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Jules Verne

Der Südstern

oder: Das Land der Diamanten

Jules Verne

Der Südstern

oder: Das Land der Diamanten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung und Fußnoten: Jürgen Schulze
Illustrationen: Léon Benett
EV: A. Hartleben, Leipzig, 1886
1. Auflage, ISBN 978-3-962815-15-8

null-papier.de/627

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Inhaltsverzeichnis

Ju­les Ver­ne – Le­ben und Werk

Ers­tes Ka­pi­tel – Rein toll, die­se Fran­zo­sen!

Zwei­tes Ka­pi­tel – Zu den Dia­man­ten­fel­dern

Drit­tes Ka­pi­tel – Ein we­nig Wis­sen­schaft, ge­lehrt in al­ler Freund­schaft.

Vier­tes Ka­pi­tel – Van­der­gaart-Kopje

Fünf­tes Ka­pi­tel – Ers­te Ab­bau­ver­su­che

Sechs­tes Ka­pi­tel – La­ger­ge­bräu­che

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Der Ein­sturz

Ach­tes Ka­pi­tel – Das große Ex­pe­ri­ment

Neun­tes Ka­pi­tel – Eine Über­ra­schung

Zehn­tes Ka­pi­tel – Wo­rin John Wat­kins nach­denkt.

Elf­tes Ka­pi­tel – Der Süd­stern

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Vor­be­rei­tun­gen zum Auf­bruch

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Durch den Trans­vaal

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Im Nor­den des Lim­po­po

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Ein Kom­plott

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Ver­rat

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Eine afri­ka­ni­sche Stee­plecha­se

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel – Ein spre­chen­der Strauß

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel – Die Wun­dergrot­te

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Die Rück­kehr

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Ve­ne­zia­ni­sche Jus­tiz

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Eine Mine ganz neu­er Art

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Un­ter­bro­che­ne Fest­freu­den

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Ein ver­lö­schen­der Stern

Ein Nach­wort

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Ju­les Ver­ne ge­hört zu den Au­to­ren, die je­der schon ein­mal ge­le­sen hat. Eine Be­haup­tung, die man nicht über vie­le Schrift­stel­ler auf­stel­len kann. Die Ge­schich­ten von Ver­ne sind un­ter­hal­tend, lehr­reich und im­mer sehr at­mo­sphä­risch.

In un­re­gel­mä­ßi­ger Fol­ge wird mein Ver­lag die Wer­ke von Ver­ne ver­öf­fent­li­chen – die be­kann­ten wie die un­be­kann­ten. Im­mer in der über­ar­bei­te­ten Er­st­über­set­zung, um den (sprach­li­chen) Ch­ar­me der Zeit bei­zu­be­hal­ten.

Kor­ri­giert und kom­men­tiert wer­den Orts- und Per­so­nen­na­men oder of­fen­sicht­lich falsche An­ga­ben. Sie fin­den die Er­läu­te­run­gen in Fuß­no­ten.

Ich habe es mir auch nicht neh­men las­sen, die ur­sprüng­li­chen Na­men zu ver­wen­den: Aus dem Jo­hann wird so wie­der der ur­sprüng­li­che Jean, aus Lud­wig wie­der Louis und aus Ma­ri­an­ne wie­der Ma­rie. Ich den­ke, das tut den Ge­schich­ten nur gut.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

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Ju­les Ver­ne – Le­ben und Werk

Bei­na­he wäre Klein-Ju­les als Schiffs­jun­ge nach In­di­en ge­fah­ren, hät­te eine Lauf­bahn als See­mann ein­ge­schla­gen und spä­ter un­ter­halt­sa­mes See­manns­garn ge­spon­nen, das ver­mut­lich nie die Drucker­pres­se er­reicht hät­te.

Jules Verne
Ju­les Ver­ne

Ver­liebt in die aben­teu­er­li­che Li­te­ra­tur

Glück­li­cher­wei­se für uns Le­ser hin­dert man ihn dar­an: Der Elf­jäh­ri­ge wird von Bord ge­holt und ver­lebt wei­ter­hin eine be­hü­te­te Kind­heit vor bür­ger­li­chem Hin­ter­grund. Ge­bo­ren am 8. Fe­bru­ar 1828 in Nan­tes, wächst Ju­les-Ga­bri­el Ver­ne in gut si­tu­ier­ten Ver­hält­nis­sen auf. Als äl­tes­ter von fünf Spröss­lin­gen soll er die vä­ter­li­che An­walt­spra­xis über­neh­men, wes­halb er ab 1846 in Pa­ris Jura stu­diert.

Viel span­nen­der fin­det er schon zu die­ser Zeit al­ler­dings die Li­te­ra­tur. Ver­ne freun­det sich so­wohl mit Alex­and­re Du­mas als auch mit sei­nem gleich­na­mi­gen Sohn an. Ge­mein­sam mit Va­ter Du­mas ver­fasst er Opern­li­bret­ti und ers­te dra­ma­ti­sche Wer­ke. Nach dem Ab­schluss sei­nes Stu­di­ums be­schließt er, nicht nach Nan­tes zu­rück­zu­keh­ren, son­dern sich völ­lig der Dra­ma­tik zu wid­men.

Zwar schreibt er nicht ganz er­folg­los – drei sei­ner Er­zäh­lun­gen er­schei­nen in ei­ner li­te­ra­ri­schen Zeit­schrift. Doch zum Le­ben reicht es nicht, wes­halb der jun­ge Au­tor 1852 den Pos­ten ei­nes In­ten­danz-Se­kre­tärs am Théâtre ly­ri­que an­nimmt. Im­mer­hin wird die­se Ar­beit zu­ver­läs­sig ver­gü­tet und Ver­ne darf sich als Dra­ma­ti­ker be­tä­ti­gen. In sei­ner Frei­zeit ver­fasst er wei­ter­hin Er­zäh­lun­gen, wo­bei ihn aben­teu­er­li­che Rei­sen am meis­ten in­ter­es­sie­ren.

Als er 1857 eine Wit­we hei­ra­tet, die zwei Töch­ter in die Ehe mit­bringt, muss sich der Li­te­rat nach ei­ner bes­ser be­zahl­ten Ein­kom­mens­quel­le um­se­hen. Wäh­rend der nächs­ten zwei Jah­re schlägt er sich als Bör­sen­mak­ler durch, wo­bei er ge­nug Zeit fin­det, län­ge­re Schiffs­rei­sen zu un­ter­neh­men, be­vor 1861 sein Sohn Mi­chel ge­bo­ren wird.

Ver­liebt ins li­te­ra­ri­sche Aben­teu­er

Letzt­lich ist es ei­ner be­son­de­ren Be­geg­nung im Jahr 1862 ge­schul­det, dass al­les, was der Au­tor bis­her »geis­tig an­ge­sam­melt« hat, in sei­nen künf­ti­gen Ro­ma­nen kul­mi­nie­ren darf: Der Ju­gend­buch-Ver­le­ger Pier­re-Ju­les Het­zel ver­öf­fent­licht Ver­nes uto­pi­schen Rei­se­ro­man »Fünf Wo­chen im Bal­lon«. Die­ses von ihm oh­ne­hin be­vor­zug­te Su­jet wird den Schrift­stel­ler nie wie­der los­las­sen – die aben­teu­er­li­chen Rei­sen, auf wel­cher Rou­te auch im­mer sie ab­sol­viert wer­den. Het­zel ver­legt Ver­nes noch heu­te be­lieb­tes­te Schrif­ten: 1864 »Rei­se zum Mit­tel­punkt der Erde«, im fol­gen­den Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Rei­se um den Mond« und »Zwan­zig­tau­send Mei­len un­ter dem Meer«. Mit »Rei­se um die Erde in 80 Ta­gen« er­scheint 1872 Ju­les Ver­nes er­folg­reichs­ter Ro­man über­haupt.

Die Zu­sam­men­ar­beit mit Het­zel, der gleich­zei­tig als sein Men­tor fun­giert, sorgt in den spä­ten 1860er Jah­ren da­für, dass der höchst pro­duk­ti­ve Schrift­stel­ler sei­ner Fa­mi­lie ei­ni­gen Wohl­stand bie­ten und sich selbst »ju­gend­traum­haf­te« Rei­se­wün­sche er­fül­len kann. Sein Ver­le­ger stellt ihn nam­haf­ten Wis­sen­schaft­lern vor – in Kom­bi­na­ti­on mit den er­wähn­ten Rei­sen ent­steht auf die­se Wei­se ein un­ge­heu­rer Fun­dus der In­spi­ra­ti­on: Ju­les Ver­nes Zet­tel­kas­ten ent­hält an­geb­lich 25.000 No­ti­zen!

Zwar ist er seit »Rei­se um den Mond« glei­cher­ma­ßen wohl­ha­bend und ge­ach­tet; er en­ga­giert sich seit den spä­ten 1880er Jah­ren so­gar als Stadt­rat in Amiens, wo­hin er 1871 mit sei­ner Fa­mi­lie über­ge­sie­delt war. Der »Rit­ter­schlag« aber bleibt aus: In der Aca­dé­mie françai­se möch­te man den Ju­gend­buch­au­tor nicht ha­ben, er gilt als nicht se­ri­ös ge­nug.

Den Ze­nit sei­nes Schaf­fens hat der Li­te­rat be­reits über­schrit­ten, als er 1888 blei­ben­de Ver­let­zun­gen durch den Schuss­waf­fen-An­griff ei­nes geis­tes­ge­stör­ten Ver­wand­ten da­von­trägt. Den­noch ar­bei­tet der Au­tor un­un­ter­bro­chen wei­ter. Als Ju­les Ver­ne im März 1905 stirbt, hin­ter­lässt er ein ge­wal­ti­ges Ge­samt­werk: 54 zu Leb­zei­ten er­schie­ne­ne Ro­ma­ne, wei­te­re elf Ma­nu­skrip­te be­ar­bei­tet sein Sohn Mi­chel nach dem Tod des Va­ters. Er­gänzt wird Ver­nes Œu­vre durch Er­zäh­lun­gen, Büh­nen­stücke und geo­gra­fi­sche Ver­öf­fent­li­chun­gen.

Ge­liebt und miss­ach­tet

Je­nes zwie­späl­ti­ge Ver­hält­nis, das sich be­reits in der Ab­leh­nung der Aka­de­mie­mit­glie­der äu­ßert, kenn­zeich­net die aka­de­mi­sche Re­zep­ti­on bis heu­te: Ju­les Ver­ne ist eben »nur ein Ju­gend­buch­au­tor«. We­ni­ger be­fan­ge­ne Re­zi­pi­en­ten frei­lich schrei­ben ihm eine ganz an­de­re Be­deu­tung zu, die dem Vi­sio­när und lei­den­schaft­li­chen Er­zäh­ler bes­ser ge­recht wird.

Wenn­gleich der al­tern­de Li­te­rat zum Ende sei­nes Schaf­fens durch­aus nicht mehr in gläu­bi­ger Tech­nik­be­geis­te­rung auf­geht, blei­ben uns doch ge­nau jene Wer­ke in lie­be­vol­ler Erin­ne­rung, in de­nen tech­ni­sche und mensch­li­che Groß­ta­ten die Hand­lung be­stim­men: »Rei­se um die Erde in 80 Ta­gen« oder »Zwan­zig­tau­send Mei­len un­ter dem Meer« bei­spiels­wei­se. Wer als Kind von Nemo und sei­ner Nau­ti­lus liest, wird un­wei­ger­lich ge­fan­gen von die­sem tech­ni­schen Wun­der­werk und des­sen Ka­pi­tän. Ver­nes Ro­ma­ne ge­hö­ren zu je­nen Ju­gend­bü­chern, die man als Er­wach­se­ner ger­ne noch­mals zur Hand nimmt – und man staunt er­neut, er­in­nert sich, lässt sich wie­der­um ein­fan­gen und fragt sich, warum man ei­gent­lich so sel­ten Ver­ne liest…

So wie der Au­tor sich selbst durch Rei­sen und Wis­sen­schaft in­spi­rie­ren lässt, die­nen sei­ne Wer­ke seit je­her der In­spi­ra­ti­on sei­ner Le­ser­schaft. Wie prä­sent die­ser ex­zel­len­te Un­ter­hal­ter in den Köp­fen sei­ner Le­ser bleibt, be­le­gen Be­nen­nun­gen in See- und Raum­fahrt: Das ers­te Atom-U-Boot der Ge­schich­te ist die ame­ri­ka­ni­sche USS Nau­ti­lus. Ein Raum­trans­por­ter der Eu­ro­päi­schen Raum­fahr­t­agen­tur heißt »Ju­les Ver­ne«, ein As­te­ro­id und ein Mond­kra­ter tra­gen eben­falls den Na­men des Schrift­stel­lers. Die »Ju­les Ver­ne Tro­phy« wird seit 1990 für die schnells­te Wel­t­um­se­ge­lung ver­lie­hen, was dem be­geis­ter­ten Jacht­be­sit­zer Ver­ne ge­wiss ge­fal­len hät­te.

Der kom­mer­zi­el­le Li­te­ra­tur­be­trieb so­wie die Film­wirt­schaft be­trach­ten den fran­zö­si­schen Va­ter der Science-Fic­ti­on-Li­te­ra­tur eben­falls mit Wohl­wol­len: Un­zäh­li­ge Neu­auf­la­gen der Ro­man­klas­si­ker, Hör­bü­cher und Ver­fil­mun­gen der ra­san­ten, stets mit­rei­ßen­den Hand­lun­gen spre­chen Bän­de. Mitt­ler­wei­le gel­ten die äl­tes­ten Ver­fil­mun­gen selbst als kul­tu­rel­le Mei­len­stei­ne, die kei­nes­wegs nur ein jun­ges Pub­li­kum er­freu­en.

Ju­les Ver­nes Be­deu­tung für die Li­te­ra­tur

Der Ein­fluss Ver­nes auf nach­fol­gen­de Science-Fic­ti­on-Au­to­ren ist gar nicht hoch ge­nug ein­zu­schät­zen: Aus heu­ti­ger Sicht ist er ei­ner der Vor­rei­ter der uto­pi­schen Li­te­ra­tur Eu­ro­pas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Wel­ten«) und Kurd Laß­witz (»Auf zwei Pla­ne­ten«) das neue Gen­re be­grün­det. Sein­er­zeit gibt es die­sen Be­griff noch nicht, wes­halb Het­zel die Ro­ma­ne sei­nes Er­folgs­schrift­stel­lers als »Au­ßer­ge­wöhn­li­che Rei­sen« ver­mark­tet

Der Fran­zo­se sieht, an­ders als Wells und ähn­lich wie Laß­witz, im tech­ni­schen Fort­schritt das künf­ti­ge Wohl der Mensch­heit be­grün­det. Trotz­dem ist Ju­les Ver­ne vor al­lem Er­zäh­ler: Er will we­der war­nen wie Wells noch be­leh­ren wie Laß­witz, son­dern in ers­ter Li­nie un­ter­hal­ten. Im Ver­gleich zum sprö­den Rea­lis­mus ei­nes Wells wir­ken sei­ne Ro­ma­ne für mo­der­ne Le­ser aus­ufernd, viel­leicht so­gar ge­schwät­zig. Den­noch sind sie leich­ter zu­gäng­lich als das sti­lis­tisch ähn­li­che Schaf­fen des Deut­schen Laß­witz, weil sie Uto­pie und Tech­nik­be­geis­te­rung nicht zum Zweck ih­res In­halts ma­chen, son­dern le­dig­lich zu des­sen Trä­ger: Schließ­lich ist es ein­fach auf­re­gend, in ei­nem Bal­lon eine Welt­rei­se an­zu­tre­ten oder Ka­pi­tän Nemo in sein ge­hei­mes Reich zu fol­gen.

Der Südstern oder Das Land der Diamanten

Der Südstern oder Das Land der Diamanten

Erstes Kapitel

Rein toll, diese Franzosen!

»Re­den Sie, mein Herr, ich höre!«

»Ich er­lau­be mir um die Hand Ih­rer Fräu­lein Toch­ter, der Miss Wat­kins, an­zu­hal­ten.«

»Um die Hand Ali­ces?«

»Ja, mein Herr. Mei­ne Bit­te scheint Sie zu über­ra­schen, doch wer­den Sie ver­zei­hen, wenn ich nur schwer be­grei­fe, warum Ih­nen die­se so au­ßer­or­dent­lich er­schei­nen kann. Ich bin sechs­und­zwan­zig Jah­re alt und hei­ße Cy­pri­en Méré. Mei­nes Stan­des Mi­ne­n­in­ge­nieur, ging ich mit Num­mer zwei aus der po­ly­tech­ni­schen Schu­le ab. Mei­ne Fa­mi­lie ge­nießt ein ver­dien­tes An­se­hen, wenn die­sel­be auch nicht reich ist. Der fran­zö­si­sche Kon­sul in Kap­stadt wür­de das, wenn Sie es wün­schen, be­zeu­gen, er und mein Freund, Pha­ra­mond Bar­thès, der Ih­nen wohl­be­kann­te un­er­schro­cke­ne Jä­ger, des­sen Na­men ganz Gri­qua­land nennt, wür­den es be­kräf­ti­gen kön­nen. Ich be­fand mich jetzt hier im Auf­tra­ge der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und der Re­gie­rung Frank­reichs. Letz­tes Jahr hab’ ich vom In­sti­tut den Preis Houdart für mei­ne Ar­bei­ten über die che­mi­sche Zu­sam­men­set­zung der vul­ka­ni­schen Fel­sen der Au­ver­gne er­run­gen. Mei­ne Ab­hand­lung über das Dia­man­ten­ge­biet des Vaal, wel­che na­he­zu be­en­det ist, wird von der ge­lehr­ten Welt je­den­falls mit Freu­den be­grüßt wer­den. Nach der Heim­kehr von mei­ner Mis­si­on werd’ ich zum Hilfs­leh­rer an der Berg­werks­schu­le von Pa­ris er­nannt wer­den und habe mir schon eine Woh­nung, Uni­ver­si­täts­s­tra­ße Nr. 104, drei Trep­pen, vor­be­hal­ten. Mei­ne Ein­künf­te be­lau­fen sich vom nächs­ten ers­ten Ja­nu­ar ab auf 4800 Fran­cs. Ich weiß, dass das kein Reich­tum ist; doch durch Pri­vat­ar­bei­ten, Un­ter­su­chun­gen, aka­de­mi­sche Prei­se und Mit­ar­beiter­schaft an wis­sen­schaft­li­chen Zei­tun­gen wird sich die­ses Ein­kom­men be­quem ver­dop­peln las­sen. Ich füge hin­zu, dass ich bei mei­ner be­schei­de­nen Le­bens­wei­se nicht mehr brau­che, um glück­lich zu sein. Ich er­lau­be mir also, um die Hand Ihres Fräu­lein Toch­ter, der Miss Wat­kins, an­zu­hal­ten.«

Schon aus dem si­che­ren und ent­schlos­se­nen Tone die­ser An­re­de war leicht zu ent­neh­men, dass Cy­pri­en Méré die Ge­wohn­heit hat­te, in al­len Din­gen ge­ra­de aufs Ziel los­zu­steu­ern und frei von der Le­ber weg zu re­den.

Sein Ge­sichts­aus­druck straf­te die Wir­kung sei­ner Wor­te auch nicht Lü­gen. Es war der ei­nes jun­gen, ge­wohn­heits­ge­mäß mit erns­ten wis­sen­schaft­li­chen Fra­gen be­schäf­tig­ten Man­nes, der den min­der­wer­ti­gen Din­gen die­ser Welt nur die un­um­gäng­lich not­wen­di­ge Zeit op­fert.

Sei­ne kas­ta­ni­en­brau­nen, sehr kurz ge­schnit­te­nen Haa­re, sein blon­der, aber auch kurz ge­hal­te­ner Bart, die Ein­fach­heit sei­nes Rei­se­ko­stüms aus grau­em Zwil­lich, der Stroh­hut für zehn Sous, den er beim Ein­trit­te höf­lich auf einen Stuhl ab­ge­legt hat­te – wäh­rend sein Ge­gen­über mit der ge­wöhn­li­chen Un­ge­niert­heit der an­gel­säch­si­schen Ras­se im­mer den Kopf be­deckt hielt – al­les an Cy­pri­en Méré deu­te­te auf einen ernst­haf­ten Geist, eben­so wie sein kla­rer Blick auf ein rei­nes Herz und un­be­schwer­tes Ge­wis­sen hin­wies.

Hier­bei ver­dient be­merkt zu wer­den, dass der jun­ge Fran­zo­se so voll­kom­men eng­lisch sprach, als habe er sehr lan­ge Zeit in den in­ners­ten Tei­len des bri­tan­ni­schen Kö­nig­reichs ge­wohnt.

In ei­nem Holz­lehn­stuh­le sit­zend, das lin­ke Bein auf ei­nem Stroh­ses­sel aus­ge­streckt, den Ell­bo­gen auf die Ecke ei­nes gro­ben Ti­sches ge­stemmt und ge­gen­über ei­ner Fla­sche mit Gin, nebst ei­nem mit die­ser star­ken al­ko­ho­li­schen Flüs­sig­keit halb­ge­füll­ten Gla­se, hör­te ihn Mr. Wat­kins, eine lan­ge Pfei­fe rau­chend, ge­las­sen an.

Be­klei­det war der Mann mit wei­ßer Hose, ei­ner Wes­te aus gro­ber blau­er Lein­wand und ei­nem gelb­li­chen Fla­nell­hemd ohne Brust­latz und Kra­gen. Un­ter dem ge­wal­ti­gen Filz­hut, der gleich für im­mer auf sei­nem grau­schim­mern­den Schä­del fest­ge­schraubt schi­en, zeig­te sich ein ziem­lich ro­tes, et­was auf­ge­dun­se­nes Ge­sicht, wel­ches wie mit Jo­han­nis­beer­ge­lee ge­füllt er­schi­en. Die­ses we­nig ein­neh­men­de Ge­sicht mit ein­zel­nen Bart­flo­cken war von zwei grau­en Au­gen durch­bohrt, wel­che nicht eben Ge­duld und Wohl­wol­len ver­rie­ten.

Zur Ent­schul­di­gung des Mr. Wat­kins muss frei­lich an­ge­führt wer­den, dass der­sel­be hef­tig an Gicht litt, was ihn eben zwang, den lin­ken Fuß wohl ver­packt zu hal­ten und die Gicht ist – im süd­li­chen Afri­ka eben­so wie in an­de­ren Län­dern – kei­nes­wegs dazu an­ge­tan, den Cha­rak­ter der Leu­te, de­ren Ge­len­ke sie pei­nigt, zu mil­dern.

Der hier ge­schil­der­te Auf­tritt ging im Erd­ge­schoss der Farm des Mr. Wat­kins vor sich, etwa un­ter dem 29. Gra­de süd­li­cher Brei­te und dem 25. Gra­de öst­li­cher Län­ge von Green­wich, an der West­gren­ze des Oran­je-Frei­staa­tes, im Nor­den der eng­li­schen Kap­ko­lo­nie, d. h. in der Mit­te des süd­li­chen oder eng­lisch-hol­län­di­schen Afri­kas. Die­ses Land, des­sen Gren­ze ge­gen den Süd­rand der großen Wüs­te von Kala­ha­ri das rech­te Ufer des Oran­je­flus­ses bil­det, trägt auf äl­te­ren Land­kar­ten noch den Na­men Gri­qua­land; wird aber seit etwa zehn Jah­ren rich­ti­ger »Dia­monds-Field«, das Dia­man­ten­feld, ge­nannt.

Das Zim­mer, in wel­chem die­se di­plo­ma­ti­sche Ver­hand­lung ge­pflo­gen wur­de, war eben­so be­mer­kens­wert we­gen des auf ein­zel­ne Stücke sei­ner Aus­stat­tung ver­schwen­de­ten Lu­xus, wie we­gen der Ärm­lich­keit an­de­rer Tei­le sei­ner Ein­rich­tung. Der Fuß­bo­den zum Bei­spiel be­stand nur aus fest­ge­schla­ge­nem Lehm, war aber da und dort wie­der mit di­cken Tep­pi­chen und kost­ba­rem Pelz­werk be­legt. An den Wän­den, wel­che nie­mals eine Rol­le Ta­pe­ten ken­nen­ge­lernt hat­ten, hing eine pracht­vol­le Pen­du­le in zi­se­lier­tem Kup­fer, rei­che Waf­fen ver­schie­de­nen Fa­bri­kats und bun­te eng­li­sche Bil­der in teu­ren Um­rah­mun­gen. Ein Sam­met­so­fa stand zur Sei­te ei­nes wei­ßen, höl­zer­nen Ti­sches, der mehr für den Ge­brauch in ei­ner Kü­che be­stimmt sein moch­te. Di­rekt von Eu­ro­pa be­zo­ge­ne Lehn­stüh­le streck­ten dem Mr. Wat­kins ver­geb­lich ihre Arm­leh­nen ent­ge­gen, da die­ser ih­nen einen al­ten, einst von ei­ge­ner Hand ge­schnitz­ten Ses­sel vor­zog. Im Gan­zen ver­lieh die­se un­ver­stän­di­ge An­häu­fung von Wert­ge­gen­stän­den, vor­züg­lich aber das Durchein­an­der von Pan­ther-, Leo­par­den-, Gi­raf­fen- und Ti­ger­kat­zen­fel­len, die über al­len Mö­beln aus­ge­brei­tet la­gen, dem Rau­me den Cha­rak­ter ei­ner ge­wis­sen bar­ba­ri­schen Opu­lenz.

Die Ge­stalt der De­cke wies deut­lich dar­auf hin, dass das Haus kein wei­te­res Stock­werk hat­te und nur aus dem Erd­ge­schoss be­stand. Wie alle hier­zu­lan­de, war es zum Teil aus Plan­ken, zum Teil aus Lehm er­rich­tet und mit Zink­wel­len­blech, das auf leich­tem Spar­ren­werk ruh­te, ab­ge­deckt.

Üb­ri­gens sah man, dass die­se Woh­nung erst vor nicht lan­ger Zeit fer­tig ge­wor­den war. Man brauch­te nur durch ei­nes der Fens­ter zur Rech­ten hin­aus­zu­se­hen, um zur Rech­ten und zur Lin­ken fünf oder sechs ver­las­se­ne Bau­lich­kei­ten wahr­zu­neh­men, wel­che sich alle gli­chen, aber von un­glei­chem Al­ter und of­fen­bar dem ra­schen gänz­li­chen Ver­fall preis­ge­ge­ben wa­ren. Die­se bil­de­ten eben­so vie­le Häu­ser, wel­che Mr. Wat­kins nach­ein­an­der ge­baut, be­wohnt und ver­las­sen hat­te, je nach der Zu­nah­me sei­nes Wohl­stan­des, und wel­che also ge­wis­ser­ma­ßen die Stu­fen des­sel­ben be­zeich­ne­ten.

Das ent­le­gens­te war nur aus Ra­sen­stücken er­rich­tet und ver­dien­te kaum den Na­men ei­ner Hüt­te. Das nächst­fol­gen­de be­stand aus Lehm, das drit­te aus Lehm und Plan­ken; das vier­te aus Lehm und Zink. Man sieht hieraus, wie der Fleiß des Mr. Wat­kins ihm ge­stat­tet hat­te, in der Her­stel­lung sei­ner Woh­nung im­mer hö­he­re Zie­le zu ver­fol­gen.

Alle die­se mehr oder we­ni­ger ver­fal­le­nen Bau­lich­kei­ten er­ho­ben sich auf ei­nem klei­nen, nahe dem Zu­sam­men­flus­se des Vaal und der Mod­der – dem Haupt­ar­me des Oran­je­flus­ses in die­sem Tei­le Süd­afri­kas – ge­le­ge­nen Hü­gels. In der Um­ge­bung sah man, so weit der Blick nur reich­te, nach Süd­wes­ten und Nor­den nichts als eine trau­ri­ge, nack­te Ebe­ne. Der Veld – wie man sich im Lan­de aus­drückt – be­steht aus röt­li­chem, tro­ckenem, un­frucht­ba­rem und stau­bi­gem Bo­den, den nur da und dort et­was ma­ge­res Gras be­deckt oder ein Dor­nen­ge­büsch un­ter­bricht. Das völ­li­ge Feh­len von Bäu­men ist der ent­schei­den­de Zug in die­sen Ge­gen­den. Rech­net man hier­zu, dass es eben­so an Stein­koh­le ge­bricht, dass die Ver­bin­dung mit dem Mee­re eine lang­sa­me und be­schwer­li­che ist, so wird man sich nicht wun­dern, dass es hier sehr an Brenn­ma­te­ri­al man­gelt und dass man sich ge­nö­tigt sieht, für häus­li­che Zwe­cke den Mist der Her­den zu ver­feu­ern.

Auf die­sem ein­för­mi­gen Grun­de von wirk­lich jäm­mer­li­chem Aus­se­hen ver­lie­fen die Bet­ten zwei­er Flüs­se, aber so flach, so we­nig ein­ge­dämmt, dass man kaum be­greift, warum sie sich nicht gleich über die gan­ze wei­te Ebe­ne aus­brei­ten.

Ein Mädchen mit einem Präsentierteller trat ein.

Nur nach Os­ten hin wird der Ho­ri­zont durch die ent­fern­ten Gip­fel von zwei Ber­gen, dem Plat­berg und Paar­de­berg, un­ter­bro­chen, an de­ren Fuß ein sehr schar­fes Auge viel­leicht Rauch­säu­len, Staub­wir­bel, klei­ne wei­ße Punk­te – näm­lich Hüt­ten oder Zel­te – und rings­um ein Ge­wim­mel von le­ben­den We­sen er­ken­nen kann.

Hier in die­sem Veld lie­gen die in Aus­beu­tung be­grif­fe­nen Dia­man­ten­gru­ben, der Du Tois Pan, der New Rus­h und, viel­leicht der reichs­te Platz von al­len, die Van­der­gaart-Kopje. Die­se ver­schie­de­nen, frei zu­ta­ge und fast in glei­cher Ebe­ne mit dem Bo­den lie­gen­den Mi­nen, wel­che man un­ter dem Na­men Dry-Dig­gings oder tro­ckene Gru­ben zu­sam­men­fasst, ha­ben seit 1870 Dia­man­ten und an­de­re kost­ba­re Stei­ne im Wer­te von etwa vier­hun­dert Mil­lio­nen ge­lie­fert. Sie lie­gen alle in ei­nem Um­krei­se von höchs­tens zwei bis drei Ki­lo­me­tern, und von den Fens­tern der Farm Wat­kins, wel­che da­von nur vier eng­li­sche1 Mei­len ent­fernt ist, konn­te man sie mit dem Fern­roh­re schon recht deut­lich er­ken­nen.

»Farm« er­scheint hier üb­ri­gens als ein recht un­pas­sen­des Wort, denn auf die­se Nie­der­las­sung an­ge­wen­det, wür­de man in der Um­ge­bung we­nigs­tens ver­geb­lich nach ir­gend­wel­cher Kul­tur ge­sucht ha­ben. Wie alle so­ge­nann­ten Far­mer in Süd­afri­ka war Mr. Wat­kins viel­mehr Schä­fer, d. h. Ei­gen­tü­mer von Och­sen-, Zie­gen- und Schaf­her­den, als wirk­li­cher Lei­ter ei­nes land­wirt­schaft­li­chen Be­triebs.

Mr. Wat­kins hat­te in­zwi­schen noch nicht auf die eben­so höf­li­che, wie be­stimmt aus­ge­spro­che­ne An­fra­ge Cy­pri­en Mérés geant­wor­tet. Nach­dem er sich drei Mi­nu­ten Zeit zur Über­le­gung ge­gönnt, kam er end­lich dazu, die Pfei­fe aus dem Mund­win­kel zu neh­men, und sprach den fol­gen­den Satz aus, der of­fen­bar mit dem An­lie­gen des jun­gen Man­nes in sehr zwei­fel­haf­ter Ver­bin­dung stand.

»Ich glau­be, die Wit­te­rung wird um­schla­gen, lie­ber Herr. Noch nie habe ich von mei­ner Gicht hef­ti­ger zu lei­den ge­habt, als seit heu­te Mor­gen!«

Der jun­ge In­ge­nieur run­zel­te die Au­gen­brau­en, wand­te einen Mo­ment den Kopf ab und muss­te sich wirk­lich zu­sam­men­neh­men, um sei­ne Ent­täu­schung nicht gar zu sehr mer­ken zu las­sen.

»Sie wür­den gut­tun, auf den Gin zu ver­zich­ten, Herr Wat­kins«, ant­wor­te­te er tro­cken, und zeig­te da­bei nach dem Stein­gut­krug, des­sen In­halt die wie­der­hol­ten An­grif­fe des Trin­kers schnell ver­min­der­ten.

»Auf den Gin ver­zich­ten? By Jove, da ge­ben Sie mir einen schö­nen Rat!« rief der Far­mer. »Hat der Gin schon je­mals ei­nem ehr­li­chen Mann Scha­den ge­tan? … Ja, ich weiß schon, wo Sie hin­aus­wol­len! … Sie den­ken mich mit dem Re­zep­te zu be­glücken, das einst ei­nem Lord Mayor2 ver­ord­net wur­de. Wie hieß doch gleich der be­tref­fen­de Arzt? Aber­ne­t­hy, glau­be ich. ›Wol­len Sie sich wohl be­fin­den‹, sag­te die­ser zu dem an Gicht lei­den­den Pa­ti­en­ten, ›so le­ben Sie für einen Shil­ling täg­lich und ver­die­nen Sie sich die­sen durch kör­per­li­che Ar­beit!‹ – Das ist ja ganz gut und schön! Aber bei dem Hei­le un­se­res al­ten Eng­land, wenn man, um ge­sund zu blei­ben, für einen Shil­ling täg­lich le­ben soll­te, wozu hät­te man sich dann über­haupt ein Ver­mö­gen er­wor­ben? Sol­che Dumm­hei­ten sind ei­nes Man­nes von Geist, wie Sie, Herr Méré, un­wür­dig! … Bit­te, spre­chen wir nicht mehr da­von. Was mich an­geht, hal­ten Sie sich über­zeugt, dass ich dann lie­ber gleich in die Gru­be fah­ren wür­de! Gut es­sen, tüch­tig trin­ken, eine gute Pfei­fe rau­chen, wenn mir die Lust dazu an­kommt, eine an­de­re Freu­de ken­ne ich auf der Welt nicht, und die­ser wol­len Sie mich noch be­rau­ben!?«

»Oh, das lag mir ge­wiss gänz­lich fern«, er­wi­der­te Cy­pri­en of­fen­her­zig. »Ich er­in­ner­te Sie nur an eine ge­sund­heit­li­che Vor­schrift, wel­che mir rich­tig er­schi­en. Doch schwei­gen wir von die­sem The­ma, wenn Sie es wün­schen, Herr Wat­kins, und kom­men wir lie­ber auf den ei­gent­li­chen Grund mei­nes heu­ti­gen Be­su­ches zu­rück.«

So wort­reich Mr. Wat­kins eben noch ge­we­sen war, ver­fiel er jetzt doch so­gleich in merk­wür­di­ges Still­schwei­gen und blies stumm Rauch­wol­ken in die Luft.

Da öff­ne­te sich die Tür. Mit ei­nem Gla­se auf sil­ber­nem Prä­sen­tier­tel­ler trat eben ein jun­ges Mäd­chen ins Zim­mer.

Das hüb­sche Kind, der die große, auf den Far­men des Veld be­lieb­te Hau­be ganz rei­zend stand, war mit ei­nem ein­fa­chen, klein­ge­blüm­ten Lei­nen­klei­de an­ge­tan. Neun­zehn bis zwan­zig Jah­re alt, von sehr zar­tem Teint, mit schö­nem blon­den, sehr fei­nem Haar, großen blau­en Au­gen und sanf­ten, aber hei­te­ren Zü­gen, war sie ein Bild der Ge­sund­heit, der Gra­zie und des fro­hen Le­bens­mu­tes.

»Gu­ten Tag, Herr Méré«, sag­te sie auf fran­zö­sisch, aber mit leich­tem eng­li­schen An­klan­ge.

»Gu­ten Tag, Fräu­lein Ali­ce«, ant­wor­te­te Cy­pri­en Méré, der sich bei dem Ein­trit­te des jun­gen Mäd­chens er­ho­ben und vor ihr ver­neigt hat­te.

»Ich hat­te Sie kom­men se­hen, Herr Méré«, fuhr Miss Wat­kins fort, wo­bei sie un­ter lie­bens­wür­di­gem Lä­cheln die schö­nen wei­ßen Zäh­ne se­hen ließ, »und da ich weiß, dass Sie den ab­scheu­li­chen Gin mei­nes Va­ters nicht lie­ben, brin­ge ich Ih­nen ein Glas Oran­ge­ade, mit dem Wun­sche, dass es schön frisch sein möge.«

»Sehr lie­bens­wür­dig von Ih­nen, mein Fräu­lein.«

»Ah, da fällt mir ein, den­ken Sie sich, was Da­da, mein Strauß, heu­te ver­zehrt hat«, fuhr sie un­be­fan­gen fort. »Mei­ne El­fen­bein­ku­gel zum Aus­bes­sern der St­rümp­fe. Und die war üb­ri­gens ziem­lich groß. Sie ken­nen sie ja, Herr Méré, ich er­hielt sie erst di­rekt vom Bil­lard in New Rush … Und die­ser Viel­fraß, die Da­da, hat sie ver­schluckt, als wenn’s eine Pil­le wäre! Wahr­lich, die­ses böse Tier wird mich noch frü­her oder spä­ter vor Är­ger um­brin­gen.«

Wäh­rend sie so sprach, be­wahr­te Miss Wat­kins im Win­kel ih­rer blau­en Au­gen einen klei­nen lus­ti­gen Strahl, der nicht auf be­son­de­re Lust, jene düs­te­re Vor­her­sa­ge, nicht ein­mal spä­ter, zu recht­fer­ti­gen, hin­wies. Mit dem den Frau­en ei­ge­nen Fein­ge­fühl be­merk­te sie doch sehr bald das Still­schwei­gen ih­res Va­ters und des jun­gen In­ge­nieurs, so­wie de­ren of­fen­bar in­fol­ge ih­rer Ge­gen­wart ver­le­ge­nen Mie­nen.

»Es sieht ja aus, als ob ich die Her­ren be­läs­tig­te«, sag­te sie; »Sie wis­sen, dass ich so­fort gehe, wenn Sie Ge­heim­nis­se ha­ben, die für mein Ohr nicht be­stimmt sind. Üb­ri­gens hab’ ich auch gar kei­ne Zeit üb­rig. Ich muss noch eine So­na­te üben, be­vor ich das Es­sen zu­recht­ma­che. Ja, ich sehe schon, Sie sind heu­te zum Plau­dern nicht auf­ge­legt, mei­ne Her­ren! – Gut, ich über­las­se Sie Ihren schwar­zen An­schlä­gen!«

Da­mit ging sie schon hin­aus, kehr­te je­doch noch ein­mal um und sag­te ge­las­sen, ob­wohl sie einen sehr erns­ten Ge­gen­stand be­rühr­te:

»Wenn Sie mich nun über den Sau­er­stoff fra­gen wol­len, Herr Méré, ste­he ich gern zu Ih­rer Ver­fü­gung. Das Ka­pi­tel der Che­mie, wel­ches Sie mir zum Ler­nen auf­ga­ben, hab’ ich nun drei­mal durch­ge­nom­men, und je­ner ›gas­för­mi­ge, farb-, ge­ruch- und ge­schmack­lo­se Kör­per‹ hat für mich kein Ge­heim­nis mehr.«

Da­bei mach­te Miss Wat­kins eine gra­zi­öse Ver­beu­gung und ver­schwand wie ein lich­ter Me­te­or.

Gleich dar­auf er­klan­gen aus ei­nem ent­fern­ten Zim­mer her die Ak­kor­de ei­nes vor­treff­li­chen Pia­nos und ver­rie­ten, dass das jun­ge Mäd­chen mit al­lem Ei­fer ih­ren mu­si­ka­li­schen Übun­gen ob­lag.

»Nun also, Herr Wat­kins«, nahm Cy­pri­en, dem die­se lieb­li­che Er­schei­nung sei­ne Fra­ge wie­der in Erin­ne­rung ge­ru­fen hat­te, wenn er sie über­haupt hät­te ver­ges­sen kön­nen, das Wort, »wol­len Sie mir ge­fäl­ligst Ant­wort ge­ben auf die Fra­ge, wel­che ich die Ehre hat­te, an Sie zu rich­ten?«

Mr. Wat­kins nahm die Pfei­fe fei­er­lichst aus dem Mund­win­kel, spuck­te ein­mal auf die Erde aus, und warf dann schnell den Kopf zu­rück, wäh­rend sei­ne Au­gen einen for­schen­den Blick auf den jun­gen Mann schos­sen.

»Soll­ten Sie, Herr Méré«, frag­te er, »mit ihr zu­fäl­lig schon da­von ge­spro­chen ha­ben?«

»Ge­spro­chen, wor­über? … Ge­gen wen?«

»Über das, was Sie eben sag­ten? … Ge­gen mei­ne Toch­ter?«

»Für wen hal­ten Sie mich, Herr Wat­kins!« er­wi­der­te der jun­ge In­ge­nieur mit ei­ner Wär­me, die kei­nen Zwei­fel auf­kom­men ließ. »Ich bin Fran­zo­se, Herr Wat­kins! … Ich brau­che Ih­nen also wohl nicht zu ver­si­chern, dass ich mir nie er­laubt ha­ben wür­de, ohne Ihre Zu­stim­mung ge­gen Ihr Fräu­lein Toch­ter von ei­ner Ver­hei­ra­tung zu spre­chen!«

Mr. Wat­kins’ Blick wur­de wie­der sanf­ter, und da­mit schi­en sich auch sei­ne Zun­ge bes­ser zu lö­sen.

»Das ist am bes­ten! … Brav, jun­ger Mann! Ich er­war­te von Ih­rer Dis­kre­ti­on ge­gen­über Ali­ce nichts an­de­res!« ant­wor­te­te er in ziem­lich tro­ckenem Tone. »Und da man zu Ih­nen Ver­trau­en ha­ben kann, wer­den Sie mir Ihr Wort ge­ben, ihr in Zu­kunft auch nichts da­von zu er­wäh­nen.«

»Und warum, mein Herr?«

»Weil die­se Hei­rat un­mög­lich und es am bes­ten ist, wenn Sie die­sel­be gänz­lich aus Ihren Plä­nen strei­chen«, ant­wor­te­te Mr. Wat­kins. »Sie sind ein eh­ren­wer­ter jun­ger Mann, Herr Méré, ein voll­kom­me­ner Gent­le­man, ein aus­ge­zeich­ne­ter Che­mi­ker, ein her­vor­ra­gen­der Leh­rer Ihres Fa­ches, von großer Zu­kunft – dar­an zweifle ich nicht im min­des­ten – mei­ne Toch­ter aber wer­den Sie nicht er­hal­ten, aus dem ein­fa­chen Grun­de, weil ich be­züg­lich der­sel­ben ganz an­de­re Ab­sich­ten habe.«

»In­des, Herr Wat­kins …«

»Kom­men Sie nicht dar­auf zu­rück … Es wäre un­nütz! …« er­wi­der­te der Far­mer. »Und wä­ren Sie Her­zog und Pair von Eng­land, so wür­den Sie mir doch nicht pas­sen. Nun sind Sie nicht ein­mal eng­li­scher Un­ter­tan und er­klä­ren eben mit größ­ter Un­be­fan­gen­heit, dass Sie auch kein Ver­mö­gen be­sit­zen. Nun auf­rich­tig, glau­ben Sie, ich hät­te mei­ne Ali­ce so er­zo­gen, wie es ge­sche­hen ist, hät­te ihr die bes­ten Leh­rer von Vic­to­ria und Bloëm­fon­tain ge­hal­ten, um sie mit kaum vollen­de­tem zwan­zigs­ten Jah­re aus dem Hau­se zu schi­cken, um in Pa­ris, Uni­ver­si­täts­s­tra­ße, im drit­ten Stock­wer­ke zu le­ben, und das mit ei­nem Man­ne, des­sen Spra­che ich nicht ein­mal ver­ste­he? … Über­le­gen Sie sich das, mein Herr Méré, und den­ken Sie sich an mei­ne Stel­le! … Neh­men Sie an, Sie wä­ren der Far­mer John Wat­kins, Ei­gen­tü­mer der Mine der Van­der­gaart-Kopje, und ich, ich wäre Herr Cy­pri­en Méré, ein jun­ger fran­zö­si­scher Ge­lehr­ter, der zu For­schungs­zwe­cken nach dem Kap der Gu­ten Hoff­nung ge­kom­men wäre. Ma­len Sie sich’s aus, Sie sä­ßen hier im Zim­mer, in mei­nem Lehn­stuh­le, und schlürf­ten Ihren Gin bei ei­ner Pfei­fe, des bes­ten Ham­bur­ger Ta­baks; wür­den Sie dann eine Mi­nu­te, ja nur eine ein­zi­ge, dar­an den­ken, Ihre Toch­ter un­ter die­sen Ver­hält­nis­sen hei­ra­ten zu las­sen?«

»Ganz ge­wiss, Herr Wat­kins«, ant­wor­te­te Cy­pri­en, und ohne zu zö­gern, »wenn ich an Ih­nen die­je­ni­gen Ei­gen­schaf­ten ge­fun­den zu ha­ben glaub­te, wel­che das Le­bens­glück mei­nes Kin­des ge­währ­leis­ten könn­ten.«

»So! Dann tä­ten Sie un­recht, mein lie­ber Herr, sehr un­recht!« er­wi­der­te Mr. Wat­kins. »Sie han­del­ten dann wie ein Mensch, der nicht wür­dig wäre, die Mine von Van­der­gaart-Kopje zu be­sit­zen, oder Sie könn­ten die­se viel­mehr gar nicht be­sit­zen. Denn glau­ben Sie viel­leicht, sie wäre mir als ge­bra­te­ne Tau­be zu­ge­flo­gen? Mei­nen Sie etwa, es hät­te kei­ner In­tel­li­genz, kei­nes ei­ser­nen Flei­ßes be­durft, um sie an­zu­le­gen und vor­züg­lich mir de­ren Be­sitz zu si­chern? … Nun also, Herr Méré, die­se ver­stän­di­ge Ein­sicht, von wel­cher ich da­mals, bei je­ner denk­wür­di­gen und ent­schei­den­den An­ge­le­gen­heit Be­wei­se an den Tag ge­legt habe, zie­he ich gern bei al­len Vor­komm­nis­sen mei­nes Le­bens zu Rate, und vor­züg­lich dann, wenn die­se auch mei­ne Toch­ter be­tref­fen. Eben des­halb aber wie­der­ho­le ich Ih­nen, strei­chen Sie die­se Plä­ne aus Ihren Pa­pie­ren. Ali­ce ist nicht für Sie ge­schaf­fen!«

Nach die­sen mit tri­um­phie­ren­dem Tone aus­ge­spro­che­nen Schluss­wor­ten er­griff Mr. Wat­kins sein Glas und tat dar­aus einen herz­haf­ten Zug.

Der jun­ge In­ge­nieur war wie vom Don­ner ge­rührt und wuss­te kei­ne Ant­wort zu fin­den. Als der Far­mer das be­merk­te, trieb er ihn noch wei­ter in die Enge.

»Sie sind doch son­der­ba­re Schwär­mer, die Fran­zo­sen!« fuhr er fort; »sie hal­ten wahr­lich gar nichts für un­mög­lich. Sie kom­men an, als wenn sie vom Mon­de her­ab­ge­fal­len wä­ren, er­schei­nen im Her­zen vom Gri­qua­land bei ei­nem grund­ehr­li­chen Man­ne, der bis vor drei Mo­na­ten noch kein Ster­bens­wört­chen von ih­nen ge­hört, und den sie selbst kaum zehn­mal in die­sen neun­zig Ta­gen ge­se­hen ha­ben. Sie su­chen den­sel­ben auf und sa­gen ohne Um­stän­de zu ihm: ›John Staple­ton Wat­kins, Sie ha­ben eine rei­zen­de, vor­treff­lich er­zo­ge­ne Toch­ter, wel­che all­ge­mein als die Per­le des gan­zen Lan­des an­ge­se­hen wird, und die, was nicht eben schäd­lich ist, Ihre ein­zi­ge Er­bin zu der reichs­ten Dia­mant-Kopje der bei­den Wel­ten ist! Ich, ich bin Cy­pri­en Méré, In­ge­nieur aus Pa­ris, und habe 4800 Fran­cs jähr­li­ches Ein­kom­men! … Sie wer­den mir also ge­fäl­ligst die­se jun­ge Dame als Gat­tin über­las­sen, da­mit ich sie in mei­ne Hei­mat ent­füh­re, und Sie nichts wie­der von ihr hö­ren – höchs­tens aus der Fer­ne durch die Post oder den Te­le­gra­fen …‹ Und das wür­den Sie na­tür­lich fin­den? … Ich, ich hal­te es für die rei­ne Toll­heit!«

Ganz bleich ge­wor­den, hat­te Cy­pri­en sich er­ho­ben. Er er­griff sei­nen Hut und be­rei­te­te sich, fort­zu­ge­hen.

Der Weg führt über diesen Kamm.

»Ja, die rei­ne Toll­heit«, wie­der­hol­te der Far­mer. »Ah, ich über­zu­cke­re die Pil­le nicht, jun­ger Freund. Ich bin eben Eng­län­der von al­tem Schrot und Korn. Wie Sie mich hier se­hen, bin ich zwar ge­nau so arm ge­we­sen wie Sie, ja, ei­gent­lich noch weit är­mer. Ich habe mich in al­lem ver­sucht! … Ich war Schiffs­jun­ge an Bord ei­nes Han­dels­schif­fes; war Büf­fel­jä­ger in Da­ko­ta, Mi­nen­grä­ber in Ari­zo­na, Schaf­hirt im Trans­vaal! … Ich habe Hit­ze und Käl­te, Hun­ger und Stra­pa­zen ken­nen­ge­lernt! Im Schwei­ße mei­nes An­ge­sichts habe ich zwan­zig lan­ge Jah­re hin­durch das biss­chen Zwie­back ver­dient, das mein Mit­tags­mahl bil­de­te. Als ich die se­li­ge Mistreß Wat­kins, die Mut­ter Ali­ces und die Toch­ter ei­nes Bu­ren von fran­zö­si­scher Ab­stam­mung wie Sie3 – um Ih­nen das bei­läu­fig mit­zu­tei­len – hei­ra­te­te, hat­ten wir bei­de zu­sam­men nicht so viel, um eine Zie­ge er­näh­ren zu kön­nen! Aber ich habe ge­ar­bei­tet … habe nie den Mut sin­ken las­sen! Jetzt bin ich reich und den­ke die Früch­te mei­ner An­stren­gun­gen ge­mäch­lich zu ge­nie­ßen. – Mei­ne Toch­ter will ich je­den­falls in der Nähe be­hal­ten – um mich bei den ver­teu­fel­ten Gicht­an­fäl­len zu pfle­gen und mir des Abends zum Zeit­ver­treib et­was vor­zu­spie­len! … Wenn sich die­sel­be je­mals ver­hei­ra­tet, so wird das hier an Ort und Stel­le sein, und mit ei­nem Soh­ne des Lan­des, der ihr ein ent­spre­chen­des Ver­mö­gen zu­bringt, der Far­mer oder Dia­man­ten­grä­ber ist, wie wir an­de­re, und der mir nicht da­von spricht, fort­zu­ge­hen, um im drit­ten Stock­werk am Hun­ger­tu­che zu na­gen in ei­nem Lan­de, wo­hin ich doch nim­mer­mehr einen Fuß set­zen wer­de. Sie könn­te zum Bei­spiel den Ja­mes Hil­ton oder einen an­de­ren Bur­schen sei­nes Schla­ges zum Man­ne neh­men. An Be­wer­bern fehlt es ihr nicht, das dür­fen Sie mir aufs Wort glau­ben. Kurz, es muss ein gu­ter Eng­län­der sein, der nicht vor ei­nem Gla­se Gin Reiß­aus nimmt und der mir Ge­sell­schaft leis­tet, wenn ich eine Pfei­fe Knas­ter rau­che.«

Es war eine arge, zusammengelaufene Gesellschaft.

Cy­pri­en hat­te schon die Hand auf den Drücker der Türe ge­legt, um die­sen Raum zu ver­las­sen, in dem er fast er­stick­te.

»Na, nichts für un­gut!« rief ihm Mr. Wat­kins zu. »Ich habe ge­gen Ihre Per­son sonst ge­wiss nicht das Ge­rings­te, lie­ber Méré, und wer­de Sie im­mer gern als Ab­mie­ter und Freund in mei­nem Hau­se se­hen. Halt, war­ten Sie ein­mal, heut’ abend wer­den ge­ra­de ei­ni­ge Per­so­nen zu uns zu Ti­sche kom­men … wol­len Sie uns viel­leicht Ge­sell­schaft leis­ten? …«

»Nein, ich dan­ke, Herr Wat­kins!« ant­wor­te­te Cy­pri­en kühl. »Ich muss bis zum Ab­gan­ge der Post mei­ne Kor­re­spon­denz fer­tig­stel­len.«

Da­mit ver­ließ er leicht grü­ßend den gicht­brü­chi­gen Far­mer.

»Rein toll, die­se Fran­zo­sen … rein toll!« wie­der­hol­te noch öf­ter Mr. Wat­kins, wäh­rend er mit ei­nem, ihm stets zur Hand lie­gen­den Schwe­fel­fa­den sei­ne Pfei­fe wie­der in Brand setz­te.

Und mit ei­nem tüch­ti­gen Gla­se Gin such­te er sich wie­der voll­stän­dig in Ord­nung zu brin­gen.


  1. Die eng­li­sche Mei­le misst 1609 Me­ter.  <<<

  2. Ober­bür­ger­meis­ter  <<<

  3. Eine große An­zahl von Bu­ren oder afri­ka­ni­schen Hol­län­der-Bau­ern stam­men ur­sprüng­lich von Fran­zo­sen ab, wel­che in­fol­ge der Auf­he­bung des Edikts von Nan­tes erst nach Hol­land und dann nach dem Kap aus­wan­der­ten.  <<<

Zweites Kapitel

Zu den Diamantenfeldern

Was dem jun­gen In­ge­nieur in der ihm von Mr. Wat­kins zu­teil ge­wor­de­nen Er­wi­de­rung auf sei­nen An­trag am meis­ten zu Her­zen ging, war der Um­stand, dass die­sel­be – von der Rau­heit ih­rer Form ein­mal ab­ge­se­hen – im Grun­de gar nicht so un­ge­recht­fer­tigt er­schi­en. Bei nä­he­rer Über­le­gung er­staun­te er jetzt selbst, nicht schon vor­her die Ein­wen­dun­gen er­wo­gen zu ha­ben, die ihm der Far­mer fast not­wen­dig ma­chen wür­de, und wun­der­te sich, wie er sich über­haupt ei­ner sol­chen Zu­rück­wei­sung aus­zu­set­zen ver­mocht hat­te.

In der Tat hat­te er frei­lich bis zum jet­zi­gen Au­gen­bli­cke nie­mals an die Kluft ge­dacht, die ihn we­gen des Un­ter­schie­des in Ver­mö­gens­ver­hält­nis­sen, Ab­stam­mung, Er­zie­hung und Um­gang von dem jun­gen Mäd­chen trenn­te. Schon seit fünf bis sechs Jah­ren ge­wöhnt, die Mi­ne­ra­li­en nur von rein wis­sen­schaft­li­chem Stand­punk­te zu be­trach­ten, be­sa­ßen z. B. Dia­man­ten in sei­nen Au­gen nur den Wert ei­gen­tüm­li­cher Exem­pla­re von Koh­len­stoff­kör­pern, die nur dazu ge­schaf­fen schie­nen, in den Samm­lun­gen der Berg­werks­schu­le ih­ren Platz aus­zu­fül­len. Da er in Frank­reich über­dem eine die der Fa­mi­lie Wat­kins weit über­ra­gen­de so­zia­le Stel­lung ein­nahm, hat­te er den kauf­män­ni­schen Wert der im Be­sitz des rei­chen Far­mers be­find­li­chen Fund­stät­te ganz aus den Au­gen ver­lo­ren. In­fol­ge­des­sen war ihm auch nie­mals in den Sinn ge­kom­men, dass zwi­schen der Toch­ter des Ei­gen­tü­mers der Van­der­gaart-Kopje und ihm als fran­zö­si­schen In­ge­nieur ein tren­nen­des Miss­ver­hält­nis herr­schen kön­ne. Selbst wenn die­se Fra­ge vor ihm auf­ge­taucht wäre, wür­de er, in sei­nem ge­wohn­ten Vor­stel­lungs­gan­ge als Pa­ri­ser und ehe­ma­li­ger Zög­ling der be­rühm­ten po­ly­tech­ni­schen Schu­le da­selbst wahr­schein­lich zu dem Schlus­se ge­langt sein, dass viel­mehr er mit je­ner Be­wer­bung einen Schritt tue, der ihn nahe an eine »Me­sal­lian­ce«1 führ­te.

Die ganz un­ver­blüm­te Straf­pre­digt des Mr. Wat­kins riss ihn jetzt sehr schmerz­lich aus sei­nen Träu­men. Cy­pri­en be­saß je­doch viel zu viel nüch­ter­nen Men­schen­ver­stand, um die sach­li­chen Ein­wür­fe der­sel­ben nicht ge­büh­rend zu wür­di­gen, und viel zu viel Ehren­haf­tig­keit, um sich durch eine Ent­schei­dung, die er im Grun­de für rich­tig an­er­kann­te, be­lei­digt zu füh­len.

Der Schlag, den ihm jene ver­setz­te, wur­de des­halb frei­lich nicht min­der emp­find­lich, und ge­ra­de jetzt, wo er auf Ali­ce ver­zich­ten soll­te, be­merk­te er plötz­lich de­sto deut­li­cher, wie lieb und wert ihm die­se wäh­rend der ver­flos­se­nen drei Mo­na­te ge­wor­den war. In der Tat kann­te Cy­pri­en Méré das jun­ge Mäd­chen seit kaum drei Mo­na­ten, d. h. seit sei­ner An­kunft im Gri­qua­land.

Wie fern lag ihm das jetzt schon al­les! Er sah sich noch, nach ei­ner durch Hit­ze und Staub höchst be­schwer­li­chen Lan­drei­se am Zie­le sei­ner lan­gen Fahrt von ei­ner Erd­halb­ku­gel zur an­de­ren ein­tref­fen.

Nach­dem er mit sei­nem Freun­de Pha­ra­mond Bar­thès – ei­nem al­ten Stu­dien­ge­nos­sen, der nun schon zum drit­ten Male einen Jagd­aus­flug nach dem süd­li­chen Afri­ka un­ter­nahm – ge­lan­det, hat­te sich Cy­pri­en be­reits am Kap von die­sem ge­trennt. Pha­ra­mond Bar­thès war nach dem Lan­de der Bas­su­tos auf­ge­bro­chen, um dort eine klei­ne Schar be­waff­ne­ter Ne­ger an­zu­wer­ben, die ihn bei sei­nen Jag­d­ex­pe­di­tio­nen be­glei­ten soll­ten. Cy­pri­en da­ge­gen hat­te in dem mit sie­ben Paar Pfer­den be­spann­ten schwer­fäl­li­gen Wa­gen Platz ge­nom­men, der auf den Stra­ßen des Veld als Po­stom­ni­bus dient, und war nach dem ei­gent­li­chen Dia­man­ten­ge­bie­te ge­reist.

Fünf oder sechs große Kis­ten und Kof­fer – ein voll­stän­di­ges che­mi­sches und mi­ne­ra­lo­gi­sches La­bo­ra­to­ri­um ber­gend, von dem er sich nicht gern hat­te tren­nen wol­len – bil­de­ten das Rei­se­ge­päck des jun­gen Ge­lehr­ten. Die Post­kut­sche ge­stat­tet je­dem Rei­sen­den aber nicht, mehr als fünf­zig Kilo an Ef­fek­ten mit sich zu füh­ren, und so war er ge­zwun­gen ge­we­sen, sei­ne kost­ba­ren Kof­fer ei­nem Büf­fel­fuhr­werk an­zu­ver­trau­en, das die­sel­ben je­den­falls mit ganz me­ro­win­gi­scher Lang­sam­keit nach dem Gri­qua­lan­de be­för­dern soll­te.

Der Post­wa­gen, wie ge­sagt eine Art zwölf­sit­zi­ger Om­ni­bus mit Lein­wand­pla­ne, war auf ei­nem ro­hen Ge­stell mit vier un­ge­heu­ren Rä­dern auf­ge­baut, wel­che im­mer von dem Was­ser der Fluss­läu­fe, die durch eine Furt pas­siert wur­den, nass blie­ben. Die paar­wei­se vor­ge­spann­ten Pfer­de, wel­che im Not­fall noch durch Maul­tie­re Un­ter­stüt­zung fan­den, wur­den von zwei auf dem Bo­cke ne­ben­ein­an­der­sit­zen­den Kut­schern mit großer Ge­schick­lich­keit ge­lei­tet; der eine Kut­scher führt da­bei die Zü­gel, wäh­rend der an­de­re mit Hil­fe ei­ner sehr lan­gen, mehr ei­ner An­gel­ru­te mit Schnur glei­chen­den Bam­bus­peit­sche das Ge­spann nicht nur nach­hal­tig an­treibt, son­dern es auch gleich­zei­tig mit len­ken hilft.

Die Stra­ße ver­läuft über Beau­fort, eine hüb­sche, am Fuße der Nieu­weld-Ber­ge er­bau­te Stadt, über den Kamm der letz­te­ren, wen­det sich dann nach Vic­to­ria und führt end­lich nach Ho­pe­town – der Stadt der Hoff­nung – am Ufer des Oran­je­flus­ses, und von da nach Kim­ber­ley und nach den be­deu­tends­ten Dia­man­ten­fund­stät­ten, wel­che nur we­ni­ge Mei­len da­von ent­fernt sind.

Durch den öden Veld hat man eine trau­ri­ge, höchst ein­för­mi­ge Fahrt von acht bis neun Ta­gen. Die Land­schaft bie­tet fast über­all einen ge­ra­de­zu trost­lo­sen An­blick – röt­li­che Ebe­nen, mit ähn­lich wie Mo­rä­nen dar­auf ver­streu­ten Stei­nen, graue Fels­mas­sen im Ni­veau des Erd­bo­dens, gelb­li­ches, spär­li­ches Gras und halb­ver­hun­ger­te Ge­sträu­che, das ist al­les! Nir­gends eine Spur von Kul­tur oder na­tür­li­chem Reiz. In wei­te­ren Zwi­schen­räu­men eine elen­de Farm, de­ren In­ha­ber, wenn er von der Re­gie­rung die Lan­des­kon­zes­si­on er­hält, auch die Ver­pflich­tung über­nimmt, Rei­sen­de zu ver­pfle­gen. Das ge­schieht frei­lich nur in der pri­mi­tivs­ten Wei­se. In die­sen ei­gen­tüm­li­chen Her­ber­gen gibt es we­der Bet­ten für die Men­schen noch La­ger­stät­ten für die Pfer­de; höchs­tens ei­ni­ge Büch­sen mit kon­ser­vier­ten Nah­rungs­mit­teln, die wo­mög­lich schon ein paar­mal die Fahrt um die Erde mit­ge­macht ha­ben, und die man fast mit Gold auf­wie­gen muss.

In­fol­ge­des­sen wer­den die Zug­tie­re in den Ebe­nen frei­ge­las­sen, um sich selbst Fut­ter zu su­chen, wo­von sie in­des nur ma­ge­re Gras­bü­schel zwi­schen den Feld­stei­nen fin­den. Wenn die Fahrt dann wei­ter­ge­hen soll, macht es nicht ge­rin­ge und mit ziem­li­chem Zeit­ver­lust ver­knüpf­te Mühe, jene wie­der ein­zu­fan­gen.

Und wel­che Stö­ße gibt es in dem höchst pri­mi­ti­ven Wa­gen auf den noch pri­mi­ti­ver­en We­gen! Die Sit­ze wer­den ein­fach von den Kas­ten­de­cken ge­bil­det, wel­che zur Un­ter­brin­gung der Ge­päck­stücke die­nen und auf de­nen der un­glück­li­che In­sas­se eine end­los lan­ge Wo­che lang die Rol­le ei­ner Mör­ser­keu­le spielt. Wie zur Wie­der­ver­gel­tung rau­chen die Rei­sen­den Tag und Nacht wie Fa­brik­schlo­te, trin­ken un­mä­ßig und spei­en nach Be­lie­ben aus. An ein er­qui­cken­des Schla­fen ist un­ter sol­chen Um­stän­den na­tür­lich nicht zu den­ken.

Cy­pri­en Méré be­fand sich also hier in Ge­sell­schaft ei­ner aus­rei­chen­den Mus­ter­kar­te je­ner flot­tie­ren­den Be­völ­ke­rung, wel­che aus al­len En­den der Welt nach Gold- oder Dia­mant­fund­stät­ten zu­sam­men­strömt, so­bald von sol­chen et­was ver­lau­tet. Hier war ein len­den­lah­mer großer Nea­po­li­ta­ner mit ra­ben­schwar­zem Haar, le­der­brau­nem Ge­sicht und we­nig Gu­tes ver­spre­chen­den Au­gen, der An­ni­bal Pan­talac­ci zu hei­ßen vor­gab; ein por­tu­gie­si­scher Jude na­mens Na­than, der sich als Auf­käu­fer von Dia­man­ten in sei­ner Ecke im­mer sehr still ver­hielt und die Mensch­heit als Phi­lo­soph be­trach­te­te, ein Berg­mann aus Lan­ca­shi­re, Tho­mas Steel, ein großer Kerl mit ro­tem Bar­te und mäch­ti­gen Hüf­ten, der von der Stein­koh­le de­ser­tier­te, um sein Glück im Gri­qua­land zu ver­su­chen; ein Deut­scher, Herr Frie­del, der gleich ei­nem Ora­kel sprach und of­fen­bar sehr be­wan­dert in der Dia­man­ten­grä­be­rei war, ohne je­mals einen sol­chen Stein in sei­ner Gan­gart ge­se­hen zu ha­ben; fer­ner ein Yan­kee mit sehr dün­nen Lip­pen, der nie mit je­mand an­de­rem als mit sei­ner Le­der­fla­sche sprach und auf den Kon­zes­sio­nen je­den­falls eine je­ner Kan­ti­nen er­rich­ten woll­te, wo die Stei­ne­su­cher einen Lö­wen­an­teil ih­rer Beu­te sit­zen zu las­sen pfle­gen; ein Far­mer vom Ufer der Hart; ein Bure aus dem Oran­je-Frei­staa­te; ein El­fen­bein­händ­ler, der nach dem Lan­de der Na­maquas ging; zwei An­sied­ler aus dem Trans­vaal-Ge­bie­te und end­lich ein Chi­ne­se na­mens Lî – wie es ei­nem Soh­ne des Himm­li­schen Rei­ches zu­kommt – ver­voll­stän­dig­te die höchst sche­cki­ge nackt­brus­ti­ge, zu­sam­men­ge­lau­fe­ne und lär­men­de Ge­sell­schaft, mit der ein an­de­ren Um­gang ge­wöhn­ter Mann nur je in die Lage kom­men konn­te, sich ab­fin­den zu müs­sen.

Nach­dem sich Cy­pri­en eine Zeit lang mit den Ge­sich­tern und dem Be­neh­men der Leu­te be­schäf­tigt, wur­de er des­sen doch bald müde. Es blie­ben ihm nur Tho­mas Steel mit sei­ner mäch­ti­gen Ge­stalt und dem er­schüt­tern­den La­chen, und der Chi­ne­se Lî mit sei­nen ge­schmei­di­gen, kat­zen­ar­ti­gen Be­we­gun­gen üb­rig, für die ihn ei­ni­ges In­ter­es­se er­füll­te. Der Nea­po­li­ta­ner da­ge­gen mit sei­nen Nar­rens­pos­sen und der Gal­gen­phy­sio­gno­mie mach­te auf ihn einen völ­lig wi­der­wär­ti­gen Ein­druck.

Seit zwei oder drei Ta­gen schon lief ei­ner der Lieb­lings­spä­ße des Kerls dar­auf hin­aus, dem Chi­ne­sen an sei­nen längs des Rückens hin­ab­fal­len­den Zopf, den er ent­spre­chend den Sit­ten sei­nes Lan­des trug, eine Men­ge nichts­nut­zi­ger Ge­gen­stän­de zu knüp­fen, wie Gras­bü­schel, Kraut­strün­ke, einen Kuh­schweif oder ein vom Erd­bo­den auf­ge­le­se­nes Pfer­de­schul­ter­blatt.

Ohne sich zu er­hit­zen, lös­te Lî den sei­ner lan­gen Flech­te heim­lich hin­zu­ge­füg­ten Ap­pen­dix ab, gab aber we­der durch ein Wort noch durch eine Be­we­gung zu er­ken­nen, dass der ihm ge­spiel­te Scherz die er­laub­ten Gren­zen über­schrei­te. Sein gel­bes Ge­sicht wie die klei­nen ge­schlitz­ten Au­gen be­wahr­ten eine un­er­schüt­ter­li­che Ruhe, als stän­d’ er dem, was um ihn her vor­ging, gänz­lich fremd ge­gen­über. Man hät­te glau­ben kön­nen, dass er kein Wort von dem ver­stand, was in die­ser Ar­che Noah auf dem Wege nach dem Gri­qua­lan­de ge­spro­chen wur­de.

An­ni­bal Pan­talac­ci un­ter­ließ auch nie­mals, sei­ne Spä­ße nie­de­rer Ord­nung in schlech­tem Eng­lisch mit dem nö­ti­gen Kom­men­tar zu be­glei­ten.

»Glau­ben Sie, dass sei­ne gel­be Haut­far­be an­ste­cken könn­te?« frag­te er sei­nen Nach­barn ganz laut.

Oder auch:

»Wenn ich nur eine Sche­re hät­te, ihm den Zopf ab­zu­schnei­den, da soll­ten Sie stau­nen, was er für ein Ge­sicht dazu ma­chen wür­de.«

Die meis­ten an­de­ren lach­ten herz­lich dar­über. Die Hei­ter­keit wur­de da­durch noch ver­dop­pelt, dass die Bu­ren im­mer ei­ni­ge Zeit brauch­ten, ehe sie ver­stan­den, was der Nea­po­li­ta­ner ei­gent­lich sa­gen woll­te; dann über­lie­ßen sie sich – ge­gen die üb­ri­ge Ge­sell­schaft meist um zwei bis drei Mi­nu­ten im Rück­stand – ei­ner lär­men­den, un­bän­di­gen Hei­ter­keit.

End­lich fing Cy­pri­en an sich zu är­gern über die­se Hart­nä­ckig­keit, den ar­men Lî als Ziel­schei­be fa­der Spä­ße zu be­nüt­zen, und sprach sich Pan­talac­ci ge­gen­über da­hin aus, dass sein Be­tra­gen nicht be­son­ders wohl­an­stän­dig sei. Die­ser schi­en zwar schon eine un­ver­schäm­te Ant­wort auf der Zun­ge zu ha­ben, aber ein ein­zi­ges Wort Tho­mas Steels ge­nüg­te, ihm den Mund zu schlie­ßen und den Sta­chel sei­nes gif­ti­gen Spot­tes ein­zie­hen zu las­sen.

»Nein, das ist kein ehr­li­ches Spiel, so mit dem ar­men Teu­fel um­zu­sprin­gen, der nicht ein­mal ver­steht, was Sie sa­gen!« mein­te der wa­cke­re Bur­sche, der sich schon Vor­wür­fe mach­te, mit den an­de­ren ge­lacht zu ha­ben.

Die Sa­che war da­mit also vor­läu­fig ab­ge­tan. Bald nach­her wun­der­te sich Cy­pri­en ei­ni­ger­ma­ßen, einen leich­ten iro­ni­schen Blick – in dem sich je­den­falls dank­ba­re Aner­ken­nung aus­drücken soll­te – zu be­mer­ken, den der Chi­ne­se ihm zu­wand­te, so­dass er auf die Ver­mu­tung kam, Lî möge doch viel­leicht mehr Eng­lisch ver­ste­hen, als er durch­bli­cken zu las­sen wünsch­te.

Ver­geb­lich such­te Cy­pri­en je­doch bei der nächs­ten Hal­te­stel­le ein Ge­spräch mit ihm an­zu­knüp­fen. Der Chi­ne­se blieb teil­nahms­los und stumm. Mehr und mehr reiz­te der ei­gen­tüm­li­che Mann den In­ge­nieur, eben­so wie ein Rät­sel, des­sen Lö­sung er fin­den müs­se. Cy­pri­en konn­te sich in­fol­ge­des­sen auch nicht ent­hal­ten, sei­ne Auf­merk­sam­keit wie­der­holt die­sem gelb­li­chen, plat­ten Ge­sicht zu­zu­wen­den, den fein­ge­schnit­te­nen Mund zu be­trach­ten, der sich über ei­ner Rei­he sehr wei­ßer Zäh­ne öff­ne­te, so­wie die kur­ze, weit of­fe­ne Nase, die brei­te Stirn und die schie­fen Au­gen, wel­che der Mann fast im­mer nie­der­ge­schla­gen hielt, als wol­le er einen bos­haf­ten Blick ver­ber­gen.

Wie alt moch­te Lî wohl sein? Fünf­zehn Jah­re oder sech­zig? Das hät­te man un­mög­lich ent­schei­den kön­nen. Wenn sei­ne Zäh­ne, sein Blick, die kohl­schwar­zen Haa­re noch auf die Ju­gend des­sel­ben hin­zu­deu­ten schie­nen, so spra­chen doch die Fal­ten der Stirn, wie die der Wan­gen und um den Mund für ein schon vor­ge­schrit­te­ne­res Al­ter. Er war klein und schwach von Ge­stalt, leb­haft in sei­nen Be­we­gun­gen, hat­te aber doch et­was Alt­müt­ter­li­ches, über­haupt et­was Wei­bi­sches an sich.

War er reich oder arm? Wie­der eine zwei­fel­haf­te Fra­ge. Sei­ne Bein­klei­der aus grau­er Lein­wand, die Blu­se aus gel­bem Sei­den­stoff, die Müt­ze aus ge­floch­te­ner Schnur und die Schu­he mit Filz­soh­len, wel­che St­rümp­fe von un­ta­del­haf­ter Wei­ße be­deck­ten, konn­ten eben­so gut ei­nem Man­da­rin ers­ter Klas­se, wie ei­nem Man­ne aus dem Vol­ke an­ge­hö­ren. Sein Rei­se­ge­päck be­stand in ei­nem ein­zi­gen Kof­fer aus ro­tem Holz mit der in schwar­zer Tin­te an­ge­brach­ten Auf­schrift:

H. Lî
from Can­ton to the Cape

d. h. H. Lî aus Can­ton, auf der Rei­se nach dem Kap.

Der Chi­ne­se er­schi­en über­dies aus­ge­zeich­net rein­lich, rauch­te nicht, trank nur Was­ser und ließ kei­ne Hal­te­stel­le vor­über­ge­hen, ohne sich den Kopf mit größ­ter Sorg­falt zu ra­sie­ren.

Mehr konn­te Cy­pri­en nicht in Er­fah­rung brin­gen, und ver­zich­te­te also bald dar­auf, sich mit die­sem le­ben­di­gen Rät­sel zu be­schäf­ti­gen. In­zwi­schen ver­floss Tag um Tag und reih­te sich eine Mei­le an die an­de­re. Manch­mal trab­ten die Pfer­de ziem­lich schnell da­hin, ein an­der­mal schi­en es un­mög­lich, ih­ren Schritt nur ei­ni­ger­ma­ßen zu be­schleu­ni­gen. Im­mer­hin wur­de der Weg nach und nach zu­rück­ge­legt, und ei­nes schö­nen Ta­ges kam der Per­so­nen­wa­gen in Hope-town an. Noch eine Etap­pe, dann war Kim­ber­ley er­reicht. Hin­ter die­sem zeig­ten sich Holz­hüt­ten am Ho­ri­zon­te.

Das war New Rush.

Der La­ger­platz der Mi­nen­grä­ber un­ter­schied sich kaum von den pro­vi­so­ri­schen Städ­ten, wie sie in al­len der Zi­vi­li­sa­ti­on un­längst er­schlos­se­nen Län­dern fast durch Zau­ber­schlag aus der Erde em­por­zu­wach­sen schei­nen.

Es war eine gewaltige Aushöhlung.

Häu­ser aus sehr di­cken Bret­tern, meist sehr klein und etwa den Hüt­ten ent­spre­chend, wie man sie auf den Flö­ßen eu­ro­päi­scher Strö­me fin­det; ei­ni­ge Zel­te, ein Dut­zend Kaf­fee­häu­ser oder Schän­ken, ein Bil­lard­saal, eine Al­ham­bra oder Tanz­sa­lon, ei­ni­ge »Sto­res« oder Han­dels­lä­den mit den not­wen­digs­ten Le­bens­be­dürf­nis­sen – das war der An­blick, der sich zu­nächst dem Auge des Fremd­lings bot.

Alle Männer füllten die Erde in Ledereimer.

In die­sen Lä­den gab es al­les: Klei­dungs­stücke und Haus­ge­rä­te, Schu­he und Fens­ter­schei­ben, Bü­cher und Sät­tel, Waf­fen und Stof­fe, Be­sen und Jagd­mu­ni­ti­on, La­ger­de­cken und Zi­gar­ren, fri­sche Ge­mü­se und Arz­nei­en, Pflü­ge und Toi­let­te­sei­fen, Na­gel­bürs­ten und kon­zen­trier­te Milch, Backö­fen und Stein­druck­bil­der – mit ei­nem Wor­te al­les – nur kei­ne Ein­käu­fer.

Die In­sas­sen des La­ger­plat­zes wa­ren zur Zeit noch in dem drei- bis vier­hun­dert Me­ter ent­fern­ten New Rush in den Mi­nen bei der Ar­beit.

Wie alle neu­en An­kömm­lin­ge, be­eil­te sich Cy­pri­en Méré, da­hin zu ge­hen, wäh­­­­­­­­­­­­­