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12.


Ich hatte Corbett kaum gekannt. Ich hatte ihn nicht leiden können. Aber er war ein tapferer Mann gewesen, und als er jetzt tot auf der Straße lag, während eine Windböe durch die Main Street strich und feine Staubschleier über die Leiche warf, krampfte sich in mir alles zusammen. Corbett war beileibe nicht die erste Leiche, die ich sah, trotzdem war mir jetzt schlecht.

Überall waren Kampf und Tod, nicht nur im Land der Indianer. In der Welt der Weißen war es nicht besser. Es war erst ein paar Wochen her, dass ich versucht hatte, unter den Weißen erneut Fuß zu fassen. Bis jetzt hatte ich dabei nur Gewalt kennengelernt.

Hier war die Zivilisation – zumindest wurde sie so genannt –, aber wer hier keine Waffe hatte, war übel dran. Ich fragte mich wieder einmal, warum die Apachen Wilde genannt wurden. Bei ihnen hatte ich zumindest mehr Gerechtigkeit kennengelernt als in der für mich neuen Welt. Und mehr Tapferkeit.

Ich schoss über das Fass hinweg, hinter dem ich saß. Sofort wurde das Feuer erwidert. Lange Schatten krochen durch die Stadt, und je tiefer die Sonne im Westen sank, umso zahlreicher und dunkler wurden sie.

Am Rande der Plaza, vielleicht fünfzig Yards von meiner Deckung entfernt, sah ich einen Mann stehen. Er trug einen Stern auf der schwarzledernen Weste. Wahrscheinlich war es der Town Marshal. Er schien sich nicht heranzutrauen.

Ich zog den Kopf ein, als Kugeln an mir vorüberschwirrten, dann hörte ich Hufschlag.

Ich wandte den Kopf und sah einen Reiter von Osten auf die Stadt zujagen. Er passierte bereits die ersten Häuser am Stadtrand. Es war Fred Gally.

Er sprengte durch die Main Street heran, trieb sein Pferd noch an, als er den Toten auf der Straße liegen sah, und warf sich aus dem Sattel, als die ersten Schüsse auf ihn abgefeuert wurden.

Sein Pferd scheute, als Kugeln vor ihm im Boden einschlugen und Staubfontänen in die Höhe schleuderten. Es bäumte sich auf und jagte im wilden Galopp davon.

Im selben Augenblick versuchte Jonathan Miller aus dem Schatten eines Vorbaudaches, der bisher seine einzige Deckung gewesen war, zu entfliehen. Er eilte mit unsicheren Schritten auf die Straße zu einem Hofeingang, wo einer seiner Kumpane stand. Er gelangte nicht weit. Er lief dem durchgehenden Pferd genau in den Weg. Sein Schrei gellte mir in den Ohren.

Die breite Brust des Hengstes erfasste ihn. Ein mächtiger Rammstoß schleuderte Jonathan Miller wie eine willenlose Gliederpuppe in die Luft. Er überschlug sich. Sein langer Mantel flatterte auseinander wie die Flügel eines riesigen, hässlichen Vogels. Gleich einem Bündel Lumpen prallte Miller in den Staub und wurde im nächsten Augenblick von den wirbelnden Hufen des Pferdes getroffen.

Millers Schrei brach jäh ab. Ich sah, wie die Hufe seinen Schädel trafen. Sein spitzer Hut rollte durch den Staub, Millers Kopf verwandelte sich in eine blutige Masse. Dann war das Pferd über ihn hinweg und sprengte über die Plaza davon. Miller rührte sich nicht mehr.

Ich richtete mich auf und hetzte über den Gehsteig zu Fred Gally hinüber, der an der Westecke des General-­Stores stand. Außer Atem blieb ich neben ihm stehen. Sein kantiges Gesicht wirkte noch härter. Scharfe Falten hatten sich hineingekerbt.

„Shita war davongelaufen“, sagte ich. „Als ihm Miller über den Weg lief, griff er ihn sofort an. So fing alles an.“

„Man soll keine Pläne schmieden“, sagte Gally. Er spähte auf die Straße hinaus, wo Jim Corbett lag. „Alles war so schön geplant. Wir hätten die ganze Bande ausheben können. Aber so ist das Leben ...“

„Ich habe einen erwischt“, sagte ich. „Er liegt in der Tür der Spielhalle.“

„Die anderen kriegen wir auch“, sagte Gally. „Wie viele sind es noch?“

„Zwei“, erwiderte ich. „Einen habe ich erwischt, und Ihr Pferd hat Miller zu Mus gestampft. Jetzt sind da noch der Anführer und ein junger Bursche mit bleichem Gesicht.“

„Den zuerst“, sagte Gally. „Ist das der im Hofeingang dort drüben?“

Ich nickte.

„Du bleibst hier stehen. Ich hole ihn mir.“ Gally wartete meine Antwort nicht erst ab. Er drehte sich um und lief durch den Hof, in dem wir standen. Er schwang sich über den rückwärtigen Zaun und war verschwunden. Ich wartete mit dem Revolver in der Faust. Während ich die andere Straßenseite beobachtete, dachte ich an Shita. Ob seine Verletzung schwer war? Ob er mich würde begleiten können, wenn ich meinen Weg fortsetzte?

Der Abend sank auf die Stadt. Im Westen verglühte die Sonne. Ich nestelte die Pulverflasche von meinem Gürtel und lud die abgeschossenen Kammern der Trommel neu auf.

Unvermittelt sah ich Gally auftauchen. Er trat aus einer Seitengasse, die er auf dem Umweg über mehrere Höfe erreicht haben musste, und überquerte so schnell die Straße, dass er bereits in Sicherheit war, als ein paar Schüsse krachten. Er arbeitete sich vorsichtig an den Hofeingang heran, in dem der Bandit mit dem bleichen Kindergesicht stand. Als er nur noch wenige Yards von der Deckung des Killers entfernt war, eröffnete ich das Feuer.

Meine Kugeln beharkten die Toreinfassung. Der Bandit dahinter kam nicht zum Schuss. Dann hatte Gally das Tor erreicht, und ich stellte das Feuer ein. Dafür bellte Gallys Revolver auf. Ich hörte einen Schrei, und einen Sekundenbruchteil danach taumelte der Bandit aus dem Hofeingang. Er hielt beide Hände vor dem Leib verkrampft und bewegte sich schwankend, den Oberkörper weit nach vorn gebeugt. Sein bleiches Kindergesicht war verzerrt.

Er stolperte durch die Pulverdampfschwaden, die über der Straße schwebten, taumelte an der Leiche von ­Jonathan Miller vorbei und ging schließlich in die Knie. Er stieß einen letzten, qualvollen Schrei aus. Dann schoss Fred Gally ihm seitlich in den Schädel. Der Bandit kippte auf die Seite und rührte sich nicht mehr.

Ich sah jede Phase seines Sterbens, aber ich verspürte kein Mitleid. Ich dachte an Nap, den dieser Mann und seine Kumpane an die Wand des Stalles genagelt hatten, und ich dachte an Chet Duncan, den sie am Gerüst des Windrades aufgehängt und dann erschossen hatten. Nein, ich hatte keinen Grund, Mitleid zu empfinden. Dieser Mann hatte bedenkenlos gemordet. Er hatte Menschen abgeschlachtet, nur weil sie anders dachten als er.

„Ronco!“, rief Gally von der anderen Straßenseite. Seine Stimme schreckte mich aus den Gedanken.

„Behalte die Tür im Auge. Ich geh hinten ’rum!“ Er deutete auf die Spielhalle, in der sich der schnauzbärtige Anführer der Mordreiter aufhalten musste.

Ich antwortete dem U.S. Marshal nicht. Er wartete auch nicht darauf. Ich sah ihn hinter dem Gebäude verschwinden. Dann erst bemerkte ich in der sich verdichtenden Dämmerung einen Schatten.

Ein Mann rannte mit großen Sätzen davon. Er musste aus einem Fenster an der Ostseite der Spielhalle gesprungen sein. Ohne sich umzudrehen, flüchtete er in Richtung der Bahnstation von Pierceville. Es war der große, breitschultrige Mann mit dem dünnen Oberlippenbart.

„Stehen bleiben!“, schrie ich. Ich verließ meine Deckung, hob den Colt und feuerte. Aber ich traf nicht. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Diesen Mann wollte ich haben. Er sollte nicht entwischen. Er war ­verantwortlich für die Morde, er hatte sie befohlen.

Seitlich von mir tauchte Fred Gally auf. Er hatte die Spielhalle von hinten betreten und verließ sie jetzt durch die Schwingtür an der Vorderfront. Auch er sah den Killer laufen und schloss sich mir sofort an. Gemeinsam stürmten wir hinter dem Mörder her die Straße hinunter. Einen Moment verloren wir ihn aus den Augen, als er in eine schmale Gasse einbog, die zu den Frachtschuppen der Bahnanlage führte, dann tauchte er wieder vor uns auf. Wir schossen beide, trafen wieder nicht. Der Mann drehte sich um und schoss zurück. Er schoss gut. Er zwang uns, Deckung zu nehmen. Aber als er weiterlief, waren wir wieder hinter ihm.

„Wir kriegen ihn“, keuchte Gally neben mir. „Lauf hinterher nicht weg. Ich brauche einen Zeugen für meinen Bericht und für alles andere.“

„Was heißt das?“

„Du musst aussagen, was du heute alles erlebt hast, was du auf den Farmen beobachtet hast, und wie die Schießerei hier abgelaufen ist.“

Ich antwortete nicht. Mich interessierte das alles nicht. In mir breitete sich eine große Leere aus. Alles, was ich noch wollte, war, dass der Anführer der Mörder bestraft wurde. Mehr interessierte mich nicht. Ich wollte ’raus aus dieser Sache, wollte nichts mehr damit zu tun haben.

Wir erreichten das Bahngelände. Der Killer hatte keinen sehr großen Vorsprung mehr. Er hastete über die Schienen auf eine Remise zu.

Als er über eine Weiche sprang, stolperte er und stürzte hart auf einen Schienenstrang. Er stemmte sich mühsam hoch. Durch die Dämmerung rollte ein Zug heran, auf dem Gleis, auf dem sich der Bandit befand. Noch war er vom Führerstand der Lok aus wahrscheinlich nicht zu sehen. Der Zug fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter.

Der Killer lief wieder. Er hinkte stark und zog das linke Bein nach.

Neben mir blieb Fred Gally stehen, fasste den Griff seines Revolvers mit beiden Händen, zielte und schoss.

Trotz des Dämmerlichtes und trotz der Entfernung von über dreißig Yards traf er den Banditen.

Der Killer zuckte zusammen und stürzte wieder auf die Schienen. Er versuchte verzweifelt, hochzukommen. Sekunden später erfasste ihn der Lichtstrahl der Kerosin­laterne am Bug der Lokomotive. Er riss beide Hände vors Gesicht. Grell kreischte die Dampfpfeife, laut und durchdringend schrillten die Bremsbacken auf den Waggon­rädern. Aber es war zu spät. Der Zug rollte über den Mann hinweg.

Ich wandte mich rasch ab.


*


Shita lag auf der Seite und hatte alle viere von sich gestreckt, als ich ihn fand. Es war nun bereits dunkel. An ein paar Vorbauten hingen Laternen und verbreiteten ein trübes Licht. Ich hockte mich neben Shita auf den Boden. Er schlug müde mit dem Schwanz.

Ich strich ihm über den Kopf und tastete mit spitzen Fingern über sein Fell.

„Ist es schlimm?“, murmelte ich sanft. „Dieser ­Marshal wollte mich dabehalten, als Augenzeugen. Aber ich habe mich verdrückt. Das Beste ist es, wenn wir schleunigst die Stadt verlassen, bevor sie uns finden und festhalten. Die Sache ist erledigt. Was wir wollten, haben wir gekriegt. Die Mörder von Nap und Mr. Duncan sind tot. Alles andere geht uns beide nichts an. Haben sie dich schlimm erwischt?“

Ich ertastete die Wunde mit den Fingerkuppen. Es war nur ein Streifschuss, bereits verkrustet. Shita hatte Glück gehabt.

„Wirst du laufen können?“, fragte ich.

Ich schaute ihm in die Augen. Dann zog ich die beiden in Zeitungspapier gepackten Brote unter dem Hemd hervor, nahm eins und stopfte es Shita ins Maul. Dankbar schlang er es hinunter. Ich verzehrte das zweite und warf das Papier weg.

„Versuch es“, sagte ich, während ich aufstand. „Wenigstens für ein paar Meilen, sodass wir aus der Stadt ’raus sind und keine Fragen mehr beantworten müssen.“

Er schien zu verstehen, um was es ging. Er winselte leise, dann richtete er sich auf, obwohl er bei jeder Bewegung Schmerzen zu haben schien.

Ich warf einen Blick auf die Main Street. Sie war wie leer gefegt. Wahrscheinlich saß Fred Gally noch immer geduldig im Office des verängstigten Town Marshals, der noch nie eine Schießerei in Pierceville erlebt hatte. Die Beamten warteten auf mich. Ich hatte mich mit der Begründung verdrückt, dass ich Shita holen müsse. Das war nicht gelogen gewesen. Ich hatte nicht versprochen, zurückzukehren.

„Los“, flüsterte ich Shita zu.

Und er setzte sich in Bewegung und folgte mir, nicht ganz so leichtfüßig und schnell wie sonst, aber mit recht sicheren Bewegungen.

Wir verließen die Stadt in Richtung Osten. Erst gegen Mitternacht wagte ich es, eine Pause einzulegen. Zu diesem Zeitpunkt war auch Shita völlig erschöpft.

Wir verkrochen uns unter einem dichten Weidenbusch, unmittelbar bei einem Bach, und schliefen rasch ein. Über mir sah ich den sternenübersäten Himmel, bevor ich die Augen schloss.

Ich fragte mich, wie es weitergehen und wohin ich mich wenden sollte. Ich suchte Ruhe und Frieden, wie ich es eine Woche lang auf der Duncan-Farm erlebt hatte. Ich suchte eine neue Heimat, ein Zuhause. Ob ich es jemals finden würde? Vielleicht wollte ich zu viel. Ich war ja nur ein Waisenjunge. Ich durfte keine Ansprüche stellen, ich musste zufrieden sein mit dem, was sich mir bot.

Bei Sonnenaufgang würde ich weiterziehen, getrieben von der Hoffnung darauf, dass einer der vielen Sterne, die ich am Nachthimmel über mir sah, mir gehörte. Die Zukunft lag im Dunkel, genauso wie der Weg zu ihr. Trotzdem würde ich versuchen, ihn zu finden, mir das Morgen zu erkämpfen.

Es war gut, zu wissen, dass ich nicht allein sein würde. Ich hatte Shita bei mir, einen besseren Freund würde ich kaum finden.

RONCO


In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Dietmar Kuegler Ich werde gejagt

2702 Dietmar Kuegler Der weiße Apache

2703 Dietmar Kuegler Tausend Gräber

2704 Dietmar Kuegler Apachenkrieg

2705 Dietmar Kuegler Das große Sterben

2706 Dietmar Kuegler Todesserenade

2707 Dietmar Kuegler Die Sonne des Todes

2708 Dietmar Kuegler Blutrache

2709 Dietmar Kuegler Zum Sterben verdammt

2710 Dietmar Kuegler Sklavenjagd


Dietmar Kuegler


Blutrache





Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2020 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-157-1

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!


Blutrache


23. Februar 1879.

Ich befinde mich weit im Norden New Mexicos und reite auf Colorado zu. Überall liegt noch Schnee. Es ist kalt. Der Wind von den nahen Bergen ist schneidend und eisig. In ein paar Wochen aber wird auch hier die Schneeschmelze einsetzen.

Hinter mir liegen schlimme Tage, und vor mir ist nichts als Ungewissheit.

Vielleicht verläuft mein weiterer Weg ruhiger, aber wahrscheinlich ist das nicht, und ich kann es auch nicht glauben.

Colorado ist eine neue Hoffnung. Wie viel sie wert ist, wird sich zeigen. Es wird schon schwer genug sein, die Staatsgrenze zu erreichen und dafür zu sorgen, dass sich nicht neue Verfolger auf meine Fährte setzen. Nur wenn ich mir meine Feinde lange genug vom Leibe halten kann, habe ich die Chance, meinem Ziel etwas näher zu rücken.

Im Windschatten eines überhängenden Felsens habe ich mein Lager aufgeschlagen. Ein Feuer brennt. Es dämmert, und solange das Tageslicht noch ausreicht, will ich weiter an der Geschichte meines Lebens schreiben.

Die Nähe der Coloradogrenze trägt dazu bei, dass mir alle Einzelheiten aus der Zeit, in der ich meine ersten unsicheren Schritte zurück in die Welt der Weißen unternahm, klar und deutlich vor Augen stehen. Ich brauche mich nicht zu bemühen, die Erinnerung an diese Zeit in meinem Leben erst zu wecken. Sie ist da, gegenwärtig, und im Moment drängt sie sich mir geradezu auf. Denn es war in Colorado, wo ich damals, 1859, vor zwanzig Jahren, meinen Weg in die neue Welt begann.



1.


Ein kühler Wind strich über die Ebene am Fuße der La-Plata-Berge. Der Himmel hatte die Farbe von abgestandener Seifenlauge. Es war kurz vor Mittag, und es sah nach Regen aus.

Ich blieb im Schatten eines riesigen Granitfindlings stehen, der sich wie ein Monument aus dem kniehohen Büffelgras erhob. Ich schaute zum Himmel. Von Norden schob sich eine breite Wolkenbank heran. Im selben Moment fielen die ersten Tropfen, kalt und schwer.

Ich fröstelte und blickte mich um. Weit und breit gab es nichts, wo ich mich hätte verkriechen und den Regen abwarten können. Die Ebene um mich herum dehnte sich endlos, und ich befand mich mitten in der weiten Grasfläche, jämmerlich klein und verloren.

Ich setzte mich wieder in Bewegung, obwohl meine Glieder schmerzten und ich die Füße kaum noch hochkriegte.

Seit Stunden war ich unterwegs und auf der Suche nach etwas Essbarem. Der Proviant, den ich mitgenommen hatte, als ich vor über einer Woche Silverton verlassen hatte, war längst aufgebraucht. Seit gestern ernährte ich mich von wilden Beeren und Früchten, um den ärgsten Hunger zu stillen. Aber das hielt nie sehr lange vor.

Der Regen fiel jetzt in dichten, bleigrauen Fäden. Der Wind von den Bergen ließ nicht nach und trieb ihn in Böen seitlich gegen mich. Binnen weniger Minuten war ich völlig durchnässt und fror. Trotzdem lief ich weiter.

Ein paar flache Hügel erhoben sich plötzlich wie Inseln aus der Sturzflut des Regens vor mir. Wie lange ich gelaufen war, wusste ich nicht. Ich stapfte hinauf, den Kopf eingezogen, während der Regen mir ins Gesicht peitschte.

Ein Stück unterhalb sah ich einen Handelsposten unmittelbar neben einer ausgefahrenen Wagenstraße, auf der sich große Pfützen bildeten und die zum Teil bereits völlig unter Wasserlachen verschwunden war. Ich spürte die Erschöpfung und den wühlenden Hunger in mir in diesem Moment nicht mehr so stark. Trotz meiner schmerzenden Füße lief ich durch das immer heftiger tobende Unwetter auf die Gebäude zu.

Wie ausgestorben lag der Handelsposten im strömenden Regen vor mir. Ich erreichte den Hofeingang, der durch zwei hohe Pfähle gebildet wurde, zwischen denen an rostigen Ketten ein Schild aus starkem Holz hing, das vom Wetter heftig hin und her gerissen wurde. Erst da sah ich hinter einem Fenster des flachen Hauptgebäudes ein schwaches Licht. Sturmböen trieben mich über den Hof zum Stall hinüber. Sie drückten wie mit tausend Fäusten gegen das hohe Tor, sodass ich alle Mühe hatte, es einen Spalt zu öffnen und hineinzuschlüpfen. Das Tor schlug hinter mir zu. Ich hörte den Regen dagegenprasseln und lehnte mich erschöpft mit dem Rücken an die Wand. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an das Zwielicht, das im Stall herrschte. Die Luft war dumpf und erfüllt von intensivem Heugeruch, von ­Pferdeschweiß und Lederfett. Aber es war auch warm und trocken, und draußen schüttete es wie aus Kübeln.

Stroh knisterte unter meinen Füßen, als ich den Gang zwischen den Pferdeboxen durchquerte. Nur vier der Boxen waren besetzt. Ich sah mit einem Blick, dass es sich bei den Tieren um Wagenpferde handelte. Eins wandte den Kopf und schnaubte nervös, als ich hinter ihm vorbeiging. In einer leeren Box hockte ich mich ins weiche Heu, zog die Beine an den Leib und lehnte meinen Kopf gegen das raue Holz der Boxwand. Müdigkeit stieg in mir auf, und der Hunger erschien mir auf einmal nicht mehr so schlimm. Ich öffnete die Feldflasche, die ich am Gürtel trug, trank einen Schluck von dem abgestandenen Wasser und schloss die Augen. Draußen heulte der Wind um die Ecken des Gebäudes, monoton rauschte der Regen. Das Unwetter war jetzt endlos weit weg. Wohlige Wärme erfüllte mich, der Duft des Heus wirkte betäubend. Meine nasse Kleidung begann zu trocknen, ich spürte sie kaum noch. Die Spannung in meinem Körper wich. Eine angenehme Schwere kroch durch meine Glieder, und ich schlief ein.


*


Das Stalltor knarrte laut in den Angeln. Ich schlug die Augen auf und wälzte mich schwerfällig herum. Ich lag im Heu. Im Schlaf war ich anscheinend zur Seite gesunken.

Schritte waren auf dem Gang zwischen den Boxen zu hören. Sekundenlang lag ich wie gelähmt da und versuchte, mich zu erinnern, wo ich mich befand. Meine Erschöpfung war größer gewesen, als es mir selbst bewusst gewesen war. Meine Reaktionen waren noch immer träge, nur tröpfchenweise kehrte die Erinnerung zurück.

Schwerfällig tastete ich mit der Rechten zum Griff des Navy-Colts, der schräg in meinem Hosenbund steckte. Als ich den kühlen Nussbaumgriff umschloss, fühlte ich wieder Zuversicht in mir. Die bleierne Müdigkeit wich.

Es war stockfinster im Stall, bis auf einen kargen Lichtschein, der mit den Schritten auf dem Gang herumwanderte, aber nicht sonderlich weit reichte. Draußen war es still. Das Unwetter war offenbar vorbei.

Ich überlegte, was ich tun sollte. Ich hatte nichts Unrechtes getan und fragte mich, was ich eigentlich zu befürchten hatte. Andererseits gab es sehr wohl Gründe für mich, vorsichtig zu sein. Ich war ein Fremder in diesem Land, ein Kind zudem, wenn ich auch älter und reifer wirkte, als ich war. Ich war allein, abgehetzt, hungrig, schmutzig. Man würde mich für einen Vagabunden halten, vielleicht sogar für einen Dieb. In jedem Fall würde ich eine Menge Fragen über mich ergehen lassen müssen. Womöglich würde man mich dann zurück nach Silverton bringen, von wo ich fortgelaufen war. Noch war ich nicht weit genug von der Stadt entfernt.

Ich hielt den Atem an und lauschte. Es schien ein einzelner Mann im Stall zu sein. Er schüttete frisches Heu in die Raufen der Pferdeboxen, redete leise mit den Tieren, klopfte jedem auf den Hals und schlurfte schließlich durch den Stall. Ich kauerte mich noch mehr zusammen, machte mich so klein wie möglich und hoffte, dass er bald gehen würde.

Aber er ging nicht. Er trug seine Heugabel zum hinteren Ende des Stalls und stellte sie neben andere ­Werkzeuge an die Wand. Als er zurückkehrte, leuchtete er mit seiner Laterne in jede Box. Ich fluchte lautlos, presste mich hart gegen die Boxwand und hoffte, dass der Schein der Laterne über mich hinweggleiten würde.

Der Mann ging an der Box vorbei, in der ich hockte. Das Licht tanzte über den staubigen Boden und streifte mich nur. Ich hörte, wie der Mann sich räusperte. Er stand als großer Schatten vor mir in der Finsternis, nur seine Beine waren im Lichtkreis der Laterne eingefangen. Er trug ausgebeulte, abgewetzte Arbeitshosen und ausgetretene, schmutzige Stiefel.

Das Licht wanderte zu mir zurück, erfasste mich voll und blendete mich für einen Sekundenbruchteil. Ich war entdeckt.

„Wer bist du? Wo kommst du her?“

Die Stimme des Mannes klang dunkel und knarrend, fast wie die rostigen Angeln des Stalltores.

„Ich habe hier geschlafen“, sagte ich. „Während des Regens.“

„Das habe ich nicht gefragt.“ Der Mann stellte die Laterne auf die Seitenwand der Box, in der ich kauerte. Jetzt erfasste ihn der Lichtschein ganz. Er hatte ein faltiges, lederhäutiges Gesicht, das müde und abgearbeitet wirkte. Auf dem Kopf trug er einen löchrigen Strohhut. Breite Gummihosenträger pressten ein verwaschenes Baumwollhemd in seine hageren Schultern. Er war nicht rasiert.

„Ich habe nichts getan“, sagte ich. „Ich habe nur geschlafen.“

„Du sollst sagen, wo du herkommst und wer du bist!“ Die Stimme des Mannes klang jetzt drohend.

„Von Westen“, sagte ich.

„Du glaubst wohl, du kannst mich auf den Arm nehmen.“ Er bückte sich ein Stück zu mir herunter. „Wir werden schon rauskriegen, was du für einer bist.“

Die Faust, die er nach mir ausstreckte, war groß, rissig und schwielig. Ich richtete mich jäh aus meiner zusammengekrümmten Haltung auf und zog den Navy-Colt aus dem Hosenbund.

„Rühren Sie mich nicht an.“

Der Daumen meiner Rechten lag auf dem Hahn des Revolvers. Der Kämpferinstinkt aus meiner Zeit bei den Apachen wurde in mir wach.

Der Mann vor mir wurde blass. Seine Faust fiel herab. Er starrte sprachlos auf die große Waffe in meiner Rechten.

„Zur Seite“, sagte ich.

„Schieß nicht, Junge“, sagte er. Er wich einen Schritt zurück.

„Ich habe hier nur geschlafen“, sagte ich. „Ich habe nichts gestohlen und nichts zerstört.“

„Ja, ja“, sagte der Mann. „Ich wollte dir ja nichts tun.“

Ich trat an dem Mann vorbei auf den Gang hinaus. Mit hängenden Schultern stand er mir gegenüber. Er war ein halben Kopf größer als ich. Natürlich war er breiter, obwohl ich mit meinen dreizehneinhalb Jahren wie siebzehn aussah, sehnig und geschmeidig war, kräftige Schultern und muskulöse Arme hatte und sich ein paar scharfe Züge in mein Gesicht gegraben hatten. Das harte Leben bei den Apachen hatte mich geprägt. Nicht nur äußerlich, auch innerlich war ich reifer als die meisten anderen in meinem Alter. Bei den Apachen war ich ein vollwertiger Krieger gewesen. Ich war unter Black Hawk und Cochise geritten und hatte an einem großen Feldzug teilgenommen. Der Kampf ums Überleben war mein tägliches Brot geworden. Ich hatte weiße Soldaten getötet.

Nein, ich war kein Kind mehr, nicht nach allem, was hinter mir lag.

„Steck das Ding weg“, sagte der Mann. „Du musst doch verstehen, dass ich erschrocken war, als ich dich hier im Stall entdeckte.“

„Ich will nur was zu essen“, sagte ich. „Dann ziehe ich weiter. Ich kann auch bezahlen.“

„Wir reden über alles“, sagte der Mann. „Drüben im Haus, okay?“

Ich schaute ihn prüfend an und nickte. Als ich den Revolver herunternahm, griff der Mann mich an. Ich hatte das erwartet. In seinen Augen, die gerade noch voll Nervosität und Angst gewesen waren, blitzte jetzt die Wut.

Er hatte mich unterschätzt. Ich sprang rasch zwei Schritte zur Seite. Der Angriff des Mannes stieß ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht, taumelte an mir vorbei und stolperte über meinen rechten Fuß, den ich ihm in den Weg stellte. Meine Rechte mit dem Revolver stieß hoch. Ich schlug zu. Der kantige Lauf des Navy-Colts traf den Hinterkopf des Mannes.

Der Mann, den ich für einen Stallknecht hielt, sackte mit dumpfem Stöhnen nach vorn und fiel mit dem Gesicht in den Staub des Ganges. Der Strohhut rutschte ihm vom Kopf. Zwischen dem dünnen Haar auf dem Hinterkopf entdeckte ich etwas Blut.

Ich steckte den Revolver weg und ging an dem Bewusstlosen vorbei zum Stalltor. Die Laterne ließ ich stehen.

Als ich auf den Hof trat, traf mich der kühle Westwind. Fröstelnd zog ich die Schultern hoch.

Es war Abend. Hinter den La-Plata-Bergen verglühte die Sonne. Während ich über den Hof ging, fuhr ich mit der Rechten in meine Hosentasche. Darin klimperten die zehn goldenen Zwanzig-Dollar-Stücke. Zweihundert Dollar insgesamt. So viel Geld hatte mir die Bank von Silverton als Belohnung dafür gezahlt, dass ich einen Banküberfall vereitelt und einen Banditen erschossen hatte, während die braven feigen Bürger der Stadt angstzitternd in ihren Häusern gesessen hatten. Sie hatten mich dann als Helden gefeiert, und als später die Banditen zurückkehrten, um sich mit brutalem Terror zu rächen, da hatten sie mich ihnen ausliefern wollen, die braven feigen Bürger, um sich selbst zu retten.

Ich erreichte das Hauptgebäude des Handelspostens und blieb einen Moment zögernd stehen, dann betrat ich den überdachten Vorbau und stieß die Tür auf.

Im Innern der Station war es hell und freundlich. Roh gezimmerte Tische mit sauber gescheuerten Platten standen in einem kleinen Aufenthaltsraum. Ein paar Petroleumlaternen hingen an schenkelstarken Deckenbalken und erhellten den Raum. Seitlich der Tür befand sich eine zehn Fuß lange Theke. Dahinter stand ein magerer, großer Mann mit krummem Rücken und schütterem, grauen Haar. Er schaute mich überrascht an, als ich über die Schwelle trat.

Ich ging auf die Theke zu und spürte angesichts der vielen Lebensmittel, die sich dahinter in zahlreichen Regalen türmten, wie stark mein Hunger war.

Meine Knie waren plötzlich weich, und mein Leib schien ein leeres Loch zu sein. Es war für mich fast ein Wunder, dass ich mich noch auf den Beinen halten konnte.

„Geben Sie mir ein Brot“, sagte ich und zeigte auf einen großen, runden Laib Maisschrotbrot. „Und Trockenfleisch, Speck und Trockenobst“, sagte ich.

Der Mann hinter dem Tresen starrte mich immer noch entgeistert an. An seiner Stelle hätte ich das vermutlich auch getan. Ich sah nicht gerade gut aus, mit meinem blonden strähnigen Haar, das mir fast bis auf die Schultern hing, meiner abgerissenen, verdreckten Kleidung und dem hohlwangigen, von Schrammen gezeichneten Gesicht.

„Ich kann bezahlen“, sagte ich, und zog einen goldenen Double Eagle aus der Tasche. „Also, geben Sie mir die Sachen. Ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen.“

„Wo kommst du her?“ Der Mann hinter der Theke blickte abwechselnd auf das Goldstück und auf mich. „Wo hast du das Geld her?“

Ich dachte an den Mann im Stall. Ich hatte nicht unbegrenzt Zeit. Wenn er wieder zu sich kam, hatte ich zwei Gegner, und vielleicht gab es in der Station noch mehr Leute. Grund genug, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

„Es ist mein Geld“, sagte ich. „Und wo ich herkomme, geht Sie nichts an. Ich will etwas kaufen und dafür bezahlen. Also geben Sie mir jetzt die Sachen.“

„Moment mal“, sagte er. „So geht das nicht. Du siehst aus, als sei jemand hinter dir her. Ich will keinen Ärger.“

„Den werden Sie aber kriegen“, sagte ich. Ich schaute ihn drohend an.

Sein mageres Gesicht nahm einen verschlagenen Ausdruck an. Seine Hände tasteten unter die Theke. Zorn erfüllte mich. Ich ließ die goldene Münze in die Tasche zurückgleiten und zog den Navy-Colt.

„Zurück“, sagte ich. „Und Hände hoch.“

Seine Hände zuckten hoch, als hätte er eine heiße Herdplatte berührt. Gehorsam trat er einen Schritt zurück. Ich umrundete die Theke und sah sofort die abgesägte doppelläufige Schrotflinte unter dem Tresen liegen.

„Packen Sie mir sofort ein, was ich verlangt habe“, sagte ich. „Sonst schieße ich Ihnen den Kopf von den Schultern. Und glauben Sie nicht, dass Ihnen jemand beistehen wird. Im Stall liegt einer, dem habe ich auf den Kopf geklopft.“

Der Stationer wurde noch blasser, als er schon war, und nahm hastig einen leeren Kaffeesack aus festem Leinen aus einem Regal.

„Brot?“, fragte er, und griff bereits danach, um es in den Sack zu stecken. „Trockenfleisch auch, ja?“

Ich zog die Schrotflinte unter der Theke hervor und nickte nur. Die Hände des Stationers zitterten, als er alles in den Sack stopfte, was ich bestellt hatte.

„Schreiben Sie auf, was es kostet“, sagte ich. „Ich bezahle.“

Er warf mir einen ungläubigen Blick zu, tat aber dann, was ich verlangte. Mit einem abgekauten Bleistiftstummel kritzelte er auf dem Rand einer alten Zeitung ein paar Zahlen untereinander. Während er rechnete, bewegten sich lautlos seine blutleeren Lippen.

Mit den Ellenbogen stützte er sich auf den Tresen und schaute mich von der Seite an. „Sechs Dollar und fünfundzwanzig Cents“, sagte er.

Ich nahm den Navy-Colt in die linke Faust, griff mit der Rechten in die Hosentasche und zog das Goldstück wieder heraus. Fast im selben Moment nahm ich Hufschlag und das Poltern und Knarren eines schnell fahrenden Wagens wahr. Binnen Sekunden schwoll das Geräusch an, sodass es nicht mehr zu überhören war.

Ich bewegte mich rückwärts bis zu einem Fenster des Stationsraumes und warf einen Blick hinaus. Da sah ich eine große Concord-Kutsche auf den Hof rollen. Staub wirbelte unter den donnernden Hufen und den rasenden Rädern auf. Auf dem Bock zerrte ein untersetzter, bärtiger Mann an den Zügeln. Die Kutsche wurde langsamer und blieb unmittelbar vor der Tür des Stationsgebäudes stehen. Geschirrketten klirrten, feuchte Lederriemen knarrten. Eine raue Männerstimme hallte über den Hof, und der Kutschenschlag öffnete sich. Dann näherten sich harte Stiefelschritte dem Haus.



2.


Ich lief um die Theke herum auf den Stationer zu. Der Lauf des Revolvers zeigte auf seinen Kopf.

„Das ist die planmäßige Kutsche!“, rief er. Seine Stimme klang hell vor Nervosität. „Sie hat Verspätung, wegen des Regens.“

„Das ist mir egal“, sagte ich. „Ich will keinen Ärger, ich will nur etwas kaufen und dann wieder gehen. Sie werden keinem Menschen etwas davon sagen, dass ich hier bin, klar?“ Ich ging, ohne ihn aus den Augen zu lassen, auf eine Tür hinter der Theke zu. „Was ist dahinter?“

„Ein Lagerraum“, sagte er.

„Gibt es noch mehr Leute hier?“

„Meine Frau, aber die ist oben im Haus.“

„Es liegt an Ihnen, ob es hier eine Schießerei gibt“, sagte ich. „Ich werde hinter der Tür stehen, mit dem Revolver in der Hand.“

„Wenn du nichts zu befürchten hast ...“ Ich merkte, wie der Stationer sicherer wurde.

„Ich habe nichts zu befürchten“, sagte ich. „Aber ich weiß, dass anscheinend jeder glaubt, über mich verfügen zu können, dass jeder versucht, mich auszufragen, und dass jeder mir Ärger macht.“

Etwas in meinen Blicken schien den Stationer zu warnen. Er schwieg und nickte nur. Ich stieß die Tür zum Lagerraum auf und schlüpfte hinein. Einen Fingerbreit ließ ich sie offenstehen und lehnte mich daneben an die Wand.

Fast gleichzeitig schwang die Tür des Aufenthaltsraums in Innere. Von draußen trat der Fahrer der Kutsche herein. Er hatte ein Gesicht wie eine Runkelrübe, sein struppiger roter Bart stand wie ein Unkrautgewächs von seinem Kinn ab. Er trug einen knielangen Regenumhang aus festem Stoff, in dem noch die Feuchtigkeit des Unwetters nistete.

„Das war eine Fahrt“, sagte er lärmend. „Zweimal sind wir stecken geblieben. Dieser gottverfluchte Regen.“

Er warf seinen Umhang auf einen Stuhl. Hinter ihm traten drei Fahrgäste in den Aufenthaltsraum und schlossen die Tür.

Zuerst erschien eine matronenhaft wirkende Frau, die in gewaltige Mengen schwarzen Stoffes gehüllt war und eine Kapuze auf dem Kopf trug. Ihr folgten zwei Männer. Einer davon war untersetzt und hatte einen kantigen Schädel, von dem sein blondes Haar wie eine Bürste abstand. Als er seinen knöchellangen Staubmantel ablegte, blinkte im Licht der Petroleumlaternen ein silbernes, ­wappenförmiges Abzeichen auf seiner schwarzen Lederweste. Der andere Mann war ein halben Kopf größer als der Marshal. Er hatte breite Schultern und schmale Hüften und trug eine hüftkurze Leinenjacke. Sein Gesicht war schmal geschnitten, die Haut war dunkel, fast wie von einem Indianer. Unter einem flachen Hut quoll pechschwarzes Haar hervor. Schwarz war auch der dünne Oberlippenbart, der dem Mann ein etwas verwegenes Aussehen gab. Er war unrasiert und schien lange nicht geschlafen zu haben. Zwischen seinen Handgelenken klirrte eine kurze Kette, verbunden von zwei stählernen Reifen, die sich um die Gelenke des Mannes spannten.

„Kaffee für alle?“, fragte der Stationer in den Raum.

„Einen ganzen Topf“, sagte der Kutscher. „So heiß wie ein Fegefeuer und so schwarz wie die Hölle.“

Im Hintergrund des Raumes führte eine Treppe ins obere Stockwerk des Stationsgebäudes. Von dort kam jetzt eine magere, geierköpfige Frau, die eine bunte Schürze umgebunden hatte.

„Meine Frau wird Ihnen gleich den Kaffee bringen“, sagte der Stationer. Er rief zu der dürren Frau hinüber: „Kaffee für alle, Martha, stark und heiß!“

Ich schloss die Augen für einen Moment und versuchte, das Gefühl der Leere in meinem Magen zu vergessen. Ich hätte auch einen Kaffee brauchen können.

Meine Schwäche dauerte nur ein paar Sekunden. Noch besaß ich Energiereserven, und wer einmal durch die harte Schule der Apachen gegangen ist, den wirft so leicht nichts um.

Der Kutscher erzählte draußen im Aufenthaltsraum, wie die Kutsche zweimal stecken geblieben war und im strömenden Regen angeschoben werden musste.

„Die Straße war das reinste Wasserloch“, sagte er. „Ein Wunder, dass die Achsen das ausgehalten haben. Das Gespann ist völlig fertig.“

Da flog die Tür auf. Sie schlug krachend gegen die Wand des Raumes. Aus der Dunkelheit taumelte der Stallknecht herein, den ich bewusstlos im Stall liegen gelassen hatte. Er blieb auf der Schwelle stehen und lehnte sich stöhnend gegen den rechten Türrahmen. Die linke Hand hatte er auf den Kopf gepresst, in der Rechten hielt er seinen löchrigen Strohhut.

„Wo ist der Junge?“, sagte er mit schwacher Stimme. Er schaute auf den Stationer, der neben der Theke stand.

Die Fahrgäste der Kutsche starrten auf den Stallknecht, der jetzt mit unsicheren Schritten durch den Aufenthaltsraum stolperte, immer wieder stehen blieb und sich auf Stuhllehnen stützte. Als er die linke Hand vom Kopf sinken ließ, sah ich, dass Blut an den Fingern klebte.

„Was ist denn los, zum Teufel?“, rief der Kutscher.

Der Stallknecht antwortete nicht, und auch der Stationer sagte kein Wort.

„Wo ist der Junge, Phil“, wiederholte der Stallknecht. „Dieser verdammte Bengel.“

„Was – was für ein Junge?“, fragte der Stationer.

„Er muss hier gewesen sein“, sagte der Stallknecht. „Er wollte Proviant kaufen. Er hat einen Revolver, Phil.“