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Denken,
um zu leben

Philosophinnen vorgestellt von
Marit Rullmann und Werner Schlegel

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INHALT

VORWORT

ANNA MARIA VAN SCHURMAN (AUCH VON SCHÜRMANN)

Künstlerin, Privatgelehrte, Religionsphilosophin

CHRISTINA (ALEXANDRA) VON SCHWEDEN

Königin von Schweden, philosophierende Aphoristikerin

MARY ASTELL

Philosophin, Schriftstellerin, Rhetorikerin

GABRIELLEMILIE DU CHÂTELET-LOMONT

Philosophin, Physikerin, Mathematikerin

JOHANNA CHARLOTTE UNZER

Aufklärerin, Popularphilosophin, Dichterin

CATHERINE SAWBRIDGE MACAULEY

Philosophin, Feministin und Historikerin

DOROTHEA VON RODDE SCHLÖZER

Erziehungsexperiment, Philosophin, Salonière

RAHEL LEVIN VARNHAGEN VON ENSE

Philosophische Schriftstellerin, Selbstdenkerin, Salonière

BETTINE VON ARNIM

Romantikerin, Salonière, Schriftstellerin, Symphilosophin, Malerin, Politikerin

FLORA TRISTAN

Schriftstellerin, sozialistische Philosophin, Rebellin

HEDWIG DOHM

Schriftstellerin, Philosophin, Publizistin, Feministin, Pazifistin

META VON SALIS-MARSCHLINS

Philosophin, Historikerin, Frauenrechtlerin, Förderin Nietzsches

HELENE VON DRUSKOWITZ

Schriftstellerin, Literaturkritikerin, Philosophin

CONSTANCE NADEN

Philosophin, Poetin, Wissenschaftlerin, New Woman

ROSA MAYREDER

Sozialphilosophin, Malerin, Schriftstellerin, Friedensaktivistin

CHARLOTTE PERKINS GILMAN

Sozialphilosophin, Schriftstellerin, Malerin

MARY WHITON CALKINS

Philosophin und Psychologin

MARGARETE SUSMAN

Privatgelehrte, Philosophin, Malerin, Lyrikerin

EVA SACHS

Philosophin und Philologin

EDITH STEIN

Philosophin, Frauenrechtlerin, Ordensfrau

SUSANNE KATHERINA LANGER

Philosophin, Kunst- und Kulturtheoretikerin

MARÍA ZAMBRANO

(Religions-)Philosophin, politische Aktivistin, Essayistin, Schriftstellerin

AYN RAND

Schriftstellerin, Objektivistin, marktradikale Vordenkerin

HANNAH ARENDT

Politische Philosophin, Historikerin, Journalistin

SIMONE DE BEAUVOIR

Philosophin, Schriftstellerin

SIMONE WEIL

Philosophin, Lehrerin, Sozialrevolutionärin, Mystikerin

JEANNE HERSCH

Philosophin, Pädagogin, Schriftstellerin

GERTRUDE ELIZABETH MARGARET ANSCOMBE

Philosophin, Tugendethikerin, Abtreibungsgegnerin

GERDA LERNER

Frauenhistorikerin, Geschichtsphilosophin, Autorin

GERDA WEILER

Pädagogin, Matriarchatsforscherin

JUDITH NISSE SHKLAR

Philosophin, Liberalismustheoretikerin, Ungerechtigkeitsforscherin

MARY DALY

Theologin, radikal-feministische Philosophin

ÁGNES HELLER

Philosophin, Zeitzeugin

LUCE IRIGARAY

Feministische Philosophin, Psychoanalytikerin, Linguistin

LUISA MURARO

Philosophin, Mitbegründerin der Diotima und des Mailänder Frauenbuchladens

CHIARA ZAMBONI

Italienische Philosophin – Denken in Präsenz

ELIZABETH KAMARCK MINNICH

Philosophin, Lehrerin, Aktivistin

EVA FEDER KITTAY

Ethikerin, Feministin, Aktivistin

MARTHA C. NUSSBAUM

Philosophin, Rechtswissenschaftlerin, Ethikerin

SEYLA BENHABIB

Türkisch-sephardisch-amerikanische Philosophin, Politologin

JUDITH BUTLER

Philosophin, Gender- und Prekariats-Theoretikerin, Feministin

DANKSAGUNG

THEMEN

QUELLENVERZEICHNIS

BILDNACHWEIS

VORWORT

Kurz nach dem Abschluss ihres Philosophiestudiums fiel Marit Rullmann 1987 der bereits vier Jahre zuvor veröffentlichte erste Sammelband der Internationalen Assoziation der Philosophinnen (IAPh) in die Hand. Der Titel: Was Philosophinnen denken. Sie war überrascht – und entsetzt. Über die darin genannten Frauen hatte sie während des Studiums an der immerhin zweitgrößten philosophischen Fakultät Deutschlands kein Wort gehört. Von da an ließ sie die vergessene und unterdrückte Geschichte der Philosophinnen und deren Denkens nicht mehr los. Sie begann zu recherchieren. Als erstes Ergebnis entstand daraus 1991 ein Volkshochschulseminar unter dem Thema: »Gibt es weibliche Philosophie?«

Zwei Jahre später veröffentlichte sie das erste und 1995 das zweite Buch mit Porträts von Philosophinnen. Als Hauptautorin und Herausgeberin wurde Marit Rullmann in den folgenden Jahren zu zahlreichen Lesungen und Vorträgen im In- und deutschsprachigen Ausland eingeladen. Dabei kristallisierten sich schon bald zwei wichtige Publikumsfragen heraus: Wenn es zu allen Zeiten Philosophinnen gab, hatten sie vielleicht eine andere, spezifisch »weibliche« Sicht zu wichtigen philosophischen Themen? Und wichtiger noch: Unterschied sich ihr Denken von dem der männlichen Kollegen?

Besonders auf die letzte Frage fiel die Antwort schwer. Zum einen ließen die Porträts einen derartigen Vergleich nur fragmentarisch zu. Zum anderen ging Rullmann immer noch von der Idealvorstellung »objektiver« philosophischer Forschung aus, in der Zuschreibungen wie »männlich« oder »weiblich« nicht vorkamen. Dennoch schien die Fragestellung einer weiteren Recherche wert. Das Ergebnis war überraschend. Es führte zu unserer ersten gemeinsamen Buch-Publikation Frauen denken anders.

Es hatte sich nämlich gezeigt, dass Philosophen einen deutlichen Hang zu überzeitlichen Theorien haben und gerne philosophische Systeme konstruieren. Die meisten Philosophinnen dagegen lebten (und leben) nicht im berühmten wissenschaftlichen »Elfenbeinturm«. Das schlägt sich in ihrem philosophischen Denken nieder. Sie denken, um zu leben und beschäftigen sich unter anderem mit (neuen) philosophischen Themen wie Leib, Geburt, Gefühle, Ungerechtigkeit oder schlicht dem Alltag. Ganz anders, als der »herr«schende philosophische Mainstream.

Die Veröffentlichung aller drei Bücher setzte eine Entwicklung in Gang. Viel hat sich seither getan. Philosophinnen und ihre Werke – die verschwiegene und unterdrückte Textgeschichte – wurden neu- oder wiederentdeckt und häufig erstmals ins Deutsche übersetzt. Etwa durch die Englischlehrerin Petra Altschuh-Riederer aus Landau, die in ihren Ferien (!) zahlreiche Werke von Philosophinnen übersetzte, unter anderem von Charlotte Perkins Gilman, Mary Astell und Anne Conway. An den Universitäten in Paderborn und Oldenburg wurden Philosophinnen endlich zum Forschungsthema. Es gab eine mehrjährige Wanderausstellung zum Thema, und immer wieder finden Veranstaltungsreihen mit dem Jahresleitthema Philosophinnen statt. Etwa 2012 in Ahaus und 2013 in Bremen. Der österreichische Rundfunk (ORF) strahlte im Jahr 2015 unter dem Titel »Radio-Kolleg Feminismus« sogar eine eigene Sendereihe mit Porträts von Philosophinnen aus. Auch die Kunst griff das Thema auf. Bildende Künstlerinnen wie Claudia Mang, Birgit Cauer und Gisela Kurkhaus-Müller setzten sich in ihren Arbeiten intensiv mit Philosophinnen auseinander. Und seit 2018 hängt im Wiener Stephansdom ein von der Malerin Irene Trawöger geschaffenes großes Porträt Edith Steins, das aus einer ganzen Philosophinnen-Serie der Künstlerin stammt. Auch sie wurde von Rullmanns Büchern inspiriert.

Hannah Arendt ist zwischenzeitlich sogar im männlich dominierten Wissenschafts-Olymp der Philosophie angelangt. Ihr Essay Macht und Gewalt gehört seit 2012 zu den inhaltlichen Abiturvorgaben in Deutschland.

Im wissenschaftlichen Diskurs der Philosophie hat sich die Ausschließungs-Praxis bis heute dennoch nur wenig verändert. Weil sie nicht mehr zu verschweigen waren, wurde mehr oder weniger klammheimlich hier und dort eine Philosophin »hinzugefügt«. Mehr aber auch nicht. Diskurse, haben wir bei Foucault gelernt, sind immer machtgeleitet: Es geht um Kontrolle und Herrschaft. Wir sollten also nicht damit rechnen, dass uns die »hegemoniale Männlichkeit« nach mehr als 2600 Jahren Herrschaft in der Welt der Philosophie freiwillig das Feld überlässt.

Also werden in Lexika, Wörterbüchern oder Philosophiegeschichten Philosophinnen weiterhin kaum erwähnt, und ihre Werke sind und bleiben marginalisiert. Herta Nagl-Docekal schrieb dazu 2012 in einem Rückblick1 auf den Stand der feministischen Philosophie: »Man kann nur mit Erstaunen und Befremden notieren, dass hier noch immer eine weitgehende Diskursspaltung existiert: Zum einen unterbleibt im mainstream der Interpretationsarbeit häufig eine kritische Analyse wo es um Ausführungen der ›Klassiker‹ über Geschlechterrelationen geht – und dies gilt oft auch für Philosophinnen, die den ›Kanon‹ zum Fokus ihrer Forschung gewählt haben –; zum anderen sind im Laufe der letzten Jahrzehnte zunehmend subtile Deutungen ›klassischer‹ Texte vorgelegt worden, denen die ernsthafte Berücksichtigung, die sie verdienen, vielfach versagt bleibt.«2

Das erkennen gelegentlich selbst Männer, etwa Jacques Derrida in der Welt am Sonntag vom 1.12.2002: »... der philosophische Diskurs (ist/d. A.) so organisiert, dass er Frauen, Kinder, Tiere und Sklaven an den Rand drängt, unterdrückt und verstummen läßt. So ist die Struktur – es wäre dumm, das zu leugnen. Aber wir befinden uns in einer historischen Phase, in der diese Dinge sich ändern.« Maßgeblich dazu beigetragen hat Prof. Ruth Hagengruber, die 2006 an der Paderborner Universität den Lehr- und Forschungsbereich History of Women Philosophers and Scientists gründete, der sich seither der Erforschung der Texte von Philosophinnen von der Antike bis heute widmet. Im Vorwort zu der von ihr mitherausgegebenen Publikation Philosophinnen im Philosophieunterricht – ein Handbuch (2015), schreibt sie dazu: »Auf keinem Gebiet der Philosophiegeschichte sind in den letzten 30 Jahren so einschneidend neue Erkenntnisse erlangt worden, wie in der Erforschung der Werke von Philosophinnen.« Hagengruber schreibt dazu weiter in der Einleitung, dass dieser Forschungszweig heute ein »kritisches Instrument der philosophischen (Selbst)Aufklärung« darstelle. Dadurch seien neue Einsichten sowohl in die Philosophiegeschichte möglich geworden als auch in die »Methoden und die impliziten Gesetze und Gewohnheiten, denen ihre Kanonbildung folgte«. Allein durch die Fülle des Materials ist die Erforschung der Philosophinnen zum Politikum der Philosophiegeschichte geworden, waren diese doch über Jahrtausende aus dem Kanon ausgeschlossen. »Die Philosophiegeschichte der Philosophinnen zeigt sich als kanonkritische Tradition. Sie kritisiert patriarchale Selektionsprinzipien und macht uns aufmerksam, wo die Philosophie, anstatt philosophische und universelle Ansprüche zu realisieren, partikularen Interessen dient.«

Allerdings gibt es noch viel zu tun. Bei einer Durchsicht im Internet veröffentlichter Schulprogramme oder Curricula finden sich weiterhin kaum andere Philosophinnen. Nicht einmal bei Themen wie Recht und Gerechtigkeit, wo es immerhin ein bahnbrechendes Werk von Martha Nussbaum gibt, die John Rawls weiterentwickelt und die Durchsetzung der Inklusion auf Ebene der UN maßgeblich beeinflusst hat.

Weil sich an der feministischen Forschungslage beim Thema Philosophinnen in den letzten Jahren viel verändert hat, wurde auch dieses Buch notwendig. Es enthält einerseits Philosophinnen, über deren Leben und Arbeiten noch vor 10 Jahren wenig bis nichts in Deutschland bekannt war, etwa Eva Feder Kittay, Catharine S. Macaulay, Ayn Rand, Luisa Muraro, Charlotte Unzer, Gerda Weiler. Andererseits führten neue Forschungsergebnisse zu wichtigen Ergänzungen und Erweiterungen bei zwischenzeitlich bekannten Namen, so beispielsweise bei Margaret Anscombe, Mary Astell, der Marquise du Châtelet, Judith Butler, Edith Stein oder Judith Nisse Shklar. Nicht zuletzt führte das Internet dazu, dass Fehler und Fehlinterpretationen in Lebensläufen von Website zu Website fortgeschrieben wurden und in anderen Publikationen Eingang fanden. Diese wurden von uns korrigiert, unter anderem bei Helene Druskowitz oder Flora Tristan. Anglo-amerikanische Philosophinnen wiederum sind in diesem Band stärker vertreten, da ihre philosophische Bedeutung erst in den letzten Jahren zunehmend erkannt wurde. Manche heute endlich anerkannte Frauen wie etwa Olympe de Gouges, Heide Göttner-Abendroth oder Mary Wollstonecraft wird man vielleicht vermissen. Aber zum einen musste ausgewählt werden unter vielen. Das dafür bevorzugte Kriterium galt der philosophiegeschichtlichen Bedeutung und Besonderheit. Zum anderen wurde in vielen Fällen Wert auf wichtige, aber weniger bekannte Philosophinnen gelegt. Drittens sollte ein breites Spektrum an unterschiedlichen philosophischen Richtungen und Themen, von der Erkenntnistheorie über Phänomenologie bis zur analytischen und liberalistischen Philosophie dargestellt werden. Letztlich fiel die Auswahl besonders bei den zeitgenössischen Philosophinnen schwer. Hier müssten ganze Philosophie-Lexika umgeschrieben werden, da man allein mit ihnen bereits mehrere Bände füllen könnte. Wir glauben, mit der getroffenen Auswahl sind wir sowohl den genannten Kriterien, als auch einer eventuellen Erwartungshaltung zukünftiger Leser*innen gerecht geworden.

April 2018

Marit Rullmann & Werner Schlegel

1Information Philosophie, 3/2012, S. 98.

2Ebd.

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Anna van Schurman
Kupferstich von Jonas Snyderhoff nach einem Gemälde von Jan Lievens, 1650

ANNA MARIA VAN SCHURMAN (AUCH VON SCHÜRMANN)

1607–1678

Künstlerin, Privatgelehrte, Religionsphilosophin

»Niemand kann über unsere Neigung zum Studium richtig urteilen, bevor er uns nicht mit besten Motiven und Hilfsmitteln angeregt hat, die Studien aufzunehmen, und uns einen Geschmack von der Freude am Studium vermittelt hat.«

Anna Maria van Schurman, Dissertatio

An der »Schurmannin« scheiden sich bis heute die (wissenschaftlichen) Geister: War sie das »Wunder des Jahrhunderts« (A. von Hanstein), ein »universales Genie« (H. J. Mozans) oder eine »Kuriosität«, »staunenswert und unfruchtbar« (K. Joel)? Selbst in der feministischen Wissenschaft ist die »Pallas von Utrecht« nicht unumstritten: War sie nun eine Vorläuferin der emanzipierten Akademikerin – oder doch nur eine tiefreligiöse Schwärmerin?

Bis heute existiert noch keine wissenschaftliche textkritische Aufarbeitung ihres Werks. Seit 1991 ziert immerhin eine Steinstatue den Kölner Rathausturm. Die Skulptur der Künstlerin Elisabeth Perger zeigt die Schurmannin mit Pinsel, Staffelei, Buch und Eule – als Zeichen der Weisheit.

Anna Maria van Schurman wurde am 5. November 1607 in Köln geboren, als Tochter eines gelehrten Niederländers und einer adligen deutschen Mutter, Eva van Harff zu Dreiborn. Die Eltern gehörten der damals verbotenen evangelischen Gemeinde an. Schon als Kind zeigte sich ihr außergewöhnliches Sprachtalent. Als Erwachsene beherrschte sie zehn Sprachen in Wort und Schrift: Niederländisch, Französisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Syrisch/Aramäisch und Äthiopisch. Zudem war sie erfahren in der Stickerei, der Glasmalerei, der Holzschneiderei und Kupferstechkunst, arbeitete als Malerin – bevorzugt als Porträtistin –, war virtuose Musikerin, talentierte Dichterin, Geographin, Astronomin, Theologin, Pädagogin, Historikerin, Linguistin und Philosophin, kurz: Ein Universalgenie. Von ihrer außergewöhnlichen Sprachbegabung zeugt eines ihrer Werke, nämlich die erste äthiopische Grammatik.

Schon zu Lebzeiten wurde van Schurman zum »Paradigma« weiblicher Gelehrsamkeit gemacht. Da sie sich ihr Wissen zu Hause aneignete, kann sie zudem als erste deutschsprachige Privatgelehrte gelten. Dabei muss man berücksichtigen, dass sie noch in der historischen Epoche der Hexenverfolgungen lebte, in der oft schon viel geringfügigere Abweichungen vom »typisch weiblichen« Lebenslauf zum Scheiterhaufen führten.

Aus Köln flüchten musste Anna 1610 zwar nicht wegen Verdachts der Hexerei – wohl aber die ganze Familie wegen religiöser Verfolgung. Sie lebte danach eine Zeit lang auf dem Harffschen Schloss in Schleiden und ließ sich dann in Nordfriesland nieder.

Ab 1623 lebte Anna van Schurman in Utrecht. Kurz zuvor war ihr Vater gestorben, der sie in Latein und Deutsch unterrichtet hatte. Die übrigen Sprachen waren ihr von Professoren beigebracht worden, die mit ihm befreundet waren. Nach des Vaters Tod – dem sie auf dem Totenbett ewige Keuschheit versprechen musste – nahm sie weiterhin Privatunterricht in ihren übrigen Fachgebieten.

Zur Eröffnung der Utrechter Universität im März 1636 galt Anna bereits als beste Lateinerin der Niederlande. Sie durfte zu diesem Zweck das Festgedicht schreiben – aber als Frau nicht selbst dort studieren, was sie in dem Text auch prompt mit einem Satz kritisierte. Schon zuvor hatte sie sich in Briefwechseln mit unter anderem Fürstäbtissin Elisabeth von der Pfalz (1618–1680) und der französischen Schriftstellerin und Philosophin Marie Le Jars de Gournay (1565–1645) für ein Frauenstudium stark gemacht. Wenn auch nicht aus frühemanzipatorischen, sondern eher aus religiösen Gründen: Frauen sollten durch christliche Gelehrsamkeit ihre Tugend verbessern können.

Abgesehen vom grundsätzlichen Frauenausschluss bildete auch das Latein als männliche Herrschaftssprache eine zusätzliche Bildungsbarriere gegen Frauen. Selbst adelige Damen beherrschten in der Regel allenfalls Französisch und vielleicht noch etwas Italienisch, da beides die Sprachen der großen europäischen Höfe und Adelshäuser waren. Latein als Wissenschaftssprache hingegen war und blieb den Männern vorbehalten.

Diese zum Studium unabdingbare Sprache beherrschte Anna van Schurman so gut, dass sie darin Gedichte verfasste und auch Übersetzungen anderer Autoren anfertigte. Auch auf ihre Nichtzulassung zum Studium reagierte sie auf Latein – zunächst als Denkschrift in ihrer Korrespondenz mit dem Leidener Theologieprofessor Andreas Rivet. Zwei Jahre später wurde daraus ihre erste, noch unfreiwillige Buchpublikation, da der Schriftwechsel – angeblich ohne ihr Einverständnis – in Paris gedruckt wurde.1 Unter dem Titel Dissertatio logica de ingenii mulierbris ad doctrinam, et meliores litteras aptitudine2 erschien sie 1641 dann ganz offiziell. Bei der häufig auf Deutsch zitierten angeblichen Veröffentlichung Ob einer christlichen Frau wissenschaftliches Studium anstehe (Übers.: Dissertatio num feminae christianae conveniat studium litterarum) handelt es sich lediglich um die von Adele Osterloh (1857–1916) vorgenommene Übersetzung der Denkschrift von 1641. Und nicht etwa, wie fälschlicherweise oft angenommen und zitiert, um ein eigenständiges anderes Werk van Schurmans. Der Titel Osterlohs stammt jedoch aus Anna Schurmans Dissertatio.

Die Auseinandersetzung mit Rivet und vor allem die enge Bekanntschaft mit dem frühpietistischen Kirchenlehrer Gisbert Voetius, dem Gründungsrektor von Utrecht, führten dazu, dass Anna dann doch noch als Gasthörerin und erste Studentin Europas bei den Theologen zugelassen wurde. Um diese Sensation gegenüber den regulären Studenten etwas abzumildern, wurde für sie direkt neben der Tür ein vergitterter Kasten, eine sogenannte loge grillé, in den Hörsaal eingebaut, in dem sie den Vorlesungen folgen konnte.

Von da an verbreitete sich ihr Ruhm in ganz Europa. Sie korrespondierte mit René Descartes, Kardinal Richelieu und vielen anderen. Kein Gelehrter besuchte die Stadt, ohne sie in ihrem Haus Nr. 8, direkt hinter dem Utrechter Dom, aufzusuchen. Dazu gehörte auch Christina von Schweden, als sie nach ihrer Abdankung Richtung Rom unterwegs war.

Van Schurmans schriftliche Forderung für das Studierrecht jeder christlichen Frau war streng scholastisch angelegt. Das entsprach den damaligen wissenschaftlichen Gepflogenheiten. Da sie sich als Wissenschaftlerin verstand, musste sie sich in ihren Schriften auch entsprechend verhalten. Einige Beispiele aus dem 14 Punkte umfassenden Werk demonstrieren das:

»1. Jedem Menschen sind von Natur die Prinzipien oder die Potenzen der Prinzipien aller Künste und Wissenschaften eingegeben. Auch den Frauen ist alles eingegeben.

Ergo kommen alle Künste und Wissenschaften den Frauen zu …

2. Wem von Natur ein Verlangen nach Wissenschaften und Künsten innewohnt (vgl. Aristoteles, Metaphysik B. 1 Kap. 2), dem kommen diese auch zu. Frauen haben als Individuen der species Mensch dieses Verlangen. Ergo …

10. Was uns gegen Häresien schützt, kommt der christlichen Erbauung zu. Künste und Wissenschaften vermögen dies. Ergo …«

Anschließend versucht sie Kritikern bereits vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie über mögliche »Argumente der Gegner und ihre Widerlegung« schreibt:

»2. Wessen Geist nicht zu Studien geneigt ist, dem kommen sie auch nicht zu. Der Geist der Frauen ist nicht dazu geneigt, weil sich Frauen äußerst selten mit Studien beschäftigen. Ergo …

Wir antworten darauf:

Niemand kann über unsere Neigung zum Studium richtig urteilen, bevor er uns nicht mit besten Motiven und Hilfsmitteln angeregt hat, die Studien aufzunehmen, und uns einen Geschmack von der Freude am Studium gegeben hat. Uns selbst fehlt es auch nicht an Beispielen, die das Gegenteil der gegnerischen Behauptung als wahr erweisen.«

Van Schurman argumentierte nicht gegen die gesellschaftlichrechtlichen Gegebenheiten, die Frauen aus dem öffentlichen Leben ausschlossen. Nicht, weil ihr dies als zu gewagt und »revolutionär« erschienen wäre. Vielmehr begründete sie ihren Vorstoß mit christlichen Moralvorstellungen, die ihrer stark calvinistisch-pietistisch geprägten Haltung entsprachen. Gerade die Frauen der höheren Stände wären, so ihre Schlussfolgerung, anfällig für einen sündigen Lebenswandel, da sie zu viel Muße hätten. Hier könne ein Studium sehr gut Abhilfe schaffen. Dabei berief sie sich auf die wenigen männlichen Autoritäten, die dem Frauenstudium aus ähnlichen Gründen positiv gegenüberstanden und bereits von Marie Le Jars de Gournay in deren Gleichheitsschrift genannt worden waren.

Dass van Schurman den eroberten Platz in den Reihen der männlichen Gelehrten dann freiwillig wieder räumte, schien vielen unverständlich. Dabei war dies nur die logische Konsequenz einer Frau, der es zuallererst um einen gottgefälligen christlichen Lebenswandel ging. Auf Empfehlung ihres Bruders Johan Godschalk und gemeinsam mit ihm hatte sie sich schon früh für eine Berufung des charismatischen, calvinistischen Mystikers Jean de Labadie als Prediger ins wallonisch-niederländische Middelburg eingesetzt. Der folgte dem Ruf 1666 und wurde dort mehrfach von ihr besucht. Allerdings wird der Prediger bereits zwei Jahre später wieder suspendiert, 1669 ganz abgesetzt und aus Zeeland ausgewiesen. Anna van Schurman, die Frau, die mit einem Selbstporträt das erste Aquarell der niederländischen Malerei geschaffen hatte, kehrte daraufhin allen Künsten und weltlichen Wissenschaften den Rücken. Sie verkaufte ihr Haus am Utrechter Dom, verließ ihre Freunde, die sie heftig vor Labadie gewarnt hatten und zog mit ihrer Magd, einem Neffen, den sie versorgte, und der Freundin Katharina Martini zu Labadie nach Amsterdam.

Er und seine von Gegnern »Labadisten« genannten Anhänger bildeten dort eine Art Kommune, die sich von der offiziellen Orthodoxie separierte. Sie verstanden sich als urchristliche Haus- und Lebensgemeinschaft, die statt Kirchgängen Gebets- und Bibelzusammenkünfte zelebrierte (wie man sie als »Hauskreise« noch heute in der pietistischen Bewegung kennt). Ihr einzig mit »der Hände Arbeit« finanziertes Leben in weltlicher Abgeschiedenheit und nahezu klösterlicher Gemeinschaft musste auf van Schurman einen starken Eindruck gemacht haben, da es ihren absoluten Vorstellungen von wahrer Frömmigkeit entsprach.

Aufgrund der Separierung und Labadies mystischer Schwärmerei wurde die letztlich als Sekte zu verstehende Gruppe insbesondere von kirchlichen Gemeinden immer wieder stark angefeindet. Dadurch kam es zu wiederholten Vertreibungen – auch in Amsterdam – zunächst nach Herford, wo van Schurmans langjährige Korrespondenz-Freundin Elisabeth von der Pfalz, Äbtissin eines Damenstifts, ihr eine Zeit lang Unterschlupf gewährte. Von dort ging es 1672 ins damals dänische Altona, wo Labadie schließlich am 13. Februar 1674 verstarb.

Anna verfasste nach seinem Tod Bibelübersetzungen und andere Schriften. Und sie führte wieder einen regen Briefwechsel, diesmal jedoch ausschließlich in Glaubensfragen, also religionsphilosophisch. Nach der Veröffentlichung des ersten Teils3 ihrer stark autobiographisch gefärbten Rechtfertigungsschrift Eukleria oder die Erwählung des besten Teils nahmen die Frankfurter Pietisten um Johann Jakob Schütz (1640–1690) mit ihr Kontakt auf. Letzterer zeigte sich von ihrer neuen Veröffentlichung begeistert und wurde von dieser und dem gegenseitigen Schriftwechsel stark beeinflusst. Da seine pietistischen Impulse und Erbauungstexte wiederum Philipp Jakob Spener (1635–1705) zum Fundament seines pietistischen kirchlichen Reformprogramms (Pia Desideria, 1675) erkor, kann mit Recht angenommen werden: Der ehemalige »Engel von Utrecht« trug unmittelbar zur Entstehung des deutschen Pietismus bei.

Bei dem in Altona entstandenen eigentlichen Hauptwerk van Schurmans handelte es sich nicht nur um die erste weibliche Autobiographie im engeren Sinn, sondern auch um eines der ersten Zeugnisse frühpietistischer Bekenntnisliteratur. Und um van Schurmans demonstrative Verurteilung ihrer früheren wissenschaftlichen Vergangenheit: »Ich widerrufe daher hier vor den Augen aller Welt … alle diejenigen meiner Schriften, die eine so schändliche Gedankenlosigkeit, oder jenen eitlen Weltsinn athmen, und erkenne sie nicht länger für die meinigen«, schrieb sie darin. Sie behauptete außerdem, die vielen Sprachen nur gelernt zu haben, um die Bibel besser verstehen zu können.

Aus heutiger Sicht interpretiert man diese »Bekenntnisse« wohl besser unter sektenpsychologischem Blickwinkel. Zumal Eukleria eine Gegenwelt beschreibt, eine Utopie, in der Männer und Frauen gleichberechtigt in Harmonie miteinander leben und sich die Arbeit teilen. In der Realität war es – wie noch bei allen Sekten – der »herr«schende und als Vater anzuredende Labadie gewesen, der eine strenge Disziplin festgelegt und mit seinen oft mehrstündigen Andachten den Tagesablauf bestimmt hatte. Van Schurman dagegen beschrieb das tägliche Leben in der Gemeinde in rosigeren Farben, berichtete aber auch von teils offenem Hass gegen die Mitglieder und von deren Verfolgungen. Für sie waren die zu erduldenden Widrigkeiten ein Zeichen, dass Gott ihre Gemeinde zur legitimen Nachfolgerin der gleichfalls verfolgten Urchristen bestimmt hatte.

Die lebensgeschichtliche Wandlung der Schurman zur weltabgewandten Sektiererin, die ihre Abkehr von der abstrakten Wissenschaft in Eukleria vehement verteidigt, hatte weit über ihre Zeit hinaus eine ganz unterschiedliche Rezeption zur Folge. Aufklärer wie der Literaturwissenschaftler Johann Christoph Gottsched befürchteten, dass van Schurmans Kritiker dadurch bestärkt würden, Frauen vom Studium abzuhalten. Sie könnten mit ihrem Beispiel argumentieren, das Studium habe schließlich nur »verwirrend« gewirkt. Der Philosoph Johann Gottfried Herder dagegen zeigte sich fasziniert von Eukleria, besonders die »mystischen Aspekte« hatten es ihm angetan. Christoph Martin Wieland wiederum sah in der Autorin gar eine Art Vorläuferin des emanzipierten Frauentyps – was sie eindeutig nicht war. Denn nach Labadies Tod wurde selbstverständlich nicht sie, sondern wieder ein Mann der neue Sektenführer: Pierre Yvon, Vater des unehelichen Kindes ihrer Freundin Katharina. Und als die Gemeinschaft 1675 endlich ihr letztes Domizil, ein Schloss im friesländischen Wieuwerd bezog, hatten nur noch die Männer das Sagen. Die Frauen mussten bei den Andachten schweigen – und handarbeiten …

Nicht zuletzt wegen ihrer religiösen Entwicklung hat die Literaturgeschichte Anna Maria van Schurman, die nach längerer Krankheit am 4. Mai 1678 starb, fast ganz vergessen. Die Philosophie hatte sie ohnehin nie ernsthaft zur Kenntnis genommen. Die protestantische Theologiegeschichtsschreibung wiederum verübelt ihr den »sektiererischen Abfall« bis heute. Entsprechend existiert hier zwar eine Rezeption, in der Regel jedoch mit deutlich negativen Bewertungen. Und in Utrecht, wo ein Schild am Haus Nr. 8 an ihren langjährigen Wohnort erinnert, wissen die meisten Studierenden nicht einmal, dass die Glocke im Universitätsturm nach ihr benannt und mit einer Zeile aus ihrem Cöln-Utrecht-Vergleichsgedicht beschriftet ist.

Werke

Dissertatio de ingenii Muliebris ad Doctrinam et meliores Litteras aptitudine. 1641; erstveröfftl. als: Amica Dissertatio inter Annam Mariam Schurmanniam et Andr. Rivetum de capacitate ingenii muliebris ad Scientia, 1638

Opuscula hebraica, graeca, latina, gallica, prosaica et metrica, 1648; Neuauflagen 1650 und 1652

Eukleria seu melioris partis electio (Übers.: Eukleria oder die Erwählung des besten Teils), 1673 u. 1683

1Amica dissertatio inter Annam Mariam Schurmanniam et Andr. Rivetum de capacitate ingenii muliebris ad scientas, 1638.

2Übers.: Abhandlung über die Befähigung des Geistes von Frauen für die Gelehrsamkeit und die höheren Wissenschaften.

31673, der zweite Teil erschien 1683 erst nach ihrem Tod und ist möglicherweise nicht mehr völlig authentisch.

CHRISTINA (ALEXANDRA) VON SCHWEDEN

1626–1689

Königin von Schweden, philosophierende Aphoristikerin

»Meine Religion ist die der Philosophen.«

Christina von Schweden, zit. n. B. Sichtermann

Um als Frau in einer der männlichsten Domänen der Welt, dem vatikanischen Petersdom, Anerkennung zu finden, muss man sicher eine Ausnahmepersönlichkeit gewesen sein. Erst recht, wenn es sich um eine Mörderin handelt. Christina von Schweden war das eine wie das andere. Die exzentrischste und gebildetste Königin ihrer Zeit hat die ungewöhnlichste Frauen-Grabstätte: Sie wurde in den Katakomben des Petersdoms beigesetzt. Mehr noch – im rechten Seitenschiff der Kirche ist ihr seit 1702 ein Marmor-Epitaph gewidmet. Diese Ehren wurden bisher keiner anderen Frau zuteil.

Geboren wurde die spätere schwedische Königin am 18. Dezember 1626. Wegen offenbar nicht ganz eindeutiger Geschlechtsmerkmale und der tiefen Stimmlage des ersten Babygeschreis hielt die Hebamme sie zunächst für einen Jungen. Während Stockholms Glocken umgehend die frohe Kunde über die Dächer verbreiteten, enthüllte ein Bad des Kindes die gegenteilige Wahrheit. Nie ganz endgültig, denn zeitlebens gab es Gerüchte, das Königsmädchen sei ein Hermaphrodit. Selbst heute ist sich die Geschichtsschreibung nicht völlig sicher, ob es sich bei Christina um einen tatsächlich inter- oder bloß bisexuellen Menschen gehandelt hat.

Ihr Vater, König Gustav Adolf von Schweden, der mehr auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges als im eigenen Land weilte, tat dazu ein Übriges. Er ließ das Kind zum Kronprinzen erziehen, sprich: Nach seinem Tod in der Schlacht von Lützow (Nov. 1632) erhält sie eine männliche Ausbildung, lernt reiten, fechten und schießen. Ihr Vormund, der schwedische Reichskanzler Axel Oxenstierna, und die Versammlung der Reichsstände folgen der Vorgabe Gustav Adolfs und stellen 1634 mehrseitige Regeln für eine umfassende Allgemeinbildung der Königin auf. Deren Mutter, Eleonora von Brandenburg, wird von Oxenstierna, der selbst herrschen will, nach Schloss Gripsholm abgeschoben. Von dort flüchtet sie 1640 nach Dänemark und kehrt erst acht Jahre später wieder nach Schweden zurück. Auf die Erziehung der Tochter hat sie somit keinerlei Einfluss.

Christina, die später mehrere Fremdsprachen beherrschen sollte, wächst unter männlicher Regie auf. Sie schläft wenig, legt weder Wert auf Kleidung und ihr Äußeres noch auf Essen und Trinken. Stattdessen studiert sie nächtelang.

Mit 18 Jahren vollmündig geworden, übernimmt sie 1644 die schwedische Regentschaft.

In den nächsten Jahren beendet sie per Friedensvertrag den halb Europa verwüstenden Dreißigjährigen Krieg. Schon da zeigt sie aber auch eine gewisse Skrupellosigkeit. Denn obwohl die Friedensverhandlungen in Münster kurz vor dem Abschluss stehen, überfallen schwedische Truppen mithilfe eines kaiserlichen Verräters die Prager Kleinseite und den Hradschin. Als Christina am 5. August 1648 darüber informiert wird, befiehlt sie dem Kommandierenden umgehend, ihr die Bibliothek des deutschen Kaisers Rudolf II. und die Raritäten aus dessen Kunstkammer zu schicken, als »… das Einzige, was mir wirklich wichtig ist«1.

Die Raubkunst dieser und anderer Prager Bibliotheken umfasste rund 20 000 Bände. Hinzu kamen Gemälde – darunter Dürers Adam und Eva –, Marmorskulpturen, Bronzen von Adrian de Vries und viele Wagenladungen mit anderen Kunstgegenständen, Schmuckstücken, Gold, Silber und auch zahlreichen wissenschaftlichen Instrumenten.

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Christina von Schweden (links) und René Descartes (zweiter von rechts) bei einer Diskussion
Nils Forsberg nach einem Gemälde von Pierre-Louis Dumesnil, 1884

Manches aus der riesigen Kriegsbeute wurde wohl erst nach dem Münsteraner Frieden nach Schweden geschafft, was laut Friedensvertrag unzulässig war.2 Christina baute damit in der Heimat Bibliotheken auf und erfüllte den alten Traum ihres Vaters, das kunst- und kulturarme Schweden anderen europäischen Staaten anzunähern. Tatsächlich wurde unter ihrer Regentschaft Stockholm zu einem geistigen Zentrum. Die stets wissensdurstige, debattierfreudige Intellektuelle verbot die Hexenprozesse, unterstützte massiv die Universität in Uppsala, holte Gelehrte und Künstler aus aller Welt an den schwedischen Hof, darunter den deutschen Historiker Johannes Freinsheim und den niederländischen Philologen Isaac Vossius. Sie, die ihr Leben lang Philosophie, Literatur, Politik und andere Geisteswissenschaften studieren sollte, stand in engem Kontakt mit dem »Stern von Utrecht« genannten Universalgenie Anna Maria van Schurman und dem Philosophen Blaise Pascal. Der schenkte ihr eine seiner neu erfundenen mechanischen Rechenmaschinen.

Die überzeugte Humanistin war beeinflusst von den antiken Denkern, verstand sich als Neostoikerin und versuchte entsprechend, ihre Leidenschaften zu beherrschen. Später korrigierte sie diese Position wieder. Da kam sie zu der Überzeugung, dass man über die Leidenschaften nur triumphieren könne, wenn diese bloß schwach ausgeprägt seien.

In einer ihrer ständigen Debatten fragte sie nach der Natur der Liebe, und ob die zu Gott aus unserem natürlichen Wissen rekurriere. Und welche Leidenschaft habe schlimmere Folgen – die Liebe oder der Hass? Da aus ihrem Umfeld am Hofe niemand darauf antworten konnte, schickte Christina die Fragen an den französischen Philosophen René Descartes. Dessen Antwort überraschte sie. Er befand, dass die Liebe mehr Kraft und Macht habe als der Hass und darum gefährlicher sei. Es war der Beginn einer zunächst brieflichen philosophischen Freundschaft. Wissbegierig wie stets begann die Königin Descartes’ Philosophie intensiv zu studieren. Die erwies sich als schwierig. Kurzerhand lud sie ihn nach Stockholm ein, um sich persönlich unterrichten zu lassen. Geschmeichelt folgte er dem Ruf – ins Verhängnis.

Die schlaflose Regentin ließ den ausgewiesenen Langschläfer erst nach wochenlanger vergeblicher Wartezeit mehrmals bereits morgens um fünf zur philosophischen Audienz bitten. Dies und ein besonders eiskalter schwedischer Winter dürfte seine Gesundheit stark untergraben haben. Nach nur fünf Monaten Aufenthalt starb er am 11. Februar 1649 im Haus seines Gastgebers, des französischen Botschafters, in Stockholm.

Die vor einigen Jahren aufgekommene These, er sei (mit Arsen) vergiftet worden, ist eher unwahrscheinlich. Die überlieferten Symptome und der 10-tägige Krankheitsverlauf lassen eher eine Lungenentzündung vermuten. Gründe für einen Mordanschlag hätte es aber durchaus gegeben. Christina war so sehr von Descartes’ Philosophie angetan, dass diese sich in Schweden durchsetzte und – zum Leidwesen des Klerus – die Scholastik ablöste.

Die Kulturpolitik der Königin veränderte aber nicht nur die Philosophie, sondern das gesamte Kulturleben in Stockholm, einschließlich des städtischen Erscheinungsbildes. Eine kulturelle Blüte wie zu Christinas Herrschaft hat Schweden danach nie wieder erlebt.

Aber da ist auch die andere, zwiespältige, sprunghafte und sogar sehr dunkle Seite Christinas. Das Zwiespältige zeigt sich in ihrem Schwanken zwischen höfischer Prunksucht und persönlicher Vernachlässigung. So lässt sie ihre üppige Lockenpracht nur einmal wöchentlich kämmen, tritt beim Reichsrat wiederholt mit Männerkleidung und in dreckigen Reitstiefeln auf und schreit und flucht gelegentlich wie ein Fuhrknecht mit den Bediensteten. Noch deutlicher wird diese Seite bei ihrer plötzlichen Abdankung am 16. Juni 1654 – einer großen Überraschung für die europäischen Herrscherhäuser. Die genauen Gründe sind bis heute unbekannt. Möglicherweise wurde ihr das ständige subtile und offene Drängen des Reichsrates und ihres Umfeldes auf Verheiratung (und Geburt eines Thronfolgers) zu lästig. Immerhin hatte sie sich das schon bei ihren ersten Rücktrittsgedanken im Jahr 1651 verbeten, beziehungsweise sogar zu einer Bedingung für die weitere Regentschaft gemacht. Auch innenpolitische Gründe dürften eine Rolle gespielt haben: zum einen ihre angehäuften Schulden, die schon 1651 zu Volksprotesten geführt hatten, zum anderen war ihr die schnelle Hinrichtung von Vater und Sohn Messenius wegen angeblicher Verschwörung im selben Jahr – dabei trat wieder ihre dunkle Seite zutage – vom Volk nie ganz verziehen worden. Der Sohn hatte sie zwar öffentlich beleidigt, ein echter Verschwörer war er dagegen ebenso wenig gewesen wie der Vater.

Noch unglaublicher als die für den schwedischen Hochadel nicht ganz so überraschende Abdankung war ein anderer Entschluss: Die Tochter eines bekannten »Märtyrers« des Protestantismus hatte schon länger mit Anhängern des späteren Papstes Alexander VII. einen Übertritt zum Katholizismus besprochen. Den vollzieht sie, nachdem sie Schweden verlassen hat, am 24. Dezember 1654 in Brüssel zunächst im Geheimen, und im November 1655, auf der Reise nach Rom, in Innsbruck auch öffentlich. Der zwischenzeitlich zum Nachfolger von Innozenz X. gewählte Papst Alexander empfängt sie daher mit allen Ehren.

Christina, die seit der Firmung offiziell Maria Alexandra hieß, ihre Korrespondenz aber weiterhin mit Christina Alexandra unterzeichnete, sollte über 24 Jahre in Rom wohnen und noch mehrere Päpste überleben. Im Palazzo Corsini des Stadtteils Trastevere, den ihr Alexander zur Verfügung stellte, gab sie prachtvolle Empfänge und veranstaltete rauschende Feste mit Musik und Theateraufführungen. In ihren Räumen standen Bronzen und hingen Gemälde, die sie aus Stockholm mitgebracht hatte und die nach ihrem Tod in vatikanischen Besitz gelangten. Bernini verehrte sie, Corelli widmete ihr eine Violinsonate und Scarlatti war vier Jahre ihr Dirigent.

Als verständnisvoller und verlässlicher Begleiter stand ihr bis zu ihrem Tod Signore Decio Azzolini der Jüngere zur Seite, ein äußerst gutaussehender Mann und einer der wichtigsten päpstlichen Kardinäle. Er war wohl der einzige Mann, den sie, wie zahlreiche an ihn gerichtete Briefe beweisen, geradezu sklavisch geliebt hat. Vielleicht gerade weil er – seinem Gelübde treubleibend, wie sie selbst schriftlich beklagte – letztlich unnahbar und stets nur engster Freund blieb. Der schöngeistige Adelige verwaltete auch ihre Finanzen, konnte jedoch ihre neuerliche hohe Verschuldung nicht verhindern. Ein Grund dafür lag darin, dass Schweden die bei der Abdankung vereinbarte Apanage von 200 000 Rijkstalern aus Geldmangel radikal gekürzt hatte – und nur unregelmäßig zahlte. Zum anderen trat Christina auch in Rom als großzügige Mäzenatin auf. Sie förderte die Oper als neu entstandene Kunstform, gründete ein eigenes Theater, in dem erstmals auch Frauen auftraten und kleidete sich in gold- und silberbestickte Brokatgewänder, zu denen sie farbige Perücken trug. (An anderen Tagen wiederum lief sie in abgetragener Männerkleidung herum.)

Für ein ernsthaftes Zerwürfnis mit dem Papst sorgte die vom römischen Volk als »virago« (= Mannweib) verschriene Schwedin dann 1657. Sie hatte in Schloss Fontainebleau in Frankreich, wo sie wohl auch aus finanziellen Gründen die Krone von Neapel zu erhalten hoffte, einen Mord ausführen lassen. Ihr Günstling und Hauptstallmeister, der italienische Adelige Gian Rinaldo Monaldesco (auch Monaldeschi), wurde von ihr am 10. November 1656 in Fontainebleaus Galerie des Cerfs (= Hirschsaal) des Verrats beschuldigt. Er sollte ihre bei einem ersten Frankreichaufenthalt im Herbst 1656 mit Kardinal Jules Mazarin bereits ausgehandelten Neapel-Pläne den Spaniern offenbart haben. Außerdem hatte er Briefe verbreitet, die sie beleidigten. Als Monaldesco teilweise gestand, ließ Christina ihn mit den Worten, er möge beichten und sich zum Sterben bereit machen, von zwei Männern ihrer Leibwache grausam töten. Einmal mehr hatte ihre dunkle Seite die Oberhand gewonnen.

Zwar behauptete sie danach, auch als abgedankte Königin die Gerichtsbarkeit über ihre Untertanen zu haben, aber dies galt als strittig, da die Untat auf fremdem Territorium begangen worden war. Die Exzentrikerin hatte damit ein Recht beansprucht, das einzig Ludwig dem XIV. zustand. Der französische Hof und Mazarin gaben ihr deshalb zu verstehen, dass sie im Lande fortan unerwünscht sei. Ihr bisheriger Gönner Papst Alexander wiederum ließ sie auffordern, besser nicht nach Rom zurückzukehren. Sie setzte sich über beides hinweg. Frankreich verließ sie nach eigenem Gutdünken erst nach Monaten und kehrte am 14. Mai 1658 nach Rom zurück.

Hier starb Christina hochgeachtet über 30 Jahre später, am 19. April 1689, nach längerer Krankheit. Kardinal Azzolini, den sie als Universalerben eingesetzt hatte, ließ sie in seiner Kirche aufbahren und hielt selbst die Totenwache. Er überlebte sie nur um sieben Wochen.

Christinas bedeutendste Leistung für Philosophie und Literatur kam erst nach ihrem Ableben zum Tragen: Die Gründung der von ihr bereits 1656 erstmals geplanten Accademia degli Arcadi (Gesellschaft der Arkadier) im Oktober 1690. Deren Statuten – heute ausgestellt im Museo di Roma – waren von ihr 1680 entworfen worden. Inspiriert von den Tischgesprächen, die der Philosoph Platon in seinen Symposien beschrieben hatte, sollten keine Schmeicheleien die regelmäßigen öffentlichen Versammlungen bestimmen. Vielmehr sollte eine Diskussionskultur entstehen mit möglichst kurzen Statements sowie Argumenten pro und kontra. Christina, die zwar abgedankt hatte, jedoch noch immer wie eine Königin behandelt werden wollte, hatte auch noch die Literaturauswahl bestimmt: Gelesen werden sollten u. a. Platon, Aristoteles, Epiktet, Vergil, Cicero und Dante.

Die Accademia zählte schon bald zu einer der bedeutendsten Italiens und überdauerte zweieinhalb Jahrhunderte. Johann Wolfgang von Goethe gehörte später ebenso wie Torquato Tasso oder Isaac Newton zu den »Schäfern«, wie sich die Arkadier nannten.

Erst 1925 löste sich die längst nicht mehr so bedeutende Gesellschaft in der Accademia letteraria italiana auf. Neben der Satzung Christinas hinterließ sie auch deren Biographie: Historische Merkwürdigkeiten, die Geschichte der Königin Christina von Schweden betreffend3. Sie enthält ihre Zuschrift an Gott sowie mehr als 450 Aphorismen zu Fragen der Ethik, Liebe, Freundschaft, Glück, Tugend, Metaphysik, Lebensführung und Regierungskunst.

In diesen »Gedanken zum Beweise ihrer Gesinnungen« legte sie ein Plädoyer für die Tugend ab, da diese allein glücklich mache. Wenn man wirklich glücklich sein wolle, könne man das Glück entbehren, aber niemals die Tugend. Auch hier bekannte sie sich zum katholischen Glauben und zur Unsterblichkeit der Seele, obwohl ihre innerste Religion letztlich nur die der Philosophie war. Konsequenterweise nahm sie in einer ihrer Grundregeln den kategorischen Imperativ Kants vorweg: »Man muß einem anderen niemals etwas thun, als was man wohl von anderen leiden will.«4 Und wie später bei Kant zu lesen, hat auch für sie das menschliche Gewissen zentrale Bedeutung – es ist der Spiegel, der weder schmeichelt noch betrügt.

Jahrhundertelang war Christina von Schweden, die gelehrteste, berühmteste und mächtigste Frau ihrer Zeit, fast vollständig vergessen. Ebenso ihr Werk, das im Original in der Vatikanischen Bibliothek zu finden ist: Codices Reginensis Graeci et latini5. Einerseits kein Wunder, da sie über Jahrzehnte Roms Kulturgeschichte prägte – und doch so verwunderlich und zwiespältig, wie ihr Charakter und die Ehrung im Petersdom trotz eines Mordes war.

Werke

Gesammelte Werke. Autobiographie, Aphorismen, Historische Schriften, 1751/2; Neuauflage 1995

1Original: »… är detta det enda jag bryr mig riktigt om«. Acta Pacis Westphalicae (APW): Die schwedischen Korrespondenzen, IIC, 4/2, Münster. In: Aschendorff 1994, S. 669. Zit. n.: Jenny Öhmann. In: Frühneuzeit-Info 26, 2015, S. 240–248; Übers. W. Sch.

2Noch heute werden die Schweden nur ungerne auf die Prager Raubkunst angesprochen, zumal viele bedeutende Stücke später bei zwei großen Schlossbränden (einer davon in Finnland) unwiederbringlich zerstört wurden.

3… »zur Erläuterung der Geschichte ihrer Regierung und insonderheit ihres Privatlebens, wie auch der Civil- und Gelehrtenhistorie ihrer Zeit; nebst zweyen noch nie gedruckten Werken dieser gelehrten Prinzessin.« lautet der umständliche komplette Titel (Teil II, Amsterdam 1757).

4Königin Christina von Schweden. Gesammelte Werke. Autobiographie. Aphorismen. Historische Schriften. 1995, S. 114.

5Erst die Hamburger Verlegerin Annemarie Maeger legte 1995 ihre Schriften wieder neu auf.

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Ein Vorschlag Rudy Perrys wie Mary Astell ausgesehen haben könnte Frontispiz aus The Excellent Woman von Jacques du Boscs

MARY ASTELL

1666–1731

Philosophin, Schriftstellerin, Rhetorikerin

»Es ist wenig sinnvoll, gut zu denken und gut zu sprechen, es sei denn, wir leben auch entsprechend …«

Mary Astell, Serious Proposal II

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