmehr entstanden im Zuge des Human Genome Projects, der »Proteomik« (Untersuchung der Gene in den Wechselwirkungen mit ihren Proteinprodukten), der funktionalen Genomik und vor allem durch Einbeziehung von zellbiologischen, reproduktionsbiologischen und nanobiotechnologischen Verfahren eine ganze Reihe von neuen medizinischen und technischen Anwendungsfeldern. Diese sichern nicht nur die gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung der Biologie, sondern sind für jeden einzelnen Menschen von erheblicher Brisanz. So werden neben der anthropologischen Frage nach der »Zukunft der menschlichen Natur« (Habermas 2001) im Zeitalter der Gentechnik zahllose ethische Probleme aufgeworfen (Haker et al. 1993), für die eine gesellschaftliche, rechtliche oder politische Regelung gesucht wird. Darüber hinaus bleibt die philosophische Auseinandersetzung mit Genetik und Gentechnik nicht auf die Ethik und die Anthropologie beschränkt. Sie umfasst zugleich weite Bereiche der Wissenschaftsphilosophie (Rehmann-Sutter 2005).

Ein drittes Motiv liefern die jüngsten Debatten um die Ergebnisse der kognitiven Neurobiologie. Diese haben Feuilletons und Öffentlichkeit erregt und die Philosophie aus dem »Lehnstuhl« einer primär sprachphilosophischen Erörterung in die Labors der Kognitionswissenschaftler getrieben. Auch diese Debatte garantiert die öffentliche Bedeutung der Biologie. Wieder geht es neben möglichen medizinischen Anwendungen vor allem um die Frage des gegenwärtigen Menschenbildes (Engels, Hildt 2005), und erneut ist die philosophische Auseinandersetzung nicht auf ethische und anthropologische Fragen beschränkt. Sie umfasst auch ein weites Feld rein theoretischer Aspekte (Pauen, Roth 2001). Wie im Fall von Gen- und Biotechnologie sind es bestimmte technisch-instrumentelle Entwicklungen, die gemeinsam mit einem spezifischen Forschungsprogramm die philosophische Bedeutung der Biologie bedingen. In der kognitiven Neurobiologie haben insbesondere rechnergestützte Verfahren der Systemneurobiologie und die besonderen Möglichkeiten der sogenannten »bildgebenden« Verfahren Konjunktur. Sie erlauben eine Erweiterung des bisherigen »evolutionären« Forschungsprogramms der experimentellen Neurobiologie – die Untersuchung einfacher Verhaltensweisen bei Tieren mit einfachen Nervensystemen als Basis der Erforschung komplexer Verhaltensleistungen bei Tieren mit höher organisierten Nervensystemen – auf die kognitiven Verhaltenskomplexe des Menschen. Phänomene der Wahrnehmung, der Erkenntnis, des Vorstellens, des Handelns und des Wollens werden nunmehr als naturwissenschaftlich erforschbar und erklärbar angesehen. Da mit diesem Anspruch die traditionelle Zuständigkeit der Philosophie des Geistes betroffen ist, versteht sich die philosophische Relevanz der Biowissenschaften in diesem Falle von selbst.

Neben einer solchen Herausforderung der Philosophie durch die Infragestellung historisch gewachsener Zuständigkeiten und Deutungshoheiten werden an den drei Motiven jedoch weitere Rahmenbedingungen und Begründungsfiguren der Biophilosophie erkennbar. Für die folgende Darstellung ist dabei insbesondere bedeutsam, dass die Maximen der bisherigen Wissenschaftsphilosophie ihre Selbstverständlichkeit einbüßen. Diese hatte die inhaltlichen Besonderheiten der Fachdisziplinen außer Acht gelassen und sich auf die allgemeinen und formalen Strukturen der »Logik der Forschung« konzentriert. Wenn man jedoch die Besonderheit der Biowissenschaften philosophisch adäquat erfassen möchte, dann ist man gerade auf die inhaltliche und formale Vielfalt der Wissenschaften verwiesen.

Zunächst setzte allerdings die genau gegenläufige Reaktion ein. Die neue Prominenz der »Jahrhundertwissenschaft« Biologie (Sitte 1999) führte dazu, dass man vielfach von einer neuen »Leitdisziplin« Biologie sprach (Bammé 1989). Auf diese Weise verbleibt man allerdings beim tradierten Ansatz und Ziel der Wissenschaftstheorie. Gemäß dem Ideal der Einheitswissenschaft (Schulte, McGuinness 1992) wird davon ausgegangen, dass exponierte Einzeldisziplinen als Orientierungspunkt für alle anderen Wissenschaften fungieren können. Deren Verfahren und Erkenntnisstrategien werden so zum unbedingten Vorbild und zur Messlatte für die »Wissenschaftlichkeit« aller anderen Fächer, und die aufgezeigte Bedeutungszunahme der Biologie hätte lediglich zur Konsequenz, dass sich im einheitswissenschaftlichen Programm die Rangfolge der Disziplinen änderte. Die Physik wäre aus ihrer bisherigen Leitfunktion verdrängt, und die Biologie träte an ihre Stelle. Statt eines radikalen Physikalismus (Neurath 1979, 102ff.) ließe sich ein ebenso radikaler Biologismus fordern.

Eine solche Schlüsselrolle schreibt der Biologie beispielsweise der Biologe Edward O. Wilson (1998, 110) in seiner Forderung nach einer »Einheit des Wissens« (consilience) zu. Aufgrund der enormen Komplexität ihrer Untersuchungsobjekte sei die Biologie – deren Binnenstruktur Wilson durchaus anerkennt – dafür prädestiniert, die Vernetzung der Wissensgebiete von den Geisteswissenschaften bis zur Physik zu sichern. Das einheitswissenschaftliche Ideal wird so mit der Leitbildfunktion der Biologie verknüpft (ebd., 355f.). Allerdings kann an einem solchen Einheitscredo – das der Biologe Wilson vor allem aus der Evolutionstheorie ableitet – gerade auch von einer evolutionstheoretischen Warte aus Kritik geübt werden, wie sie Stephen J. Gould, eine andere Stimme aus den Reihen der biologischen Fachvertreter mit philosophischen Ambitionen, übt. Der Evolutionstheoretiker Gould (1998, 58 ff.) hat immer wieder hervorgehoben, die große Lehre der Evolutionstheorie sei gerade nicht die Vereinheitlichung, sondern eine Absage an das platonistische Denken in idealen Normen und Wesenheiten zugunsten eines evolutionären Denkens der Variation. Betrachtet man in diesem Sinne die verschiedenen Schlussfolgerungen, die unter philosophischen Vorzeichen aus der zunehmenden Präsenz der Biologie für die Rolle der Biologie im Kanon der Wissenschaften gezogen werden, dann stellt die radikale Position Wilsons eher eine Minderheitenmeinung dar. Hinweise darauf, wie man sich im Streit um die »Autonomie« der Biologie (Mayr 1991, 16 ff.) zwischen der Einheit oder der Vielheit der Wissenschaft (Galison, Stump 1996) zu entscheiden hat, erhält man auch bei einem genaueren Blick auf die oben dargestellten Motivkomplexe.

Zunächst wird deutlich, dass es eben nicht um die Biologie geht, sondern um eine ganze Reihe von Binnendisziplinen mit je verschiedenem Aufgabenfeld und Methodenverständnis. Auch wenn es weniger umständlich ist, von einer Biologie im Singular zu sprechen (weshalb diese Rede auch in diesem Buch bevorzugt wird), sollte doch stets gegenwärtig sein, dass es eigentlich um eine Biologie im Plural geht. Nahezu alle geläufigen Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmale für wissenschaftliche Denkstile sind innerhalb der Biologie präsent. Es gibt eher beschreibende Disziplinen wie die Morphologie und eher erklärende Disziplinen wie die Physiologie. Gegen die klare Trennung beider Bereiche spricht die Einsicht in die Notwendigkeit funktionsmorphologischer Betrachtungen. Auch gibt es stärker mathematisch ausgerichtete Teildisziplinen wie die Bioinformatik und daneben viele Disziplinen, die sogar narrative Verfahren zu ihrem Methodenkanon zählen (Höcker et al. 2006). Es gibt technisch-angewandte Disziplinenstränge und es gibt neben der Theoretischen Biologie eine bedeutsame Grundlagenforschung. Die Rede von der »angewandten Grundlagenforschung« zeigt schließlich erneut, wie fließend solche Grenzziehungen sind. Zudem erweist sich in einer historischen und kontextuellen Perspektive die Biologie als Neben- und Nacheinander verschiedener Forschungsprogramme.

Vor allem jedoch belegen die genannten Innovationen, dass das Netzwerk der binnendisziplinären Beziehungen innerhalb der Biologie eine enorme Dynamik besitzt. Einerseits kann es dabei zum Verschwinden klassischer Wissenschaftszweige im wissenschaftspolitischen Verdrängungswettbewerb um finanzielle Ressourcen kommen. Ein Beispiel dafür ist der derzeit ungedeckte Bedarf an Fachleuten in biologischer Systematik, der sich auf eine zu einseitige Ausrichtung der Ausbildung im Bereich der Molekularbiologie zurückführen lässt. Andererseits entstehen im Zuge der Innovationen ständig neue Disziplinen und damit neuartige Verbindungen zwischen alten Disziplinen. Der Einsatz gentechnischer Verfahren für klassische Aufgaben der Biosystematik ist dafür ein gutes Beispiel. Darüber hinaus sind enorme transdisziplinäre Verflechtungen zwischen wissenschaftlichen und technischen Fachzweigen festzustellen, die unter der Bezeichnung »converging technologies« (Roco, Bainbridge 2003) zusammengefasst werden. Neuestes Beispiel dafür ist die sich abzeichnende Fusion von Nanotechnologie und Biotechnologie zur »Nanobiotechnologie«. In diesem neuen Forschungsfeld sind nicht nur interdisziplinäre Kooperationen zwischen unterschiedlichen biologischen Binnendisziplinen gefragt, sondern auch solche zwischen der Biotechnologie und den physikalischen und chemischen Wissenschaften, der Medizin, den Ingenieurswissenschaften und den Materialwissenschaften. So zeigt sich, dass die technischen Innovationen erstens keinesfalls für eine Einheitlichkeit der Biologie sorgen, sondern im Gegenteil die Zahl und Heterogenität der Binnendisziplinen steigern. Es zeigt sich zweitens, dass die Außengrenzen der Biologie durchlässiger werden und die Verbindungen zu anderen Disziplinen enger. Und damit wird drittens fraglich, welche Teile des Clusters die Leitfunktion im Konzept einer »Leitwissenschaft« erfüllen sollen. Gerade im Fall von Gentechnologie und Nanobiotechnologie wird schließlich viertens deutlich, dass sich die institutionellen Organisationsformen der Biologie zunehmend auf eine globale »Big Science« hin bewegen.

Wissenschaftsphilosophisch resultiert aus dieser Bestandsaufnahme eine Anerkennung der pluralen Verfasstheit der institutionellen Struktur der Biowissenschaft – und implizit damit auch ihrer Theorien und Methoden. Diese Tatsache erweist das Ideal der Einheitswissenschaft als eben das, was es ist: ein Ideal. Gleiches gilt für das Ideal des Reduktionismus als dem Versuch einer Rückführung von Wissenschaften, deren Theorien, Erklärungsformen und Gegenstandsbereichen auf möglichst einfache und einheitliche Grundlagen. Wie der Physiker Helmut Schwegler für die Physik gezeigt hat, gibt es auch in der Biologie auf den Ebenen der Phänomene, der Untersuchungsmethoden, der Begriffe und Theorien fließende Übergänge zu den naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Schweglers Befund (2001, 70) gilt gleichermaßen für die Biologie: »Ein Programm, das verlangt, alle Erklärungen hätten, und wenn auch nur ›im Prinzip‹, von den elementarsten Objekten auszugehen, ist wissenschaftlich kontraproduktiv.« Wir wissen derzeit nicht, ob es uns in absehbarer Zeit gelingen wird, die bestehenden praktischen Schwierigkeiten in der Umsetzung des reduktionistischen Ideals aufzuheben. Insofern bildet die Biologie – wie die Physik – einen »Flickenteppich« (patchwork) aus locker miteinander verbundenen Bereichstheorien unterschiedlicher Anwendungsbreite und formaler Struktur.

Ein solches plurales und offenes Verständnis von Wissenschaft ermöglicht es, verschiedene empirische Zugänge nebeneinander bestehen zu lassen und ihre Ergebnisse in Theoriestücken und Bereichstheorien in vielfältiger Weise zu kombinieren. Für die Darstellung in diesem Band bedeutet dies, dass die Biologie vor allem unter pluralistischen Vorgaben betrachtet wird. Statt am positivistischen Vorbild der Einheitswissenschaft mit einer Einheitsmethode (Kolakowski 1971, 17) ist sie am Ideal der Vielfalt der Disziplinen und Forschungsansätze orientiert. Das bedeutet erstens, dass die unterschiedlichen Binnendisziplinen der Biologie ausreichend Berücksichtigung finden müssen. Es bedeutet zweitens, dass die Besonderheiten der Biowissenschaften im Vergleich zu anderen Naturwissenschaften hervorgehoben werden, ohne dass damit verbindliche Vorgaben für andere Disziplinen, ihre Forschungsfelder und Methoden gemacht würden. Umgekehrt wird die Biologie nicht am Vorbild der Physik gemessen. So ergibt sich aus der Abwendung vom einheitswissenschaftlichen Ideal ein spezifisches Vorgehen für die Methodik und Didaktik der folgenden Ausführungen: Es wird möglich, die besondere Qualität der Biologie gerade in Kontrastierung ihrer wirklichen Methoden und Befunde gegenüber idealen Vorgaben der Einheitswissenschaft darzulegen.

Allerdings hat diese Abwendung von der Einheitswissenschaft eine Kehrseite. Die bisherigen, wenn auch wenig überzeugenden Versuche der Wissenschaftsphilosophie, ein klares und eindeutiges Abgrenzungskriterium für »Wissenschaft« zu formulieren, basierten nicht zuletzt auf der berechtigten Befürchtung, im Relativismus jede Verbindlichkeit zu verlieren. Bei aller Abgrenzung vom Einheitskonzept wird es deshalb in jeder philosophischen und wissenschaftlichen Untersuchung darum gehen müssen, einen bestimmten Grad von Allgemeingültigkeit der Aussagen zu erreichen. Aus diesem Grund wird auch die folgende Darstellung nicht umhinkommen, solche allgemeinen Kennzeichen der Biologie überhaupt, ihrer Forschungssituation und ihres Gegenstandsbereichs zu suchen. Ebenso wird sie bei aller Schwerpunktsetzung auf die Differenz der Einzelwissenschaften dennoch auf Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten mit anderen Wissenschaftsdisziplinen Wert legen.

Eine bestimmte Vorgabe aller biologischen Forschung sei hier eingangs erwähnt, weil sie im Folgenden eine wichtige Rolle spielt. Es ist ein Charakteristikum dieser Vorgabe, dass sie dem Laien offensichtlich und deshalb wenig bedeutsam, dem Philosophen hingegen fast metaphysisch und deshalb spekulativ erscheint. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal der Biologie zu anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen besteht einfach darin, dass sie sich der Untersuchung lebender Systeme widmet. Auch wenn die Verfahren und Konzeptualisierungen der Biowissenschaften häufig auf unbelebte Strukturen und künstliche Funktionszusammenhänge zielen – was Kritiker zu der provozierenden These veranlasste, in der Biologie werde »das Lebendige […] immer auf der Folie des Todes gesehen« (Chargaff 1981, 11) –, so ist es dennoch ein nicht zu leugnendes Faktum, dass in biologischen Forschungsvollzügen der Mensch als lebendes System mit den Mitteln wissenschaftlicher Forschung andere lebende Systeme, ihre Funktionen und Strukturen untersucht. Diese spezifisch selbstreferenzielle Struktur der biologischen Forschung hat Humberto Maturana (1998, 23) benannt: »Der Beobachter ist ein menschliches Wesen, d.h. ein lebendes System, und alles was lebende Systeme kennzeichnet, kennzeichnet auch ihn.«

Ein wichtiger Aspekt dieses Faktums ist es, dass im Verlauf der Geschichte der Erforschung biologischer Phänomene – bei innerer Differenzierung der jeweils unterstellten Beziehungen zwischen Forscher-Ich und Forschungsgegenstand (Rehmann-Sutter 1996, 48 ff.) – grundsätzlich zwei philosophische Auffassungen darüber vertreten wurden, wie diese Phänomene adäquat zu erfassen seien. Hans Sachsse (1968, 2 ff.; Sachsse in Lohmann 1970) hat deshalb einen zweifachen Zugang zum Verständnis des Lebendigen konstatiert und ihn vor allem zur Unterscheidung einer klassisch aristotelischen und einer modernen biowissenschaftlichen Perspektive verwendet. Die zwei Zugänge haben im Laufe der philosophischen Auseinandersetzung unterschiedliche Bezeichnungen erhalten: Der erste wurde etwa als Standpunkt des Anorganischen, als Außenperspektive, Standpunkt des Körpers, »Biologie von außen« oder als physikalisch-technomorpher Ansatz bezeichnet, der zweite entsprechend als Standpunkt des Geistes, Innenperspektive, Standpunkt des Leibes, »Biologie von innen« oder anthropomorpher Ansatz. Obwohl man angesichts des historischen Entwicklungsgangs begründet die Auffassung vertreten kann, die Biologie als Wissenschaft sei wie die anderen Naturwissenschaften dadurch ausgezeichnet, dass sie gezielt auf den ersten Standpunkt der Außenperspektive festgelegt sei, werden doch selbst in vielen modernen biologischen Forschungsvollzügen die Bedingungen dieses grundsätzlich doppelten Zugangs bemerkbar. Sie bestimmen einen Teil dessen, was heute unter Biologie verstanden wird.

Bevor wir diesen Bedingungen, Verfahren, Fragestellungen und Phänomenen der Biologie in den folgenden Kapiteln genauer nachgehen, sei hier ein Hinweis für die Berechtigung dieser Behauptung gegeben (vgl. auch Kap. 3 und 5). Die kognitiven Neurowissenschaften etwa können angesichts dieser zwei Standpunkte als der Versuch verstanden werden, Phänomene zugänglich zu machen, die man zuvor als der Innenperspektive zugehörig aus dem Kanon biowissenschaftlich erfassbarer Phänomene ausgeschlossen hatte (Köchy 2006; 2007). Es geht nun darum, die »interne« Repräsentation mentaler Ereignisse zu untersuchen (Kandel et al. 1996, 327). In der Phase der experimentellen Neurowissenschaften (Kandel 1976, 3ff.) hatte man sich von einer solchen Zielsetzung noch explizit distanziert. In ihrem Selbstverständnis war die neurowissenschaftliche Untersuchung auf die Außenperspektive von im Verhalten beobachtbaren Funktionsabläufen und den Rückschluss auf die zugrunde liegenden Änderungen der Zellen, Gewebe und Organe festgelegt. Eine etwa über Introspektion erfassbare Innenperspektive wurde als wissenschaftlich unzugänglich erklärt. Auch in der kognitiven Neurobiologie hält man – trotz der Ausweitung ihres Zuständigkeitsbereichs – an dieser Skepsis fest. Allerdings ist die Dimension der introspektiven Evidenz der Sache nach nur bedingt auszuklammern. Nach der Überzeugung einiger Kognitionsforscher (Jack, Shallice 2001) ist sie sogar unerlässlich für die eindeutige Bestimmung des Untersuchungsgegenstands der kognitiven Neurobiologie und damit auch für die Fundierung ihrer Hypothesen. Ohne Aussagen der Probanden über deren innere Erlebnisse ist es in vielen Fällen für den Experimentator unmöglich zu wissen, welches kognitive Phänomen er mittels seiner Experimental- und Darstellungstechnik untersucht (vgl. Kap. 6).

1. Biologie und Philosophie

Was ist nun unter »Biophilosophie« zu verstehen? Um diese Frage zu beantworten, werden wir drei argumentative Schritte vollziehen. Zunächst wird das Verständnis von Biophilosophie konkretisiert, das die Untersuchung leitet. Dann wird in einem zweiten Schritt die biologische Dimension der Philosophie am Beispiel der beiden klassischen Positionen von Aristoteles und Kant besonders hervorgehoben. In einem dritten Schritt wird schließlich in umgekehrter Ableitungsrichtung die philosophische Dimension der Biologie ausgehend vom aktuellen Streit um den Potenzialitätsgedanken in der Stammzellforschung demonstriert. Nun wird von den empirischen Ansätzen der biologischen Forschung aus das philosophische Hintergrundszenario dargelegt. Alle drei Schritte stecken gemeinsam den gedanklichen Rahmen des Buches ab.

Was ist Biophilosophie?

Die beiden Fragen, was unter »Biophilosophie« verstanden werden kann und was darunter konkret in der vorliegenden Einführung verstanden wird, sollen in kritischer Abgrenzung zu vorliegenden Entwürfen entwickelt werden. Beginnen wir mit einer Unterscheidung, die Hans Jonas (2004, 54 ff.) eingeführt hat. Er hat in einem Interview zum Charakter seiner philosophischen Reflexionen über die Biologie Stellung bezogen. Dabei verweist er auf den Untertitel seines Buches Organismus und Freiheit, in dem er »Ansätze zu einer philosophischen Biologie« ankündigt und betont, dass die Philosophie sich den Erkenntnissen der Biologie in doppelter Hinsicht zu stellen habe. Einerseits müsse sie deren Wissensstand und Methodik zur Kenntnis nehmen und andererseits diese kritisch hinterfragen. Über die methodologische und methodenkritische Funktion hinaus verfolgt die philosophische Biologie nach Jonas jedoch noch ein weiteres Ziel, das man je nach Blickwinkel als epistemologisch, ontologisch oder metaphysisch bezeichnen kann. Übereinstimmend mit unseren Ausführungen am Ende des letzten Kapitels ist Jonas der Überzeugung, dass eine unphilosophische Biologie eine rein physische Biologie wäre. Die philosophische Biologie hingegen sei eine, »die diese künstliche Teilung der Sphären rückgängig macht«. Ein solcher Standpunkt behalte bei der Betrachtung des Organismus stets im Auge, dass dieser nicht nur ein Ganzes im funktionellen Sinne ist, sondern auch im leib-seelischen Sinne. Somit sei der Innenaspekt oder die Subjektivität des Organismus unveräußerlich. Diese Kennzeichnung bringt nun mehr zum Ausdruck als nur das spezifische – metaphysische – Erkenntnisinteresse von Hans Jonas oder eine Bestätigung unserer Ausführungen zur Innen- und Außenperspektive. Sie macht vielmehr deutlich, dass man der Biophilosophie verschiedene Funktionen zuweisen kann. Es wären demnach zu unterscheiden: erstens die methodologische Funktion, zweitens die methodenkritische Funktion, drittens die ontologische oder metaphysische Funktion und viertens die epistemologische Funktion im weiteren Sinne.

Die Aufgabenstellung von Jonas’ philosophischer Biologie steht nun in deutlichem Gegensatz zu den meisten aktuellen Entwürfen einer Philosophie der Biologie (Mahner, Bunge 1997), die sich als Methodologie oder Wissenschaftstheorie der Biologie (Janich, Weingarten 1999) versteht. Eine solche Fokussierung auf die methodologische Funktion würde die Biophilosophie im Aufgabenkatalog des Logischen Empirismus aufgehen lassen. Alexander Rosenberg (1985, 15 ff.) spricht in diesem Zusammenhang von einer postpositivistischen Deutung. Biophilosophie wäre dann eine Logik der biologischen Forschung, eine formale Methodenlehre der Biologie. Orientiert etwa an Rudolf Carnaps (1891-1970) Verständnis von Wissenschaftslogik wäre das Objekt der Biophilosophie die Wissenschaft Biologie als ein geordnetes Gefüge von Sätzen. Die Funktion der biophilosophischen Untersuchung bestünde in einer Analyse der biologischen Theorien unter logischen Gesichtspunkten. Es würde zudem nach Carnap (1992, 91f.) gelten: »Alles was über Organismen und organische Vorgänge zu sagen ist, hat die Biologie als empirische Wissenschaft zu sagen; es gibt nicht außerdem noch philosophische Sätze über jene Vorgänge […].«

Auch wenn man das Wissenschaftsverständnis über die historische Position der Logischen Empiristen hinaus erweitert, könnte man an diesen Vorgaben festhalten. Zwar wäre in diesem Fall der Umfang der biophilosophischen Metaanalyse auszudehnen, und sie würde nicht nur Theorien, sondern etwa auch biologische Experimente oder Visualisierungstechniken umfassen. Die Biophilosophie selbst verbliebe aber in den Grenzen des Programms von Carnap. Ihre Kompetenz und Zuständigkeit endete dort, wo die empirischen Verfahren der Biologie beginnen. Nur die Biowissenschaften als empirische Wissenschaften wären in der Lage, einen direkten Kontakt zur Welt herzustellen. Die Funktion der Biophilosophie müsste sich deshalb auf die Interpretation der biologischen Kenntnisse und Handlungsweisen beschränken.

Die methodenkritische Funktion geht jedoch einen Schritt über diese Grenzziehung hinaus. Dabei muss zunächst berücksichtigt werden, dass unter »Kritik« Verschiedenes verstanden werden kann. Einen Orientierungspunkt gewinnt man jedoch, wenn man mit Kant »Kritik« als die Frage nach der Geltung biowissenschaftlicher Aussagen (quaestio iuris) versteht. Interpretiert man diese Vorgabe in einem engen Sinne, dann geht sie erneut in Carnaps Forderungen auf und bezeichnet lediglich die Aufgabe einer Untersuchung der logischen oder empirischen Begründungsverfahren von biowissenschaftlichen Aussagen oder Theorien. In einem viel weiteren Sinne verstanden, beinhaltet die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit biowissenschaftlicher Erkenntnis jedoch auch die historischen, sozialen, ökonomischen und anthropologischen Bedingungen der biologischen Forschung (so etwa Lenoir 1992). Versteht man solchermaßen die Forderung nach Aufklärung der Bedingungen der Möglichkeit der Biologie unter Berücksichtigung der aktuellen wissenschaftsphilosophischen Ansätze, dann ist man auf ein kontextualistisches Niveau von »Kritik« verwiesen. Die methodenkritische Aufgabe beinhaltet dann nicht nur den Aspekt der Geltung biowissenschaftlicher Theorien und Erfahrungen, sondern darüber hinaus auch den Aspekt ihrer Genese. Der sogenannte Entdeckungszusammenhang biologischer Forschung gerät in den Blick (Rheinberger 2001). In diesem Fall werden die Verfahren und Erkenntnisse der Biologie nicht einfach als gegeben vorausgesetzt, sondern sie werden in ihren Entstehungsbedingungen kritisch hinterfragt. Die Biophilosophie entwickelt sich zu einem auch wissenschaftshistorischen und wissenschaftssoziologischen Unternehmen. Subsumiert man schließlich unter »Kritik« mit Kant das moralisch-praktische Moment, dann umfasst die methodenkritische Funktion der Biophilosophie weiterhin die Aufgabe einer kritischen Befragung der Akteure in der Biologie nach dem moralischen Status ihrer Handlungen und ihres Wissens. Es wird zu zeigen sein (Kap. 7), dass die kontextualistische Betrachtung diese Erweiterungsoption zu einer bioethischen Reflexion beinhaltet.

Die ontologische Funktion der Biophilosophie kann an diesem Punkt ansetzen. Mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit biowissenschaftlicher Forschung ist dann nicht nur das kritische Hinterfragen der technischen oder moralischen Implikationen der biologischen Handlungskontexte oder Erkenntnisweisen gemeint. Es ist auch die Frage eingeschlossen, an was oder gegenüber wem biologische Handlungen vollzogen werden bzw. von was oder wem mit den Mitteln der biologischen Forschung Wissen gewonnen werden soll. In einer technischen oder logischen Variante könnte diese Reflexion über den biologischen Gegenstandsbereich ebenfalls in den Grenzen der Logik der Forschung verbleiben. Einen solchen Ansatz verfolgen viele angelsächsische Vertreter der Biophilosophie, die sich auf begriffslogische Analysen zentraler Konzepte wie etwa der biologischen »Art« oder des biologischen »Systems« kaprizieren (vgl. die Beiträge in Hull, Ruse 1998). Unter historischen und soziologischen Vorzeichen wäre hingegen nicht nur der logische Status biologischer Objekte zu untersuchen, sondern darüber hinaus etwa auch deren reale Präsenz im Labor oder deren Rolle im Prozess der Konstituierung biowissenschaftlicher Forschungsprogramme (Lederman, Burian 1993; vgl. Kap. 4). Eine solche Erweiterung zeigt, dass beispielsweise die Rolle von Modellorganismen in den Labors nicht adäquat durch die üblichen Vorstellungen von naturwissenschaftlichen »Objekten« wiedergegeben ist (dazu Kap. 2). Aktuelle Überlegungen zu den Labororganismen als »Laboranten« verweisen vielmehr auf ein komplexes Wechselspiel zwischen Forscher und Forschungsgegenstand (Köchy, Schiemann 2006). Betrachtet man die Annahmen über diese wechselseitige Interaktion genauer (Latour in Hagner 2001, 180; Knorr Cetina 2002, 160), dann wird hier eine Anerkennung des Subjektstatus von Labororganismen vorbereitet, die eine Option zum Übergang zu dem eingangs genannten Konzept von Hans Jonas beinhaltet. Auch diese ontologischen Bestimmungen leiten direkt zu ethischen Fragen über, ohne auf eine Naturalisierung von Moral hinauszulaufen (vgl. Kap. 7).

Schließlich wird an diesen Überlegungen deutlich, dass eine Verbindung zwischen methodologischen, methodenkritischen und ontologischen Optionen gerade dann möglich ist, wenn man unter den epistemologischen Funktionen einer Biophilosophie auch die Aufklärung darüber versteht, in welchem Verhältnis die Forscher in jeweils spezifischen Forschungskontexten zu ihren Untersuchungsgegenständen stehen. Über den engeren Bereich erkenntnistheoretischer Fragen hinaus geht es in diesem Fall auch um Menschenbilder, Organismuskonzepte und Naturvorstellungen. Neben den theoretischen Fragen der Wissenschaftsforschung sind praktische Fragen der Wissenschaftsethik direkt angesprochen. Als focus imaginarius ist damit eine der Leitlinien unserer kontextualistischen Analyse formuliert: Biophilosophie wird im Folgenden als der Versuch verstanden, die methodologischen, methodenkritischen und ontologischen Überlegungen so zusammenfließen zu lassen, dass das spezifische Verhältnis von Forscher und Forschungsgegenstand in der Biologie adäquat zur Geltung kommt. Dabei ist das klassische wissenschaftstheoretische Ideal der Metaanalyse – dem die Vorstellung einer klaren Trennung von Fachwissenschaft und Philosophie zugrunde liegt – angesichts der tatsächlichen Verwobenheit beider Sphären nur bedingt aufrechtzuhalten.

Die biologische Dimension der Philosophie

Im Folgenden wird die biologische Dimension der Philosophie an zwei zentralen Positionen demonstriert. Die Wahl fällt dabei auf die Philosophien von Aristoteles und Kant, die nicht nur zwei wesentliche Säulen der klassischen Philosophie darstellen, sondern auch philosophiehistorisch die beiden Pole der »ontologischen« und der »epistemologischen« Betrachtung repräsentieren. Zugleich bringt jedes Konzept für sich bereits eine Verflechtung beider Aspekte zum Ausdruck. Darüber hinaus handelt es sich um diejenigen klassischen Positionen, die noch am ehesten unter heutigen Gesichtspunkten mit dem Projekt der Philosophie der Biologie in Verbindung gebracht werden (Grene, Depew 2004; Krohs, Toepfer 2005, 8).

Philosophie und Biologie bei Aristoteles

De partibus animalium