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Wolfgang Kersting

John Rawls zur Einführung

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Junius Verlag GmbH

© 2001 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung: John Rawls und die politische Philosophie

A. Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit von 1971

1. Gerechtigkeit als Fairneß

Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit

Fairneß und Gerechtigkeit – Grundlinien der Rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption

2. Zwei Prinzipien der Gerechtigkeit

Soziale Grundgüter und die Theorie des Guten

Prinzipienwahl, Entscheidungsverhalten und Maximin-Regel

Das Freiheitsprinzip und die These vom Vorrang der Grundfreiheiten

Erlaubte Ungleichheit: Das Differenzprinzip

Legitime und illegitime Ungleichheiten

Demokratische Gleichheit

Differenzprinzip und egalitäre Gerechtigkeit

Differenzprinzip und Sozialstaatsbegründung

Rawls’ Kritik des Utilitarismus

Was ist Utilitarismus?

Utilitarismuskritik und egalitäre Gerechtigkeit

3. Die philosophische Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien

Vertrag und Gerechtigkeit

Grundlinien kontraktualistischer Prinzipienrechtfertigung

Rawls’ Kontraktualismus

Urzustand und rationale Verfassungswahl

Kohärenz und Überlegungsgleichgewicht

Wohlüberlegte Gerechtigkeitsurteile

Die formalen Bedingungen des Praktisch-Richtigen

Die Illusion des Archimedischen Punktes

Schematische Darstellung des gesamten Rechtfertigungsarguments

4. Gerechtigkeit zwischen den Generationen

5. Verteidigung des bürgerlichen Ungehorsams

B. Fairneßgerechtigkeit, politischer Liberalismus und öffentlicher Vernunftgebrauch

1. Kantischer Konstruktivismus

2. Politische Philosophie angesichts des Pluralismus

C. Völkerrecht und liberale Gerechtigkeit

1. Völkerrecht in der Theorie der Gerechtigkeit von 1971

2. Globalizing Rawls

3. Rawls’ ausgearbeitete Völkerrechtskonzeption von 1993

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zeittafel

Über den Autor

Vorwort

Wohl kein philosophisches Werk hat im 20. Jahrhundert so schnell so große Aufmerksamkeit erregt und eine so intensive und weitgespannte Diskussion ausgelöst wie John Rawls’ Theory of Justice von 1971. Dieses schwergewichtige Buch präsentiert auf sechshundert Seiten die argumentativ dichteste und elaborierteste Theorie der Gerechtigkeit, die in der Geschichte der praktischen Philosophie bis heute entwickelt worden ist. Es hält sowohl hinsichtlich seiner gedanklichen Substanz als auch in Hinblick auf seine wirkungsgeschichtliche Bedeutung den Vergleich mit den großen Texten der europäischen Tradition der politischen Philosophie aus und wird seinen Platz neben Platons Politeia, Aristoteles’ Politik, Hobbes’ Leviathan, Lockes Abhandlungen über die Regierung, Rousseaus Gesellschaftsvertrag und Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre finden.

Der Gerechtigkeitstheorie des amerikanischen Philosophen ist es gelungen, alle Bereiche der praktischen Philosophie – die politische Philosophie, die Moralphilosophie, die Rechts- und Sozialphilosophie und die ihnen benachbarten Einzelwissenschaften, vor allen Dingen auch die Wirtschaftswissenschaften – in ein großes interdisziplinäres Gespräch zu verwickeln, das bis heute andauert und durch die Ausweitungen und Revisionen, die Rawls an seiner Theorie im Laufe der Jahre vorgenommen hat, immer neue Nahrung bekommen hat. Die Forschungsliteratur ist selbst für Spezialisten kaum noch überschaubar.1 Aber die philosophische Qualität eines Werkes zeigt sich nur mittelbar, und angesichts der Verführbarkeit des modernen Zeitgeistes durch Modisches auf nicht immer verläßliche Weise, daran, daß es in kürzester Zeit eine atemberaubende Betriebsamkeit in den Fabriken der Sekundärliteratur hervorbringt. Ein weitaus zuverlässigerer Gradmesser seines philosophischen Gehalts ist vielmehr sein genuin philosophischer Herausforderungswert, seine Fähigkeit, zugleich philosophisch zu inspirieren und systematisch belangvollen Widerspruch zu provozieren, der sich in Gestalt alternativer Konzeptionen zum Ausdruck bringt. Und gerade diese Fähigkeit hat Rawls’ Theory of Justice von Anfang an in hohem Maße bewiesen. Von ihr angeregt, sind in wenigen Jahren viele eigenständige Werke von großer systematischer Qualität zur politischen Philosophie erschienen, so daß man mit Recht von John Rawls sagen kann, daß er sowohl unmittelbar, durch den Gehalt seines eigenen Werkes, als auch mittelbar, auf dem Wege der von seiner Theorie provozierten produktiven Auseinandersetzung, die politische Philosophie wieder zu neuer Blüte gebracht hat.

In der von Rawls ermutigten politischen Philosophie der Gegenwart lassen sich drei Strömungen unterscheiden. Zwei sind aus dezidiert rawlskritischen Motiven entstanden und haben sich dann zusehends mehr einer selbständigen Ausformulierung ihrer alternativen Positionen zugewandt. Das ist zum einen der hauptsächlich von Robert Nozick2, James M. Buchanan3 und Jan Narveson4 entwickelte »libertarianism«5, eine radikale Version des Liberalismus, die in der Nachfolge Lockes die natürlichen Individualrechte der Freiheit und des Eigentums ins Argumentationszentrum stellt und nur solche politischen Formationen als gerecht ansieht, die sich aus vertraglichen Vereinbarungen von Eigentümern ergeben. Konsequenz dieses Property-rights-Absolutismus ist die Ablehnung aller sozialstaatlichen Einschränkungen individualrechtlicher Grundpositionen. Da ist zum anderen der von Michael J. Sandel6, Michael Walzer7, Charles Taylor8, Benjamin Barber9 und anderen vertretene Kommunitarismus, der den Menschenrechtsuniversalismus ablehnt und an die teils aristotelische, teils hegelianische Tradition antiliberalen Denkens anknüpft. Die dritte Strömung der politischen Philosophie der Gegenwart ist der egalitäre Liberalismus, der in produktiver Auseinandersetzung mit der Rawlsschen Theorie das liberale Paradigma der politischen Philosophie ausdifferenziert. Seine Hauptvertreter sind Ronald Dworkin10, Thomas Nagel11 und Brian Barry12.

Der egalitäre Liberalismus hat sich im Wettstreit mit Radikalliberalismus und Kommunitarismus als die philosophisch stärkere Theoriekonzeption erwiesen. Anfangs ging es in der durch Rawls ausgelösten politikphilosophischen Diskussion der Gegenwart um Probleme der philosophischen Selbstverständigung, um die richtige Art, Politikphilosophie zu treiben. Man stritt sich über die angemessene Methode und Erkenntnistheorie, über das der politikphilosophischen Argumentation zugrunde zu legende Menschen-, Personen- und Sozialmodell. Denn diese Voraussetzungen prägen die gerechtigkeitstheoretischen Vorstellungen der Theorie; sie entscheiden über den Zuschnitt der Gerechtigkeitsprinzipien, zu deren Beachtung die Philosophie die politische Wirklichkeit verpflichtet. Und solange sich die philosophische Diskussion um diese grundsätzlichen Fragen, gleichsam um die Metaphysik des modernen politischen Zusammenlebens drehte, gab es eine lebhafte Auseinandersetzung zwischen den drei Theoriefamilien des »libertarianism«, des Kommunitarismus und des egalitären Liberalismus. Sobald sich aber in der Folgezeit die Diskussion der immer selbstbewußter auftretenden politischen Philosophie konkreten politischen Problemlagen zuwandte, stellte sich die stärkere philosophische Leistungsfähigkeit des egalitären Liberalismus heraus, verloren Radikalliberalismus und Kommunitarismus an Einfluß. Weder in den Debatten über eine differenzierte gerechtigkeitsethische Vermessung des Sozialstaats noch in der Diskussion der Probleme internationaler Gerechtigkeit oder dem Streit um die Sicherung politischer Gemeinschaftlichkeit unter den Bedingungen von ethischem Pluralismus und Multikulturalismus lieferten Radikalliberalismus und Kommunitarismus substantielle Beiträge ab.

Zwar sind die politischen und ökonomischen Mahnungen der libertären Sozialstaatsgegner angesichts wachsender Staatsverschuldung und wuchernder Sozialstaatsbürokratie begrüßenswert, ist auch ihr Plädoyer für eine direkt-demokratische Ausweitung bürgerlicher Mitbestimmung bedenkenswert, doch der systematische Zuschnitt des »libertarianism« erweist sich insgesamt als unzureichend, um den vielfältigen politischen Herausforderungen der Gegenwart philosophisch gerecht zu werden, die im Kielwasser fortschreitender Globalisierung und intensivierter Migration aufgetaucht sind. Auch der Kommunitarismus hat hier keine konstruktiven Lösungen anzubieten. Er ist philosophisch noch dürftiger ausgestattet als der Radikalliberalismus, stützt sich weitgehend auf den Gedanken des Traditionsschutzes, vermag daher bei Problemen wenig auszurichten, die sich gerade darum heute stellen, weil aufgrund der sich beschleunigenden Veränderungen der gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen des Lebens in der Moderne die Integrations- und Sinnressource Tradition sich dramatisch verknappt hat. »Libertarianism« und Kommunitarismus sind ohne philosophisch konstruktive Kraft. Da die ihnen eingeschriebenen Vorstellungen politischen Zusammenlebens nicht realisierbar sind, die Flucht zu hochintegrierten, kulturell homogenen Traditionsmilieus uns genauso verwehrt ist wie eine Abschaffung sozialstaatlicher Leistungssysteme, erschöpft sich die Bedeutung beider darin, den egalitären Liberalismus kritisch zu überprüfen, seinem Hang zum Etatismus entgegenzuwirken und gegenüber seiner universalistischen Überschwenglichkeit das Recht des Partikularen geltend zu machen.

In der Entwicklung der politischen Philosophie von John Rawls spiegelt sich dieser Weg von den Aufgaben der Grundlegung zur Bearbeitung spezifischer Problembereiche. Rawls hat nicht nur mit seinem olympischen Werk von 1971 die systematische politische Philosophie wieder ins intellektuelle Leben zurückgerufen. Er hat auch ein Argumentationsszenario skizziert, das für die Entwicklung der Gerechtigkeits- und Sozialstaatsphilosophie des egalitären Liberalismus wegweisend wurde. Mit der Weiterentwicklung seiner Gerechtigkeitskonzeption zu einer Theorie des politischen Liberalismus hat Rawls dann seit den Dewey Lectures von 1980 auch die Diskussion der Probleme einer Sicherung politischer Einheit unter den Bedingungen eines ethischen und kulturellen Pluralismus maßgeblich geprägt. Die Auseinandersetzung mit der Habermasschen Diskursethik und der sich auf sie stützenden Theorie der deliberativen Demokratie hat sich dabei philosophisch als besonders fruchtbar erwiesen. Und auch zum Problem der internationalen Ethik hat sich Rawls geäußert. 1993 hat er eine größere Studie mit dem provokanten Titel Law of Peoples veröffentlicht. Sie greift auf den klassischen Pazifikationsgedanken des Völkerrechts zurück und erteilt damit allen Rawlsianern, die die Gerechtigkeitstheorie der Theory of Justice globalisieren und zu einer Weltgerechtigkeitsethik ausbauen wollen, sich also durch die Theory of Justice zu einem Paradigmenwechsel von der völkerrechtlichen Orientierung zur gerechtigkeitsethischen Orientierung in der politischen Philosophie der internationalen Beziehungen ermuntert sehen, eine herbe Absage.

Ich habe die Neuauflage dieser Einführung in die politische Philosophie von John Rawls zum Anlaß genommen, dem Buch eine vollständig neue Fassung zu geben, die der oben geschilderten Entwicklung des Rawlsschen Denkens im besonderen und der politischen Philosophie der Gegenwart im allgemeinen Rechnung trägt. Der zweite Teil, der sich ursprünglich mit der libertären und kommunitaristischen Rawls-Kritik beschäftigte, ist weggefallen.13 Neu hinzugekommen sind zwei Teile, die sich zum einen mit Rawls und der Gerechtigkeitsphilosophie des egalitären Liberalismus und zum anderen mit Rawls’ Völkerrechtskonzeption und ihrem Verhältnis zum rawlsianischen Kosmopolitismus beschäftigen. Weiterhin ist das Kapitel über Rawls’ Theorie des politischen Liberalismus beträchtlich verändert worden. Alle verbliebenen Kapitel über die Grundzüge der Gerechtigkeitstheorie von 1971 sind überarbeitet worden.

Einleitung:
John Rawls und die politische Philosophie

Mit den folgenden Worten hat Peter Laslett 1956 den ersten Band der berühmten Reihe Philosophy, Politics and Society eingeleitet:

»Es gehört zu den Vorstellungen unseres geistigen Lebens […], daß es unter uns Menschen geben sollte, die wir für politische Philosophen halten. Als Philosophen und empfindlich gegenüber allem Wandel in der Philosophie sollen sie sich mit den sozialen und politischen Verhältnissen auf der höchstmöglichen Ebene der Allgemeinheit beschäftigen. Sie sollen die Methoden und die Ergebnisse des zeitgenössischen Denkens auf die vor Augen liegende zeitgenössische soziale und politische Situation anwenden. Dreihundert Jahre lang hat es solche Männer in unserer Geschichte gegeben […]. Heute jedoch, so scheint es, haben wir sie nicht mehr. Die Tradition ist abgebrochen, und unsere Annahme ist gegenstandslos, es sei denn, sie wird als Glaube an die Möglichkeit betrachtet, daß die Tradition fortgeführt werden könnte. Für den Augenblick jedoch ist die politische Philosophie tot.«14

Dieser Satz vom Tod der politischen Philosophie wurde zum meistzitierten Satz des ganzen Buches. Die Überzeugung, daß Lasletts traurige Diagnose zutrifft, war weit verbreitet. Wie war es zum Ableben der politischen Philosophie gekommen? Wie konnte die Philosophie einen so wichtigen Bereich wie den der Ordnung menschlichen Zusammenlebens einfach aus den Augen verlieren? Wie konnte es geschehen, daß die großen Philosophen des 20. Jahrhunderts sich auf den Gebieten der Logik und Wissenschaftstheorie, der Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie engagierten, jedoch den Fragen der Ethik und Politik gegenüber gleichgültig wurden und den Problemen richtigen Handelns und einer gerechten öffentlichen Ordnung keinerlei Interesse mehr entgegenbrachten? Jahrhundertelang war die soziale und politische Welt der Menschen einer der vornehmsten Gegenstände der Philosophie, bewährte sich die Philosophie als herausragendes Reflexionsmedium in der unaufhörlichen kulturellen Selbstverständigung der Menschen und kleidete die Gerechtigkeitsdiskurse der Gesellschaft und die Auseinandersetzungen um die inneren Bestimmungen eines guten allgemeinen Lebens in ihre feinere und genauere Begrifflichkeit.

Doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Tradition der politischen Philosophie abgebrochen, hatte sich die Philosophie zunehmend von der politischen Welt entfremdet. Das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzende wissenschaftsorientierte Erkenntnis- und Weltverständnis stellte die praktische Philosophie unter Irrationalismusverdacht; die kategorialen Fundamente und die sich auf sie stützenden Rechtfertigungsargumente der moralischen und politischen Philosophie wurden als haltlose metaphysische Spekulation abgewiesen; das philosophische Bemühen um objektiv gültige normative Orientierungen im privaten und öffentlichen Handlungsbereich erschien im harten Licht der wissenschaftlichen Aufklärung als uneinsichtige Anhänglichkeit an längst widerlegte vorwissenschaftliche Weltsichten und Erkenntnisprogramme. Die aufgekommenen Lehrmeinungen des Positivismus, des Historismus und des Kulturrelativismus verdrängten alles Interesse an normativen Fragen, das Klima des Szientismus war einer Fortentwicklung von Moralphilosophie und normativer politischer Philosophie nicht günstig. Das große Erbe von Hobbes, Locke, Rousseau, Kant und Hegel verstaubte. Politische Philosophie war nur noch als Objekt der einschlägigen Geschichtsschreibung und als geisteswissenschaftlicher Forschungsgegenstand interessant; sie wurde als museale Kollektion von Interpretationsmustern, Begriffsbildern und Theorieformen betrachtet, mit der sich dann die Historiographen der Philosophie, die Wissenssoziologen und die Weltanschauungstypologen beschäftigten.

Bei seinem Bemühen, die Ursachen für den Niedergang der politischen Philosophie zu benennen, denkt Peter Laslett jedoch weniger an die sich ausbreitende szientistische Mentalität und den allgemeinen Metaphysiküberdruß gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Er hat einen konkreteren Totengräber im Blick, den logischen Empirismus:

»Es ist wirklich sehr leicht, auf den Sündenbock zu zeigen. Russell und Wittgenstein, Ayer und Ryle waren es, die die Philosophen davon überzeugten, daß sie sich auf sich selbst zurückzuziehen und ihr logisches Instrumentarium und ihren begrifflichen Apparat zu überprüfen haben. Und das Resultat dieser Überprüfung war wirklich radikal. Es zog den logischen Status aller ethischen Aussagen in Zweifel und errichtete rigorose Standards der Verständlichkeit, die die traditionellen moralphilosophischen Systeme sofort auf eine Ansammlung von Unsinn zu reduzieren drohten. Da politische Philosophie ein Bereich der Ethik ist oder war, erhob sich die Frage, ob politische Philosophie überhaupt möglich ist.«15

Als logischen Empirismus bezeichnet man die sprachphilosophische und erkenntnistheoretische Konzeption, die den traditionellen Empirismus der frühen Neuzeit mit den zeitgenössischen Logik- und Semantikvorstellungen verknüpfte und mit jeweils charakteristischen Modifikationen von den Philosophen des Wiener Kreises, vor allem Carnap und Schlick, von dem jungen Wittgenstein in seinem Tractatus Logico-Philosophicus und von den Autoren der Principia Mathematica, Russell und Whitehead, entwickelt wurde16 und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die intellektuell-philosophische Landschaft insbesondere in der englischsprachigen Geisteswelt nachhaltig prägte. Der logische Empirismus läßt in der Nachfolge David Humes nur empirische und analytische Sätze als sinnvolle Sätze gelten. Dieses empiristische Sinnkriterium verweist damit alle Sätze, die weder etwas empirisch Überprüfbares über die Wirklichkeit sagen noch logische Beziehungen zwischen Sätzen erhellen, in den Bereich der Sinnlosigkeit. Unter der Ägide dieses harschen Verständlichkeitsrichters kann Philosophie nur als Wissenschaftstheorie überleben. Damit verschwindet der ganze Kranz traditioneller philosophischer Arbeitsgebiete. Ausdrücklich wird alle normative praktische Philosophie aus dem Bereich verantwortbarer philosophischer Tätigkeit verbannt und alles Nachdenken über das Gute und Gerechte, über Werte und Legitimation unter das Verdikt des Unsinns gestellt.

Praktische Sätze gelten dem Anhänger des logischen Empirismus nur dann als wahrheitsfähig, wenn sie einen technischen Inhalt haben und empirisch überprüfbare Informationen über die Zweckdienlichkeit bestimmter Mittel und Strategien beinhalten. Nichttechnische praktische Sätze, normative und evaluative Sätze also, Werturteile, Normen, Pflichtgebote, Prinzipien und moralische Vorschriften betrachtet er als nicht wahrheitsfähig und prinzipiell unbegründbar. Die Grenzen rationaler menschlicher Verständigung konvergieren für den logischen Empiristen mit den Grenzen weltabbildender und sprachanalytischer Diskurse. Moralische und politische Diskurse, alle Diskurse also, in denen normative Prädikate und Wertbegriffe verwendet werden, hält er für irrationales Gerede. Dieses Dogma von der Irrationalität aller wertenden Behauptungen, von der Unbegründbarkeit moralischer Aussagen stellt ethische Aussagen auf eine Stufe mit Ausrufen, Stimmungsbekundungen, Geschmacksäußerungen. Genausowenig wie man Farb- und Geschmackspräferenzen, Kleidungsgewohnheiten und subjektive Idiosynkrasien rechtfertigen kann und sie als Gemüts- und Lebensstiltatsachen hinnehmen muß, genausowenig kann man nach der Lehrmeinung des logischen Empirismus Argumente und rechtfertigende Gründe für oder gegen praktische und wertende Aussagen finden: Sie sind für ihn eben nichts weiter als sprachliche Ausdrücke von Gestimmtheiten und Vorlieben, deren Existenz allenfalls entwicklungs- und sozialpsychologisch aufgeklärt und erklärt werden kann, die jedoch keinen rational begründbaren Geltungsanspruch erheben können, über den sich in allgemein anerkannten diskursiven Verfahren und mit rational nachvollziehbarer Rechtfertigungsargumentation befinden ließe.

Es ist evident, daß im Schatten dieses Dogmas von der Wahrheitsunfähigkeit sittlicher Urteile keine Moralphilosophie, keine normative politische Philosophie gedeihen kann. Eine argumentative, Gründe vortragende Philosophie der Herrschaftslegitimation und Herrschaftslimitation durch Gerechtigkeitsprinzipien ist nicht möglich, wenn normative Urteile indiskutable Geschmacksangelegenheiten sein sollen. Auch die den logischen Empirismus im englischsprachigen Kulturkreis als philosophischen Meinungsführer ablösende, sich auf das Werk des späten Wittgenstein berufende sprachanalytische Philosophie, die Laslett bei seiner Suche nach den Verantwortlichen für den Tod der politischen Philosophie durchaus auch im Auge hat, hat die Situation für die politische Philosophie nicht verbessert. Zwar schließt sich die »ordinary language philosophy« nicht explizit an das Dogma des logischen Empirismus von der Wahrheitsunfähigkeit praktischer Sätze an, aber in ihrer Orientierung am faktischen Sprachgebrauch ist sie dem Interesse an einer begründenden normativen Philosophie der politischen Angelegenheiten auch nicht sonderlich dienlich.

Nicht daß die politische Sprache des Alltags, die Sprache der Politiker, die Begrifflichkeit der Politologen nicht der analytischen Durchdringung und logischen Überprüfung bedürften, nichts auch gegen eine sich auf ebendiese Untersuchung der verschiedenen Sprachfelder des Politischen konzentrierende politische Philosophie, aber diese Form politischer Philosophie, die auf eine Art politische Grammatikbeaufsichtigung hinausläuft, hat nichts mit der praktischen Kompetenz zu tun, die sich die traditionelle politische Philosophie zugetraut hat. Denn eines ist es, den faktischen Gebrauch von normativen, evaluativen und legitimatorischen Prädikaten im politischen Diskurs der Praxis und der Wissenschaft zu untersuchen, ein ganz anderes jedoch, die Kriterien für die angemessene Anwendung dieser normativen, evaluativen und legitimatorischen Prädikate zu definieren und zu begründen.17

In den siebziger Jahren ist die politische Philosophie dann überraschenderweise wieder ins intellektuelle Leben zurückgekehrt. Sie hat sich gegen ihre wissenschaftslogische Demütigung und methodologische Annihilierung zur Wehr gesetzt und das analytisch-sprachanalytische Methodenargument, das ein ganzes Jahrhundert lang alle ihre theoretischen Anstrengungen durchkreuzte und sie an ihrer eigenen wissenschaftlichen Existenzberechtigung zweifeln ließ, energisch abgeschüttelt. Und indem sie sich von der bornierten Erkenntniskonzeption und restriktiven Methodologie des analytischen Paradigmas befreite, konnte sie wieder an die Tradition der politischen Philosophie der Moderne anknüpfen. Das Zutrauen in die eigene Begründungskompetenz stellte sich schnell wieder ein, und sie unternahm in rascher Folge immer wieder neue Anläufe systematischer Selbstverständigung; dabei ließ sie sich stark durch die Argumentationsmuster und Begriffsformen der politischen Philosophie der Neuzeit von Hobbes bis Kant beeinflussen, zeigte sich aber auch aufgeschlossen gegenüber den Fragestellungen, Methoden und Erkenntnissen der zeitgenössischen Sozialwissenschaften.

Die Renaissance der politischen Philosophie ist erstaunlicherweise durch ein einziges Buch ausgelöst worden: durch die 1971 erschienene Theory of Justice des amerikanischen Philosophen John Rawls. Seine Gerechtigkeitstheorie hat viele philosophisch inspiriert und zu gehaltvollem Widerspruch angeregt. In wenigen Jahren sind viele eigenständige politikphilosophische Werke von großer systematischer Qualität erschienen. Drei Jahre nach der Theory of Justice erschien bereits Robert Nozicks Anarchy, State, and Utopia; ihm folgte nur ein Jahr später James M. Buchanans The Limits of Liberty; und 1980 veröffentlichte Bruce Ackerman Social Justice in the Liberal State18. Und auch die Unparteilichkeitsphilosophie des Rawls-Schülers Thomas Nagel, die unterschiedlichen, einmal strikt antiperfektionistischen, einmal perfektionistischen Liberalismus-Ausprägungen der Rechtsphilosophen Ronald Dworkin und Josef Raz19 und die Gerechtigkeitstheorie von Brian Barry stehen noch im Schatten der vor rund dreißig Jahren erschienenen ingeniösen Theory of Justice. Diese philosophische Selbstverständigung des Liberalismus hält bis heute unvermindert an: Immer von neuem versichert er sich seiner Grundlagen, zeichnet er die utopischen Ränder seiner Idee nach, vergrößert er den Spielraum seiner Variationen und Positionen.

Zwar bedient sich Rawls ausgiebig aus dem Methodenarsenal der modernen Sozialwissenschaften und macht von der Entscheidungs- und Spieltheorie reichlichen Gebrauch, jedoch verdankt sich seine politikphilosophische Erneuerungsleistung keinesfalls einer sachlichen Innovation, die Unerhörtes und bislang Ungedachtes zum Ausdruck gebracht hätte. Sie besteht vielmehr in der Wiederherstellung des alten Zutrauens in die normative Leistungsfähigkeit der Philosophie und bietet eine phantasievolle Aufbereitung bekannter Begriffsmuster und Argumentationsformen. Keinem revolutionären Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie bereitet Rawls den Weg, er ist kein Heidegger, kein Wittgenstein der politischen Philosophie; im Gegenteil, sein Ruhm beruht gerade darauf, das alte vertragstheoretische Paradigma der neuzeitlichen politischen Philosophie, das längst ausgemustert und in den geistesgeschichtlichen Archiven verstaut war, wiederbelebt und mit dem Instrumentarium der Spiel- und Sozialwahltheorie modernisiert zu haben. Damit hat er der politischen Philosophie wieder eine Methode und einen stabilen kategorialen Rahmen für systematische rechtfertigungstheoretische Argumentation und problembezogene Prinzipienexplikation verschafft.

Die von Rawls entwickelte, den traditionellen Kontraktualismus methodologisch verfeinernde Theoriekonzeption ist konstruktivistischer Natur. Konstruktivisten erblicken die Aufgabe der politischen Philosophie in der problemgerechten Explikation und Ausdeutung der normativen Orientierungen, der moralisch-rechtlichen Grammatik unseres politischen Selbstverständnisses. Dabei entwickeln sie eine erstaunliche argumentationslogische Phantasie. Denn da kein subsumtionslogisch gerader Weg vom Allgemeinen zum Besonderen führt, muß die Deduktion durch Konstruktion, Explikation und Interpretation ersetzt werden. Es bedarf eines beträchtlichen argumentativkonstruktivistischen Aufwands, um diesen Hiat zu überbrücken und zu zeigen, wie und in welchem Maße die problembezogenen Orientierungsleistungen erbracht und die aufgelaufenen Rechtfertigungsschulden beglichen werden können. Zu diesem Zweck entwickelt die Philosophie beträchtliche konstruktive Phantasie. Als konstruktivistisch bezeichne ich diese Theoriekonzeption auch darum, weil sie in hohem Maße Gebrauch macht von Gedankenexperimenten, Ursprungskonstruktionen und Entwicklungsmodellen, von Sozialmodellen und Personenmodellen und dabei den Traditionsbestand an derartigen explikatorischen Begriffsarrangements immer wieder erneuert, variiert und den veränderten Problemlagen, Erkenntnisinteressen und Fragestellungen anpaßt.

Rawls geht in die hohe Zeit des neuzeitlichen Begründungsdenkens und der emanzipatorischen Programmatik zurück und nimmt den Diskussionsfaden dort wieder auf, wo ihn die politische Philosophie vor dem Beginn der spekulationsfeindlichen und naturrechtlosen Zeiten fallen gelassen hatte. Er knüpft an die politischen Hoffnungen von Aufklärung und Revolution an und will mit einem kühnen methodologischen Sanierungsprogramm das durch Desillusionierung und totalitären Wahn verschlissene und diskreditierte Projekt der Freiheit und Gleichheit wieder herrichten und als Bauplan einer wohlgeordneten Gesellschaft verwenden. Mit der von Rawls bewirkten Renaissance der politischen Philosophie ist also der philosophische Liberalismus wieder auferstanden, die philosophische Reflexionsform emanzipatorischer politischer Modernität. Ungeachtet großer systematischer Differenzen und tiefgreifender politischer und philosophischer Meinungsunterschiede verfolgen Rawls und Dworkin, Nozick und Buchanan, Nagel, Barry und Raz gemeinsam das Programm einer umfassenden Rekonstruktion der normativen Voraussetzungen, kategorialen Grundlagen und Rechtfertigungsideen der klassischen neuzeitlichen politischen Philosophie.

Auf ihre Art arbeiten also auch diese amerikanischen und englischen Liberalen an dem unvollendeten Projekt der Aufklärung. Aber im Gegensatz zum diskursethischen Habermasianismus, der sich erst mühsam über die Stufen der kritischen Theorie und sozialphilosophischen Marxismusrekonstruktion zum bürgerlichen Naturrecht emporarbeiten mußte und noch heute seine Schwierigkeiten mit den unabhängigen und normativ absolut vorrangigen Menschenrechten hat, stand in dem analytisch-konstruktivistischen Theoriemilieu, dem sie alle entstammen, die Gültigkeit der normativen Grundlagen der liberalen und demokratischen Gesellschaft nie in Frage.

Die klassische neuzeitliche politische Philosophie kulminiert in der Rechtsmetaphysik Kants. Und es sind vor allem kantische Motive und Argumente, die die gegenwärtige Erneuerung des Rechts- und Moraluniversalismus bestimmen und eine Konjunktur von egalitaristischen Unparteilichkeitsethiken und prozeduralistischen Gerechtigkeitstheorien ausgelöst haben. Kants Kritik des polizeistaatlichen Wohlfahrtseudämonismus seiner Zeit ist auch das Vorbild für die kritische Auseinandersetzung des Liberalismus mit dem Wohlfahrtsutilitarismus der Gegenwart; und Kants Antiteleologismus steht auch hinter der liberalen Kritik an den kommunitaristischen Versuchen, die Priorität des Rechts zu brechen und politische Theorie und Praxis wieder auf dem kategorialen Fundament des Guten zu errichten. Kants Argumente gegen eine Vollkommenheitsethik und seine freiheitsrechtlich motivierte Kritik des Paternalismus können den Liberalen aller Couleur immer noch sehr nützlich sein, wenn sie sich der verschiedenen neoaristotelischen Einflüsse auf die gegenwärtige praktische Philosophie erwehren wollen. Und wenn die zeitgenössischen Liberalen die sich komplementär als individuelle Autonomie, staatliche Toleranz und weltanschauliche Neutralität manifestierende klassische bürgerliche Freiheitskonzeption aufgreifen und befestigen, wenn sie die modernitätstypische rechtfertigungstheoretische Grundidee nachdrücklich in Erinnerung bringen, daß den freien, gleichen und darum in reziproken normativen Verhältnissen zueinander stehenden Individuen legitim nur allgemein anerkennungsfähige Verhaltensnormierungen und Freiheitseinschränkungen zugemutet werden dürfen, dann erweisen sie sich auch als treue Kantianer.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß dieses Bild von John Rawls als dem Lebensretter der politischen Philosophie mit einer korrigierenden Ergänzung versehen werden. Natürlich ist das politische Denken nie in die Winterstarre gefallen, aus der es von Rawls geweckt worden sein soll. Die Vorstellung, daß die politische Reflexion, die intellektuell-geistige Begleitung des Wandels der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, irgendwann einmal für Jahrzehnte ausgesetzt hat oder je aussetzen könnte, ist schlechthin absurd. Dazu ist das politische Denken viel zu eng mit der sich stets wandelnden Wirklichkeit und den sie spiegelnden Selbstverständigungsdebatten verschwistert. Gleichwohl kann man der These von der Erneuerung der politischen Philosophie durch John Rawls die Berechtigung nicht absprechen. Denn mit ihm wird ein ganz bestimmter Typus von politischer Philosophie wieder lebendig, der sich zum einen durch seine rückhaltlose Bejahung der politischen Moderne und des nachmetaphysischen Denkens von allen ontologischen, modernitätsskeptischen und radikal gesellschaftskritischen Konzeptionen abgrenzt und der sich zum anderen durch seinen analytisch-konstruktivistischen Argumentationsstil und sein anspruchsvolles Begründungsprogramm von all den Gestalten politischer Philosophie unterscheidet, die sich mehr an einem hermeneutischen Erkenntnisprogramm orientieren und vielleicht die ontologisch-polemologische Sonderverfassung der Welt des Politischen aufspüren oder die Metaphern, Symbole und geschichtlichen Signaturen des Politischen begreifen oder nur die Komplexität der vorfindlichen kontingenten politischen Wirklichkeit verstehen wollen.

Anders als Hannah Arendt, anders als Carl Schmitt, Leo Strauss und Eric Voegelin, als Othmar Spann und die diversen Mitglieder der marxistischen Erbengemeinschaft sowie der Frankfurter Schule, anders auch als Michael Oakeshott und Isaiah Berlin knüpft John Rawls an die Philosophiekonzeption der großen politischen Philosophen der Neuzeit an, übernimmt ihr Selbstverständnis und reklamiert normative Kompetenz und philosophische Zuständigkeit für die Gerechtigkeitsdiskurse der politischen Öffentlichkeit. Er nimmt damit ein politikphilosophisches Reflexionsprogramm auf, das die oben genannten Autoren einmütig, aber mit unterschiedlichen Gründen, teils als illusionäres, realitätsunangemessenes Unternehmen, teils als deontologisch überspannten, politikvergessenen Ethizismus, teils aus einer metaphysischen, sich allen modernen Denkverhältnissen verschließenden Grundhaltung heraus, als szientistisch und technisch verkürzten Rationalismus verwerfen.

Diese politische Philosophie, deren immerwährende Anwesenheit die voreingenommenen analytischen Betrachter der politikphilosophischen Diskussionslandschaft nicht davon abgebracht hat, der politischen Philosophie den Totenschein auszustellen, bewegt sich zwischen Sein und Geschichte. Es ist eine dem analytischen Theoriemilieu fremde Tradition. All ihre Gestalten sind dezidiert antideontologisch und normativ überaus zurückhaltend. Viele setzen sich in ihren Beiträgen zur politisch-kulturellen Selbstverständigungsdebatte der Gesellschaft über alle Modernitätskonventionen hinweg und verweigern jedes Einverständnis mit den neuzeitlichen Hintergrundüberzeugungen des normativen Individualismus und des menschenrechtlichen Egalitarismus. Und wenn diese randständige politische Philosophie nicht an modernitätsabgewandter ontologisch-metaphysischer Begründung interessiert ist oder gar mit versöhnungstheologischer Strenge das Bestehende an der Utopie umfassender Erlöstheit zuschanden werden läßt, vertritt sie eine Auffassung von politischer Philosophie, die in engem Kontakt zum wirklichen politischen Leben bleibt und sich durch konkrete Problemlagen herausfordern läßt, die dem optimistischen Rationalismus der Aufklärungsethik und den Abstraktionsidyllen normativer Gerechtigkeitstheorie gründlich mißtraut und sich am geschichtlichen Menschen und seinen verschiedenen partikularen Zugehörigkeiten orientiert, die dem Wesen des Politischen nachspürt und seine Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit gegen moralische Überformung, ökonomische Kolonialisierung und bürokratische Petrifizierung zu schützen versucht. Während diese politische Philosophie also, um Platons suggestive philosophiemethodologische Metapher zu verwenden, in der Höhle der gegebenen Verhältnisse bleibt, tritt der politische Philosoph des rawlsschen Typs seinem Selbstverständnis nach aus der Höhle heraus in die Sonne allgemeinen und gültigen Wissens, um dann in die Höhle zurückzukehren und die dort versammelte Meinungsgesellschaft aufzuklären.

Die von John Rawls in seinem ersten großen Werk wiederbelebte Philosophenrolle ist in ihrer radikalsten Ausprägung in der Tat die des universalistischen Nomotheten, des Verfassungsgebers, der im Verein mit der allgemeinen menschlichen Vernunft von einem archimedischen, gesellschafts- und geschichtsjenseitigen Standort aus eine allgemeingültige Ordnung des menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen und den Menschen die unverrückbaren Grundsätze der Gerechtigkeit zu zeigen versucht. Und diejenigen, die sich mit dieser Aufgabenbeschreibung der politischen Philosophie nicht einverstanden erklären können, sind nicht im mindesten bereit, in das Lob Rawls’ einzustimmen. Gerade die Eigenschaften, die an der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie und allen ihr nachfolgenden Liberalismuskonzeptionen gerühmt werden und ihre philosophische Qualität in den Augen ihrer Anhänger begründen, sind den Kritikern der Rawlsschen Philosophiekonzeption ein Ärgernis. Sie halten sein Rollenverständnis von politischer Philosophie für verderblich und betrachten seinen enormen Einfluß auf die aktuelle Theoriediskussion in der politischen Philosophie als überaus verhängnisvoll.

Der gegenwärtige philosophische Liberalismus verdient ihrer Meinung nach überhaupt nicht das Prädikat einer politischen Philosophie, da er sich durch seine abstrakten Konstruktionen und seinen hochfliegenden Deontologismus den Zugang zur politischen Welt gänzlich verstellt; er ist für sie eine zutiefst unpolitische Philosophie, eine Philosophie der »Entleerung des politischen Lebens«20, die angesichts der drückenden politischen Probleme der Gegenwart ins normative Arkadien des Rechts- und Moraluniversalismus flieht und politisches Handeln grundsätzlich als moralisch angeleitete Herstellung gerechter Verhältnisse von einem geschichtsexternen Standpunkt aus mißversteht. Eine politische Philosophie muß eine Philosophie des politischen Lebens sein, muß der Komplexität des politischen Lebens gewachsen sein und sich in der dilemmatischen Welt des Nichtidealen bewegen können. Der gegenwärtige Neokantianismus und Neokontraktualismus ist in den Augen dieser Freunde des Ethos der »verità effettuale« und eines ungetrübten machiavellischen Tatsachenblicks jedoch ein durch und durch illusionäres Theorieunternehmen, das für die Niederungen des Romulus nicht taugt und einem gänzlich verfehlten Erkenntnisprogramm nachjagt.

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